Roda Roda: Zwei Planeten. (1923)

Die Interviewer kamen und gingen wieder. Jeder redete zu mir. Und ob ich nickte oder verneinte – ganz gleich – jeder schrieb, was er selbst gesagt hatte, als meine Meinung nieder. Nachdem der zwölfte Interviewer gegangen war, trat eine kleine Pause ein. Ich wartete unruhig auf den dreizehnten. Vergebens, er blieb aus. Da beschloß ich, mich selbst zu interviewen. Ich habe es nun schon so oft mitgemacht – ich weiß, wie man es anstellt.

Herr Roda, sind Sie schon lange in Amerika? 

Drei Monate, Mister… Verzeihen Sie, ich habe Ihren Namen nicht verstanden; ich weiß nur, daß darin etliche lange – oa – vorkommen. 

Wollen Sie noch eine Zeitlang bleiben?

Bis ich mich unmöglich gemacht habe. Also etwa fünf Wochen, schätze ich. So lange hat man mich bisher noch überall geduldet.

Gefällt Ihnen Amerika? 

Wie originell Sie fragen! Es geht mir hier wie dem türkischen Eulenspiegel Naßreddin. Er lag zu Bett und schlief. Da träumte ihm, sein Nachbar zahle ihm neun Groschen auf die Hand. „Gib mit auch den zehnten,“ bat Naßreddin. Der Nachbar weigerte sich und sie stritten. In der Erregung des Streits erwachte Naßreddin und fand seine Hand leer. Rasch schloß er die Augen wieder: „Laß sein, Nachbar, ich begnüge mich schon mit neun Groschen.“ – Auch mir scheint Amerika wie ein schöner Traum. Ich fürchte zu erwachen und wieder in Europa zu sein. 

Demnach befinden Sie sich in Amerika sehr wohl? 

Es ist ein grundsätzlicher Irrtum der Geographie und eine Pedanterie unsrer europäischen Schulmeister, Amerika einen andern Erdteil zu nennen. Amerika ist ein anderer Planet. Eure Technik, euer Optimismus, eure Arbeitskraft – schön und großartig. Ich glaube auch wenn ihr Dummheiten macht, müssen es kapitale Dummheiten sein. 

Oh!

Widersprechen Sie nicht! Alles ist imposant. Schon die Einwohnerzahlt von New York: 20 Millionen. 

Wie kommen Sie zu dieser Ziffer? 

Durch Addition natürlich. Es war ein Italiener bei mir der sagte, es gäbe hier 20% Italiener, anderthalb Milliionen. Ein Jude gab anderthalb Millionen Juden an. Dann Deutsche, Russen, Skandinavier, Franzosen, Tschechen, Südslaven, Rumänen… von allen gibt es hier mir als in irgendeiner Stadt Europas. Wenn Sie alles zusammenrechnen, finden Sie, daß New York über 300 Prozent Einwohner hat, insgesamt 20 Millionen.

Einige New Yorker sind doch auch hier geboren. 

Die hatte ich vergessen. Dann geht die Rechnung noch höher. Hier reicht eben alles in den Himmel – nicht nur die Paläste. Es ist hier ein Schlaraffenland. Candys, Candys aller Ecken, und immer neue Läden entstehen; in längstens drei Jahren wird New York eine einzige Konditorei sein. – Dies Land verblüfft mich immer mehr. Ihr habt Elevators, die fahren; die Zentralheizung gibt Wärme – Wunder für einen Europäer. – Ich weiß mich hier gar nicht zu benehmen. Man gibt mir einen zugeschnürten Packen in die Hand; ich versuche die Schnur zu zerreißen, wie man das bei uns immer mit zwei Fingern macht; zu meinem Erstaunen aber reißt die Schnur nicht; da zücke ich mein Messer, und es zeigt sich, daß die amerikanische Schnur härter ist als das Messer. – Eurer Leder kommt aus der Gerberei; unseres aus der Papierfabrik. Eure Butter kommt vom Land. Eure Kartoffel sind nicht faul. Und ihr habt Fleisch, das man schneiden kann. Die Milch hier ist durchsichtig. Ihr habt Kaffee aus Bohnen. Wenn Schnee in New York fällt, ist er schwarz: nicht einmal der Schnee in Amerika ist wie bei uns. – Was ihr Verkehr nennt, hieße bei uns schon Panik. – So elegant wie bei euch die Tippmamsellen sind bei uns nur die aktiven Prinzessinnen – und Sie wissen, daß die meisten Prinzessinnen nicht mehr aktiv sind. – Es ist wahr, manches bei euch mutet uns sonderbar an. Ihr alle seid polizeilich gar nicht gemeldet, und eure Polizisten tragen keine Waffe; der Kirchturm ist das niedrigste Gebäude der Stadt; dafür treibt die Kirche Lichtreklame; man zündet Licht nicht an, um zu sehe, sondern um beachtet zu werden; der drahtlose Telegraph ist das Spielzeug eurer Kinder; die Kinder befehlen; der Vater kocht und putzt der Frau die Stiefel. – Amerika ist das Land, wo man liegend rasiert wird, stehend ißt und von der Tagesarbeit ausruht, indem man stundenlang einem kleinen Ball nachläuft. Man behält hier in der Eisenbahn den Hut auf und nimmt ihn im Fahrstuhl ab; elf Greise entblößen die Häupter, wenn ein zehnjähriges weibliches Rotznäschen in den Fahrstuhl tritt. Dafür gibt es hier auf der Straße keine Hunde, Sperlinge und Kinderwagen; bei uns genießen die Hunde öffentliche Freiheiten, die keinem Menschen zustehen. – Komisch ist euer Wetter: ihr habt von Jänner bis Juni April. Auch in Venedig ist es naß; dort gibt es aber Gondeln.

Sie sprachen von Dummheiten. Meinten Sie die Prohibition? 

Habt ihr Prohibition? Verzeihen Sie – ich bin erst drei Monate im Land – da hatte ich es noch nicht bemerkt.

In Deutschland trinkt man wohl immer noch viel? 

Meist Tee. Man macht Tee bei uns, indem man Heu in lauwarmem Wasser wäscht.

Demnach eine neue Industrie? 

Ja, manche Industrien in Deutschland blühen. Es erzeugt zum Beispiel unsre Reichsdruckerei mehr Banknoten als irgendeine Anstalt auf Erden. In der vorigen Woche entstanden soviel Banknoten, daß man nur ein Band aus ihnen zu bilden brauchte, und man konnte es um die ganze Erde wickeln. In dieser Woche ist der Rekord gebrochen wurden; die Banknotenerzeugung reichte dreimal um den Mond. Eine achtunggebietende Leistung. Da kommt ihr nicht mit. 

Sie haben darum auch die große Teuerung in Deutschland. 

In New York ist alles viel teurer. Ein Mantel kostet hier neunzig Dollar. Das sind zwölf 

Millionen Dollar…Dafür kaufe ich mir in Deutschland ein Landhaus, nehme eine Hypothek darauf und schaffe mir aus der Hypothek einen Mantel an. – Allerdings steigen bei uns die Preise von Tag zu Tag. Ich habe eine interessante Erfindung gemacht. Bisher mußte ein Kaufmann bei uns einen Mantel ins Schaufenster hängen und infolge des sinkenden Markkurses den Preis stündlich ändern. Wie viel Mühe macht das bei soviel Mänteln! Ich habe nun eine Uhr konstruiert, die den Preis angibt und selbständig jede Stunde um 10.000 Mark hinaufspringt. Ein Mantel, der heute 240 Tausend Mark kostet, kostet morgen das Doppelte. 

Schweres Leben in Deutschland. 

Verschieden schwer – je nach Ständen. Wer von seinen Kapitalzinsen zehren muß, hungert, // das ist klar – denn die Kaufkraft des Geldes sinkt ja so sehr. Anders die Arbeiter: sie hungern, weil ihre Löhne nicht Schritt halten mit der Markentwertung. Bei dieser Sachlage können die Intelligenzberufe unmöglich gedeihen. Die Dichter, zum Beispiel … es kostet das einfache Bespannen einer Leier mit fünf Saiten schon fünfzigtausend Mark; das kann sich ein Dichter nicht leisten. Darum gibt es auch keine weichen Gefühle mehr in Deutschland. – Am besten haben es noch die Ärzte. Zwar gehen sie müßig, weil niemand Zeit hat, krank zu sein – doch die Ärzte verkürzen sich das Warten auf Patienten sehr angenehm, indem sie einander telephonisch nach ihrem Befinden befragen – in der Hoffnung, eine Todesnachricht zu hören – wodurch sich der Konkurrenzkampf etwas mildern würde. 

Eure Staatsmänner?  

Wir sind bereit, euch 10 davon zu schicken, wenn ihr uns im Austausch dafür ihr Gewicht in Speck und weißen Bohnen gebt. Graf Lerchenfeld wiegt 160 Pfund.

Sind auch die Rechtsanwälte brotlos?

Sie haben alle Hände voll zu tun mit der Scheidung der Kriegsehen. Man plant jetzt ein Gesetz, das die erste Ehe jedes Menschen überhaupt für ungültig erklären soll. Es wäre eine große Zeitersparnis für die Gerichte. 

Und nach diesem Europa wollen Sie zurückkehren?

Gern – ich habe ja meine Familie dort. Ich bin achtzehn Jahre verheiratet – unsere Ehe ist die älteste Künstlerehe der Welt. Und ich beabsichtige, die Ehe fortzusetzen. Wie meine Frau im Augenblick darüber denkt, weiß ich allerdings nicht: ihr Kabel von gestern abend war noch sehr zärtlich. 

Sie leben in München?

Ganz richtig. Einstweilen sind die Franzosen noch nicht da. Die Franzosen wollen, wie man hört, aus dem Ruhrgebiet zunächst nach Berlin vorstoßen, um es zu besetzen, und hierauf nach Wladiwostok weitergehen. Dann kommt wohl ihr Amerikaner daran. Das kann noch Monate dauern. Marschall Foch soll sich mit dem Einmarsch in New York nicht beeilen – sonst kommt er mit seinen Truppen hier im Hochsommer an, wo alle besseren Menschen in den Seebädern sind. 

Der Interviewer sieht nach der Uhr. Ich merke, ich habe seine Geduld erschöpft und drücke ihm zum Abschied warm die Hand.

„Mein Herr“, sage ich ihm, „Sie können ruhig behaupten, eine Stunde mit dem größten Satiriker Deutschlands verplaudert zu haben. Meine Kollegen sind nämlich zur Zeit so beschäftigt mit Selbstanbetung, daß sie meine Überhebung gar nicht merken werden.“

In: Prager Tagblatt, 12.8. 1923, S. 3-4.

Felix Salten: Sieger und Besiegte. Brief an einen amerikanischen Freund (1919)

Kein einziger Mann lebt heute auf der bewohnten Erde, dessen Genie gleichen Schritt zuhalten vermöchte mit der Genialität der Ereignisse. Keiner, der imstande wäre, die Fülle und das rasende Tempo des Geschehens zu bewältigen, die Begebenheiten, durchblickend bis zu ihrem letzten Sinn, zu verstehen, ihre Folgen, verschauend, zu erkennen, oder gar den Gang der Dinge zu lenken. Einzelne Personen besitzen die Macht, aber wie sie von ihnen gehandhabt wird, fehlt dieser Macht die Güte, fehlt ihr die Reinheit, oft selbst die Würde, und daraus allein ergibt sich, wie sehr sie auch jeglicher Größe ermangelt. Das ist ein Unglück, verehrter Freund; nicht bloß für uns, die wir besiegt sind, sondern auch für diejenigen, die, augenblicklich, als Sieger gelten, und somit ein Unglück für diese ganze, verwirrte, bis zu ihrem Grundschlamm aufgewühlte Welt.

Wir alle stehen nicht auf der Höhe unserer Erlebnisse, sondern beträchtlich tiefer. Die Begebenheiten haben uns überrannt sie waren stärker als wir. Ein Bergsturz von Ereignissen, der nun schon seit fünf Jahren, ohne Halten, ohne Pause, mit mehr und mehr anschwellender Wucht auf uns niedergeht, hat uns verschüttet. Wir sind jetzt, nach beinahe fünf Jahren beständiger Katastrophen, in den Nerven, im Fühlen wie im Denken betäubt, gleichviel ob Sieger oder Besiegte, und wir find alle zusammen nicht mehr normal. 

Ihr Gedanke, daß die Vertreter des Geistes, die führenden Männer der Wissenschaft, der Kunst und der Technik nach dem Friedensschlusse irgendwo zusammentreten sollen, um in einem Kongreß die zerrissenen Kulturfäden neu zu knüpfen ist sehr schön und sehr verlockend. Vor zwei Jahren, vor einem Jahr, selbst noch vor einem halben Jahr hat man einen ähnlichen Plan auch bei uns erwogen und mancherlei Hoffnung damit verbunden. Seither sind aus dem Westen, besonders aus Amerika, viele schöne Worte und viele verlockende Gedanken zu uns gedrungen. Wir haben ihnen volles Vertrauen geschenkt, vielleicht zu großes Vertrauen: bis heute aber haben wir keine einzige Tat gesehen, noch keine einzige, die all die schönen Worte wahr machen und unseren guten Glauben rechtfertigen würde. 

Erblicken Sie immerhin einen Zweifel in dieser Äußerung;  er kann und soll nicht geleugnet werden, auch wenn er Sie etwa verstimmt. Denn dieser Zweifel schmerzt diejenigen, die ihn hegen, weit mehr, als er die zu kränken vermag, gegen welche er sich richtet. Bedenken Sie, wie weit die Menschen heute voneinander entfernt sind. Vor fünf Jahren beklagten wir es noch, wie viel Zeit ein Brief nach Amerika brauche, glaubten eine pathetische Wahrheit auszusprechen indem wir sagten, der Ozean liege zwischen uns, und hatten doch, binnen zwei Wochen, auf jede Frage, einer vom andern, die Antwort, hatten doch in unserem Leben, diesseits und jenseits des Ozeans, einen gleichmäßigen Rhythmus, der sich von Ufer, zu Ufer wahrnehmen ließ. Heute trennt uns eine größere Distanz als die Breite der Atlantis; selbst zwischen unseren nahen Nachbarn und uns liegt heute größere Entfernung. Zwischen uns liegt der ungeheure Bann dieser fünf Jahre, liegt das unermeßliche und // unentwirrbare Geschehen und zwischen uns liegen außerdem noch die Folgen einer Absperrung, die in solcher Dauer, in solcher demoralisierender Vollkommenheit, ohne Beispiel ist. 

Das Beispiellose, das Niemals-Dagewesene kennzeichnet ja alle Ereignisse, die wir bis heute erlebt haben, und sicherlich alle, die wir in naher Zukunft noch erleben werden. Es ist niemals noch dagewesen, daß der Kulturkomplex der weißen Rasse durch eine eiserne Grenzlinie in zwei Teile zerstückt und daß diese Teile jahrelang einander geschlossen geblieben wären. Jahrelang haben wir nichts voneinander gewußt, als was uns die Generalstabsberichte voneinander erzählten. […] Diese beiden Völkergruppen, zusammen die Führer und Erbauer der Welt, sind seit fünf Jahren gezwungen, ohne einander zu leben, müssen sich daran gewöhnen, ohne einander auszukommen, obgleich das wider ihre Natur geht, obgleich es Verrat an ihrer gemeinsamen Erdensendung bedeutet. Das ist beispiellos und … unverantwortlich. 

Als der Krieg ausbrach, sahen und begriffen die edleren Gemüter hüben wie drüben voller Schmerz, daß die Menschen einander noch zu wenig kennen. Die Menschen müssen einander kennen lernen – hüben wie drüben galt das als das höchste Ziel kommender Friedenstage, stand als erstes und wichtigstes Beginnen, als heiligste und eiligste Menschheitsbemühung. Aber wie furchtbar sind wir einander heute entfremdet. Wir verstehen uns weniger als je, kennen uns noch weniger, als wir uns je gekannt haben, und heute, da der Krieg schon drei Monate beendet ist , sind wir im Begriffe, uns mit jedem Tage mehr und mehr voneinander zu entfernen. Arme Soldaten im Feld, die nach dem Kampfe alle Feindschaften beiseite ließen, um einander in Todesnot und Körperqualen Beistand zu leisten, hilflose, arme Teufel, die sich nicht einmal mit Worten, sondern nur durch Blicke, durch Gebärden, oder durch ein Lächeln verständigen konnten, haben für die Annäherung der Menschen in einer einzigen Stunde mehr geleistet, als sämtliche Staatsmänner zusammen in diesen wichtigen drei Monaten auch nur versuchten. 

Es ist ja natürlich, dass man bei Ihnen den seelischen und geistigen Zustand, in welchem wir uns während des Krieges befanden nicht verstehen konnte. Auch wir haben den seelischen und geistigen Zustand, in welchem man bei Ihnen lebte, nicht begriffen. Daß wir alle, diesseits und jenseits der Feuerlinie, ganz im Anfang von einem Fieber erfaßt und geschüttelt, von einem Rausch umnebelt und hingerissen wurden, braucht niemand in Abrede stellen, der sich jetzt nicht von Feigheit und falscher Scham zu stotternden Verlegenheitslügen gezwungen sieht. Sie können nun freilich darauf hinweisen, daß wir von unseren Machthabern betrogen und in die Irre geführt worden sind. Aber bei solchem Hinweis, wenn anders Sie sich überhaupt seiner bedienen wollen, müßten Sie fest davon durchdrungen sein, daß man in Frankreich, in England, Italien und bei Ihnen immer nur die volle Wahrheit zum Volke gesprochen hat. Sie müßten überzeugt davon sein, daß Ihre Machthaber heute wenigstens die Wahrheit sagen, oder daß sie sie morgen sagen werden.

Vortrefflich, wenn Sie gegründete Ursache zu dieser Überzeugung haben, doch dürfte es Ihnen schwer fallen, sie auch uns zu suggerieren. Denn hierzulande schwindet das Zutrauen in die Gerechtigkeit Ihrer Staatsmänner von Tag zu Tag wie das Licht einer tief herabgebrannten Kerze. Ihre Staatsmänner haben erklärt, daß sie Ordnung stiften wollen, und haben binnen drei Monaten die Welt noch mehr verwirrt, als sie es ohnehin schon war. Sie haben die Menschlichkeit als oberstes Gesetz proklamiert, und obgleich sie seit drei Monaten die unumschränkteste Macht in ihren Händen halten, die es je auf Erden gab, haben sie in eben diesen drei Monaten jedes niedrige Verbrechen gegen die Menschlichkeit geduldet, wenn es (wie in Lemberg, in Marburg, in Posen und an hundert anderen Orten) von ihren Verbündeten begangen wurde. […] Ihre Staatsmänner haben tausendmal beteuert, daß sie uns die Freiheit bringen werden, aber was heute aus den Beratungszimmern, Bankettreden, Manifesten und Geboten dieser Staatsmänner uns anspricht, was jetzt als furchtbare Drohung über uns schwebt, ist eine so harte Knechtschaft, daß der Zwang, den wir von unseren Militärmonarchen erlitten haben, dagegen noch milde erscheint. 

Da Sie Deutschland und das ehemalige Österreich-Ungarn aus eigener Anschauung kennen, werden Sie wohl kaum im Zweifel darüber sein, daß es, hier wie dort, eine ungeheure Zahl von Menschen gibt, denen die Sache des Fortschrittes und der Freiheit, die geistige und materielle Erlösung der breiten Masse teuer ist. Wie zahlreich diese Menschen sind und dadurch auch, wie befähigt, die Kraft des Volkswillens zu repräsentieren, hat der rasche, widerspruchslose Sieg der Revolution übrigens hinlänglich bewiesen. Nun, mein verehrter Freund, diese Menschen befanden sich während des Krieges in einem inneren Zwiespalt, den man einen tragischen nennen darf. Eine Niederlage konnten sie ihrem Vaterlande, das sie liebten, keinen Augenblick wünschen. Von einem Sieg aber mußten sie eine ungeheure Verschärfung des militaristischen und monarchischen [?]  // fürchten, die brutale Vernichtung aller geistigen Freiheit für lange Zeit. […]

Während der letzten drei Monate ist man sich in Deutschland wie hier über vieles klar geworden. Unzählige Menschen empfinden heute schon die unterwürfige Art, mit der man sich vor der Entente auf die Knie wirft, die Demut, mit der man vor ihr auf dem Bauch kriecht, als widerlich und beschämend. Unzähligen Menschen steht heute schon die Tatsache fest vor Augen, daß wir nicht durch das Schwert besiegt wurden, wie Herr Clemenceau behaupten will, sondern daß wir uns, fasziniert von den vierzehn Punkten, im vollen Vertrauen auf die Verheißungen, die aus Washington kamen, ergaben. Diese Verheißungen haben die Gestalten Hindenburgs und Ludendorffs, an die man nicht mehr glauben wollte, verdrängt und an ihre Stelle die Gestalt Wilsons gesetzt, an den man glauben will. Wenn das feierliche Versprechen der vierzehn Punkte nicht bis in seine letzte Silbe ernst gemeint war, dann sind wir hundertmal ärger betrogen als wir je von unseren Machthabern betrogen wurden.

Alle Träger des Kriegsgedankens, alle Vertreter der Eroberungspolitik sind weggefegt, der Militarismus ist entwurzelt und niemand steht Ihren Staatsmännern jetzt noch gegenüber, an dem die Rache nehmen dürfen. Sie haben erklärt, daß ihr Kampf nicht dem Volk gilt. Nun hat das Volk sich selbst befreit, hat den Krieg, den es verurteilt, beendigt und erwartet sein Heil von diesen vierzehn Punkten. Bis jetzt ist weder von irgendeinem Heil, noch von irgendeinem Punkt auch nur das kleinste Pünktchen zu spüren gewesen. Verdient der Waffenstillstand, zu dem man sich herbeiließ, überhaupt diese Bezeichnung? Die furchtbarste Waffe, wirksamer als alle Tanks und jedes Trommelfeuer, die Blockade, wurde weiter gebraucht. Drei Monate lang, gegen Frauen, Kranke und Kinder. Da schon der Waffenstillstand kein Waffenstillstand gewesen ist, erscheint die Befürchtung leider begreiflich, Völkerbund werde kein Völkerbund, die verheißene Freiheit keine Freiheit und der Friede kein Friede sein.

 Es gibt Augenblicke, in denen alles Hoffen schwindet. Sie erinnern sich, daß ich Ihnen in den Tagen, in denen Deutschland den U-Boot-Krieg begann und Amerika sich der Entente anschloß, geschrieben habe, die Lehrbücher künftiger Generationen würden sich wohl schwerlich mit der Aufzählung all der vielen, jetzt so berühmten Schlachten befassten, sondern diesen ganzen Krieg nur als Einleitung zu größeren Katastrophen erwähnen. In diesen Lehrbüchern (schrieb ich damals) wird es ungefähr heißen: der allgemeinen Weltrevolution ging ein Krieg voran, der so und so viele Jahre dauerte. Als dann der Zusammenbruch erfolgte, konnte man noch einiges hoffen. Man konnte hoffen, daß Ihre Staatsmänner einsehen würden, wie sehr eines Tages über die Verbrechen des Krieges hinaus die fabelhafte Leistung des deutschen Volkes sich erheben, wie viel Rum und Bewunderung sie erringen werde. Bedachten sie das, dann schien es ihnen sicher ein unmögliches Beginnen, das deutsche Volk durch einen übermütig diktierten Gewaltfrieden zu erdrosseln. Vieles ist dem Sieger erlaubt, aber er muß sich, wenn er klug ist, davor hüten, für künftige Zeiten Haß gegen sich zu sähen. Alles darf er dem Besiegten zufügen, nur nicht solche Dinge, die unverzeihlich und unvergeßlich sind. Daß es verderblich ist, gefährlich und töricht, einem Volk wie dem deutschen, solche Dinge zuzufügen, daß sich in der Geschichte das Blatt oft fürchterlich wendet, ist Binsenwahrheit. Man braucht dazu nicht einmal die vierzehn Punkte. 

Aber vielleicht können Ihre Staatsmänner nicht anders handeln. In dem Rausch, mit dem die Fülle der Macht, die Habgier und die Größe des Sieges sie umnebelt, sind sie schließlich Gefangene der Ereignisse, wie wir alle es sind. Die Zwietracht, die dabei unter ihnen herrscht und die das erfolgreiche Bündnis jetzt schon zu zerreißen droht, verbergen sie umsonst hinter dreimal verschlossenen Türen. Es liegt offen vor aller Augen und dient gleichfalls nur der Erkenntnis, daß die Menschen heute kleiner sind als ihre Erlebnisse. So liegt denn das das Schicksal der Welt jetzt nicht bei der Genialität von einzelnen Auserwählten, sondern bei den Massen. Dieses Schicksal schreitet über die einzelnen wie mächtig sie auch sein mögen, hinweg und muß sich vollziehen. Es hat wohl keinen besonders praktischen Wert, Kulturkongresse gerade in einem Augenblick zu planen, in welchem diese ganze alte Kultur zugrunde geht […]

In: Neue Freie Presse, 2.2.1919, S. 1-3.

Robert Müller: Die Kulturpolitik des Bolschewismus. (1920)

Die Reden des reichsdeutschen Außenministers Simons spielten mit dem Gedanken der deutsch-russischen Koalition. Für die Börsen in Berlin und Wien war der Bolschewismus einst das rote Tuch. Heute rechnen Börsenblätter ihn zu ihren Mitteln, wenn sie gewisse Papiere zugunsten anderer drücken wollen. Aber auch hinter dieser Anpassungsfähigkeit einer kapitalistischen Welt gesehen: die Reagenz auf den russischen Bolschewismus hat sich in Deutschland wesentlich gemildert. 

In der Tat hat das jetzige russische Regierungssystem zwar die russische Wirtschaft annihiliert, obwohl es auch Berichterstatter gibt, die von eigenartigen und nützlichen Organisationen zu berichten wissen. Auf Grund solcher Berichte hat der Minister Simons in einer aufsehenerregenden Rede dem russischen System selbst auf wirtschaftlichem Gebiete einen partiellen Erfolg eingeräumt. Verknüpft ist dieser Erfolg allerdings mit einem finanzpolitischen Fiasko. Unbestritten dagegen ist von allen Augenzeugen aller Nationen der außerordentliche kulturpolitischen Fortschritt, den die jetzige russische Gesellschaftsordnung mit sich gebracht hat. 

Der Grund ist einfach. Staat ist dem Bolschewiken eine ideologische Anstalt. Die im materialistischen Westen und seiner Zivilisation gangbare Voraussetzung der Rentabilität sine qua non fehlt dort. Kulturpolitische Maßnahmen werden gegen die finanzielle Kalkulation durchgeführt. Darum ist Rußland das Dorado aller kulturell interessierten, wirtschaftlich sei es desparaten, sei es unerfahrenen Individuen geworden. Die englischen, besonders die französischen und die deutschen, sogar die amerikanischen Künstler schwärmen für Moskau, Lenin und Lunatscharsky. Lenin überzeugt von persönlicher Tüchtigkeit die Diplomaten, Trotzky die Militärs, Lunatscharsky die Schöngeister. Es ist auffallend, wieviel Sympathie unter deutschen Offizieren der Bolschewismus genießt, seit er sich als kriegerisch, soldatisch-diszipliniert und strategisch genial erwies. Die vielbesprochene Allianz zwischen rechts und links ist psychologisch nicht mehr unwahrscheinlich. Der Offizier, auch sein Vorbild, der Ritter, der Edling, sind Geschöpfe einer unkapitalistischen, rein ideologischen Welt. Sie verstehen zuinnerst tatsächlich das Seelenleben und die Werte des überzeugten militanten Bolschewiken besser als die technisch-ökonomische Interessenswelt der Plutokratie, von der sie freilich mit zunehmender Zivilisation aufgesogen wurden. Es ist also kein Zufall, daß in der russischen Armee begeistert deutsche Junker dienen und daß sowohl Lenin als Lunatscharsky Aristokraten sind.  

Alle geistigen, d.h. nicht materiell kalkulierenden Menschen, alle, die nicht Erwerbsmehrung, sondern eine Art auskömmlicher Staatsbesoldung (wie Offiziere) wünschen, um ihren produktiven Neigungen fern vom ökonomischen Lebenskampf, in dem sie indifferent sind, zu leben, blicken heiß nach Rußland. Dort ist, wie immer man es drehen mag, der kulturpolitische Staat verwirklicht, wenn auch contra Kassa. Aber was schiert das den Offizier? Was den Künstler, den Denker, den Pädagogen? Die Künstler sind Schwerarbeiter und es geht ihnen allen gut, leider sogar den wenigen mittelmäßigen. Sie sind offizielle Persönlichkeiten. Sie erhalten Bau- und Schmuckaufträge, die Literaten sind zur Volksaufklärung und -besserung organisiert. Die Lehrer haben für ihre Ideen weitesten Spielraum. Das Erziehungswesen steht auf höchster Höhe. Übertreibungen, Verirrungen unterlaufen, die geistige Nahrung ist der Aufnahmefähigkeit des Schülerdurchschnittes oft unangemessen. Aber es wird gearbeitet, gedacht, verwirklicht, nirgends gibt es ein frischeres Tempo, wir Österreicher, verwirklichungsferner denn je, schielen mit Neid dort hinaus. Mit einem Schlage – gegen das Staatsportemonnaie – sind alle die lästigen Hemmungen wegefallen. 

Das ist die Wirkung einer geistigen Forderung. Sie ist plötzlich, von Geistigen geführt, von Millionen getragen. Nur die Finanziers stehen grollend beiseite. Da gibt es also eine Menschheit, die nicht mehr auf sie hört? Die den praktischen Verstand in den Wind schlägt? Diese Menschheit gibt es heute, sie ist da. Wie zur Zeit des absinkenden Römerreiches, so schlägt heute eine geistige Forderung die materielle Schulung unserer Urteile nieder. Wir mögen eine Zeitlang Unterproduktion und Hunger haben: aber der Geist mag wie damals Gloria feiern. 

Die geistige Forderung ist der Kern. Ihn hat das von Harald von Hoerschelmann (auch einem baltischen Junker) bei Diederichs, Jena, erschienene Büchlen „Person und Gesellschaft“ herausgeschält. Es ist das beste Buch, das man als objektive Analyse des Bolschewismus lesen kann. Es versetzt haargenau in die bolschewistische Seele, wo sie am tiefsten – und schönsten ist. Geistreich und scharfsinnig in der Deduktion, reich an Material und Beleg, kunstvoll geschrieben, lauter, beinahe weise verdient das Buch allgemeine Bekanntheit. Vielleicht sind in Wirklichkeit alle diese Dinge noch viel komplizierter, nuancierter, als Hoerschelmann sie sieht, der einen Bolschewismus ad usum des deutschen Delphini schnittmustert und Ideale des Anarchismus und der Aristokratie schon heute in Rußland verwirklicht sieht, die ich noch nicht sehen kann. Aber seine Konsequenzen sind anregend, er ist ein starker, aufbauender Geistpolitiker. Aufgabe der Gesellschaft ist nicht Sicherung einer Gemeinschaft, sondern aller schöpferischen Kräfte gegen die erstarrten, heißen sie jetzt Bürokratie oder Demokratie. Im gleichen (Diederichs) Verlage erschien von dem Weltreisenden Alfons Paquet das Buch „Im kommunistischen Rußland“. Eine dichterische Persönlichkeit mit starker sachlicher Begabung auch für das Amerikanisch-Statistische schildert persönliche Eindrücke so, daß uns dieses Rußland im ganzen sympathisch wird. Es steht ein gutes Volk, ein derbes, sinnliches, aber innerliches Volk hinter diesem Bolschewismus, und es ist dasselbe Rußland, das Dostojewsky hervorgebracht hat, ihn und die Anlässe seiner Kritik und Selbstironie; Langsamkeit, unpraktische Weltart, aber nachgiebig dem Guten, das dort meistens roh auftritt und uns darum erschreckt. Das Buch „Moskau 1920“, Tagebuchblätter von Dr. Alfons Goldschmidt (Rowohlt-Verlag, Berlin) sind brillant geschriebene Reisefeuilletons im letzten Impressionistenstil, wie er aus Kopenhagen und Paris kam. Das deutliche Urteil bleibt noch im Schatten, weil neben viel Anerkennung eine kräftige Portion Touristensarkasmus zu Worte kommt. Sehr zutreffend sind die Witze, die Goldschmidt der Konkurrenz, den britischen und amerikanischen Revolutionsbummlern, zukommen läßt, Menschen der flachsten Auffassung im Ja- und Neinfalle. Wir können mit Spannung erwarten, was Goldschmidt in seinem sachlichen Buche „Die Wirtschaftsorganisation Sowjetrußlands“, das in kurzem (bei Rowohlt) erscheint, zu sagen haben wird. Von dieser Art Literatur hängt viel ab, Europas Zukunft. Rußland macht Mode, ohne Zweifel! 

Ich möchte noch auf das von mir selbst geschriebene „Bolschewik und Gentleman“, das soeben im Erich-Reiß-Verlag, Berlin, erscheint, hinweisen; es behandelt die kulturpolitische Gradation, die Rußland dem westlichen Kulturkreis voraus hat. 

In: Der neue Merkur, H. 6/1920, S. 11-12 (KS, II, 473-475)

N.N. [Otto Bauer]: Die Weltrevolution. (1919)

4. Die historische Funktion des Bolschewismus.

Die Kommunisten betrachten die Rätediktatur nicht als eine vorübergehende Phase, sondern als die abschließende, endgültige Form der Weltrevolution. Die Rätediktatur werde die Bourgeoisie „erdrosseln“, alles Privateigentum an Produktionsmitteln aufheben, die Spaltung der Gesellschaft in besitzende und besitzlose Klassen aufheben, die sozialistische Gesellschaftsordnung aufrichten, und sobald dieses Werk getan sei, werde der Staat überhaupt absterben, da es einer öffentlichen Gewalt nicht mehr bedürfe, sobald es keine unterdrückten und keine unterdrückenden Klassen mehr gibt. Die Rätediktatur, in einem Lande aufgerichtet, führt die Rätediktatur in den anderen Ländern durch die Macht ihres Beispiels herbei; nach wenigen Jahren werde der Kapitalismus in aller Welt überwunden sein. 

Daß in allen besiegten Ländern starke Tendenzen zur Diktatur des Proletariats ganz unvermeidlich entstehen, unterliegt keinem Zweifel; ob aber die Diktatur des Proletariats wirklich jene Wirkungen herbeizuführen vermag, die die Kommunisten von ihr erhoffen, ist eine ganz andere Frage. Die Geschichte aller Revolutionen zeigt, daß sehr oft die objektiven historischen Wirkungen der Revolution ganz andere sind als die subjektiven Vorstellungen, Absichten und Hoffnungen ihrer Urheber und Träger. 

Der Versuch des Proletariats, seine Alleinherrschaft aufzurichten und sich alle anderen Klassen zu unterwerfen, führt zunächst den Bürgerkrieg herbei. Selbst in Rußland kann sich die kommunistische Diktatur nur in ständigem blutigen Kriege gegen die konterrevolutionären Klassen erhalten; dieser Krieg gegen die Kornikow und Kaledin, die Denikin und Koltschak dauert nun schon mehr als anderthalb Jahre und sein Ende ist nicht abzusehen. Greift der Bolschewismus auf Mitteleuropa über, so wird er hier einen noch viel gewaltigeren, noch viel blutigeren Bürgerkrieg zu bestehen haben:  denn hier würde ihm eine viel breitere, zahlreichere, widerstandsfähigere Bourgeosie und vor allem eine viel selbstbewußtere, viel besser organisierte und viel konservativere Bauernschaft gegenüberstehen als in Rußland. Der Bürgerkrieg zerstört aber die Produktivkräfte des Landes, er macht den Wiederaufbau der Industrie, die Wiederherstellung der Verkehrsmittel, die Wiederbelebung der Landwirtschaft unmöglich. Er bereitet dem Aufbau der Organisation des Proletarierstaates und der Organisierung der sozialistischen Produktion unüberwindliche Schwierigkeiten. Infolge der Desorganisation, die die Folge des Bürgerkrieges überhaupt und der passiven Resistenz der Bauernschaft im besonderen ist, ist die Rätediktatur nicht imstande, die Großstädte zu ernähren; selbst Moskau, das doch die Hauptstadt des größten und fruchtbarsten Agrargebietes Europas ist, hungert, selbst Budapest, die Hauptstadt der getreide- und viehreichen ungarischen Ebene, ist heute schlechter versorgt als Wien. Und aus denselben Gründen stockt in den Sowjetrepubliken auch die industrielle Produktion; infolge der Unmöglichkeit, die Zufuhr von Roh- und Hilfsstoffen zu organisieren, stehen in Rußland die meisten Fabriken still und die Arbeiter sind teils in die Bauerndörfer zurückgekehrt, teils in die Rote Armee eingetreten. 

Trotzdem kann sich die Rätediktatur behaupten, wo sie aus den Erzeugnissen des eigenen Landes wenigstens notdürftig den dringendsten Bedarf an Lebensmitteln und Rohstoffen zu decken vermag. Ganz andere Schwierigkeiten würden ihr in Ländern erwachsen, die, wie Deutschland und Deutschösterreich, die Zufuhr von Lebensmitteln und Rohstoffen aus überseeischen Ländern nicht entbehren können. Wenn wir unsere Bevölkerung ernähren, unsere Fabriken und Eisenbahnen betreiben wollen, müssen wir Getreide, Fett, Fleisch aus überseeischen Ländern, Kohle aus der Tschecho-Slowakei und aus Polen, Rohstoffe aus aller Welt einführen. Und alle diese Waren können wir nur auf Kredit bekommen; denn da wir vorerst nichts auszuführen vermögen, können wir die einzuführenden Waren nicht bezahlen. Kredit aber können wir nur von den Ländern bekommen, die allein nach Kriege kapitalstark geblieben sind; vor allem also von England und von Amerika. Die englischen und die amerikanischen Kapitalisten werden aber keinem Lande Kredit gewähren, das ihnen nicht die notwendigen Sicherheiten zu bieten vermag. Sie werden nicht einem Lande kreditieren, in dem der Bürgerkrieg wütet. Sie werden nicht einem Land Kredit gewähren, das heute durch dieses, morgen durch jenes Dekret das Privateigentum aufhebt und die privaten Rechtsansprüche für nichtig erklärt. Die Räterepublik, unfähig, den Kredit der weltbeherrschenden kapitalistischen Länder zu erlangen, ist damit auch unfähig, ihre Bevölkerung mit Nahrungsmitteln, ihre Industrie  mit Rohstoffen zu versorgen. Die Folge ist gesteigertes Massenelend, verschärfte Hungersnot, fortschreitende Desorganisation des ganzen Wirtschaftslebens. 

Selbst im besten Falle also, selbst wenn die kapitalistischen Länder nicht zu offener Feindseligkeit gegen die Proletarierdiktatur übergehen, sondern ihr nur den Kredit verweigern, für den sie den Kapitalisten keine hinreichende Sicherheit zu bieten vermag, selbst in diesem Falle muß die Räterepublik in unüberwindliche Schwierigkeiten geraten, die ihr der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung schier unmöglich machen müssen. Aber alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß es dabei nicht sein Bewenden haben wird, daß die kapitalistischen Weltmächte vielmehr gegen jede Räterepublik zum offenen Angriff übergehen werden, ganz so wie sie es gegen Rußland und gegen Ungarn getan haben. Denn die kapitalistischen Mächte fühlen durch die Existenz jeder Räterepublik ihre Interessen bedroht. Die besiegten Länder sind Schuldner der Sieger; ihr Staatsbankerott, ihre Einstellung der Schuldenzahlungen, ihre Expropriation des Privateigentums bedeutet daher den Versuch, den Siegern den geschuldeten Tribut zu verweigern. Die Rätediktatur in den besiegten Ländern bringt durch ihr Beispiel auch die kapitalistische Ordnung in den benachbarten kleineren Ländern in Gefahr, die die Sieger als ihre Vasallenstaaten aufgerichtet, als ihre wirtschaftlichen Interessenssphären und als Stützpunkte ihrer politischen Macht geschaffen haben: in Polen, in der Tschecho-Slowakei, in Jugoslawien und Rumänien. Und die Verbreitung der Proletarierdiktatur vom Osten nach dem Westen über immer weitere Teile Europas erschüttert schließlich auch die kapitalistische Ordnung in Italien, in Frankreich, in Belgien und gefährdet damit jene ungezählten Milliarden, die die angelsächsischen Länder diesen ihren Verbündeten geborgt haben. So widerstreitet die bloße Existenz der Räterepubliken den stärksten Interessen der herrschenden Klassen der weltbeherrschenden Staaten; deshalb suchen sie die Räterepubliken durch Blockaden zu erwürgen, durch materielle Unterstützung der Konterrevolutionäre niederzuwerfen. Der unvermeidliche Zusammenstoß zwischen den kapitalistischen Weltmächten und den proletarischen Räterepubliken treibt allerdings die soziale Entwicklung in den noch kapitalistischen Ländern weiter: denn die englische Arbeiterschaft ist erbittert über den Feldzug der englischen Herrenklassen gegen die Räterepubliken und die englische Bourgeoisie muß sie daher durch Zugeständnisse zu gewinnen, durch Beschleunigung der Demokratisierung und Sozialisierung in England selbst zu beruhigen und zu besänftigen suchen. Aber andererseits wird die Not der Räterepubliken durch den Angriff von außen furchtbar verschärft; und wenn auch große Agrarländer wie Rußland, die vom Ausland relativ unabhängig  und von außen her schwer angreifbar [gesperrt gedr.] sind, sich des Angriffs der kapitalistischen Mächte zu erwehren vermögen, so müßten Industrieländer wie Deutschland und Deutschösterreich, die amerikanischen Lebensmittel und Rohstoffe, amerikanischen und englischen Kredit, amerikanischen und englischen Schiffsraum nicht entbehren können, diesem Angriff bald und unvermeidlich erliegen. 

Die Verwüstung der Volkswirtschaft durch den Bürgerkrieg im Innern, die Verweigerung der Kredit- und Rohstoffhilfe durch das kapitalistische Ausland, schließlich gar der feindliche Angriff kapitalistischer ausländischer Mächte machen es den Räterepubliken unmöglich, die wirtschaftliche Lage der Arbeitermassen zu verbessern. Der Begeisterung der Arbeitermassen für die Diktatur des Proletariats folgt daher sehr bald die bittere Enttäuschung, die sich gegen die Rätediktatur, gegen ihre unvermeidlichen Begleiterscheinungen, wie den Terror, wie die Aufhebung des Streikrechtes, der Preß- und Versammlungsfreiheit, wie der Rekrutierung zur Roten //Armee, kehrt. Die Diktatur des Proletariats führt schließlich zur Auflehnung des Proletariats gegen die Diktatoren. In Rußland stand im Oktober 1917, in Ungarn im März 1919 sicher das ganze Proletariat hinter der Diktatur: heute sind da wie dort unzweifelhaft schon breite proletarische Schichten in Gegensatz gegen die Räterepublik geraten und der Terror der Diktatoren richtet sich nicht nur mehr gegen die Bourgeoisie und Bauernschaft, sondern auch gegen die opponierenden Schichten des Proletariats. Von außen bedrängt, im Innern von der Bourgeoisie und der Bauernschaft leidenschaftlich bekämpft, schließlich auch von immer breiteren Schichten des darbenden, hungernden, kriegsmüden Proletariats verlassen, verwandelt sich die Diktatur des Proletariats in eine reine Militärdiktatur, die sich auf nichts mehr stützt als auf die Bajonette der durch eiserne Disziplin zusammengehaltenen, durch wirtschaftliche Begünstigungen befestigten Roten Armee. Aber die alte Wahrheit, daß man auf Bajonetten nicht sitzen könne, gilt auch für Räterepubliken. Sobald das Proletariat von den Wirkungen der Diktatur enttäuscht ist und sich gegen die verschärfte Hungersnot und den erneuten Krieg auflehnt, ist die Rätediktatur verloren und die Militärdiktatur der Roten Armee wird abgelöst von der Militärdiktatur der Konterrevolution.  

Auch die Kommunisten wissen sehr wohl, daß die Rätediktatur scheitern muß, wenn sie auf die besiegten Länder beschränkt bleibt. Aber sie glauben, daß die Diktatur in den besiegten Ländern sehr bald die Revolution in den Ländern der Sieger auslösen werde, und darauf stützen sie ihre Hoffnungen. Diese Hoffnung ist trügerisch. Selbst wenn die soziale Revolution wirklich über die besiegten Länder hinaus greifen, selbst wenn sie auch Frankreich und Italien erfassen, auf dem ganzen europäischen Festland triumphieren sollte, selbst dann wäre der Kommunismus nicht gerettet. Denn alle wirtschaftliche Macht ist jetzt in den angelsächsischen Ländern, in England und Amerika, konzentriert; diese Länder allein verfügen über die Rohstoffe, über die Lebensmittel und über den Schiffsraum, die das ganze Festland braucht, und gerade in diesen Ländern fehlen die Voraussetzungen der Revolution. Die soziale Revolution der besiegten, der ohnmächtigen und abhängigen Länder scheitert unvermeidlich an der ungebrochenen Macht des Kapitals in den Ländern, die den Sieg errungen haben und die Welt beherrschen. 

Aber wenn die Diktatur des Proletariats in dem großen Prozeß der Weltrevolution nur eine vorübergehende Phase ist, so ist sie darum doch keine bedeutungslose Phase. Der Krieg hat die Gesellschaft mit ungeheuren Schulden belastet; über den realen Produktivkräften, die den Reichtum der Gesellschaft erzeugen, ist ein ungeheures Gebäude papierener Rechtstitel getürmt. Wo dieser Ueberbau so drückend geworden ist, daß er mit den gesetzlichen Mitteln der Demokratie nicht mehr abgetragen werden kann, dort wird der Bolschewismus unvermeidlich. Er vernichtet alle die papierenen Rechtstitel und zerreißt alle die papierenen Schuldverpflichtungen. Und wenn dann sein Herrschaftssystem wieder zusammenbricht, dann lebt nicht wieder auf, was er zerstört hat. Die Gesellschaft, von der Last jener unerträglichen Schuldverpflichtungen, die der Krieg ihr zurückgelassen hat, befreit, kann nach dem verheerenden und vernichtenden, aber auch reinigenden Sturme darangehen, ihr Wirtschaftsleben von neuem aufzubauen. Der Bolschewismus ist nicht imstande, die sozialistische Gesellschaft aufzubauen; aber wenn einem Lande unerträgliche Last aufgebürdet wird, die dem Wiederaufbau im Wege steht, dann kann er der eiserne Besen sein, der die Last hinwegfegt und dadurch den künftigen Wiederaufbau erst ermöglicht.

Der Bolschewismus ist ein Nachfahre des Jakobinertums vor 1793. Als die Jakobiner die Macht eroberten, glaubten sie durch den Terror des Pariser arbeitenden Volkes eine ewige Gesellschaft der Freiheit und Gleichheit aufrichten und durch ihr Beispiel alle Länder zur Nachahmung zwingen zu können. Darin haben sie sich getäuscht. Die Jakobiner haben kein tausendjähriges Reich der Freiheit und Gleichheit aufzurichten vermocht, und ihr Beispiel ist von den anderen Ländern nicht nachgeahmt worden. Aber wenn die Jakobiner nicht das erreicht haben, was sie zu erreichen hofften, so hat ihre Herrschaft doch anderes erreicht, wovon nichts ahnten: ihre Schreckensherrschaft hat nach Marxens berühmten Worte mit eisernem Besen alle Ueberbleibsel der feudalen Gesellschaftsordnung hinweggefegt und dadurch die Basis geschaffen, auf der nach ihrem Sturze das neue kapitalistische Frankreich aufgebaut worden ist. So wird auch der Bolschewismus nicht das erreichen, was er zu erreichen wähnt; er wird nicht das tausendjährige Reich einer kommunistischen aufzubauen vermögen. Aber wo unerträgliches Kriegsergebnis und unerträgliche Friedensbedingungen der Gesellschaft ein Erbe hinterlassen, das sie zu erdrücken droht, dort wird seine vorübergehende Herrschaft dieses Erbe hinwegfegen, um den Boden zu reinigen, auf dem erst nach seinem Zusammenbruch in planmäßiger demokratischer Arbeit die neue soziale Ordnung wird aufgebaut werden können. 

In: Arbeiter-Zeitung, 28.6.1919, S. 1-2.

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Vicki Baum: Lippenstift und Spitzenwäsche in Rußland (1931)

„Bringen Sie meinen Schwestern Lippenstifte mit“, sagte mir ein russischer Freund, als ich nach Moskau fuhr. „Das ist es, was ihnen am meisten fehlt. Sie wissen: Russinnen – und keine Schminken! Und wenn es geht: Parfüm!“

Ich packte also Lippenstifte und Parfüm ein; man darf davon nach Rußland mitnehmen, so viel man für den eigenen Gebrauch benötigt; das ist ein dehnbarer Begriff und übrigens ist die Grenzkontrolle Ausländern gegenüber sehr höflich und gar nicht kleinlich. In Rußland fand ich dann, daß den Russinnen so ziemlich alles fehlte, aber Lippenstifte – die hatten sie! „Ich habe sechs Stück in meinem Haar eingeschmuggelt“, sagte mir eine kleine Chemiestudentin, die ein paar Schuljahre in Deutschland verlebt hatte. Auch Parfüm hatten sie, Parfüm war sogar eines der ganz wenigen Dinge, die man in Läden zum Verkauf bereit sah. Und geschminkt waren viele von ihnen. Gut geschnittenes Haar hatten die meisten, sie lobten ihre Friseure, und die Aufschrift „Parruckmacherstaja“ ist in russischen Leitern oft genug zu lesen. Bolschewikinnen strenger Observanz schienen mir dem langen Haar und aufgesteckten Knoten zuzuneigen (was übrigens schön zu den breiten, stillen Bauersfrauengesichtern steht, die in Ämtern und Fabriken zu finden sind), farblose Kleidung, strenge Haltung und schlichte Frisur kennzeichnen – so schien es mir – eine bestimmte proletarische Oberschicht, wie sie in Deutschland etwas charakterisieren, das man „Potsdamer Stil“ nennen kann. 

Es gibt keine elegante Frau mehr in Rußland; oder doch: eine einzige. Sie ist auch in den europäischen Hauptstädten bekannt: Frau Lunatscharski. Man nimmt es ihr übel genug. Es wäre in diesem Land voll Hunger und Elend auch schlechter Geschmack, sich elegant anzuziehen, selbst wenn es sich eine oder die andere Frau leisten könnte. Auf den Botschaften, diesen europäischen Inseln im uferlosen Moskau, trägt man sich einfach, Wollkleider, Wollstrümpfe. „Sie werden bald einsehen, daß man hier keine Seide trägt“, hörte ich eine Botschafterin zu einer jungen Attachésfrau sagen, die im einfachen schwarzen Seidenkleid zum Lunch gekommen war. Nebenbei: Es gab gekochtes Ochsenfleisch als Hauptgang, und der Botschafter sagte mir: „Wir sind stolz, eine solche Delikatesse aufgetrieben zu haben.“

Die Russin ist von Natur aus „trés femme“, und man mag ihr so viel abstrakte Gedankenpanzer anziehen, das Allesgleichmachen bis auf das Geschlecht ausdehnen (gibt es doch für das Wort „Towarisch“ = „Genosse“ keine weibliche Form) die Frau kommt immer wieder zum Vorschein. Die Theater, in denen man keine angezogene Frau sieht, nur Genossinnen, die tragen was sie eben haben, riechen nach Parfüm. Im „Prophylaktum“, einem Heim zur Besserung von Prostituierten, hatte eine Leiter die Offenheit, mir zu sagen: „Für ein paar Seidenstrümpfe prostituieren sich so viele!“

Wirklich fand ich, daß der Seidenstrumpf den jungen Russinnen fast als ein Symbol erscheint für alles, was sie entbehren. Und sie entbehren viel; denn die Liebe gehört mit zu den Dingen, die man dort abgeschafft hat. „Es gibt noch ein bißchen Bett; keine Liebe, nichts vorher, nichts nachher. Keine Blumen –“ sagte mir eine junge Frau, und es war eine Welt von Traurigkeit darin. Diese reinen Arbeitsbienen, so farblos in ihren Kitteln und Strickkleidern – sie fangen zu zittern an, wenn sie ein Stückchen Seidenwäsche sehen oder gar verehrt bekommen. Als man vor der Revolutionsfeier ein paar Tage lang den Verkauf von Seidenblusen freigab, wurden ein paar Frauen totgedrückt, so schlimm ging es dabei zu…

Im „Grand Hotel“, wo in einem pompösen Speisesaal im Stil der Achtzigerjahre die Ausländer zu essen bekommen, ist nachts Jazz (sonst in Rußland als bourgeois verboten) und Tanz. Man fühlt sich gespensterhaft, zwischen Palmen und Seidenlampen, als wäre man Schaustück in einem Museum. In Moskau wird viel gemunkelt von der Pracht und Eleganz dieses in Spiritus konservierten Stückchens Europa im Sowjetstaat. In Wirklichkeit sieht man ein paar Ingenieure und Trustleute, ein paar Ausländerinnen, die geschmackvoll genug sind, sich aufs einfachste anzuziehen, und dann noch hier und da eine Russin, die aus irgendeinem Ziel und Grund ins „Grand“ gehen kann, ohne sich mißliebig zu machen. Diese Frauen haben alle das befangene Wesen von Menschen aus der äußersten Provinz; sie tragen ihr bestes Kleid – auch im Theater tragen sie manchmal ihr bestes Kleid. Es ist von kleinen Schneiderinnen nach verschollenen Moden gemacht, aus irgendeiner Seide, die man erwischt und mit mehr als 800 Kronen per Meter bezahlt hat. Ich wurde angefleht, eine Seite aus einem Modeblatt hinzuschicken, denn ganze europäische Zeitungen sind verboten, und sie wunderten sich sehr über unsre länger und knapper gewordene Kleider. Übrigens haben sie eine Art Modenzeitung auch dort – aber die macht Frauen nicht glücklich. Ein rührendes kleines Requisit der Eitelkeit sah ich, als ich mit ihnen ins Dampfbad ging: den Büstenhalter. Sie haben da einen Schnitt – ich denke, ihre Modenzeitung lanciert ihn – und eine besondere Methode, aus alten Spitzengardinen etwas einigermaßen Pikantes zurechtzukriegen. Es ist etwas wie der Sieg der Weiblichkeit mitten im Bankerott der Weiblichkeit. Und ich muß sagen, diese kleinen Büstenhalter aus Vorhandtüll haben mir eben so viel Eindruck gemacht und mehr verraten als der „Rote Platz“ mit den Hunderten von Menschen, die immer vor dem Grabmal Lenins warten … 

In: Prager Tagblatt 24.1.1931, S. 3.

A.H.[öllriegel]: Geist und Gesicht des Bolschewismus (1926)

Über die geistigen und künstlerischen Probleme der russischen Revolution ist bei uns noch nicht viel geredet worden. Aber gerade in diesen Tagen hat Westeuropa einige beträchtliche Proben der neurussischen Kunst zu sehen bekommen. Die Gastspielreise der „Habima“ nach dem Westen, noch mehr der große „Potemkin“-Film, von dem man in Berlin und in Wien eben so viel redet, hat bewiesen, daß es tatsächlich so etwas zu geben scheint, wie eine Kunst des Bolschewismus. Es ist zur rechten Zeit ein bemerkenswertes Buch erschienen, das über die geistigen Strebungen des heutigen Rußland die genaueste Auskunft gibt: Geist und Gesicht des Bolschewismus von René Fülöp-Miller (Amalthea-Verlag, Wien). Es ist ein unendlich umfangreiches Buch, eines von jenen, die man leicht „monumental“ nennt, es enthält allein 500 Bilderseiten, darunter viele farbige, und ist eigentlich als eine Generaldarstellung der ganzen russischen Gegenwart gedacht. Indessen scheint es, daß der Autor den Geist des Bolschewismus schärfer erkannt hat, als sein Gesicht; das Buch ist ausgezeichnet, wo es Absichten, Tendenzen, Strömungen schildert; die Ergebnisse, das Zuständliche und Gegenwärtige sind vielleicht mit Absicht ein wenig undeutlicher dargestellt. 

*

Das Buch beginnt mit einer Photographie: Die Masse. Tausend oder zehntausend russische Köpfe auf einer Platte. Wer zählt? Das ist der Held der russischen Revolution, das Objekt ihrer Kunst. 

„Einhundertfünfzig Millionen“, sagt der rote Dichter Majakowski am Eingang seines Hauptwerkes, 

„Einhundertfünfzig Millionen:
Das ist der Name des Dichters dieses Gedichts.
Geschosshagel prasselnd:
Dies ist der Rhythmus. 
Feuerböen geschleudert zickzack, 
Schlagwetter, Tretminen – 
Plätze platzen, 
Haus hüpft an Haus. –
Eine Sprechmaschine bin ich. 
Pflastersteine wirbelten.
Eure Schritte preßten den Böden sich ein
Klirrend, als Buchstaben: 
Einhundertfünfzig Millionen:
Stampft! 
Und also gedruckt war hier diese Ausgabe.“

(Nachdichtung von Johannes R. Becher)

Wladimir Majakowski ist, wie man aus Fülöps Buch erfährt, ein esoterischer Ex-Snob. Vor der Revolution hieß einer seiner Gedichtbände: Majakowski lacht, Majakowski lächelt, Majakowski macht sich lustig. Jetzt macht er sich – unwichtig. Er wie alle Dichter, wie alle Künstler des revolutionären Rußland, kennt nur noch ein Ziel: in der Masse verschwimmen. 

Das sind noch ein paar Verse von Majakowski:

Rück an die Rippen, eisenspitz, die Ellenbogen, 
Knall‘ die Faust dem frackgedrechselten Wohl-
Tätigkeitsherrn dort in die Fresse!
„Den Schlagring aufs Nasenbein!
Tabula ras!
Schleif dein Gebiß,
Beiß dich ein in die Zeit, 
Durchnage die Gitter!…
Neue Antlitze!
Neue Antlitze! Neue Träume! 
Neue Gesänge! Neue Visionen!
Neue Mythen hinschleudern wir, 
Aufzünden wir eine neue Ewigkeit…“

*

Den Kampf gegen „das kleine, rhachitische, von Angst zuckende Ich, geistig verarmt, verwirrt im Dunkel der Widersprüche“ hat schon vor der Revolution der proletarische Dichter Maxim Gorki angekündigt; er ist der Vorläufer, der Johannes des neuen Heilstraums vom „Kollektiven Menschen“, vom „Dividuum“, dem „Massenmenschen“. Diese Masse, als ein Gesamtwesen zu sehen, halb als lebendes Tier, als Tausendfüßler, halb als eine ungeheure Maschine, blieb den nachrevolutionären Theoretikern der bolschewistischen Idee vorbehalten. Fülops Buch ist voll von Zeichnungen und Plakaten, auf denen immer eines versucht wird: eine große Menschenmasse so zu zeichnen, daß ihre Arme und Beine nur noch aussehen wie Hebel, Hämmer oder Greifzangen, ihre Leiber und Köpfe wie Nägel und Schrauben, das ganze Getümmel der Masse wie eine riesige seelenlose Maschinerie. Ein berühmter Zeichner, Krinski, zeichnet fortwährend den „mechanisierten Arbeitsmenschen“ als Fortsetzung und Bestandteil der Maschine. Und wenn die heutige russische Zivilisation die Maschine anbetet – sie wahrhaftig über den Altären entweihter Kirchen erhöht und sie in den Hintergrund der aller Dekoration entblößten Theaterbühnen stellt – dann ist irgendwie immer die kollektive lebendige Maschine gemeint, die menschliche, doch irgendwie entmenschlichte Masse. Statt von einem himmlischen Jerusalem träumt die russische Seele heute von einem immensen irdischen Chicago. Wladimir Majakowski phantasiert: 

Chikago: Stadt,
Auferbaut auf einer Schraube!
Elektro-dynamo-mechanische Stadt!
Spiralförmig – 
Auf einer stählernen Riesenscheibe –
Jeden Stundenschlag
Sich um sich selbst drehend – 
5000 Wolkenkratzer –
Granitene Sonnen!
Die Plätze:
Kilometerhoch in den Himmel galoppieren, 
Menschenmillionenüberkrabbelt,
Aus Stahltrossen geflochten, 
Fliegende Broadways.
An den Wimperspitzen
Klebt knisternd dir 
Elektrisches Licht. . .
Rauchplakate in den Lüften – 
Phosphoreszierende Inschriften!“

(Nachdichtung von Johannes R. Becher) 

So plätschern durch dir Lieder des Durstlandes Arabien die kühlen Wässer des Paradieses: das Rußland von heute seufzt, lechzt nach einer hypertrophischen Technik, eben, weil es nichts dergleichen besitzt. 

*

Diese neue kollektivistische Kunst, Philosophie, Religiosität des herrschenden Bolschewismus meint immer das Volk, die Masse – singt von ihr, betet zu ihr; wird das Gebet erhört? Fülöps Buch läßt die Antwort zweifelhaft erscheinen. Sicherlich ist das Pathos dieses Wollens sehr stark, oft wohl wahrhaft hinreißend. Fülöp-Miller schildert gewisse gewaltige Konzerte, bei denen die Instrumente Fabriksirenen sind und die Dirigenten Männer mit roten Fahnen, die von der Höhe der Fabriksschlote Zeichen geben: 

„Schon im Jahre 1918 wurden in Petersburg und später in Nishnij Nowgorod Versuche mit derartigen Fabrikspfeifensymphonien angestellt; am 7. November 1923 erfolgte in Baku die erste Aufführung großen Stils. An ihr nahmen die Nebelhörner der gesamten Kaspischen Flotte, alle Fabrikssirenen, zwei Batterien Artillerie, einige Infanterieregimenter, eine Maschinengewehrabteilung, etliche Hydroplane und schließlich Chöre teil, bei welchen sämtliche Zuschauer mitwirkten. Die Feier soll sehr eindrucksvoll gewesen sein; es ist nicht zu verwundern, daß diese ‚Musik‘ weit über die Mauern der Stadt Baku hinaus zu vernehmen war. 

Auch in Moskau sind wiederholt Experimente mit Fabrikspfeifensymphonien unternommen worden, ohne daß jedoch besonders erfreuliche Resultate damit erzielt worden wären; einerseits war die Modulationsfähigkeit der verwendeten ‚Instrumente‘ nicht eben groß, anderseits waren die aufgeführten ‚Kompositionen‘ viel zu kompliziert. Obwohl die „Dirigenten“, auf hohen Kommandotürmen postiert, durch Fahnenschwenken das Einsetzender verschiedenen örtlich sehr weit auseinanderliegenden Sirenen und Dampfpfeifen regulierten, war es doch nicht möglich, einen einheitlichen akustischen Eindruck zu erzielen; die Verzerrungen waren derart, daß das Publikum nicht einmal die so bekannte und vertraute ‚Internationale‘ zu erkennen vermochte.“

Die Frage ist nur, ob so viel Wagemut im Erneuern etwa das reaktionäre alte Volkslied aus den Seelen, aus den vielen einzelnen, hoffnungslos unmechanischen Seelen eines ganzen Volkes zu reißen vermag – –

In: Der Tag, 13.6.1926, S. 10.

Ernst Fischer: Legende: Lenin (1927)

Der schöpferische, der staatengestaltende, der zukunftsbestimmende Mensch – das war bisher der große, leidenschaftliche, sich selber in allen Geschehen projizierende Egoist, der sein Privatleben ins Gigantische, Weltgeschichtliche steigerte. Alexander, der Knabe, der wagende Abenteurer, Cäsar, der Mann, der ehrgeizige Zyniker, Napoleon „Unmensch und Übermensch“, wie Nietzsche ihn nannte, Bismarck, das prachtvolle preußische Raubtier, sie alle, unberechenbar, überschäumend, wollten ihre Persönlichkeit und nichts als ihre Persönlichkeit durchsetzen, durchstoßen, wollten keine allgemeine Idee, sondern nur den eigenen Willen zur Macht verwirklichen. Sie alle waren – in höherem Sinne – ideenlos, glaubten an das eigene Genie und an die Dummheit der andern, an den eigenen Sinn und an den Unsinn der Welt, an den eigenen Aufstieg und an die Unveränderlichkeit der Masse. Sie siegten von Situation zu Situation und verachteten alle Systeme, sie meinten, die Herren einer Entwicklung zu sein, deren Werkzeuge sie waren. 

Die Gegenspieler dieser fanatischen Hasardeure waren die fanatischen Bekenner einer Idee, gegen die Tat erhob sich das Wort, gegen das Leben die Lehre, gegen die Macht der Geist. Aber so stark diese Männer in der Formulierung des Richtigen waren, so schwach waren sie, wenn es galt, das Richtige zu tun, und je mehr sie die Zukunft für sich hatten, desto mehr hatten sie die Gegenwart gegen sich. So schien es, als müsse ewig der Heiland gegen den Cäsar stehen, als gäbe es zwischen dem Genius der Erkenntnis und dem Genius der Tat keine Verständigung, als sei die Idee der Gemeinschaft unvereinbar mit der Gewalt der Realpolitik (denn Realpolitiker nannte man alle die großen Abenteurer, die Erfolg hatten). Hier der Mann der Idee, der Idealist, der Träumer, der Prophet – dort der Mann der Aktion, der Realist der Diktator, der Politiker, das war die Antithese, die man für selbstverständlich hielt. 

Auf einmal aber geschah das Unerhörte, das, was niemand erwartet hatte. Einer, der so fanatisch, so hartnäckig, so unerschütterlich an ein System, an eine Lehre glaubte wie selten ein Mensch, der den meisten als ein verbohrter Dogmatiker, als ein unbelehrbarer Irrealist galt, wurde über Nacht der Führer einer ungeheuren Bewegung, der Diktator eines gewaltigen Staates, ein Politiker von napoleonischer Intensität. Und er blieb dabei der gläubige Bekenner einer Idee, der von einer unantastbaren Überzeugung Besessene, der über alles Privatleben hinausragende Puritaner, wie eh und je. Und er war, obwohl er so rein und so bewußt der Diener einer überpersönlichen, einer allgemeinen Sache blieb, obwohl er den Geist an die Macht nicht verriet, die Zukunft an die Gegenwart nicht verkaufte, allen „Realpolitikern“, allen Diplomaten und allen Staatsmännern gewachsen. Das ist das Große an Lenin: die „Synthese von nüchternem Realismus und revolutionärem Enthusiasmus“, von der Otto Bauer am Parteitag der österreichischen Sozialdemokratie sprach, die Aufhebung des Gegensatzes von Gläubigkeit und Politik, die Vereinigung von Tat und Idee in einem einzigen Menschen. In hoher Vollkommenheit verkörperte er den Typus des marxistischen Politikers und, darüber hinaus, den Typus kommender Generationen, für die der alte Zwiespalt jeder Klassengesellschaft, der Zwiespalt zwischen Erkenntnis und Wirklichkeit, zwischen Denken und Tun in seiner tragischen Härte nicht mehr existieren wird. Er verkörpert den Typus des marxistischen Politikers wie Jaurés, wie Bebel – nur unter andern historischen Voraussetzungen, in einer anders gearteten Umwelt. Jaurés, der in einem demokratischen Staat mit revolutionären Traditionen um jeden Beistrich einer Resolution kämpfte, der das Kleinste und Unscheinbarste beachtete, um plötzlich mit hymnischem Schwung über alles hinauszubrausen und letzte Ziele zu weisen, Bebel, der mit verbissener Sachlichkeit für die unbedeutendsten sozialpolitischen Forderungen eintrat, um plötzlich in apostolischer Ergriffenheit die Wandlung der Welt zu predigen, sie waren bei allen Verschiedenheiten Lenin im wesentlichen verwandt. Aber die Situation, in der Lenin eingriff, war an Spannungen reicher, verlangte das Äußerste, die Übersteigerung aller Möglichkeiten. 

Man vergegenwärtige sich das Leben Lenins: als blutjunger Mensch wird er von der Idee des Marxismus gepackt, sein leidenschaftlicher Intellekt treibt diese Idee zu letzten, unerbittlichen Konsequenzen, steigert sie zu einem radikalen System – und diesem bleibt er treu, zwanzig Jahre lang im Exil, vor und nach dem fehlgeschlagenen Experiment im Jahre 1905, die Richtigkeit dieses Systems verteidigt er theoretisch gegen alle, die andrer Meinung sind. Liest hundert und hundert Bücher, tausend und tausend Broschüren, Zeitschriften, Zeitungen, polemisiert zornig, schonungslos, unduldsam gegen seine Widersacher, prophezeit, daß die Geschichte ihm recht gebe, daß er einen ungeheuren historischen Wahrheitsbeweis führen werde, konzentriert alle Gedanken, alle Gefühle, alle Energien in diesen mit Logik und Wissenschaft gepanzerten Traum und wartet, wartet. – Revolution in Rußland! Zwanzig Jahre lang hat er gewartet, nun wartet er keine Sekunde mehr: er kehrt in die Heimat zurück und schleudert, kaum angekommen, den Männern der Frühjahrsrevolution sein System wie eine Kriegserklärung entgegen. Und es beginnt das grandiose, das atemraubende Schauspiel des Eindringens der Idee in die Wirklichkeit, der Wirklichkeit in die Idee, der Verschmelzung dessen, was der Augenblick, was die politische Situation fordert mit dem, was von der Zukunft, von der Entwicklung gefordert wird. Es beginnt der Prozeß der Realisierung, in dem dieser maßlose Mensch, der zwanzig Jahre lang wartete und nun in wenigen Monaten alles vollbringen möchte, bis Maße des Möglichen kennengelernt und begreift, in dem die Theorie des Fanatikers nichts von ihrer diamantanen Unantastbarkeit verliert, der Fanatiker aber eine Geschmeidigkeit der Taktik gewinnt, die beispielslos ist. Es beginnt die Synthese von nüchternem Realismus, der zur Landverteilung, zur Neppolitik, zu den Auslandskonzessionen führt, mit revolutionärem Enthusiasmus, der durch den immer dichter werdenden Nebel der Gegenwart die Flamme der Zukunft nicht weniger deutlich sieht als einst. 

Und dieser Diktator, dieser phantastisch mächtige Mensch hat kein Privatleben, verzichtet auf alles, was nicht zur Sache gehört, scheint eine Fleisch und Blut gewordene Idee, das lebendige Symbol einer welthistorischen Bewegung zu sein. Die ganze Ungeduld der Arbeiterklasse, die über alle Vernunft hinaus an das Wunder glaubt, und die ganze Geduld der Arbeiterklasse, die gelernt hat, auf ihre Zeit zu warten, ihr ganzer Trotz und ihre ganze Klugheit, ihr ganzer wagender Mut und ihre ganze wärmende Vernunft, das alles vereinigt sich in ihm. Persönliches hat keinen Platz: Lenin liebt die Musik Beethovens, sie rührt an sein Herz, er will die Menschen umarmen und gut und brüderlich sein, wenn er sie hört – und darum versagt er sich diese Musik, denn es ist in dieser Zeit seine Aufgabe, hart zu sein und zu hassen. Vielleicht ist diese Anekdote nur eine Legende, jedenfalls aber trifft sie das Wesentliche: Napoleon, der Typus, den er verkörpert, lebte sein Leben, verschwenderisch, wild und bunt, Lenin lebt das Leben der Arbeiterklasse, das anonyme, das fachliche, das knappe Leben des Proletariats. Napoleon wall, daß sein Name, Lenin, daß seine Sache ewig sei. Napoleon ist das anarchische, Lenin das organisierte Genie. 

Auch Robespierre lebte sie wie Lenin. Nur daß jener die Wirklichkeit nicht anerkannte und ein ethisches Programm um jeden Preis durchsetzen wollte, nur daß er, der große Pendant, die Geschichte, die er schulmeisterte, nicht zu meistern vermochte, daß das papierene Gebäude seiner Theorie in dem allzu reichlich vergossenen Blut sich auflöste – und daß dann Napoleon kam, der große Gegenspieler aller Robespierres. Lenin war die Synthese: die abstrakte Reinheit des einen war in ihm und die realistische Kraft des andern, ein starres Prinzip, wie in Robespierre, aber durchstürmt von lebendiger Flamme, brutaler Lebensfülle, wie in Napoleon, aber organisiert wie eine Maschine, wie eine Partei. „Marx plus Elektrifizierung“, das war die Formel, auf die man die Revolution in Rußland brachte. Diese Formel bedeutet: „Revolutionärer Enthusiasmus und nüchterner Realismus!“ Diese Formel gilt überall, wo eine Arbeiterpartei nicht nur für eine Idee wirbt, sondern auch ein Stück Wirklichkeit verwaltet, sie gilt in Wien wie in Rußland. Diese Formel ist Mensch geworden in Lenin. 

Und so ist Lenin für alle Marxisten, für alle Arbeiter, gleichgültig, welcher Partei sie angehören, gleichgültig, ob sie die politische Taktik, die er lehrte, anerkennen oder ablehnen, als Persönlichkeit, als Typus und als Symbol die Verkörperung ihres Wesens, ihres Begriffes von menschlicher Größe – hinausragend über die Geschichte in die Legende. 

In: Arbeiter-Zeitung, 6.11.1927, S. 17.

Oskar M. Fontana: Das alltägliche und das heroische Rußland (1928)

Daß neben dem heroischen Rußland der Revolution ein alltägliches Rußland der Nachrevolution lebe, hatte man lange übersehen. Trotzgelegentlich guter Berichte. Aber diese Rußland-Reisenden, die das russische Leben in längstens zwei bis drei Monaten kennen lernen wollten, glichen sie nicht, der eine sehr, der andere nur noch nebelhaft, den Kriegsberichterstattern, denen die Front gezeigt wurde! Erst jetzt allmählich beginnt sich das alltägliche Rußland zu zeigen. Durch Selbstdarstellung. Nach dem heroischen „Potiomkin“ kommt das alltägliche „Bett und Sofa“. Es ist der Weg, den Sowjet-Rußland schon gegangen und den es bis ans Ende zurückgelegt hat. Das allein verspricht ihm Dauer. Darum auch der Wechsel der Tendenz. Der Heroismus rief zur Revolution auf, hielt sie wach; die Alltäglichkeit macht Propaganda für gute Mütter, gute Väter, viele und gesunde Kinder. 

In Lenin war das alles: der Heroismus und die Alltäglichkeit. Daher kam denn auch seine Größe, darum wußten alle schon am Beginn, auch seine Lehrer und Gefährten, hier wachse der Führer, deshalb nannten die Genossen den Siebenundzwanzigjährigen „den Alten“. Er bezwang sie durch sein Wesen und er bezwang Rußland, das zaristische und das anarchische, das knutende und das schwatzende, weil er beides hatte: den Heroismus der Empörung und das Wissen um die Notwendigkeit der Alltäglichkeit. Man merkt das genau, wenn man sein sehr merkwürdiges Leben Schritt für Schritt verfolgt, wie es jetzt Valeriu Marcu mit großer Anschaulichkeit und sehr geistreicher Verknüpfung der Tatsachen geschildert hat. (Erschienen bei Paul List, Leipzig.)

Heroisch ist schon Lenins Erwachen zur Revolution: Sein Bruder wird gehängt. Der Schatten des Bruders verläßt ihn nicht mehr, steht Zeit seines Lebens hinter ihm. Er, der zweite Sohn des Schulinspektors Uljanow, nimmt hinfort den Kriegsnamen seines Bruders an und brennt diese zwei Silben: Lenin, Europa ein. Aus Unwirklichkeit wird Wirklichkeit, die nicht mehr fortzulöschen ist. Als das Sterben ihn selber, den zum Diktator gewordenen, anrührt, hat er einen Wunsch: da er seine Tätigkeit einschränken muß, will er sich nur noch der Ökonomie des Landes widmen, sie in Ordnung bringen. In diesen beiden Zügen hat man den ganzen Menschen: das Dunkel, das um ihn ist und das er menschlich fast kaum verlassen hat, und die Wachheit des Geistes, die in ihm ist, die ihm befiehlt, immer gerade das Notwendige zu tun. Er war besessen von der Idee. Doch nicht die Theorie, in der er auch Meister war, hielt ihn fest, sondern ihre Verlebendigung zog ihn an. Immer wieder rannte er die Wirklichkeit an, höhlte sie aus, wurde nicht müde, sie kennen zu lernen. Er mußte sie immer wieder probieren und er verzagte dabei nicht, denn nur so war die Idee in die Welt zu bringen. Dieser Mann phantasierte in Organisationen und organisierte Phantasien. Immer stand sein Leben auf Messers Schneide, aber er fiel sich nicht zu Tode. Er hielt sich im Gleichgewicht. Alles vermochte er. Nie hatte er, der ins Heimliche Gehetzte, vor mehr als 100 Menschen gesprochen. Als er in einer abenteuerlichen Reise, auf der ihm Radek in Stockholm ein Paar ganzer Schuhe kauft, nach Petersburg kommt, erwarten ihn Tausende. Er soll zu ihnen sprechen. Und er spricht. Und ist sofort einer, der zu einem Volk sprechen kann. Als er die Macht des zugrundegegangenen Staates übernimmt, sagt er einem Freund: „Wir stehen vor großen Schwierigkeiten. Wir sind alte, eingeschworene Revolutionäre, wir haben nicht gelernt, die Wirtschaft und den Staat zu leiten, aber wir werden es lernen.“ Und er lernte es. Ein Riesenreich ist zusammengebrochen wie ein Toter. Als Lenin am 21.Jänner 1924 stirbt, steht dieses Riesenreich wieder, atmet, lebt. Das Ungeheuerliche dieser Leistung ist nicht zu ermessen, ist schon heute Legende. 

Bezeichnet Valeriu Marcus Lenin-Werk die Höhe des erneuernden Aufschwungs, zu der das heroische Rußland fähig war, so bedeutet der Roman Ilja Ehrenburgs „Michail Lykow“ (im Russischen „Rwatsch“, deutsch im Malik-Verlag, Berlin) das alltägliche Rußland der Revolution und Nep-Zeit. Was oben gedacht, entschieden wurde, unten wurde es gelebt. Da ist er, der jede Gestalt annehmende „Masse Mensch“, Typ, der vorgestern als Schwächling jedem Luftzug gesellschaftlicher Verhältnisse nachgab, der gestern in der Revolution unversehens ein Held war und heute in der „Neuen ökonomischen Politik“ ein Schieber wird. Da ist sein brüderliches Gegenspiel, der den Kollektiv-Willen mit stummer Zuversicht Erfüllende und an einer neuen Gesellschaft zäh, verbissen Arbeitende, seine Tränen, seine Enttäuschungen in sich Erstickende, der in beklemmender Verwirrung ich mit der Losung Tröstende, alles müsse einfacher werden, noch einfacher. Da sind die neuen Menschen, die keine Biographie haben, deren Gefühle mit achtstelligen Zahlen zu multiplizieren sind, während sie selber nur ein instruktiver Dezimalbruch sind, deren Wesen aber „die Anziehungskraft jungfräulicher, noch nicht vom Stiefelabsatz des Kolonisators berührter Erde“ hat. Da sind die „gewesenen Menschen“ die Kellermäuse der Revolution, die armseligen Existenzen, „die in einer anderen Zeit ihr Leben glücklich, langweilig und banal verbracht hätten, jetzt aber von den Ereignissen zermalmt und doppelt unglücklich waren, da sie nicht wußten, warum ihren Schultern, den schwachen Spießerschultern, die nur für einen Maßrock geschaffen zu sein schienen, von der Geschichte eine so schwere Bürde von ungewolltem Heroismus aufgebürdet worden war“. Da sind die Zeugen zwanzigjähriger, unterirdischer Arbeit, das Gesicht „eine Reißbrettzeichnung von Ideen und Gefühlen“ oder sprühend von einem in allen Kaffeehäusern Europas gelernten Sarkasmus, diese etwas anachronistischen Gestalten der ersten Internationale in einer Zeit der Trusts und Zechereien und sich Anpassenden. (Wer wird sie ablösen, diese stillen, arbeitsamen, rechtlichen und sachlichen Menschen? fragt Ehrenburg einmal.) Da sind die vom Foxtrott wie von einer eingeschleppten Seuche Ergriffenen, sie werden die Glieder, doch sie geben vor, dabei „die Zersetzung des Westens“ zu studieren. Da sind die rundweg Raffgierigen; die gestern an überschwänglichen Beglückungsplänen irgend eines Volkskommissariats Arbeitenden und heute, weil ein gesunder, aber bitterer Abbau eingesetzt, sich wahllos Verkaufenden; da sind die in Speisehäusern nach Abgabe von Marken Essenden und da sind die Schmausenden in wieder erstandenen Bars. Und ist die alte Hysterie der alten Liebe, grundlos sich opfernd und hingeschlachtet vom Tag und Wieder-Tag. Aber da ist auch das neue Geschlecht der „Komsomolzen“, der jugendlichen Arbeiter. „Wir wissen zwar nicht, was aus dieser Jugend werden wird, ob aufbauende Kommunisten oder „Speze“ auf dem Gebiete kleiner Dinge, die unser Heimatland amerikanisieren werden, erheben wir doch nicht darauf den Anspruch, die Rolle eines Orakels zu spielen. Aber wir lieben dieses neue Geschlecht, das heroisch ist in seiner Keckheit, fähig ist, nüchtern zu lernen und mutig zu hungern, nicht opernhaft, nicht nach Art der Studenten in Leonid Andrejews Stücken, sondern allen Ernstes zu hungern, von Maschinengewehren zu Lehrbüchern für den Selbstunterricht herzugehen und umgekehrt, dieses Geschlecht, das im Zirkus vor Lachen wiehert und drohend ist in seiner Trauer, tränenlos, verhärtet, fremd der Verliebtheit und den Künsten, hingegeben den exakten Wissenschaften, dem Sport und dem Kino.“

Dieser fast 600 Seiten starke Roman Ilja Ehrenburgs ist mehr als ein Produkt „künstlerischer Phantasie“ er ist Abdruck eines Landes, eines Volkes, einer Zeit. Die ungeheuerste europäische Bewegung, wie sie jenseits des Heroismus ihrer Führer und nach ihrer heldenhaften Epoche war, wie sie lebte, ich streckte und durch alle Wehen und Verwirrungen doch vorwärts stößt, in Ilja Ehrenburg hat sie einen Schilderer gewonnen, der ihrem gigantischen Feuerausbruch und dem zähen Verfließen der erkaltenden Lavamassen gewachsen ist, einen Schilderer, gleicherweise von Menschlichkeit und Kollektivität, von Pathos und Skepsis genährt, einen Schilderer, den nur Schönredner der Konterrevolution verdächtigen können, der aber in Wahrheit revolutionärer als sie ist. Denn das ist Revolution, nach einem Wort Dantons „die Wahrheit, die bittere Wahrheit“, zu wollen und zu geben und sie nicht in Hofberichte umzufrisieren. Ilja Ehrenburgs Roman ist ein Dokument und wird es bleiben als ein Zeichen der großen menschlichen Sowjet-Idee und ihrer allzu menschlichen Widerstände und des Sieges des Herzes, das „zusammengeschrumpft wie das Quecksilber des Thermometers, eigensinnig hochzuflattern versucht“. Immer wieder. 

In: Der Tag, 15.1.1928, S. 17.

Fritz Karpfen: Gegenwartskunst. Russland (1921)

MASCHINENKUNST

In den Kreis Rußlands gehört auch jene neueste Darstellung, die in aller Welt in diesem Zeitpunkt Mode ist. Es ist der völlige Verzicht auf alle herkömmlichen Materialien, wie Farbe, Kohle etc. und ihre Ersetzung durch Gebrauchswerkzeuge des Alltags. Glasscherben, Zeitungsfetzen, Holzstücke, Kistendeckeln, Gasrohre, Steine, Messing usw. Diese lieblichen Dinge aus dem Müllkasten werden auf eine Holzfläche hingepickt, festgenagelt und mit einer harmlos-naiven Überschrift versehen. Gewiß steht diese ›Kunst‹ in sehr entfernter Verwandtschaft zur Kunst. Es besteht dieselbe Beziehung des Wortbegriffes, wie etwa die Kunst eines hervorragenden Malers, zu der eines hervorragenden Taschendiebes. Aber glattweg in das Gebiet der Gaunerei darf man diese // Art nicht einreihen, davor warnt die Anwendung die von Künstlern wie Archipenko, Picasso etc. betrieben wird. Nur ist der Unterschied der, daß diese sei als ernste Arbeit, als ernsten Versuch zur Erreichung einer neuen Form nützen, während sie den anderen nur snobistischer Aufputz ihres Nichtskönnens ist. Freilich ist es schwer, den Unterschied zu treffen. Denn kein Mensch wird aus der verschiedenen Anordnung die Abfälle erkennen, ob dieses ›Bild‹ von einem Künstler und jenes von einem Kunstschwindler herrührt, in diesem Falle muß man nicht an dem Werke, sondern an der Person den kritischen Maßstab anlegen. Bei Archipenko allein sieht man mehr, hier, etwa in der der Skulptur: ›Frau im Sessel‹ merkt man schon, daß einer im rastlosen Suchen nach Erfüllung gearbeitet hat. Es ist dem tatsächlich uneingenommenen Betrachter doch möglich, aus den wirren Dingen den Sinn des Ganzen zu entnehmen, der Wille ist kennbar und man fühlt, daß der Künstler hier einen Bewegungsausdruck gestalten will. Es ist der Drang eines Geistes voll Aufruhr, eines seelischen Revolutionärs, der Kunst neue Bahnen abzustecken und im absolut Neuen, Ewigkeitsgültiges zu bereiten. Und schließlich ist diese Art nur die eruptivste Reaktion gegen das Schema des toten Abklatsch gelehriger Kunstlehrer des Impressionismus. Der Versuch wird und muß mißlingen. Aber aus der Sackgasse, in die da die echten Künstler gelangt sind, werden sie mit verstärkter Energie zum Rechten zurückkehren, und man lernt be//kanntlich aus mißglückten Erfindungen mehr, als aus alltäglichen Nutzanwendungen. 

Dieser neue Darstellungsbegriff steht in Rußland unter der geistigen Führung Tatlin’s und wird als tatlinische Maschinenkunst angesprochen. Die patentierten Anhänger Tatlins freilich werden Unterschiede zwischen der Art Tatlins und der Archipenkos entrüstet zu ziehen wissen. Was aber kein Grund ist, hier nicht die gesamte Darstellung in einem Begriff zu werfen, da doch alles derartige buchstäblich sehr bald zum alten Eisen geworfen wird. 

[…]// 

Nun zu den Repräsentanten der russischen Gegenwartskunst. Die führenden Geister, Marc Chagall, Kandinskij, Archipenko, sind auch bei uns bekannt. Weniger Burljuk, Jawlenskij, Grigorjew, Malewitsch, Lentulow und ihre Anhänger. Jeder dieser Künstler vertritt beinahe einen anderen Ismus. Von Bedeutung sind ferner die Plastiker Konekow und Koroljow, auch der abseitsstehende Igor Jakimow darf hier nicht fehlen. Die hervorragendsten Künstler sind die erstgenannten. 

Wien 1921, S. 21-22.

Lilli Körber: Die Frau in der Sowjetunion (1933) 

Dr. Lili Körber, deren vor einigen Monaten im Rowohlt-Verlag erschienener Roman „Eine Frau erlebt den roten Alltag“ (Als Arbeiterin in den Putilow-Werken) berechtigtes Aufsehen erregt, stellt uns ihre in Rußland gewonnenen Erfahrungen und Beobachtungen zur Verfügung. Dr. Körber hat, um die russischen Lebens- und Arbeitsverhältnisse gründlich und aus persönlichem Erleben heraus kennenzulernen, sich monatelang in den weltberühmten Leningrader Putilow-Werken als Arbeiterin betätigt und die gewonnenen Erkenntnisse in ihrem Roman niedergelegt. Daß sie auch für das Leben außerhalb der Fabrik ein helles Auge hat, beweisen ihre Schilderungen des Lebens der Frauen in Rußland.

„Wir tragen keinen Schleier mehr,“ erklärte mir stolz eine junge Turkmenin aus Baku, und dies gilt für die Frau in der Sowjetunion überhaupt: der Schleier aus ungerechten Gesetzen, welche das Dasein der Frau drosseln und sie gegenüber dem Manne benachteiligen, ist gefallen. Gleiches Recht für beide Geschlechter, gleicher Lohn für gleiche Arbeit – und damit diese Bestimmung nicht auf dem Papier bleibt, wird die Hilfsarbeiterin in speziellen Kursen zur qualifizierten Arbeiterin herangebildet. Der Mangel an Arbeitskräften hat das Seinige getan – heute trifft man die Russin auf allen Gebieten, in allen möglichen Berufen – von der Schaffnerin an bis zur Leiterin eines wissenschaftlichen Instituts.

Auch die „Ketten der Liebe“ sind zerbrochen – die wirtschaftliche Abhängigkeit vom Manne. Da jeder arbeitet und keiner in unserem Sinne „reich“ ist, sind die Vernunftehen geschwunden. Die Scheidung ist so leicht – das Einverständnis des einen der Gatten genügt – daß die Ehe ihren Charakter der Bindung verlieren mußte. Es genügt, daß zwei Menschen einander als Mann und Frau anerkennen, um als verheiratet zu gelten, den Begriff „uneheliches Kind“ gibt es nicht. Die Kinder werden den Eltern nicht weggenommen, wie man hier vielfach glaubt, aber praktisch ist es so, daß die Mutter meist arbeitet und für diese Zeit die Kinder in die Betriebskrippe oder in den Kindergarten gibt. Sie darf zweimal während der sieben- bis achtstündigen Schicht (der Siebenstundentag ist noch nicht in allen Betrieben durchgeführt) für je eine halbe Stunde ihren Säugling aufsuchen, diese Zeit wird vom Lohn nicht abgezogen. Die älteren erhalten zwei Mahlzeiten umsonst. Der bezahlte Schwangerschaftsurlaub dauert für die Arbeiterin zwei Monate vor und zwei Monate nach der Geburt, für die Angestellte je sechs Wochen. Gearbeitet wird vier Tage, der fünfte ist frei. Ist die Frau alt und nicht mehr leistungsfähig, so bekommt sie, ebenso wie der Mann, eine Altersrente. Da diese Rente nicht hoch ist, darf sie nebenbei eine leichte Beschäftigung annehmen, die ihr von der Arbeitsnachweisstelle vermittelt wird.

Weniger günstig ist dir Russin vorläufig noch als Hausfrau gestellt. Aufzuräumen gibt es allerdings nicht viel – ein Ehepaar hat selten mehr als einen Raum zu Verfügung, außer, wenn einer der beiden Gatten ein hochqualifizierter Wissenschaftler oder Künstler ist, dann wird ihm noch ein Studierzimmer zugebilligt. Weitaus komplizierter ist das Kochen – da in einer Wohnung einige Parteien wohnen, wird die Küche gemeinsam genützt – und die Tendenz geht dahin, die individuelle Kocherei aufzugeben und sich im Speisehaus zu verköstigen, das zur Organisation gehört, in der man arbeitet. Es kommt oft vor, daß man für die ganze Familie das Essen aus dem Speisehaus holt und es dann aufwärmt, in den alten Wohnungen auf einem Spirituskocher, „Primus“ genannt, in den neuen auf dem Gasherd. (In allen neuen Häusern gibt es Zentralheizung.) Zieht es jemand vor, zu Hause zu kochen, so bezieht er die Lebensmittel auf Karten, und zwar gibt es Karten der 1. Kategorie für Arbeiter und der 2. Kategorie für Angestellte oder Familienangehörige. Die Karten der 1. Kategorie berechtigen zu viel mehr Produkten. Da aber anderseits die qualifizierte geistige Arbeit sehr gut bezahlt wird, haben die Intellektuellen die Möglichkeit, das Fehlende, zu höheren Preisen als in der Konsumgenossenschaft, auf dem Markte oder in den staatlichen Delikatessenhandlungen zu holen. Deshalb ist es so schwer, die Preise in der Sowjetunion anzugeben, da sie wechseln, je nachdem ob man die Dinge in einem „offenen“ staatlichen Geschäft auf Karten oder auf freiem Markt gekauft hat. Ebenso ist es mit der Ware. Es gibt offene Geschäfte, wo es teuer ist, und billige geschlossen Geschäfte, die Organisationen angeschlossen sind, z.B. Zebuku, das Geschäft für Wissenschaftler, Geschäfte für Studenten, für einzelne Betriebe, für ausländische Spezialisten usw. Der Warenhunger übersteigt aber um vieles das, was auf den Markt kommt (ebenso wie die rege Bautätigkeit noch nicht in der Lage ist, dem Wohnungsmangel abzuhelfen. Vor allem fehlen Luxuswaren, die früher aus dem Auslande eingeführt wurden, „Eleganz“ in unserem Sinne kennt man dort nicht, anderseits sind auch die Jammergestalten aus Gorkis „Nachtasyl“ verschwunden (verwahrloste Kinder traf ich nur noch im Süden – in Tiflis und Baku). 

Die Geselligkeit ist sehr rege – insofern man Zeit hat; infolge des Mangels an Arbeitskräften hat jeder zwei und drei Beschäftigungen. So kenne ich eine Ärztin in Leningrad, die daneben englische Sprachlehrerin ist und außerdem noch Kinderbücher schreibt. Vielleicht ist das der Grund, warum die Russin nie beleidigt ist, wenn man sich „lange nicht gezeigt“ oder „nicht angerufen hat“. Ist man aber da, so muß man mitessen, bekommt alles vorgesetzt, was es Gutes im Hause gibt und wird dann, wenn das Wetter schlecht oder es inzwischen spät geworden ist, zum Übernachten eingeladen – man benützt das Lager eines abwesenden Familienmitgliedes,  – dieser Fall trifft immer zu – da nirgends so viel gereist wird als in der Sowjetunion. „Merkwürdige Menschen sind diese Ausländer,“ sagte mir eine russische Freundin, „wenn man sie einlädt mitzuspeisen, sagen sie: ich will Sie nicht berauben! Niemals fällt unsereinem so etwas ein!“

Das Interesse für das Ausland ist außerordentlich rege und immer wieder wird der Wunsch zum Ausdruck gebracht, mit den anderen Ländern in Frieden zu leben.

In: Der Tag, 16.1.1933, S. 3.