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N.N. (Friedrich Austerlitz): Eine Republik ohne Republikaner

            Gewiß, die Monarchie hat ausgespielt; aber sind die politischen Menschen darum Republikaner geworden? Sind sie erfreut darüber, den monarchischen Popanz losgeworden zu sein, stolz darauf, ihre Geschicke in ungehemmter Demokratie nun selbst bestimmen zu können? Die Republik ist doch nicht bloß eine Staatsform, eine bestimmte Einrichtung der Gewalten im Staate; sie ist in Wahrheit auch eine Lebensauffassung. Erst in der Republik ist Freiheit, Selbstständigkeit und Unabhängigkeit des Volkes restlos erfüllt, wogegen die Einrichtung der Monarchie, und sei sie geartet wie immer und bis zur Wesenlosigkeit abgeschwächt, eine Beeinträchtigung der souveränen Rechte des Volkes ist und bleibt. Die Republik ist die Würde des Volkes, der durch eine Institution, die ihren Ursprung außerhalb der Entscheidung des Volkes, über ihr und unabhängig von ihr sucht und setzt, schwerer Abbruch zugefügt wird. In einer Republik zu leben, muß der Stolz des Bürgers sein; die Monarchie ist Entmündigung, Unfreiheit, Knechtschaft. Empfinden das die Bürger in Deutschösterreich?

            Die Monarchie ist in Oesterreich, wie überall in Schmach und Schande versunken, und ihre Unmöglichkeit und die Unmöglichkeit ihrer Wiederherstellung leuchtet wohl jedermann ein. Der Staatsgrund und der Befähigungsnachweis der Monarchie lag in Oesterreich-Ungarn darin, daß sie die vielen Nationen zusammenfaßte und zusammenhielt; da sie gerade an diesem Punkte ihre vollständige Unfähigkeit bewies, so hat sie ihre volle Zwecklosigkeit dargetan. Denn wenn die Dynastie das nicht zu leisten vermochte, wozu sie da war – und mit welcher Flucht von der habsburgischen Staatlichkeit ihre „Wirksamkeit“ geendet hat, weiß man -, wofür sollte man sie noch brauchen? Aber da wäre es um jeden Heller schade! Von den geheimnisvollen Kräften der Monarchie, mit der man die Gehirne schon in der Volksschule benebelt hat, ist doch gar nichts übrig geblieben; sie haben sich alle als eitel Blendwerk erwiesen. Die treue Armee und die getreuen Völker haben sich beide als Einbildung bewährt; die Vorstellung, dafür zu steuern, dafür Geist und Ehre herzugeben, auf daß ein junger Mensch, dem dazu überdies jede innere Begabung fehlte, den Monarchen darstellen kann, ist zum Schluß jedem peinlich geworden. Womit könnte man es denn begründen – denn auf das einfältige Gottesgnadentum fällt doch heute niemand hinein –, daß sich Deutschösterreich den von allen anderen Nationen abgelehnten Kaiser noch einmal als Dynasten erküren soll? Brauchen wir ihn? Kann er zur Erhöhung unserer Wohlfahrt, zur Festigung unserer Zustände, zum Aufbau unserer Staatlichkeit das geringste beitragen? Welche wirkende Kraft könnte von ihm ausgehen? Würde er etwas anderes sein als eine Last, eine drückende Last schon deshalb, weil ihm zu dem Beruf, für den ihn angeblich eine unerforschliche Vorsehung bestimmt habe, doch auch alle Voraussetzungen und Fähigkeiten fehlen? Das alles ist so selbstverständlich, schon dem bescheidensten Nachdenken gewiß, daß der Besuch einer monarchischen Restauration an der inneren Unvernunft dieser Monarchie vorweg scheitern müßte – womit allerdings nicht gesagt ist, daß er nicht gewagt werden wird, weil nämlich die Monarchen und die Monarchisten das Unabänderliche nie mit Würde zu tragen wissen. Aber eine Heimstatt in den Gefühlen des Volkes wird diese Monarchie, die mit dem fürchterlichen Zusammenbruch geendet hat, nie mehr finden.

             Aber wer aufgehört hat, ein Monarchist zu sein, ist noch lange kein Republikaner geworden. Denn von der Monarchie ist eine Aushöhlung des Geistigen und Sittlichen ausgegangen, die ihre Wirkungen bewahrt, auch wenn die Quelle versiegt ist. War nicht jeder dieser Bürgerlichen stolz darauf, zu dem Hofe in irgend eine Beziehung zu gelangen? War es nicht ihr aller höchster Ehrgeiz, einem Erzherzog oder gar dem Kaiser „vorgestellt“ zu werden? Wohl haben sie die absolute Richtigkeit dieser „Vorstellung“ immer faßlich gesehen, aber es ist ihnen doch immer ein Schauer über den Rücken gelaufen, vor der Majestät oder irgendeinem ihrer Vertreter zu stehen, und für jeden war es die beseligendste Erinnerung, von dem Kaiser „angesprochen“ worden zu sein. Sie sind ihr Leben lang gekrochen, innerlich gekniet, und nun sollen sie, weil die Majestät in Trümmern, aufrechte Menschen sein? Dieses deutsche Bürgertum ist immer Spalier gestanden; sehr oft wirklich, immer aber geistig; sein ganzes Wesen ist von Servilismus durchtränkt, und diese Speichellecker und Bauchrutscher sollen wir uns nun als stolze Republikaner vorstellen? Habt ihr schon einen Bürgerlichen gesehen, der nicht glücklich gewesen wäre, einen Orden, einen Titel, eine Auszeichnung, irgend etwas von dem zu erhaschen, dem allem der freie Mensch nur Verachtung entgegenbringt, das aber auf den Spießergeist als unerhörte Verführung gewirkt hat? Sind sie nicht alle wie besessen dem Adel nachgelaufen, war nicht jeder, auch der Politiker und Abgeordnete, von Glücksgefühl durchbebt, wenn er, was das Ziel seines Lebens war, das kleinste Adelsprädikat endlich erstrebert hatte? Und dieses Volk von kaiserlichen Räten und Hofräten, diese Menschen , die, wenn sie die Anrede Exzellenz gebrauchen können, vor Vergnügen schnalzen, diese kleinen und windigen Seelchen sollen nun den Stolz des freien Mannes empfinden, sollen Republikaner sein, was die Verachtung all des äußerlichen Krimskrams bedeutet, in dem sie ihr ganzes Leben hindurch aufgegangen sind? Auf den Schildern kann man den k. k. Hoflieferanten unschwer auskratzen, aber den byzantinischen Geist, die innerliche Verlotterung auszuscheiden, die sich als Wirkung der monarchischen Institution eingefressen hat, diesen ganzen ungeistigen Sumpf trocken zu legen wird lange Zeit brauchen. Dazu gehört freilich vor allem, mit all den Elementen der monarchischen Verführung aufzuräumen, das Ideal des schlichten Bürgertums von allen Verunreinigungen zu befreien, die die Monarchie, weil sie nur darin ihre Fundierung finden konnte, so üppig ausgestreut hat.

            Und dazu gehört die Einrichtung des Adels mit allem, was drum und dran hängt, den Orden, Titeln und Auszeichnungen, aus denen die Monarchie geradezu ein Mysterium gemacht hat. Die Monarchie abschaffen und ihre Auswüchse bestehen lassen, hieße wirklich halbe und darum vergebliche Arbeit tun. Wie soll die demokratische Rechtsgleichheit gegründet werden, wen der Adel, der doch ihre Verhöhnung und Verneinung ist, aufrecht bleibt? Wie sollen wir ein freies Volk werden, wenn wir den ganzen Unrat der Vergangenheit weiterschleppen? Man sage nicht, daß das nur ein äußerliches Ornament sei und man ihm zu viel Ehre erwiese, wenn man sich nur seine Abschaffung bemühte. Das Aeußerliche hat auf die Vielzuvielen, aus denen leider Gottes das gegenwärtige, von der Monarchie durchseuchte Geschlecht besteht, eine große Gewalt, und für die Vertiefung und Vergeistigung der Republik ist es unerläßlich, diese Macht des Aeußerlichen, des Ungeistigen und Unmoralischen zu brechen. Eine demokratische Republik, die durch den unaufhaltsamen Gang der Entwicklung schon morgen eine soziale Republik sein wird, kann den vergiftenden und verderbenden Pomp und Prunk der überwundenen Vergangenheit nicht dulden; sie muß dem Bürger ein ganz anderes Ideal darbieten, das Ideal der Pflichterfüllung, der Selbstlosigkeit, der menschlichen Solidarität. Wenn wir alle Vorrechte der Geburt verneinen: warum das unmittelbarste Vorrecht der Geburt, das doch eine Erhöhung über die anderen sein will, dulden und fortschleppen? Wir wollen den Sinn der Menschen neuen Idealen öffnen; wie sollen dann die Verlockungen der alten Zeit bestehen bleiben? Wohl wissen wir, daß die wirkliche Macht heute gar nicht mehr bei den „historischen Klassen“ ruht und daß insbesondere der Kampf des Proletariats vor allem auf die Entthronung des Mammons gerichtet sein muß, daß es noch lange nicht ausreicht, den Kaiser zu beseitigen, vielmehr die härteste Aufgabe noch vor uns steht: Zerreißung der Fesseln des Kapitals, die die drückendsten und schmerzhaftesten sind. Aber die Vorarbeit ist eben die Begründung der Demokratie, ihre Auswirkung durch den ganzen Gesellschaftskörper hindurch und dazu ist unumgänglich, daß mit dem Dünkel, mit den Vorurteilen und Einbildungen der alten Zeit Schluss gemacht wird. Es muß rein und hell werden in der Welt.

            Die Republik braucht Republikaner; mit jenen Zweifelhaften und Zweideutigen, die sich mit der neuen Ordnung „abfinden“, ist ihr nicht geholfen. Deshalb muß die Republik für die neue Staatsform, die auch eine neue Lebensauffassung ist, wirken und werben. Wir müssen aus dem öffentlichen Leben alles Falsche und Niedrige entfernen, die ganze Bibelvorstellung von der Entwicklung der Menschheit, wie sie insbesondere in der lumpigen bürgerlichen Geschichtsschreibung, niedergelegt ist, weit von sich weisen, dem Volke den Vorrang in allen Empfindungen verschaffen. Eine solche Reinigung tut auch innerlich not; der Monarchismus hat nicht umsonst Jahrhunderte gelebt, einen ganzen Gedankenkreis um sich gelagert, als daß die Ansteckung, die von ihm ausgeht, nicht tiefer gegangen wäre. Die deutschösterreichische Republik macht deshalb einen so unerquicklichen Eindruck, weil man es allzu deutlich fühlt, daß einem gewissen Bürgertum, die Herren Nationalräte eingeschlossen, ferner Stolz auf diese große Errungenschaft fehlt, den sie vollauf verdient. Aber in den breiten Massen des Volkes ist das Gefühl für diesen gewaltigen Fortschritt lebendig, und die Wahlen zur konstituierenden Nationalversammlung werden ein großes Bekenntnis zu der neuen Zeit werden.

In: Arbeiter-Zeitung, 24.11.1918. S. 1f.

Julian Sternberg: Der neue Thomas Mann

             Thomas Mann, „Der Zauberberg“. Verlag S. Fischer, Berlin. Vier große Epiker, vielleicht darf man sogar getrost sagen, die vier großen Epiker der deutschen Gegenwart, sind beinahe gleichzeitig mit neuen Werken vor das Publikum getreten: Gerhart Hauptmann und Thomas Mann, Artur Schnitzler und Jakob Wassermann. Schnitzler stürmt seinen Weg dahin, Hauptmann schlendert, Wassermann wandelt, Thomas Mann aber schreitet. An den Priester, der die Messe zelebriert und weihevoll als bewußter Vertreter der Gottheit den Altar umkreist, muß man unwillkürlich denken, will man zunächst einmal sich selbst den Eindruck klar machen, den der Erzähler der Buddenbrooks in seinem neuen Werke durch die Art seines Vortrages hervorruft. Ungemein schwierig übrigens, eine tragbare Brücke zu schlagen zwischen dem berühmten Entwicklungs- und Geschlechterroman Thomas Mann´s und seiner letzten Schöpfung, in der, trotz der verwirrenden Fülle der Gestalten doch nur ein Einzelschicksaal restlos abgewandelt wird, das des Hamburger Patriziersohnes Hans Castorp, der auf dem „Zauberberg“, in einem Sanatorium in Davos zu der wahren Erkenntnis von den eigentlichen und letzten Aufgaben des Menschen gelangt, der alle inneren Kämpfe seelischen Zwiespaltes zuvor siegreich bestehen muß, die Thomas Mann, der Denker und Essayist in seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ mit so glühenden, aus der Zeit und ihren Nöten hervorgeholten Farben geschildert hat.

             Zuvörderst die Bemerkung, daß es eigentlich so aussieht, als habe Thomas Mann sich diesmal das Ziel gesetzt, in seinem 1200 Seiten starken Roman zu zeigen, daß der Roman als Kunstform, wie ihn seine erlauchten Ahnen, die Balzacs und Dostojewskis, als Rahmen für künstlerische und ethische Glaubensbekenntnisse benützt haben, endgiltig ausgespielt hat.

             Er verschmäht es, den Durchschnittsleser durch den lockenden Reiz der bewegten Handlung näher zu kommen und sich damit etwa zu begnügen, daß doch etwas irgendwo haften bleibt von dem Gedankeninhalt des Buches, daß hier und da, von günstigem Wind verweht, ein Samenkorn in einer herablassend überlegenen Selbstverständlichkeit steht es auf jeder der vielen hundert Seiten zwischen den Zeilen geschrieben: Apage Satanas! womit der Durchschnittsleser des Unterhaltungsromans gemeint ist. Dieses Buch fordert starke Nerven und noch mehr; beinahe ebensoviel Geduld nämlich, wie sie die erste und selbstverständliche Bürgerpflicht der Insassen des Zauberberges bildet. Zunächst heißt es sich da und dort zu aklimatisieren, im Buche sich daran gewöhnen, seine Leserexistenz ausschließlich zwischen Schwerkranken und Sterbenden zu verbringen, sich in das Denken und Fühlen dieser Menschen hineinzufinden, die im Bannkreise des Zauberberges leben, die bewußt oder unbewußt den scharfen Trennstrich gezogen haben zwischen sich selbst, ihren Gedanken und Empfindungen, ihrem Hoffen und Fürchten, ihrem Hassen und ihrem Lieben auf der einen Seite und denen da unten im Flachland, den Sklaven des Zeitbegriffs, die nicht das Recht der Schatten genießen, im großen Stil zu rechnen, den Monat oder das Jahr als Zeiteinheit zu betrachten. Für das Dasein auf dem Zauberberg gibt es eben keine Ufer. Das verbietet die Krankheit von der wieder zu genesen, den meisten nur eine Fata Morgana darstellt, die sie im nächsten Augenblick als trügerische Lichtspiegelung durchschauen. Beständige Todesängste bringt es mit sich, so scheint der Dichter zu lehren, daß das Ewig-Menschliche sich freier und unbehindert entfaltet, daß gleich gelösten Ketten die Hemmnisse zu Boden klirren, die den gesunden Durchschnittsmenschen dazu veranlassen, vor sich selbst das unvergänglich Schöne des Menschlichen ganz ebenso zu verleugnen und krampfhaft zu verbergen, wie vor der Umwelt, der man sich nur von Kopf bis zu Fuß gepanzert, mit herabgelassenem Seelenvisier zu zeigen wagt. In jedem Durchschnittsmenschen steckt Faust. Das aufzuzeigen erscheint mir der Wesenskern des neuen Romans Thomas Mann´s.

             Solche Heil- und Unheilsbotschaft wandelt er an seinem Helden ab, dem jungen Mann, der sich gesund dünkend, den Zauberberg besteigt, um dort einen kranken Vetter zu besuchen, selbst als Schwindsüchtiger entlarvt wird und dann sieben Jahre lang dort bleibt.

              Sieben Jahre: Vielleicht ist diese biblische Frist nicht zufällig gewählt. Vielleicht meint der Dichter sieben Jahre lang habe sein Jakob inbrünstig werden müssen, um die Rachel reifen Menschentums, bis sie sich ihm erschließt und ergibt. Und dann scheidet Hans Castorp aus dem Zauberberg: Sein Vetter, der angehende Offizier, ist dem fürchterlichen Leiden erlegen, wie so viele, viele andere, die in diesem Buche vorbeiwirbeln, das einem großen Friedhof gleicht, auf dem die Lichter unzählige Gräber überglänzen. Und jetzt erreicht der Dichter den Höhepunkt seiner gewaltigen Ironie, indem er Hans Castorp am Schlusse des Romans in den Weltkrieg ziehen läßt. Der Überwinder seiner Krankheit wird zugrunde gehen an der großen Massendummheit und Massenverbohrtheit. Dort, wo Thomas Mann mit grauenhafter Eindringlichkeit und entsetzenerregender Plastik von den Gebresten des menschlichen Körpers spricht und dartut, wie oft sich die schwarzen Abgründe öffnen, wie selten ärztliche Kunst oder ein gewaltsames Aufraffen der Natur die Rettung bringt, wirkt er im Grunde doch nicht nihilistisch. Er ist freilich kein unbedingter Bejaher des Glaubens an den Fortschritt des menschlichen Wissens und er lächelt skeptisch zu der Vorstellung, daß solcher Fortschritt doch im Laufe der Generationen der Vernichtung immer mehr Boden gewinnt; er läßt jedoch die Frage wenigstens offen und jedem Leser bleibt es unbenommen zu glauben und zu hoffen. Ganz ebenso wie auch die Schwerkranken in Davos, selbst jene, die triumphierend von sich das Gegenteil verkünden, das Glauben und Hoffen in Wahrheit nicht verlernt haben. Aber dieser Schluß mit dem Schicksal Hans Castorps, welches das Schicksal so vieler deutscher Durchschnittsmenschen gewesen ist, wirkt niederdrückend und reckt sich mit eiskaltem Prankengriff gegen das wehrlose Herz. Hans Castorp ist, das wiederholt der Dichter mit unermüdlicher Eindringlichkeit, ein Durchschnittsmensch. Darum augenscheinlich mißt er ihm auch ein Durchschnittsschicksal zu. Hans Castorp ist in das arge Tanzvergnügen des Weltkrieges hineingerissen worden. „Wir wollen nicht hoch wetten“, läßt sich Thomas Mann vernehmen, „daß er daraus davonkommt.“ Und er apostrophiert seinen Helden: „Ehrlich gestanden, lassen wir ziemlich unbekümmert die Frage offen.“ Dann rechtfertigt er den Ausdruck „Unbekümmertheit“. Er habe die Geschichte Hans Castorp nicht um seinetwillen, sondern um ihretwillen erzählt. Damit hat der Dichter den letzten Schleier von der Wesensart seines Werkes weggezogen. Um seiner Gestalten willen, erzählt der Romanschriftsteller. Anders der Essayist, dem jene Objektivität, jenes Distanzhalten Selbstverständlichkeit bilden, die dem neuen Werke Thomas Mann’s ihre Signatur aufdrücken.

In: Moderne Welt (1925), H. 15, S. 21, 24, 36.

Marianne Pollak: Vom Reifrock zum Bubikopf. Revolution und Mode

Die Mode ist seit jeher die besondere Domäne der Frau gewesen. Durch Schminke und Haartracht, durch Halsausschnitt und Faltenwurf haben die Frauen jahrtausendelang verstanden, dem Mann zu gefallen. Die Tracht ist vor allem ein lebendiger und sinnfälliger Ausdruck der jeweiligen  E r o t i k  einer Zeit. Immer haben Revolutionsepochen in der Geschichte strenge Kleiderordnungen gelockert und einer ungezwungenen und freieren Kleidung Raum geschaffen. Denn das Kleid ist zugleich eines der wichtigsten Mittel der  K l a s s e n s ch e i d u n g. Jede neue Mode geht von der herrschenden Schicht in der Gesellschaft aus, die darauf sieht, daß die Masse des Volkes ihr es in Schnitt und Ausführung der Gewänder nicht gleichtue. Die höhere Vernunft der menschlichen Kleidung aber liegt schließlich in ihrer  Z w e ck m ä ß i g k e i t, indem sie den Körper vor Wetterunbill schützt und den Gebrauch der Glieder nicht hemmt.

Als am Ausgang des fünfzehnten Jahrhunderts Europa, aus der Enge bäuerlicher und zukünftiger Wirtschaft erwachend, die grandiose Entwicklung zum Welthandel durchmachte, da brach eine Zeit ungehemmter Lebensfreude für die besitzenden Klassen an: die  R e n a i s s a n c e. Die grobe, die Körperformen entstellenden und verhüllenden Trachten des asketischen  Mittelalters waren kein richtiges Kleid für den machterfüllten Handelsherrn, dem die Schätze des Erdballs zuströmten. Die reiche Bürgersfrau der Renaissance – Rubens hat ihr unvergängliches Porträt geschaffen – trug nicht nur bei Festlichkeiten, nein auch daheim, ja auf der Straße und selbst in der Kirche, unter den Augen der Geistlichkeit, den tiefen  B r u st a u s s ch n i t t. Weit ausladende  W u l st e n r ö ck e  verbreiterten die Hüften durch Umlegen von schweren Stoffrollen, die nicht selten bis zu fünfundzwanzig Pfund schwer waren. Obendrein wurde die weibliche Brust mit Hilfe des Mieders, ja oft durch Wattierungen hervorgehoben. Strotzende Kraftfülle war das Schönheitsideal der Renaissance.

Im darauffolgenden Zeitalter der uneingeschränkten Macht des Landesfürsten wurde sozusagen der angedeutete Körper modern. Die Renaissance hat das Starke und Nackte geliebt. Das  R o k o k o  schwärmt für das Zarte und Ausgezogene. Der französische Hof wurde das Modevorbild für ganz Europa, Ludwig XIV., „der größte Komödiant der Gottesgnadenidee“, der erste Geck seiner Zeit. Die Mode spiegelt die ökonomischen Verhältnisse sehr deutlich wieder. Da im  A b s o l u t i s m u s  eine ganz besonders schroffe Klassenscheidung die Masse der arbeitenden Untertanen von der Gesellschaft der herrschenden Genießer trennte, machte die vom Adel ausgehende Mode den Körper zu jeder Art Arbeit völlig untauglich. Die Damen in ihren unnatürlich hohen  S t ö ck e l s ch u h e n, mit ihren  W e s p e n t a i l l e n  und riesenhaften  R e i f r ö ck e n – eine Fortführung des Wulstenrockes der Renaissance – konnten sich nur gravitätisch und tänzelnd fortbewegen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ihr Vorbild war ja auch die majestätische Steifheit des Monarchen, und oberstes Sittengesetz jener Tage, da die „Gesellschaft“ dem Abgrund entgegentaumelte, war: Körperliche Arbeit schändet.

Wieder stößt eine große geschichtliche Umwälzung die steifgraziösen Formen des Rokokos um:  d i e  f r a n z ö s i s ch e  R e v o l u t i o n. Die Adeligen in ihren Allongeperücken und edelsteinbesetzen Jabots, die gebrechlichen Luxuspüppchen königlicher Sinnenfreude mußten ihre gepuderten Köpfe auf der Guillotine lassen. In wilden Sturm fegte das Pariser Volk durch die Gassen. Dazu kann man keine Reifröcke brauchen. Die fließenden Gewänder der Antike wurden die Revolutionsmode: das  E m p i r e, die  m i e d e r l o s e  g r i e ch i s ch e  T r a ch t der Tunika, die, unter der Brust abgebunden, in weichen Falten den Körper schmeichlerisch umfließt.

Die regungslosen Jahre des  V  o r m ä r z , vom Wiener Kongreß bis 1848, und nach einem kurzen Revolutionsrausch die  R e a k t i o n  der fünfziger Jahre sind in der Frauenmode die eigentliche  B l ü t e z e i t  d e s  K o r s e t t s. Der weibliche Körper wird – gleich dem menschlichen Geist – in der unsinnigsten Weise eingeschnürt und mißhandelt. So wie der bis oben zugeknöpfte Mann in Zylinder und steifer Halsbinde als das Symbol staatserhaltender Zuverlässigkeit galt, so die Frau mit ihrer eingepreßten Taille und der Unzahl der gestalteten Unterröcke, die endlich zum Ungetüm der  K r i n o l i n e  entarteten: sie sollte in jeder Lebenslage würdig und geruhsam erscheinen.

Was folgt, ist nur eine Änderung im Verunstalten der natürlichen Formen. Als die Krinoline in ihrem grotesken Umfang nicht mehr überboten werden konnte, wurde das Drahtgestell zum alten Eisen geworfen. Aber das Mieder blieb und behauptete seine Macht noch durch mehr als fünf Jahrzehnte. Erbarmungslos mußte jede Frau, die etwas auf sich hielt, in  den Schnürleib, und die Mode verlangte von ihr, sich in der wahnwitzigsten Weise zusammenzupressen. Geraffte Röcke mit der besonderen Pikanterie des Cul de Paris wurden letzte Mode. F e st s i tz e n d e  „T a i l l en“, in denen obendrein noch Fischbeine sonder Zahl eingenäht waren, machten jeden freien Atemzug unmöglich. Die Alltagskleidung war hochgeschlossen; bis zum Hals hinauf quälten Steifheit und Enge. Nur im Ballsaal durfte die Dame im tiefen Ausschnitt erscheinen.

Es ist kein Zufall, daß die niederträchtige Herrschaft des Mieders wieder erst durch eine geschichtliche Epoche des  U m st u r z e s  gebrochen werden konnte. Unser eigenes Geschlecht ist Zeuge und Nutznießer der tiefgehenden  R e v o l u t i o n i e r u n g  d e r  F r a u e n m o d e  geworden.

Noch vor zwanzig Jahren war es im Bürgertum bis tief hinein in die Reihen der Arbeiterschaft gang und gäbe, den Töchtern Stück für Stück eine Ausstattung vorzubereiten und anzuschaffen. Aber wie hat diese  W ä s ch e  ausgesehen! Da wurde meterlang Zacke um Zacke für den Hemdansatz mit der Hand geschlungen, solide schwarze Strümpfe eingekauft, steifsitzende, geschwungene Miederleibchen, die gerade nur den Hals freiließen, zugeschnitten und flaumiger Flanell zu Unterröcken verarbeitet. Man stelle sich nur ein Sportsmadel von heute mit einem solchen Flanellunterrock vor!

Nicht anders ist es um die  F r i s u r  bestell. Nur mit grenzenlosem Staunen kann man der vielen „Einlagen“ gedenken, die für einen ordentlichen Schopf notwendig gewesen sind. Sie waren der letzte Ausklang jenes Perückenmonstrums, das die Damen des achtzehnten Jahrhunderts auf ihren – leeren! – Köpfen spazierengeführt hatten und das mit den verrücktesten Symbolen aller Art schwer behangen war: der „Fontange“. Die Schopfeinlagen um die Jahrhundertwende und später – Kopfmatratzen hat man sie in gerechtem Gott genannt – haben zwar nicht mehr die stattliche Höhe eines Meters erreicht wie ihr Vorbild, aber sie waren darum nicht weniger ungesund und machten das freie Ausatmen der Kopfhaut unmöglich. Jedes Haar mußte bei der morgendlichen Frisur fein säuberlich über den Wulst gelegt werden, um die künstliche Unterlage ordentlich zu verdecken. Und doch verschob sich der Bau bei jeder unvorhergesehenen Bewegung! Wie ungern entschloß man sich in jenen Tagen, das Haar am Nachmittag ein zweitesmal zu frisieren. Es war eine wirklich zeitraubende und schwierige Beschäftigung. In der rhythmischen Frauenturnstunde von heute könnte eine Dame mit auffrisiertem Schopf nicht mittun . . .

Der  K r i e g, der unsere Männer in die Schützengräben zwang, hat der Frau alle Gebiete des Arbeitslebens geöffnet. Sie fand Einlaß im Ministerium und in der Munitionsfabrik, kam zum Schreibtisch und auf den Kutschbock, ins Geschäft und in den Straßenbahnwagen. Überall mußte weibliche Arbeitskraft den eingerückten Mann ersetzen, ja es war die Frauenarbeit allein, die den halbwegs geregelten Fortgang der Wirtschaft möglich gemacht hat. Diese Zeit der unerhörtesten Kraftanspannung, des Hungers und der schamlosen Unterordnung der arbeitenden Menschheit unter das Gesetz des Massenmordes hat die bis dahin schlafenden Frauen zum Erwachen gepeitscht: Sie haben arbeiten müssen – und diese Arbeit hat sie denken gelehrt!

Und wieder hat eine Revolution mit eisernem Besen alte, strenge, steife Modeformen weggefegt. Wieder ist eine Revolutionsmode aufgetaucht. Aber diese letzte grundlegende Wandlung in der Frauenmode mußte sich – obwohl noch immer von Pariser und Londoner Modekönigen ausgehend und von ihnen ausgebeutet – wohl oder übel doch der geänderten gesellschaftlichen Funktion des weiblichen Geschlechts anpassen und  d a s  K l e i d  d e r  a r b e i t e n d e n  F r a u  schaffen: Das beengende Mieder ist verschwunden, der Hals frei, der Rock gekürzt und das lange Frauenhaar geschnitten.

Ist auch das nur ein revolutionärer Augenblickseinfall der wankelmütigen Modegöttin? Gewiß, in der kapitalistischen Wirtschaft wird der gesellschaftliche Geschmack in kurzen Zwischenräumen Extremen zugetrieben, um den Absatz künstlich zu steigern. Aber  k u r z e r  R o ck,  f r e i e r  H a l s,  l o s e  T a i l l e  u n d  B u b i k o p f,  diese vier wesentlichen äußeren Merkmale der modernen Frauenerscheinung, gehen über die gewöhnlichen Modeschöpfungen weit hinaus. Denn zum erstenmal verbindet sich hier der Wunsch nach Schönheit mit wirklicher Zweckmäßigkeit.

Für das Verwurzeltsein der heutigen Frauentracht in dem gesellschaftlichen Prozeß der Revolutionierung, der ganz besonders die Frau erfaßt, ist es bezeichnend, daß heute der  M a n n  auf dem Gebiet der Kleidung rückständiger ist. Er bleibt bei dem dunklen, dicken und dumpfen „Anzug“, dessen Weste, ein sinnlos gewordenes Überbleibsel, überhaupt nur dazu dient, daß sich kein Lufthauch bis zur Haut verirre. Auch der im Kriege aus Sparsamkeitsgründen zeitweilig verschwundene steife Kragen taucht immer öfter wieder auf und ist heute schon wieder das Sinnbild der Respektabilität geworden.

Die Frauen sind in ihrer Kleidung fortschrittlicher. Die heutige Mode entspricht wirklich den Anforderungen der Zeit. Wie herrlich können unsere Mädel in ihren kurzen Röcken laufen und springen! Wie natürlich schön ist es, wenn ihre losen Haare im Winde flattern! Wieviel leichter und gründlicher ist heute die Pflege und Reinigung der Haare! Wie praktisch ist der Bubikopf beim Sport, bei der Arbeit, in der Küche! Wie angenehm für die arbeitende Frau, sich bücken und wenden zu können, ohne daß Schnürbänder ihr den Magen zusammenpressen! Bei allen diesen großen praktischen Vorzügen entbehrt die moderne Frauenkleidung aber keineswegs der Grazie. Sie ist schön, weil sie vernünftig ist. Diese Elemente des Fortschritts wird keine Laune der Mode, kein Interesse des Konfektionskapitals mehr vollständig aus der Frauenkleidung zu tilgen vermögen. Und diese Errungenschaften der Freiheit des menschlichen Körpers soll uns keine Reaktion, die die Frauen zurück in Kirche, Küche und Mieder pressen will, mehr rauben!

In: Arbeiter-Zeitung, 5. Dezember 1926, S. 10.