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 [Parteivorstand]: Genossen und Genossinnen! (1919)

Einige tausend Arbeitslose und Heimkehrer haben gestern eine Demonstration veranstaltet, die damit ge­endet hat, daß Menschen, die ebenso Proletarier sind wie die Demonstranten selbst, getötet und verwundet worden sind, daß Volkseigentum in Brand gesteckt worden ist.

Wir kennen die Not der Arbeitslosen und be­greifen ihre Erregung. Wir kennen das Elend der Heimkehrer und begreifen ihre Erbitterung. Aber gewalttätige Demonstrationen sind nicht das Mittel, Not und Elend zu lindern.

Was soll durch Gewalttätigkeiten erreicht werden? Will die Arbeiterschaft das gegenwärtige Regierungssystem ändern, so bedarf es dazu nicht der Gewalt. Unsere Genossen in der Regierung werden ihr auf­reibendes und sorgenvolles Amt keine Stunde länger behalten, als die Arbeiterschaft es will. In der Stunde, in der die Mehrheit eurer von euch selbst gewählten Vertrauensmänner beschließt, daß unsere Genossen aus der Regierung scheiden sollen, werden sie das selbst­verständlich tun. Die deutschösterreichische Arbeiterschaft hat es also selbst in der Hand, durch ihren bloßen Beschluß, ohne jede Gewaltanwendung das Regierungssystem zu ändern. Aber freilich, nur der Gesamtheit der organisierten Arbeiterschaft steht dieses Recht zu! Ein paar tausend Demonstranten haben nicht das Recht, ihren Willen der Gesamtheit der organisierten Arbeiterschaft gewaltsam aufzuzwingen!

Was heute geschehen ist, ist also sinnlos! Aber mehr als das! Es ist zugleich höchst gefährlich! Längst schon ruft die Bourgeoisie nach der Besetzung Deutschösterreichs durch Truppen der Entente! Unter dem Schutze der Bajonette der Entente möchte sie ihre Herrschaft wieder aufrichten! Bisher haben wir diese Gefahr abgewehrt, indem wir die Vertreter der Entente überzeugt haben, daß Deutschösterreich, trotz dem furchtbaren Massenelend, aus eigener Kraft Ruhe und Ordnung aufrecht erhalten kann! Daß wir das wirklich können, hat auch der heutige Tag bewiesen: Mit musterhafter Disziplin hat unsere Volkswehr die Ordnung wiederhergestellt, sobald sie auf den Schauplatz der Demonstration gerufen wurde. Aber trotzdem ist die Gefahr groß. Die Entente will sich die Verkehrswege von Italien zu ihren tschechischen und polnischen Bundesgenossen nicht stören lassen; wenn sie befürchten wird, daß unser Land zum Schauplatz größerer Unruhen werden könnte, dann droht uns die Gefahr, daß Wien und unsere anderen großen Industriegebiete von Ententetruppen besetzt werden. Dann würde die Gegenrevolution triumphieren! Unsere Hoffnungen für die Zukunft wären bedroht, das schon Errungene wäre gefährdet!

Es ist unsere Pflicht, Genossen und Genossinnen, eine solche Katastrophe zu verhindern! Klärt eure Arbeitsbrüder und Arbeitsschwestern darüber auf, daß Gewalttätigkeiten und Unruhen uns fremde Truppen ins Land bringen und damit alles, was wir schon errungen haben, in Gefahr bringen, alles, worauf wir hoffen, gefährden können! Klärt die ganze Arbeiterschaft darüber auf, daß jeder, der heute durch sinn- und zwecklose Gewalttätigkeit die republikanische Ordnung stört und die proletarische Disziplin verletzt, nur den alten Mächten hilft, unter dem Schutze fremder Waffen ihre Herrschaft wieder aufzurichten!

Genossen und Genossinnen! Wir brauchen revolutionären Mut und revolutionäre Tatkraft! Aber wir brauchen auch — heute dringender denn je! — Besonnenheit, Einsicht und Selbstzucht!

Der Parteivorstand der deutschösterreichischen Sozialdemokratie.

In: Arbeiter-Zeitung, 18.4.1919, S. 1.

David Josef Bach: Die Kunststelle der Arbeiterschaft

Als im November 1919 mit Beschluß des Parteivorstandes eine eigene Kunststelle der Bildungszentrale errichtet wurde, dachte man zunächst nur an eine bequemere organisatorische Zusammenfassung der vorhandenen Bestrebungen; ein Ausbau schien möglich und wünschenswert, aber seine Dimensionen waren nicht weniger als klar. Vorhanden war nicht allzuviel. Vor allem die Arbeiter – Symphoniekonzerte, die in Wien im Gegensatz zu allen anderen Städten Deutschlands am Beginn der proletarischen Kunstpflege stehen und daher auch der ersten Wiener Volksbühne um einige Jahre voraus sind. Die Arbeiter – Symphoniekonzerte in ihrem äußerlich bescheidenen Umfang hatten zähe auch die Schwierigkeiten der Kriegszeit überstanden. Die Volksbühne jedoch, schon vor dem Kriege fast vollständig zugrunde gerichtet, schleppte nach dem Verlust des eigenen Theaters kümmerlich ein paar hundert Mitglieder weiter. Sie kamen so wenig in Betracht, daß, als nach dem Umsturz zum erstenmal Vorstellungen in den ehemaligen Hoftheatern, nunmehr Staatstheatern, stattfanden, diese Vorstellungen unter dem Namen der Arbeiter – Symphoniekonzerte gehen mußten, weil diese die einzige Organisation waren, die tatsächlich ganz Wien umfaßte. Mit der Gründung der Kunststelle war ein neues Organ geschaffen, daß auch für das Theater überhaupt für das gesamte Gebiet der Kunst dasselbe leisten sollte wie vordem die Arbeiter – Symphoniekonzerte allein. Da gab es nun die erste große Schwierigkeit. So groß nämlich das Bedürfnis der Arbeiterschaft nach guten Vorstellungen war, fast ebenso groß war nach den üblen Erfahrungen, die sie mit der ersten Volksbühne gemacht hatte, das Mißtrauen gegen den Zwang und die materielle Belastung einer neuen Volksbühne. Es mußte daher ein anderer Weg gewählt werden, der den Verhältnissen Rechnung trug, ohne das Ziel aufzugeben. Die Kunststelle ist zum Unterschied von allen ähnlichen Volksbühnenorganisationen nicht auf die einzelnen Mitglieder, sondern auf die politischen  und gewerkschaftlichen Organisationen aufgebaut. Die Kunststelle gibt die Karten nicht an den einzelnen Teilnehmer, sondern in vereinbartem Ausmaß an jede teilnehmende Organisation ab, die erst wieder den Betrieb an ihre Mitglieder übernimmt. Dadurch ist für beide Teile das Gefahrenrisiko ausgeschlossen, natürlich nur so lange, als die Kunststelle wirklich das Vertrauen der Arbeiterschaft genießt, weil davon die Höhe der Kartenbestellung durch die Organisation abhängt. Die Ausdehnung, die die Kunststelle nun tatsächlich gewonnen hat, weißt natürlich in erster Linie der Massen, dann aber wohl auch das Vertrauen der Massen zu dieser Kunstorganisation.

           Noch im Jahre 1919 stiegen wir auf durchschnittlich zwanzig Vorstellungen im Monat, im vergangenen Jahre bereits auf 39 und in den letzten zehn Monaten wurden nahezu eine halbe Million Eintrittskarten verbraucht. Noch in einer anderen Hinsicht muß die Kunststelle beweglicher sein, als es sonst Volksbühnenorganisationen zu sein pflegen. Wir haben Vorstellungen in den Theatern aller Grade und aller Arten. Diese große Bereicherung des Spielplanes, die durch ein einziges Theater allein, und wäre es das größte, niemals erzielt werden kann, bringt organisatorisch den Nachteil einer größeren Schwierigkeit bei der Kartenverteilung mit sich; ein mechanisches Gleichmaß ist vollkommen ausgeschlossen. Dazu kommt, dass die Preise der einzelnen Vorstellungen je nach dem Theater verschieden sind, ja auch die Preise der Vorstellungen in demselben Theater; jedesmal ist der Fassungsraum ein verschiedener, auch in demselben Theater wechselt die Zahl der verfügbaren Sitze, und da durchschnittlich alle zwei Monate eine Verteuerung eintritt, maß immer eine neue Umrechnung vorgenommen werden. Um nur ein Beispiel zu geben: Von 5000 Kronen, die eine Vorstellung im Burgtheater noch 1920 kostete, sind wir jetzt auf das nahezu Zwanzigfache gestiegen. Es darf dabei jedoch nicht übersehen werden, daß die Staatstheaterverwaltung selber bei diesen Arbeitervorstellungen finanzielle Opfer bringen muß. Damit allein wäre es nicht getan, denn die Einnahmen, welche die Kunststelle aus dem Kartenvertrieb erzielt, bleiben in den allermeisten Fällen hinter den Selbstkosten zurück. Dies ist der Punkt, an dem die Hilfe der Gemeinde Wien (gesperrt gedr. Im Orig.) in großzügiger Weise eingesetzt hat .

           Mußten wir noch das Jahr 1919 hindurch die Arbeiter-Symphoniekonzerte zum Beispiel ohne jede Subvention durchbringen, so wäre dies heute bei den Saal- und Orchesterpreisen schlechterdings unmöglich; es ist ausgeschlossen, die Preise so zu erhöhen, daß sich die Veranstaltung selber decke, will man nicht die Arbeiter aus den für sie bestimmten Veranstaltungen vertreiben. Die Gemeinde Wien widmet seit 1919  6 Prozent des Ertrages der Lustbarkeitssteuer der Unterstützung künstlerischer Veranstaltungen „für Arbeiter, Angestellte und Schüler“. Diese Unterstützung allein ermöglicht es, Arbeitervorstellungen und Arbeiter-Symphoniekonzerte aufrecht zu erhalten. Allerdings, die Grenze nach oben ist bereits erreicht und ob sie nicht überschritten wird, wenn eine neue, heute schon unausweichliche Verteuerung eintritt, werden schon die nächsten Wochen lehren. Von dem Kampf, den die Bühnenangestellten um ihre Existenzmöglichkeit führen müssen, werden auch die Arbeitervorstellungen berührt. Es hat schon im vergangenen Jahre nicht an Versuchen gefehlt, die Arbeitervorstellungen gegen die geistigen und manuellen Arbeiter des Bühnenbetriebes auszuspielen, selbstverständlich ohne Erfolg. Auf der anderen Seite ist es ebenso unmöglich, auf dem Umweg über die Subvention unsere Veranstaltungen zu einer größeren Beitragsleistung für die Theaterunternehmungen heranzuziehen. Theaterdirektoren schenken uns nichts; sie sind schließlich auch nicht dazu berufen. Eine nüchterne Betrachtung der Tatsachen lehrt, daß die Arbeitervorstellungen ein sehr großer wirtschaftlicher Faktor für die Wiener Theaterbetriebe geworden sind, ja daß einzelne Betriebe ohne diese Vorstellungen gar nicht aufrecht erhalten werden könnten.

          Aber noch mehr. Mit der Organisierung der Arbeitermassen als Theaterkonsumenten ist die Aufgabe einer proletarischen Kunststelle keineswegs erfüllt. Wenn wir die ursprünglich guten Instinkte eines neuen Theaterpublikums entwickeln, wenn wir es ohne Zwang, nur durch das Beispiel, durch Selbsterziehung, dahin bringen, nur Gutes und Wertvolles zu verlangen, so veredeln wir damit auch das Theater. Heute stehen die Dinge so, dass selbst die größten und reichsten Bühnen wirklich wertvolle Stücke nicht aufführen können, ohne sich vorher der Hilfe der Kunststelle zu versichern. Niemals wäre das deutsche Volkstheater an eine Neuinszenierung des „Don Karlos“ geschritten, niemals an die Aufführung von „Dantons Tod“, niemals wäre „Gas“ aufgeführt worden, wenn nicht die Kunststelle von vornherein eine Anzahl Aufführungen erworben hätte. Die Beispiele lassen sich leicht vermehren, auch für andere Bühnen. Es gereicht den Direktionen zur Ehre, daß sie diese Hilfe benützen, um auch ihr künstlerisches Programm durchführen zu können. Diese Hilfe zu gewähren ist nicht immer ganz leicht. Denn die Kunststelle kann den Bühnen weder den Dramaturgen noch den verantwortlichen Oberregisseur ersetzen, sie kann aber auch nicht zugeben, daß die literarischen Versuche der Wiener Theater ausschließlich auf Kosten der Arbeiterschaft unternommen werden. Daß es kein Literaturcafé gibt, welches jetzt nicht sogenannte, „revolutionäre“ Stücke liefern würde, oder Dramen, die an die „Zukunft“ appellieren, versteht sich. Doch die Arbeiterschaft braucht nicht ein „Theater der Intellektuellen“, das heißt in Wahrheit ein Theater des papierenen, totgeborenen Geistes, sondern sie braucht das Theater des Volkes, des Volksganzen, zu dem alle lebendige und lebensfähige Kunst gehört.

Bezeichnend genug können in Wien auch Volksstücke und wirklich lustige Possen nicht aufgeführt werden, wenn nicht die Arbeitermassen dafür eintreten. Wir haben A n z e n –

g r u b e r vor dem Verschwinden aus den Spielplänen gerettet, wir werden ähnliches bald für

N e s t r o y leisten müssen. Während das Amüsierbedürfnis der Zahlungsfähigen dem „Schwan“ von Molnar nachläuft, hat die Arbeiterschaft allein sechzehn Aufführungen seiner besten Dichtung „Liliom“ ermöglicht. Ein redlicher Künstler wie Rudolf H a w e l hätte es mit seinem Volksstück „Der reiche Aehnl“ nicht über zwei Aufführungen gebracht, wenn nicht die Kunststelle eingegriffen hätte; jedes Mal hat jubelnder Beifall dem Volksdichter gedankt. Und wie war es den mit Raimund? Als Karl E t l i n g e r, den jetzt Berlin als Schauspieler und Regisseur festhält, die „gefesselte Fantasie“ bearbeitet und neu einstudiert hatte, fand sich hierfür überhaupt kein Theaterdirektor: erst als sich die Kunststelle von vornherein verpflichtete, wagte es ein Theater. In Berlin hat jetzt das Staatstheater die „gefesselte Fantasie“ in der selben Bearbeitung, mit dem selben Etlinger als eine Art Sensation herausgebracht, bei uns in Wien hatten wir die Sensation von achtzehn Aufführungen ausschließlich vor Arbeiterpublikum. Noch ein besonders bezeichnendes Beispiels verdient Erwähnung: die „Troerinnen“ des Euripides, eine der besten Aufführungen des Burgtheaters, waren schon abgesetzt, da wagte es die Kunststelle mit vier Aufführungen, und der tiefe Eindruck, den die Dichtung auf proletarische Hörer machte, gab ihr Recht. Natürlich war es ein Wagnis und wir müssen oft genug wagen. Richtung und Haltung gibt die Ueberzeugung, daß a l l e Kunst, insofern sie überhaupt Kunst ist, revolutionär ist und revolutionär wirkt. In Deutschland, wo es Volksbühnen der verschiedensten politischen und religiösen Parteien gibt, wird lebhaft die Frage erörtert, ob und in wieweit Kunstwerke herangezogen werden dürfen, die nicht unmittelbar dem begrenzten Fühlen und Wollen eines bestimmten Kreises entsprechen. Aber ist nicht diese Fragestellung an sich irreführend, falsch? Grundsätzlich müssen wir daran festhalten, jede Kunst, die ihren Namen verdient, dem Volk zu erschließen. Die taktischen Probleme, die sich bei der Durchführung ergeben, sind nicht Fragen der p o l i t i s c h e n Opportunität, oder nur in einem sehr geringen Grade, sondern der künstlerischen und kunsterzieherischen. Auch hier sind Wagnisse, ja Irrtümer und Fehler unvermeidlich, doch vor lauter Schwierigkeiten und der Furcht davor darf uns nicht der Weg verloren gehen, den die Arbeiterklasse, der Erbe der Zukunft, zuschreiten bestimmt ist.

           Die Frage  der Durchführung hat die Kunststelle auch einen Versuch unternehmen lassen, der für die Volksbühnen, zumindest die proletarischen, etwas Neues darstellt. Das im Wesentlichen schon längst bekannte Prinzip der Wanderbühnen nämlich ist hier eigenartig ausgestaltet worden. Wenn man die Arbeiter aus diesem oder jenem Grund nicht zur Kunst bringen kann, so muß man die Kunst zur Arbeiterschaft bringen. Dies gilt nicht bloß für die Provinz, sondern auch für Wien selbst, wo in den Randbezirken Zehntausende von Proletariern wohnen, die Scheu, auch Bequemlichkeit, von dem Besuch der großen zentralen Bildungs- und Kunststätten abschreckt. Aber wie wir mit politischen und gewerkschaftlichen Vorträgen überallhin dringen müssen, so auch mit der Kunst. Also spielt die Kunststelle in Floridsdorf, in Leopoldau, in Simmering, in Breitensee u.s.w. überall, wo es nur ein halbwegs brauchbares Podium gibt. Wir haben in B e t r i e b s k ü c h e n Wiener Abende veranstaltet, die hellen Jubel weckten und sofort wiederholt werden mußten. Aber wir spielen auch  T h e a t e r, und zwar mit unserer eigenen V e r s u c h s b ü h n e, die von der offiziellen Wanderbühne des Unterrichtsamtes und ähnlichen Veranstaltungen wohl zu unterscheiden ist. Denn wir können uns bei der „Neutralität“ der Kunst nicht gänzlich bescheiden. Es gibt künstlerisch durchaus wertvolle und jedenfalls künstlerisch zu rechtfertigende Stücke, ernste und heitere, ja auch Lieder, Couplets, Soloszenen und dergleichen, die ihre revolutionäre sozialistische Gesinnung ganz unbekümmert ausdrücklich aussprechen. Sie könnten niemals aufgeführt werden, böte die Versuchsbühne nicht Möglichkeit dazu. Sie ist eine richtige s o z i a l i s t i s c h e Bühne, die jungen, unbekannten Autoren, jungen noch unerprobten Schauspielern und einem noch jungen, weil noch unverkünstelten Publikum dient. Sie erfüllt damit eine der Aufgaben, die uns auf dem Gebiet der Kunst und der Kunsterziehung gestellt sind, und gerade sie macht besonders klar, daß auch dieses Gebiet nicht für sich allein existiert, sondern das alles miteinander in einen Zusammenhang gehört, in dem Befreiungskampf des Proletariats überhaupt.

In: Arbeiter-Zeitung, 30. Oktober 1921, S. 7.

Paul Szende: Mode und Klassenkampf

             Welche Verblendung! Welche Einseitigkeit! mag mancher beim Lesen dieses Titels ausrufen. Will man auch schon die weibliche Mode in die Zwangsjacke des Klassenkampfes pressen? Andre werden vielleicht sagen, daß es dem Ernste sozialistischer Prinzipien nicht entspreche, wollte man den Begriff des Klassenkampfes auf den Streit um die Länge der Röcke und der Frisur ausdehnen. Trotz dieser Einwendungen halten wir daran fest, daß der Angriff, den das Proletariat jetzt gegen die bisherige Frauenmoden vom Zaune gebrochen hat, letzten Endes einen Abschnitt desselben  Kampfes bildet, dessen andre Etappen die Klerikalisierung der Schule, der Schmutz- und Schundparagraph, die Schmälerung des Wahlrechtes, die Hetze gegen Einheitsschulen, Schulausspeisung und Kinderfreibäder sind: man will den Aufstieg  und die Befreiung der Arbeiterfrauen und damit der ganzen Arbeiterschaft verhindern oder hemmen. Die bisherige Mode war ein beredtes Symbol dieses Aufstieges, sie führte zu einer weitgehenden Demokratisierung der weiblichen Kleidung. Die frühere Scheidung zwischen höheren und niederen Volksklassen in bezug auf die weibliche Kleidung war größtenteils verschwunden, was das Selbstbewusstsein der arbeitenden Frauen merklich steigerte und ihre Minderwertigkeitsgefühle in hohem Maße beschwichtigte. In den Beziehungen der Geschlechter zueinander ist die weibliche Bekleidung ein wichtiges Mittel der Anziehung und des Wettbewerbes. Je einheitlicher die Mode wurde, desto geringer wurde der Vorrang, den bisher auf diesem Gebiet die Damen der höheren Gesellschaft gegenüber den arbeitenden Frauen genossen.

             Diese Mode war so zugleich das Kennzeichen einer Entwicklung, die mit dem Vorwärtsdringen der Arbeiterklasse untrennbar verbunden ist. Wir können diesen Prozeß als die Rationalisierung des sozialen Lebens bezeichnen. Die Gesellschaftsordnung, die Haupteinrichtungen des sozialen und wirtschaftlichen Lebens werden nicht mehr als von oben her gegebene, für die Menschen unverrückbare Tatsachen betrachtet, die der Kontrolle und der Kritik der untergebenen Massen entzogen sind:  man will wissen, welchen Interessen sie dienen, welche Bedürfnisse sie zu befriedigen vermögen. Dadurch büßen sie ihren früheren mystischen Schein ein. Ein wichtiger Abschnitt dieses Entgötterungsprozesses war auch die Einsicht, daß der Kinderreichtum kein Segen Gottes und daß das Kinderkriegen kein für die Menschen unabänderliches, natürliches Schicksal sei, daß vielmehr die Geburtenregelung möglich, ja sogar notwendig ist. Dieselbe Rationalisierung kam nun auch auf dem Gebiet der Mode zur Erscheinung. Diese Mode war die zwangsläufige Folge der wirtschaftlichen Entwicklung und der politischen Emanzipation der Frauen. Beide entrissen die Frauen ihrem ausschließlich häuslichen Wirkungskreis und führten sie der Berufsarbeit und dem Sport zu. Für viele Frauen war die lange, enge, komplizierte Tracht unmöglich geworden. Das glatte, einheitliche, kurze Schlüpfkleid ist eigentlich amerikanischen Ursprungs und entspricht den demokratischen Tendenzen und Uniformierungsbestrebungen des dortigen Lebens, es brachte auch die Machtstellung und die günstige materielle Lage der amerikanischen Arbeiterschaft zum Ausdruck. Diese Mode bedeutet nicht nur eine seelische, soziale und sexuelle Befreiung für die arbeitenden Frauen, sondern auch eine körperliche Befreiung für die Frauen aller Klassen, früherer unsinniger Moden. Zum ersten Male wurde eine Mode liebgewonnen, nicht weil sie von irgendwelchen mystischen Mächten diktiert war, sondern weil ihre praktische Nützlichkeit und ihre einfache Schönheit freiwillig anerkannt wurde. Darin besteht die weltgeschichtliche Bedeutung der kurzen Röcke. Diesem Umstand war es auch zu verdanken, daß diese Mode eine so allgemeine Verbreitung fand und sich so lange hielt; sie drang  in die entlegensten Täler ein, übte dort denselben überzeugenden Einfluß aus und half selbst eine Ursache der Entfremdung zwischen Stadt und Land, die aus der Verschiedenheit äußerlicher Lebensgewohnheiten stammt, zu mildern.

              Das Modekapital, das seinen Sitz in Paris hat, und für das die Kürze oder Länge der Röcke nur eine Frage der Profitrate ist, sah zuerst dieser Uniformierung mit Freude zu, denn durch die Vereinheitlichung der Mode und infolge des Aufstieges der Arbeiterklasse, der den Arbeiterfrauen erlaubte, für Bekleidung mehr als bisher auszugeben, stieg die Absatzmöglichkeiten der Modelle der Pariser Modehäuser ganz beträchtlich. Allmählich aber trat eine Stabilisierung der Mode ein, so wie dies bei den Männerkleidern der Fall ist. Die Aenderungen, die jede neue Saison brachte, waren nicht einschneidend, das Wesen der Frauenmode blieb dasselbe. Zwar hätte dem Modekapital die ständige Erweiterung des Konsums eine mehr als genügende Schadloshaltung geboten. Aber das Pariser Modekapital genoß sei zwei Jahrhunderten eine Monopolstellung, es war gewohnt, zu gebieten, und seine einzige Geschäftsmethode war, durch den stetigen Wechsel der Mode einen schnellen Umsatz der investierten Kapitalien zu erreichen. Dabei will es auch jetzt bleiben. Die Führer der großen Pariser Modehäuser fingen daher wieder an, auf ihre Monopolrechte zu pochen, sie wollten in jeder Saison den Frauen wieder neue kostspielige Moden mit einschneidenden Veränderungen auferlegen. Durch die neue praktische Mode, deren Symbole der kurze Rock, die kurze Haartracht, die fleischfarbenen Strümpfe und die leichte Einheitswäsche waren, war eine gewisse Solidarität der Frauen aller Klassen geschaffen worden. Gegen sie richtete sich der Angriff der Pariser Modehäuser. Ihr Kriegsziel war das Zerreißen der Einheit der Mode.

             Ich will nicht durch die Aufzählung der Merkmale der neusten Mode den falschen Anschein eines Fachmannes erwecken; eine kurze Übersicht ist dennoch notwendig, weil sie zeigt, daß nicht nur die Methoden, sondern auch die Merkmale dieser Mode eine bewußte Anlehnung an das Mittelalter versuchen. Ich habe nicht nur in der Pariser großen Presse, sondern auch in Wiener bürgerlichen Blättern bezahlte Artikel gelesen, die den feudal-mittelalterlichen Charakter der neuen Modeschöpfungen ausdrücklich betonen. Lange, überreiche, wallende Kleider – Verzeihung, nicht mehr Kleider, sie heißen auch in der deutschen Sprache wieder Roben –, komplizierter Schnitt, Prunk wie in den alten Zeiten, überreiche, gold- und silberdurchwirkte Stoffe, Falten und Zipfel, unnützer und verschwenderischer Aufputz, das Prinzeßkleid – schon der Name spricht Bände – mit der höhergerückten Taille und der durchlaufenden Linie und endlich das große feierliche Abendkleid mit der Schleppe. Auch eine ähnliche Umwälzung der Hutmode wird angebahnt: Feder, Schleier, Spitzen werden wiedereingeführt. Alle diese Merkmale haben nicht nur einen feudalen, sondern auch einen plutokratischen Charakter. Die moderne Frau wird wieder in die Dame rückverwandelt, die ohne Kammerzofe sich nicht mehr anzukleiden vermag und nur im Automobil ausfahren kann. Setzt sich diese Mode gänzlich durch, dann ist die Einheit der Kleidung gebrochen.

             Zum Lob der bürgerlichen Frauen muß festgestellt werden, daß die überwiegende Mehrheit diese neue Mode nur unwillig aufnahm und sogar Widerstand leistete. Nun setzte das Trommelfeuer der vom Modekapital ausgehaltenen bürgerlichen Presse ein. Es ist ein wirklicher Erpressungsfeldzug, der in ihren Spalten gegen die bürgerlichen Frauen geführt wird. Wie in der Politik wendet diese Erpressungstaktik zwei Methoden, eine scheinheilige und eine offene, an. Die eine arbeitet mit Phrasen und Lügen, sie erklärt die bisherige Mode für unweiblich und unsittlich – aber die Rolle des Sittenrichters steht den Vertretern des Modekapitals wirklich schlecht zu Gesicht; mögen sich zu diesem Zweck jüdische Modehäuser noch so sehr mit katholischen Bischöfen verbinden. Wo aber diese Mittel versagen, dort wird eine offene Sprache geführt, man spekuliert unverhohlen auf die Klassen- und Besitzinstinkte der Damen, die man mit allen Mitteln wachzurufen bemüht ist. Es wird ihnen in unzähligen Artikeln verständliche gemacht, daß durch die „Weiblichkeit“ die sexuelle Anziehungskraft der nach der neuen Mode gekleideten Damen unbedingt größer sei, und daß daher die Damen den Vorsprung, den sie vor der Einheitsmode vor den übrigen Frauen hatten, wieder zu erreichen vermögen. Es wird ihnen auch versichert, daß sie nicht mehr Gefahr laufen, mit dem Pöbel in Modegemeinschaft leben zu müssen, denn durch die Kompliziertheit des Schnittes wird es unmöglich, die Modelle wie bisher zu kopieren, die Robe aus dem guten Salon wird wieder ein Privileg der Damen sein. Den Schwankenden und Zögernden gegenüber wird die große Drohung ausgestoßen: Die Pariser Häuser werden nicht nachgeben, ein „Zuwarten“ kann nicht helfen, die Dame, die „gut angezogen“ zu sein wünscht, muß schnell ihre Auswahl treffen. An die arbeitenden Frauen ergeht das Ultimatum, sich dem Diktat, wenn auch murrend, doch freiwillig zu fügen oder das Zurückstoßen in den früheren Zustand der Klassenscheidung auch äußerlich zu erdulden. Ich stelle die Frage, ob diese Taktik nicht vollständig identisch ist mit dem Ultimatum mancher bürgerlicher Politiker in der Verfassungsfrage: Annahme der Verfassungsänderungen – wenn nicht, dann Staatsstreich! Die Vertreter des Modekapitals wissen nur zu gut, daß die arbeitenden Frauen nicht in der Lage sein werden, diese Mode mitzumachen. Sie rechnen aber darauf, daß diese Frauen, um einer beschämenden Degradierung zu entgehen, selbst um den Preis größter Entbehrungen und unter Hintansetzung wichtiger  Lebensbedürfnisse, trachten werden, mindestens ein Kleid nach der neusten Mode zu kaufen, um wenigstens bei öffentlichen Anlässen ihre Minderwertigkeit zu verbergen und ihren Platz im sexuellen Wettbewerb wahren zu können. Sie rechnen nicht damit, daß sich genügend aufrechte und selbstbewußte Frauen finden, die nicht nachgeben, sondern diesen Kampf zwischen Demokratie und Aristokratie in der Kleidung aufnehmen und ausfechten!

             Letzten Endes hängt die Entscheidung davon ab, was die sportliebenden und arbeitstätigen amerikanischen Frauen, die die Hauptkundschaft für das Pariser Modekapital abgeben, tun werden. Doch sind auch die proletarischen Frauen nicht ganz wehrlos. Sind sie geneigt, einen Kampf gegen dieses Diktat zu führen, dann können sie des Anschlusses weiter bürgerlicher Frauenschichte sicher sein. Der Kampf um den Mieterschutz brachte große Truppen des Kleinbürgertums und des intellektuellen Mittelstandes in das sozialistische Lager und gab ihnen dadurch Gelegenheit, sich mit den leitenden Ideen des Sozialismus vertraut zu machen; viele unter ihnen sind gute Sozialisten geworden. Ein solcher gemeinsamer Kampf an der Seite der proletarischen Frauen würde manche arbeitende bürgerliche Frau nicht nur dem Einfluß der bürgerlichen Presse entziehen. In diesem Kampfe wird so nicht nur die künftige Mode entschieden, sondern auch ein gutes Stück Menschheitsgeschichte.

In: Arbeiter-Zeitung. Wien, 15.12.1929, S. 4.

Otto Bauer: Die deutschösterreichische Republik.

             In den vier Tagen vom 28. bis zum 31. Oktober hatte sich die Auflösung der Habsburgermonarchie vollendet. In diesen vier Tagen war die Armee an der Front zusammengebrochen, hatten sich die neuen nationalen Regierungen im Hinterlande der Regierungsgewalt bemächtigt. Es war eine nationale und eine demokratische Revolution, was sich da vollzog: statt der Dynastie, ihrer ‚übernationalen‘ Bürokratie, Generalität und Diplomatie übernahmen in Deutschösterreich wie in Tschechien, in Galizien wie im südslawischen Gebiet nationale Volksregierungen, aus den Wortführern der Parteien des Bürgertums, der Bauernschaft und der Arbeiterschaft zusammengesetzt, die Regierungsgewalt. Aber der Zusammenbruch der alten Mächte entfesselte zugleich auch die bisher von der Gewalt niedergehaltenen Arbeitermassen. In den täglichen stürmischen Soldatendemonstrationen, die in Wien mit der großen Massenkundgebung am 30. Oktober begonnen hatten, kündigte sich an, daß die national-demokratische Revolution zugleich  auch die soziale Revolution weckte, der Übergang der Regierungsgewalt von der Dynastie  auf die Völker zugleich auch den Klassenkampf innerhalb des Volkes, die Verschiebung der Machtverhältnisse  zwischen den Klassen innerhalb der Nation einleitete. Die Entfaltung dieses dreifachen revolutionären Prozesses der demokratischen, der nationalen und der sozialen Revolution ist die Geschichte des entstehenden deutschösterreichischen Staates vom 30. Oktober bis zum 12. November.

             Am 30. Oktober hatte die Provisorische Nationalversammlung den Staatsrat beauftragt, die Regierungsgewalt in Deutschösterreich zu übernehmen, und eine deutschösterreichische Regierung einzusetzen. Deutschösterreich war damit, ebenso wie alle anderen entstehenden Nationalstaaten in diesen Tagen, vor das Problem der Regierungsbildung gestellt. Es handelte sich nicht, wie sonst bei Regierungsbildungen, um den Übergang einer bestehenden Staatsgewalt aus den Händen einer Machtgruppe in die einer anderen, sondern um die Schaffung neuer Staaten, um die Organisierung noch nicht bestehender Staatsgewalten. Die Regierungen, die da gebildet wurden, verfügten zunächst über keinerlei materielle Machtmittel, weder über den Verwaltungsapparat noch über eine Militärmacht; sie konnten sich nur durch ihre moralische Autorität durchsetzen, nur durch ihre moralische Autorität sich die Verwaltungsmaschinerie der zerfallenden Monarchie unterordnen und sich eine nationale Wehrmacht schaffen. Sollte die moralische Autorität der neuen Regierung groß genug sein, diese Aufgabe zu bewältigen, sollte sie sich in der Großstadt wie im Dorfe, in den Industriegebieten wie im Landvolk, in den Ämtern wie in den Kasernen durchsetzen, dann mußten die neuen Regierungen aus Vertrauensmännern aller Volksschichten zusammengesetzt werden. So erklärt es sich, daß die neuen Regierungen in all den neuen Nationalstaaten damals aus den Vertretern aller großen politischen Parteien der sich konstituierenden Nationen zusammengesetzt werden mußten. Daß ‚Bürger,// Bauern und Arbeiter‘ gemeinsam die neue Regierung bilden mußten, war das Schlagwort jener Tage.

             Auch der deutschösterreichische Staat war im Grunde aus einem Contrat social, einem staatsbegründenden Vertrage der durch die politischen Parteien vertretenen Klassen des deutschösterreichischen Volkes hervorgegangen. Die Gesamtheit der deutschösterreichischen Abgeordneten hatte sich auf Grund von Vereinbarungen zwischen den Parteien als Provisorische Nationalversammlung proklamiert. Nur diese Gesamtheit konnte jetzt die Regierungsgewalt übernehmen. Der von der Provisorischen Nationalversammlung nach dem Verhältniswahlrecht gewählte, also aus Vertretern aller Parteien zusammengesetzte Staatsrat bildete die eigentliche Regierung. Nur als seine Beauftragten übernahmen die vom Staatsrat ernannten Staatssekretäre die Leitung der einzelnen Staatsämter; nicht ihnen, sondern dem Staatsrat selbst teilte die provisorische Verfassung vom 30. Oktober die Verordnungsgewalt zu. Wie der Staatsrat selbst aus allen in der Provisorischen Nationalversammlung vertretenen Parteien zusammengesetzt war, so wurden auch die von ihm bestellten Staatssekretäre allen Parteien entnommen. […] Dr. Karl Renner wurde zum Leiter der Kanzlei des Staatsrates bestellt. Dem christlichsozialen Staatssekretär für Inneres gaben wir Sozialdemokraten Otto Glöckel, dem deutschnationalen Staatssekretär für Heerwesen den Sozialdemokraten Dr. Julius Deutsch als Unterstaatssekretäre bei. Erst die Ereignisse der folgenden Tage, die die nationale Revolution zur sozialen vorwärtstrieben, verstärkten unser Gewicht in der Regierung. Erst sie machten den Leiter der Staatskanzlei zum Staatskanzler. Erst sie ließen in den beiden wichtigsten Staatsämtern, im Staatsamt des Innern, das über die innere Verwaltung, über Polizei und Gendarmerie verfügte, und im Staatsamt für Heerwesen, das die Demobilisierung zu leiten und eine neue Wehrmacht aufzustellen hatte, die bürgerlichen Staatssekretäre weit hinter die sozialdemokratischen Unterstaatssekretäre zurücktreten. Es war eine Machtverschiebung, die sich durch die Ereignisse selbst vollzog, in der sich der Fortgang der Revolution ausdrückte.

             Aus dem Krieg entstanden, ist die soziale Revolution nicht so sehr von der Fabrik als vielmehr von der Kaserne ausgegangen. Als an der Massenkundgebung des 30. Oktober auch Soldaten und Offiziere in großer Zahl teilnahmen; als an diesem Tage auf den Soldatenklappen die roten, auf den Offizierskappen die schwarzrotgoldenen Kokarden aufzutauchen begannen;// als am Abend des 30. Oktober Soldatenhaufen den Offizieren auf der Straße die Rosetten mit den kaiserlichen Initialen von den Kappen rissen, war es klar, daß die militärische Disziplin in den Wiener Kasernen vollends zusammengebrochen war.  Die furchtbare Allmacht, die die militärische Organisation im Kriege dem Offizierskorps gegeben hatte, schlug mit einem Schlage in völlige Ohnmacht um; vierjährige Unterdrückung der Menschenwürde des Soldaten rächte sich nun in wild aufloderndem Haß des Mannes gegen den Offizier. Wo bisher der stumme Gehorsam gewaltet hatte, setzte nun die elementare, instinktive, anarchische revolutionäre Bewegung ein. Soldatenhaufen, von Heimkehrern aus Rußland geführt, versammelten sich nächst der Roßauer Kaserne und berauschten sich an wilden Reden. Sie versuchten die Bildung einer „Roten Garde“, sie zogen bewaffnet durch die Stadt, sie „expropriierten“ Kraftwagen und „beschlagnahmten“ Lebensmittelvorräte. Die Offiziere selbst wurden von der Bewegung erfaßt, Reserveoffiziere aus den Reihen der Intelligenz beteiligten sich, von der Revolutionsromantik des Bolschewismus mitgerissen, an der Bildung der Roten Garde, während sich deutschnationale Offiziere im Parlamentsgebäude als „Soldatenräte“ auftaten. Die überwiegende Mehrheit der Soldaten aber packte unwiderstehlicher Drang, nach Hause, zu Weib und Kind zurückzukehren. Die slawischen Soldaten eilten ungeordnet nach Hause, sobald sie von der Bildung der Nationalstaaten in ihrer Heimat erfuhren; ihr Beispiel verbreitete die Desertionsbewegung sofort auch auf die deutschen Soldaten. Niemand tat mehr Dienst, die Kader lichteten sich, die Wachen liefen davon, die wichtigsten Depots und Magazine waren unbewacht. Kriegsverwilderung, Hunger, Verbrechertum nützten diese Selbstauflösung der Garnisonen aus: Plünderungen begannen begannen […] Nur die Aufstellung einer neuen bewaffneten Macht konnte die volle Anarchie verhindern.

             Der Staatsrat versuchte zunächst die Reste der Garnisonen der alten Armee in seinen Dienst zu stellen. Sie wurden auf die provisorische Verfassung beeidigt. Und da die Wiederherstellung der Autorität der Offiziere zunächst aussichtslos erschien, forderte der Staatsrat selbst die Mannschaften auf, Soldatenräte aus ihrer Mitte zu wählen, die Ordnung und Disziplin in den Kasernen herstellen sollten. Aber diese ersten Bemühungen blieben erfolglos. Die Soldaten leisteten den Eid und liefen dennoch auseinander, zu Weib und Kind. Die Reservisten bei den Fahnen zurückzuhalten war unmöglich. Es gab nur einen Ausweg: gegen Sold Freiwillige anzuwerben und aus ihnen eine neue Wehrmacht zu formieren. So ordnete der Staatsrat am 3. November, dem Tage des Abschlusses des// Waffenstillstandes, die Werbung für die Volkswehr an.

In: Otto Bauer: Die österreichische Revolution. Wien 1923, S. 95-97.

N.N. (= Friedrich Austerlitz): Der Tag der Republik.

Sechshundertfünfzig Jahre lang hat das fluchbeladene Geschlecht der Habsburger Österreich beherrscht. Die Habsburger – das waren jene Ferdinande, die mit Schwert und Spieß, mit Rad und Galgen das lutherische deutsche Volk so gründlich katholisch gemacht, daß nach Jahrhunderten noch „Ich werde dich katholisch machen!“ als Drohung galt, die Zehntausende evangelischer Bürger um ihres Glaubens willen aus dem Lande gejagt, alle ständische Freiheit, alle städtische Selbstverwaltung, alles bäuerliche Recht in Strömen von Blut erstickt, die das einst blühende Österreich zur Wüste gemacht haben, um nur über die Wüste wenigstens schrankenlos herrschen zu können. Die Habsburger – das waren jene Leopold und Karl, die deutsches Gut und Blut hingeopfert, deutsches Land den Franzosen preisgegeben haben, um nur in Spanien, Italien, der Niederlande ihren Familienbeitz vergrößern zu können. Die Habsburger – das war jener Franz, der Österreich zum Schirmherrn der Reaktion in ganz Europa gemacht, der, wo immer ein Volk um seine Freiheit kämpfte, ob in Frankreich oder in Italien, in Spanien oder in Polen, in Deutschland oder in Ungarn, die junge Freiheit durch österreichische Bajonette morden hieß. Die Habsburger – das war endlich jener Franz Josef, der, ein Jüngling noch, mit Blutgerichten, mit Kerker und Galgen zehn freiheitshungrige Völker niederwarf und, ein fast sterbender Greis schon, die Welt in Flammen setzte, als er das fluchwürdige Ultimatum an Serbien unterschrieb.

Sechshundertfünfzig Jahre haben die Habsburger geherrscht. Ein gefügiges Riesenheer von Hunderttausenden Bajonetten hielt ihnen die Völker nieder. Und furchtbarer als alle äußeren Machtmittel hielt jahrhundertealter Gewohnheit furchtbare Macht zehn Nationen ihnen im Gehorsam. Aber wenn dieses Gebäude der Herrschaft und der Unterdrückung den Franz und den Metternich ausgehalten hat, den D a m p f hielt es nicht aus. Die Eisenbahnen, die Fabriken, die Druckerpresse trugen allmählich neues Denken in jedes Dorf. Die Völker begannen an dem Staatsungetüm zu rütteln, das keiner seiner Nationen die Verkörperung ihres Daseins, jeder nur ein Gefängnis war. Prag und Budapest, Krakau und Lemberg, Trient und Triest, Agram und Sarajevo lehnten sich immer leidenschaftlicher auf. Habsburg zitterte vor dem Freiheitsdrang der Völker. Verzweiflung trieb es zur letzten teuflischen Tat. Um seinen durch den Freiheitsdrang eines geknechteten, zerstückelten Volkes bedrohten südslavischen Besitz zu retten, warf Habsburg die Brandfackel ins europäische Pulverfaß. Um Habsburg willen verbluteten Millionen auf zahllosen Schlachtfeldern. Um Habsburgs willen ward der mit dem Schweiß von Jahrhunderten aufgebaute Wohlstand der Völker zerstört. Aber vergebens suchte Habsburg noch einmal seine Herrschaft zu retten. Der Krieg ward verloren. Ehrlos, wie es gelebt, starb der Habsburger Geschlecht: es war „nibelungentreu“, der Spießgeselle des ruchlosen deutschen Imperialismus geblieben, solange er die Freiheit der Völker mit Füßen trat; aber als Deutschland den Wahnwitz, des deutschen Volkes Schicksal an Habsburgs Sache zu ketten, mit furchtbarer Niederlage büßte, als Deutschland selbst in Not geriet, machte der letzte Habsburger noch einmal das Dichterwort: „Dank vom Hause Österreich!“ wahr. Vergebens! Tschechen, Polen, Südslaven jagten Habsburgs Büttel davon und begründeten ihre eigenen Staaten. In Deutschland rollten zweiundzwanzig Kronen in den Sand. Da stand auch Deutschösterreich auf. Habsburgs Reich ist zu Ende. Am 12. November 1918 wurde Deutschösterreich Republik.

Es waren furchtbare Tage, in denen aus der Niederlage, in Not und Elend und furchtbarster Wehrlosigkeit die junge Republik Habsburgs entsetzliches Erbe antrat. Uns, die wir, den geschichtlichen Augenblick nützend, die Republik der Bourgeoisie aufgezwungen haben, doppelt schwere Tage. Am Tage vor der Verkündigung der Republik starb Viktor Adler. Der große Führer, der in den Achtzigerjahren die Arbeiterbewegung in unserem Lande recht eigentlich erst begründet, die kleinen, miteinander hadernden Arbeitergruppen in mühseliger Arbeit zusammengeführt, ans ihnen erst die Partei zusammengeschweißt hat, […]

Am 12. November ward nicht nur die Republik, ward zugleich auch Deutschösterreichs Heimkehr zum großen deutschen Mutterland verkündet. Der Kampf Habsburgs mit Hohenzollern um die Vorherrschaft in Deutschland hatte 1866 mit der Ausschließung Österreichs aus dem Deutschen Bunde geendet; nun, da Habsburg und Hohenzollern gefallen war, sollte die tausendjährige Gemeinschaft, die vor einem halben Jahrhundert zerrissen worden ist, wiederhergestellt werden. So verknüpfen sich am 12. November 1918 wieder die beiden Gedanken; die 1848 die Schergen Franz Josef Habsburgs im Blute der Wiener Oktoberkämpfe erstickt hatten: der Gedanke der deutschen Republik mit dem Gedanken der deutschen Einheit. Und wenn auch vorerst der Anschluß scheiterte am französischen Widerstand, der in heimischer schwarzgelber Verräterei ein willig Werkzeug fand, so hat doch die Erfahrung der zwei Jahre seither die unlösbare Verbindung der beiden Ideen des 12. November auch dem Blindesten offenbart. Denn auf sich selbst gestellt, bleibt Deutschösterreich in Not und Elend, die keine Staatskunst bannen kann; uns bleibt nur die Wahl: entweder die „Donauföderation“, die Wiedervereinigung mit Ungarn, Tschechen, Südslaven, die unser aller Unterwerfung unter Habsburgs Schwert voraussetzt, oder, wenn wir nicht wieder Habsburgs Knechte werden wollen, der Anschluß an Deutschland!

Der 12. November war das Werk der Arbeiterklasse. Die Furcht vor dem Proletariat allein hat den zitternden Lakaien Habsburgs die Republik, dem bebenden Schwarzgelben den Anschluß aufgezwungen. Aber so groß die Umwälzung des 12. November war: die Republik, vom Proletariat geschaffen, konnte noch nicht zur proletarischen Republik werden. Denn noch behauptet sich in ganz West- und Mitteleuropa der Kapitalismus gegen den Ansturm des Proletariats; mitten in dieser bürgerlichen Welt, von ihr abhängig, ihren Gesetzen untertan, mußte auch unsere Republik zur bürgerlichen Republik werden. So sitzt heute, zwei Jahre nach dem unvergeßlichen Tage, die Bourgeoisie auf dem Throne, von dem das Proletariat die Habsburger verjagt hat. Aber die Bourgeois-Republik ist hierzulande ein innerer Widerspruch. Denn unsere Bourgeoisie ist nicht republikanisch. In schwarzgelber Knechtschaft erzogen, davor zitternd, ihre Herrschaft über das Proletariat nicht mehr hinter Purpurmänteln und glänzenden Uniformen verbergen zu können, sehnt sie den Gebieter zurück, der ihre die Proletarier wieder unterwirft! Wie kühl, wie fremd, wie feindlich sie der Republik gegenübersteht, zeigt sie nie deutlicher als am gesetzlichen Staatsfeiertag der Republik; sie feiert keine republikanischen Feste, ihr ist der republikanische 12. November nicht minder fremd als der proletarische erste Mai. Der immanente Widerspruch der Bourgeois-Republik weist über sie hinaus: entweder zurück unter Habsburgs Joch oder vorwärts zur proletarischen, zur sozialistischen Republik!

In: Arbeiter-Zeitung, 12. November 1920, S.1.

N.N.: „Brülle China“. Neues Wiener Schauspielhaus.

             In der dumpfen schwülen Wüste des völlig geistlosen, bürgerlichen Wiener Theaters eine kleine Oase. Sie sticht umsomehr von der Umgebung ab. Sie kommt für die Arbeiterschaft gerade dieser Stadt umso überraschender und kann deshalb mit umso größerer Freude begrüßt werden, weil das Theater in Wien überhaupt aufgehört hat, auf die Arbeiterschaft, die zu neunzig Prozent die Bevölkerung Wiens bildet, irgendwie Rücksicht zu nehmen. In keiner anderen Stadt z. B. Deutschlands wäre es möglich, daß ein solcher Kurs in den Theatern eingeschlagen wird wie in Wien, wo nahezu sämtliche Theater völlig abhängig sind von der Sozialdemokratischen Kunststelle und der sozialdemokratischen Gemeindeverwaltung. Darüber wird noch zu sprechen sein.

             Aktuelles Theater. Ein Ausschnitt aus den Kämpfen, den brennendsten Kämpfen der Gegenwart. Das bedeutendste Ereignis des gegenwärtigen Weltgeschehens: der Befreiungskampf der unterdrückten Kolonialsklaven, die Flammenzeichen gegen die imperialistischen Unterdrücker. Ein Russe, Genosse Tretjakow, hat ein bewußtes Tendenzstück geschrieben, das von Meyerhold in einer Weise inszeniert wurde, die in der ganzen Welt Beifall und Aufsehen erregte. Beide, Tretjakow und Meyerhold, haben damit neuerlich den Beweis geliefert, daß ein wirkliches Kunstwerk, das imstande ist, die Massen zu erfassen und mitzureißen, nur entstehen kann aus dem kämpfenden Leben bei eindeutiger und klarer Stellungnahme. Das ist verpönte „Tendenz“, die das Bürgertum und mit ihm auch die Sozialdemokratie aufs tiefste haßt und ablehnt.

             Die Handlung, die der Wirklichkeit entnommen wurde: Ein amerikanischer Kaufmann kürzt den Kulis, die ihn Lasten schleppen, den kärglichen Hungerlohn. Er beginnt auch mit dem Schiffer, der ihn auf einem kleinen Boot vom englischen Kriegsschiff an Land bringt, Streit wegen des Fuhrlohns, versucht dem Chinesen das Ruder zu entreißen, um ihn damit zu schlagen. Er kommt aber dabei selbst zu Fall, stürzt, fällt über Bord und ertrinkt. Viele Zeugen haben vom Ufer aus den Vorfall beobachtet, auch die Offiziere. Dennoch verlangt der Kommandant des „Kanonenboots Seiner Majestät des Königs von England“ von der Stadt Wanshien Sühne für den „Mord“. Entweder sofortige Hinrichtung des Schiffers, in dessen Kahn der Kaufmann fuhr oder – da dieser von den Schiffern versteckt wird – Hinrichtung von zwei Mitgliedern der Schiffergilde. Falls diese Forderung bis zum nächsten Tag nicht erfüllt ist, wird die Stadt bombardiert. Der englische Journalist drahtet an die Weltpresse: „Schamlose Ueberfälle von Chinesen auf Europäer, drei Kaufleute ermordet, als Auftakt zu weiteren Morden.“ Ein Telegramm der chinesischen Behörden wird nicht befördert. Die Chinesen sagen: „Auch ein englischer Kapitän muß sich in seinen Forderungen mäßigen, wir werden uns beim sozialistischen Ministerpräsidenten von England beschweren“. „Ich kenne keinen solchen“, antwortet der Kapitän, „ich kenne nur einen Ministerpräsidenten Seiner Majestät, des Königs von England.“

             Die Masse der verhungernden Kulis, die um sich vor dem Hungertod zu retten, ihre Kinder und Frauen für ein paar armselige Münzen an Europäer verkaufen, beginnt zu rebellieren. Noch kennen sie nicht den Grund ihrer Unterdrückung, noch haben sie kein Klassenbewußtsein. Allmählich – und das bringen Autor und Regisseur meisterhaft zum Ausdruck – dringt die Erkenntnis durch, daß die Kulis ganz Chinas zusammenstehen und kämpfen müssen gegen die Unterdrücker. Die Kulis fragen nach Recht. „Für euch gibt es keins“, antwortet einer aus ihrer Mitte, „ihr werdet getreten, geschunden, geköpft, euch nimmt man euer Land, weil ihr arm seid.“ Die Chinesen gehen nochmals aufs Kanonenboot, um den Kapitän zu bitten, von dem Mord an den Schiffern abzulassen. Der chinesische Bürgermeister erniedrigt sich vor dem englischen Offizier, kniet vor ihm nieder. Aber je mehr sich die Chinesen erniedrigen, desto frecher werden die Bedrücker. (So ist es nicht nur in China!) Zwei Schiffer werden ausgelost, um dem imperialistischen Blutsauger als Opfer vorgeworfen zu werden. Die ganze Stadt würde sonst in wenigen Stunden in Flammen stehen. Ein Kuli stirbt für den andern! Das Klassenbewußtsein beginnt, feste Formen anzunehmen. „Sag mir einen von jenen, die sich gegen die Ausbeuter auflehnen und sie zusammenschlagen, sag mir einen, ich will mittun.“ Der andere Kuli, ein Wissenderer, antwortet: „Du, ich, er, wir alle!“

             Die beiden Schiffer werden zur Richtbank geschleppt, der Kapitän ist unerbittlich. „Hier stehe ich und keine Macht der Welt kann mich zwingen, diesen Platz zu verlassen.“ Es fehlt nicht der Millionär, der den Mord mitvorbereitet hat und nun Krokodilstränen vergißt, von den Chinesen aber schroff abgewiesen wird, es fehlt nicht die Wohltätigkeitsdame, die verspricht, den kleinen Sohn des ermordeten Schiffers in ein Waisenhaus zu bringen.

             Das Programm des Kapitäns ist erfüllt. Stolz und auf die Chinesen zynisch herabblickend, will er sich entfernen. Aber da geht auch die Geduld der Kulis zu Ende, der Sturm bricht los und unter den derben Fäusten der Proleten bricht der „Offizier Seiner Majestät, des Königs von England“ und Seiner Exzellenz, des sozialistischen Ministerpräsidenten Macdonald tot zusammen. Schon krachen auch die Salven vom Kanonenboot gegen die Stadt Wanshien, aber die Kulis sind zu einer eisernen Masse zusammengeschweißt, vorwärts, aufwärts geht es unter der Fahne Sunyaisens. Aufschreien die Kulis: „Brülle, China!“

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             Der Originaltext wurde an einigen Stellen geändert. So wurden alle Hinweise auf die Sowjetunion, die die Kulis im Kampfe gegen die imperialistischen Unterdrücker unterstützt und wegweisend voranschreitet, gestrichen. Der revolutionären Kraft des Stückes konnte aber dadurch nicht Abbruch getan werden.

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             So wirksam wie das Stück selbst ist die Regie Fritz Peter Buchs, die für Wien eine wahre Revolution bedeuten könnte, wenn wir nicht wüßten, daß nach dieser kleinen Oase wieder endlose schwüle geisttötende Wüste kommt. Auch die Darstellung steht durchaus auf dem gleichen künstlerischen Niveau.

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             Die Wiener Arbeiter haben es sich im Lauf der Jahre abgewöhnt, ins Theater zu gehen und so ist es nicht weiter verwunderlich, daß die proletarischen Massen dieser Stadt nur sehr spärlich ins Schauspielhaus strömen. Bezeichnend für die sozialdemokratische Kunststelle ist es, daß sie wohl Operettentheater und Bühnen, die allen erdenklichen Mist und Schund aufführen, füllt, bisher aber nicht die Massen auf das wirklich revolutionär-proletarische Stück „Brülle, China!“ aufmerksam machte.

             Es ist zu hoffen, daß die Direktion des Schauspielhauses, die in Tretjakows Stück nichts als ein Kunstwerk sieht und glaubte, damit gute Geschäfte zu machen, auch den revolutionären Arbeiterorganisationen den Besuch von „Brülle, China!“ durch Abgabe von ermäßigten Karten ermöglicht. Kein Arbeiter soll die Möglichkeit, einmal in einem Wiener Theater ein aktuelles revolutionäres Stück, geschrieben von einem russischen Genossen, zu sehen, ungenützt vorübergehen lassen.

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             Die gesamte bürgerliche Presse brüllt auf. Skandal! Bolschewisierung des Theaters! Verbieten! – Wir erwähnen das als Bestätigung der Richtigkeit des von uns vorher Gesagten.

In: Die Rote Fahne, 7. Mai 1930, S. 5. Weitere Aufführungsdebatten finden Sie hier.