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Paul Szende: Mode und Klassenkampf

             Welche Verblendung! Welche Einseitigkeit! mag mancher beim Lesen dieses Titels ausrufen. Will man auch schon die weibliche Mode in die Zwangsjacke des Klassenkampfes pressen? Andre werden vielleicht sagen, daß es dem Ernste sozialistischer Prinzipien nicht entspreche, wollte man den Begriff des Klassenkampfes auf den Streit um die Länge der Röcke und der Frisur ausdehnen. Trotz dieser Einwendungen halten wir daran fest, daß der Angriff, den das Proletariat jetzt gegen die bisherige Frauenmoden vom Zaune gebrochen hat, letzten Endes einen Abschnitt desselben  Kampfes bildet, dessen andre Etappen die Klerikalisierung der Schule, der Schmutz- und Schundparagraph, die Schmälerung des Wahlrechtes, die Hetze gegen Einheitsschulen, Schulausspeisung und Kinderfreibäder sind: man will den Aufstieg  und die Befreiung der Arbeiterfrauen und damit der ganzen Arbeiterschaft verhindern oder hemmen. Die bisherige Mode war ein beredtes Symbol dieses Aufstieges, sie führte zu einer weitgehenden Demokratisierung der weiblichen Kleidung. Die frühere Scheidung zwischen höheren und niederen Volksklassen in bezug auf die weibliche Kleidung war größtenteils verschwunden, was das Selbstbewusstsein der arbeitenden Frauen merklich steigerte und ihre Minderwertigkeitsgefühle in hohem Maße beschwichtigte. In den Beziehungen der Geschlechter zueinander ist die weibliche Bekleidung ein wichtiges Mittel der Anziehung und des Wettbewerbes. Je einheitlicher die Mode wurde, desto geringer wurde der Vorrang, den bisher auf diesem Gebiet die Damen der höheren Gesellschaft gegenüber den arbeitenden Frauen genossen.

             Diese Mode war so zugleich das Kennzeichen einer Entwicklung, die mit dem Vorwärtsdringen der Arbeiterklasse untrennbar verbunden ist. Wir können diesen Prozeß als die Rationalisierung des sozialen Lebens bezeichnen. Die Gesellschaftsordnung, die Haupteinrichtungen des sozialen und wirtschaftlichen Lebens werden nicht mehr als von oben her gegebene, für die Menschen unverrückbare Tatsachen betrachtet, die der Kontrolle und der Kritik der untergebenen Massen entzogen sind:  man will wissen, welchen Interessen sie dienen, welche Bedürfnisse sie zu befriedigen vermögen. Dadurch büßen sie ihren früheren mystischen Schein ein. Ein wichtiger Abschnitt dieses Entgötterungsprozesses war auch die Einsicht, daß der Kinderreichtum kein Segen Gottes und daß das Kinderkriegen kein für die Menschen unabänderliches, natürliches Schicksal sei, daß vielmehr die Geburtenregelung möglich, ja sogar notwendig ist. Dieselbe Rationalisierung kam nun auch auf dem Gebiet der Mode zur Erscheinung. Diese Mode war die zwangsläufige Folge der wirtschaftlichen Entwicklung und der politischen Emanzipation der Frauen. Beide entrissen die Frauen ihrem ausschließlich häuslichen Wirkungskreis und führten sie der Berufsarbeit und dem Sport zu. Für viele Frauen war die lange, enge, komplizierte Tracht unmöglich geworden. Das glatte, einheitliche, kurze Schlüpfkleid ist eigentlich amerikanischen Ursprungs und entspricht den demokratischen Tendenzen und Uniformierungsbestrebungen des dortigen Lebens, es brachte auch die Machtstellung und die günstige materielle Lage der amerikanischen Arbeiterschaft zum Ausdruck. Diese Mode bedeutet nicht nur eine seelische, soziale und sexuelle Befreiung für die arbeitenden Frauen, sondern auch eine körperliche Befreiung für die Frauen aller Klassen, früherer unsinniger Moden. Zum ersten Male wurde eine Mode liebgewonnen, nicht weil sie von irgendwelchen mystischen Mächten diktiert war, sondern weil ihre praktische Nützlichkeit und ihre einfache Schönheit freiwillig anerkannt wurde. Darin besteht die weltgeschichtliche Bedeutung der kurzen Röcke. Diesem Umstand war es auch zu verdanken, daß diese Mode eine so allgemeine Verbreitung fand und sich so lange hielt; sie drang  in die entlegensten Täler ein, übte dort denselben überzeugenden Einfluß aus und half selbst eine Ursache der Entfremdung zwischen Stadt und Land, die aus der Verschiedenheit äußerlicher Lebensgewohnheiten stammt, zu mildern.

              Das Modekapital, das seinen Sitz in Paris hat, und für das die Kürze oder Länge der Röcke nur eine Frage der Profitrate ist, sah zuerst dieser Uniformierung mit Freude zu, denn durch die Vereinheitlichung der Mode und infolge des Aufstieges der Arbeiterklasse, der den Arbeiterfrauen erlaubte, für Bekleidung mehr als bisher auszugeben, stieg die Absatzmöglichkeiten der Modelle der Pariser Modehäuser ganz beträchtlich. Allmählich aber trat eine Stabilisierung der Mode ein, so wie dies bei den Männerkleidern der Fall ist. Die Aenderungen, die jede neue Saison brachte, waren nicht einschneidend, das Wesen der Frauenmode blieb dasselbe. Zwar hätte dem Modekapital die ständige Erweiterung des Konsums eine mehr als genügende Schadloshaltung geboten. Aber das Pariser Modekapital genoß sei zwei Jahrhunderten eine Monopolstellung, es war gewohnt, zu gebieten, und seine einzige Geschäftsmethode war, durch den stetigen Wechsel der Mode einen schnellen Umsatz der investierten Kapitalien zu erreichen. Dabei will es auch jetzt bleiben. Die Führer der großen Pariser Modehäuser fingen daher wieder an, auf ihre Monopolrechte zu pochen, sie wollten in jeder Saison den Frauen wieder neue kostspielige Moden mit einschneidenden Veränderungen auferlegen. Durch die neue praktische Mode, deren Symbole der kurze Rock, die kurze Haartracht, die fleischfarbenen Strümpfe und die leichte Einheitswäsche waren, war eine gewisse Solidarität der Frauen aller Klassen geschaffen worden. Gegen sie richtete sich der Angriff der Pariser Modehäuser. Ihr Kriegsziel war das Zerreißen der Einheit der Mode.

             Ich will nicht durch die Aufzählung der Merkmale der neusten Mode den falschen Anschein eines Fachmannes erwecken; eine kurze Übersicht ist dennoch notwendig, weil sie zeigt, daß nicht nur die Methoden, sondern auch die Merkmale dieser Mode eine bewußte Anlehnung an das Mittelalter versuchen. Ich habe nicht nur in der Pariser großen Presse, sondern auch in Wiener bürgerlichen Blättern bezahlte Artikel gelesen, die den feudal-mittelalterlichen Charakter der neuen Modeschöpfungen ausdrücklich betonen. Lange, überreiche, wallende Kleider – Verzeihung, nicht mehr Kleider, sie heißen auch in der deutschen Sprache wieder Roben –, komplizierter Schnitt, Prunk wie in den alten Zeiten, überreiche, gold- und silberdurchwirkte Stoffe, Falten und Zipfel, unnützer und verschwenderischer Aufputz, das Prinzeßkleid – schon der Name spricht Bände – mit der höhergerückten Taille und der durchlaufenden Linie und endlich das große feierliche Abendkleid mit der Schleppe. Auch eine ähnliche Umwälzung der Hutmode wird angebahnt: Feder, Schleier, Spitzen werden wiedereingeführt. Alle diese Merkmale haben nicht nur einen feudalen, sondern auch einen plutokratischen Charakter. Die moderne Frau wird wieder in die Dame rückverwandelt, die ohne Kammerzofe sich nicht mehr anzukleiden vermag und nur im Automobil ausfahren kann. Setzt sich diese Mode gänzlich durch, dann ist die Einheit der Kleidung gebrochen.

             Zum Lob der bürgerlichen Frauen muß festgestellt werden, daß die überwiegende Mehrheit diese neue Mode nur unwillig aufnahm und sogar Widerstand leistete. Nun setzte das Trommelfeuer der vom Modekapital ausgehaltenen bürgerlichen Presse ein. Es ist ein wirklicher Erpressungsfeldzug, der in ihren Spalten gegen die bürgerlichen Frauen geführt wird. Wie in der Politik wendet diese Erpressungstaktik zwei Methoden, eine scheinheilige und eine offene, an. Die eine arbeitet mit Phrasen und Lügen, sie erklärt die bisherige Mode für unweiblich und unsittlich – aber die Rolle des Sittenrichters steht den Vertretern des Modekapitals wirklich schlecht zu Gesicht; mögen sich zu diesem Zweck jüdische Modehäuser noch so sehr mit katholischen Bischöfen verbinden. Wo aber diese Mittel versagen, dort wird eine offene Sprache geführt, man spekuliert unverhohlen auf die Klassen- und Besitzinstinkte der Damen, die man mit allen Mitteln wachzurufen bemüht ist. Es wird ihnen in unzähligen Artikeln verständliche gemacht, daß durch die „Weiblichkeit“ die sexuelle Anziehungskraft der nach der neuen Mode gekleideten Damen unbedingt größer sei, und daß daher die Damen den Vorsprung, den sie vor der Einheitsmode vor den übrigen Frauen hatten, wieder zu erreichen vermögen. Es wird ihnen auch versichert, daß sie nicht mehr Gefahr laufen, mit dem Pöbel in Modegemeinschaft leben zu müssen, denn durch die Kompliziertheit des Schnittes wird es unmöglich, die Modelle wie bisher zu kopieren, die Robe aus dem guten Salon wird wieder ein Privileg der Damen sein. Den Schwankenden und Zögernden gegenüber wird die große Drohung ausgestoßen: Die Pariser Häuser werden nicht nachgeben, ein „Zuwarten“ kann nicht helfen, die Dame, die „gut angezogen“ zu sein wünscht, muß schnell ihre Auswahl treffen. An die arbeitenden Frauen ergeht das Ultimatum, sich dem Diktat, wenn auch murrend, doch freiwillig zu fügen oder das Zurückstoßen in den früheren Zustand der Klassenscheidung auch äußerlich zu erdulden. Ich stelle die Frage, ob diese Taktik nicht vollständig identisch ist mit dem Ultimatum mancher bürgerlicher Politiker in der Verfassungsfrage: Annahme der Verfassungsänderungen – wenn nicht, dann Staatsstreich! Die Vertreter des Modekapitals wissen nur zu gut, daß die arbeitenden Frauen nicht in der Lage sein werden, diese Mode mitzumachen. Sie rechnen aber darauf, daß diese Frauen, um einer beschämenden Degradierung zu entgehen, selbst um den Preis größter Entbehrungen und unter Hintansetzung wichtiger  Lebensbedürfnisse, trachten werden, mindestens ein Kleid nach der neusten Mode zu kaufen, um wenigstens bei öffentlichen Anlässen ihre Minderwertigkeit zu verbergen und ihren Platz im sexuellen Wettbewerb wahren zu können. Sie rechnen nicht damit, daß sich genügend aufrechte und selbstbewußte Frauen finden, die nicht nachgeben, sondern diesen Kampf zwischen Demokratie und Aristokratie in der Kleidung aufnehmen und ausfechten!

             Letzten Endes hängt die Entscheidung davon ab, was die sportliebenden und arbeitstätigen amerikanischen Frauen, die die Hauptkundschaft für das Pariser Modekapital abgeben, tun werden. Doch sind auch die proletarischen Frauen nicht ganz wehrlos. Sind sie geneigt, einen Kampf gegen dieses Diktat zu führen, dann können sie des Anschlusses weiter bürgerlicher Frauenschichte sicher sein. Der Kampf um den Mieterschutz brachte große Truppen des Kleinbürgertums und des intellektuellen Mittelstandes in das sozialistische Lager und gab ihnen dadurch Gelegenheit, sich mit den leitenden Ideen des Sozialismus vertraut zu machen; viele unter ihnen sind gute Sozialisten geworden. Ein solcher gemeinsamer Kampf an der Seite der proletarischen Frauen würde manche arbeitende bürgerliche Frau nicht nur dem Einfluß der bürgerlichen Presse entziehen. In diesem Kampfe wird so nicht nur die künftige Mode entschieden, sondern auch ein gutes Stück Menschheitsgeschichte.

In: Arbeiter-Zeitung. Wien, 15.12.1929, S. 4.

Edwin Rollett: Artur Schnitzler

            Es ist nicht die Zugehörigkeit zu einer literarischen Partei oder Schule, die dazu veranlaßt, heute an Artur Schnitzlers 60. Geburtstag mit jener Achtung zu erinnern, die ein arbeits- und erfolgreiches Menschenleben beanspruchen darf. Er gehört in keine Gruppe, ist Individuum, Einzelerscheinung, Spezialität und war auch nie etwas anders. Trotz seines Ranges in der zeitgenössischen Literatur war er nie einer der Bannerträger, die ihren eigenen Ruhm laut in die Welt posaunen und, um ihm größeren Nachdruck zu verleihen, eine Schar von Nachahmern an sich anschließen. Selbst als Junge, Aufstrebender zählte er keiner Schule zu.

            Von den Naturalisten, seinen Altersgenossen, hat der junge Schnitzler wohl einiges angenommen. Manche ihrer Programmpunkte mußten ihm als naturwissenschaftlich gebildetem Arzt und Arztessohn entweder im Blute sitzen oder, wenn sie von außen kamen, besonders nahegehen. Aber er blieb doch dieser Richtung gegenüber immer in Reserve. Eine Landschaft in einer Schnitzlerschen Dichtung gehört zu den Seltenheiten, und spielt sie einmal hinein wie im „Weiten Land“, so ist sie durch das Auge des Hochtouristen gesehen, dem der Nervenkitzel des Kletterwegs mehr zählt als die Fernsicht vom Gipfel. Auch Gestalten aus dem Volke, wie der blinde Geronimo und sein Bruder, sind wohl größtenteils vom Standpunkte dessen betrachtet, der im Wagen an ihnen vorüberfährt. Ebenso kann Schnitzler den Schattenseiten des Lebens nichts abgewinnen. Die Dämmerung lockt ihn mehr. Für Häßlichkeit vollends empfindet er nicht die geringste Vorliebe – gerade das Gegenteil. Grazie, Schönheit, Gleichgewicht sind ihm auch für die Formung des kranken Zustandes unerläßliche Erfordernisse. Es gibt sozusagen salonfähige oder poetische Krankheiten und nur für solche scheinen Schnitzlers Gestalten empfänglich zu sein. Dabei taucht auch immer wieder ein merkwürdiges Verständnis auf, etwa für das Mädchen, das angesichts des kranken Geliebten Abscheu, für die Tochter, die vor der Pflege der todkranken Mutter Ekel empfindet. Und tritt der Tod – in den melancholischen Dichtungen Schnitzlers ein sehr häufiger Gast – in seiner ganzen Unerbittlichkeit in den anmutigen Reigen seiner Gestalten, so weiß auch er sich stets wohlgesittet zu benehmen. Ein Dolchstoß, ein Giftbecher, ein Schlaganfall, ein Sturz vom Pferde oder ein Pistolenschuß ritterlicher Ehrenrettung.

            Auch den sozialen Problemen ist Schnitzler meistens aus dem Wege gegangen. An manchen Stellen in „Freiwild“, in der „Hirtenflöte“, in der „Liebelei“ klingen wohl verwandte Töne mit, verstummen aber sehr rasch wieder. Selbst in „Professor Bernhardi“, der am stärksten auf diese Seite zuneigt, ist das soziale Element nicht Thema. Und Schnitzlers personenreichstes und vielleicht persönlichstes Werk, der Roman „Der Weg ins Freie“, bringt die politischen Anklänge, wie Fremdkörper in eine psychologische Novelle eingefaßt, nur nebenbei. So kann es denn begegnen, daß Dichtungen, die scheinbar eine Tendenz beinhalten, wie „Märchen“, „Freiwild“ oder „Das Vermächtnis“, eigentlich deren zwei in sich bergen. Nur im „Leutnant Gustl“ ist die einzige angeschlagene Linie nicht verlassen. Fraglich bleibt es bei diesem vielumstrittenen Werke allerdings, ob der Autor auf die darin liegende Tendenz besonders Gewicht gelegt, ob ihn nicht ausschließlich die interessante Situation dazu getrieben, „zu fassen, zu formen, zu bewahren“. Der Wert dieser außergewöhnlichen Seelenstudie liegt natürlich in keinem versteckten Hintergedanken, sondern ausschließlich in ihrer Psychologie und ihrer Form.

            Das gilt nicht nur für sie allein. Das ganze Schaffen Schnitzlers kann aus diesen zwei Perspektiven am deutlichsten und richtigsten betrachtet werden. Ein Psychologe ersten Ranges mit ungewöhnlich feinem Organ für die subtilen Vorgänge des Seelenlebens spricht aus allen seinen Werken. Ein Forscher, den die unscheinbaren und bedeutungslosen Vorgänge ebenso, ja mehr reizen als die augenfälligen. Psychologische Kleinkunst sind die sieben Erlebnisse des „Anatol-Zyklus“; Fein beobachtete und exakt analysierte Symptome eines Falles, manchmal bis zur Alltäglichkeit unbedeutend. Und doch präpariert die sorgsame Dichterhand trefflich das Edelmetall des psychologischen Gehaltes heraus. Lieber noch sind ihm freilich die Aparten, ungewöhnlichen, überraschenden Verknotungen des inneren Erlebnisses. Das blinde Mädchen, das eine Erinnerung an entschwundenes Glück in den Tod jagt, die Virtuosin der Verstellungskunst, die gerade durch das Schwinden jeder Gefahr zum Geständnis getrieben wird, das sind typische Beispiele von Schnitzlers Lieblingsstoffen. Daneben zieht ihn das Gebiet der unklaren Seelenzustände mit großer Macht an. Ja selbst der hypnotische Schlafzustand ist mit in das Gesichtsfeld einbezogen, und einmal gelangt der Dichter sogar bis in die Gefilde der Magie und schwarzen Kunst.

            Mit der Vorliebe Schnitzlers für solche Dämmerzustände und seiner alles umfassenden Zweifelsucht, die den Tod als einzige und letzte Wahrheit bestehen läßt, hängt es wohl zusammen, daß viele seiner psychologischen Knoten nicht zur Gänze gelöst oder mit einem kühnen Schwerthieb zerhauen werden, sondern daß er lieber, wo das Gewirre nicht mit zarten Händen zu lösen geht, melancholisch lächelnd einen ungelösten Rest zurückläßt. Besonders in seinem Roman findet doch eigentlich keine der suchenden Gestalten den „Weg ins Freie“ wirklich. Und das „Zwischenspiel“, dieses Scherzo mit melancholischen Unterstimmen, bringt seine Personen auch in der letzten Szene nicht aus dem Dilemma heraus, das die erste einleitete. Wohl ist aus den merkwürdigen Verschlingungen manche nachdenkliche Perspektive eröffnet; eine Lösung aber, die ihm selbst zweifelhaft und nebensächlich erscheinen würde, verschmäht der Dichter. „Denn das ist das Charakteristische aller Übergangsepochen, daß Verwicklungen, die für die nächste Generation vielleicht gar nicht mehr existieren werden, tragisch enden müssen, wenn ein leidlich anständiger Mensch hineingerät.“

            Die Erkenntnis der Kompliziertheit aller Lebensvorgänge hat Schnitzler zu sehr durchdrungen, als daß er seinen Dichterberuf als Priesteramt auffassen könnte. Viel eher denkt er sich seine Sendung so wie die des Wundermannes Paracelsus, der eine Welt des Wahns ebenbürtig neben die der Wirklichkeit stellt und die dazwischenliegenden Grenzen schwinden macht. „Ich lasse den Vorhang aufgehen, wenn es anfängt, amüsant zu werden, und lasse ihn fallen in dem Augenblick, wo ich recht habe.“ Ein Puppenspiel ist es in dem die Personen der Bühne und die des Publikums in gleicher Weise an den unsichtbaren Drähten hängen, der Dichter selbst mit ihnen.

            Die Vereinigung solcher geistiger Elemente zu einem abgerundeten Werk hat Schnitzler in einer ihm nach Herkunft und Heimat geläufigen Form vollzogen. Aus der Keimzelle des Wiener Feuilletons sind ihm die stärksten formalen Impulse zugekommen, in der Kulturatmosphäre großstädtischen Gesellschafts- und Salonlebens sind sie gediehen. Der unübertroffene Plauderton seiner Novelletten, deren lyrisch-musikalische Unterstimme wohl auch ein wenig vom allgemeinen, zum Erstarken der Lyrik drängenden Zug zeitgenössischer Literatur beinflußt ist, die genaue abwägende Berechnung der Sprachelemente, die dann doch in ihrer Gesamtheit den Eindruck des Ungezwungenen, Improvisierten macht, das sind die Elemente der vornehmen, durch französische Schule gegangenen Wiener Feuilletonistik. Naturgemäß mußten der dramatischen Wirksamkeit dieser Dichtungsweise gewisse Hemmungen entgegenstehen. Die breite Geste des Theaters verträgt sich schlecht mit solch feinen Formelementen. Das Ringen um die dramatische Gestalt ist denn auch in der Frühzeit Schnitzlers deutlich zu erkennen. Dem „Märchen“ haften unstreitig gewisse papierene Qualitäten an, die „Liebelei“ versuchte in einem ersten Entwurf, sich den Gesetzen des Volksstückes anzupassen, und erst eine ganz besondere Ausgestaltung aller im Rahmen seiner Technik gelegenen Möglichkeiten brachte den vollständigen Sieg über die Bühne. Unterstützt war die Eroberung des Theaters zum voraus durch das ausgesprochene Talent Schnitzlers, Interessantes zu finden, und durch seine glückliche Hand, die alles interessant zu machen verstand. Die geistreich-prickelnde Konversation der höchsten Gesellschaftsklassen, in der aus graziös unbedeutendem Getändel mit einem Male durch eine Zuspitzung eine blitzartig erhellende Perspektive auf Bedeutendes fällt, das Ineinanderschlingen schlagfertiger Aperçus die wechselvolle Beleuchtung eines Gegenstandes, der, fingerfertig hin- und hergewendet, den Nervenkitzel gedanklichen Flackerfeuers erzeugt, die Freude am geistreichen Paradoxon, der Hang zum leicht Exotischen, alle diese Elemente der Saloncauserie hat Schnitzler der Bühne dienstbar zu machen verstanden.

            Das große Geschehen spiegelt sich wider, aber vollzieht sich selten wirklich, so wenig wie Napoleon im „Jungen Medardus“ die Bühne betritt. Der Reiz des intimen Seelenvorganges steht überall im Vordertreffen und verschleiert auch in den dramatischen Historien den Schritt der Geschichte. Moderne Inhalte hüllen sich in das Kostüm vergangener Zeiten, und so erwächst auch die bestrickende und verwirrende Farbensinfonie des merkwürdigsten Werkes in Schnitzlers reichem Schaffen, die romantische Umdichtung der todgeweihten Stadt Bologna, in deren Mitte das Rätsel Beatrice wandelt. Geheimnisvoll, abgründig, ungewußt, ein Symbol für Schnitzlers ganze Dichtung, geht sie ihren Weg in unbegreiflichen Verschlingungen, doch dem Innersten ihrer Seele gehorchend, vor der alle großen Ereignisse gleich gelten gegenüber dem Diktat ihrer Weiblichkeit. Solcherart bietet sie vielleicht den letzten Schlüssel zu Schnitzlers Absicht, die er am deutlichsten ein andermal, im „Weiten Land“, bekannt hat: „Wenn man Zeit hat und in der Laune ist, baut man Fabriken, erobert Länder, schreibt Sinfonien, wird Millionär, aber glaubt mir, das ist doch nur Nebensache, die Hauptsache seid Ihr! – Ihr! – Ihr!“ Ein aufhellenderes Zitat findet sich bei ihm kaum wieder.

            Als Dichter des Weibes von Paracelsus‘ Zeiten über Casanova in die Salons der modernen Großstadt, als Gestalter der ganzen Stufenskala von Liebesmöglichkeiten und Liebeszweifeln, als Rätselkünder mehr denn als Rätsellöser darf Schnitzler gelten. Als einer, der die Kunde vom weiten Land der Seele vermehrt und bereichert hat, schürft und baut der Sechzigjährige weiter, graziös, apart, kultiviert, wie er es stets getan.

In: Wiener Zeitung, 13.5.1922, S. 2-3.

A.F.S [Adalbert F. Seligmann]: Die Frau als Künstlerin.  

(Zur Ausstellung im Hagenbund.).

Der Weltkongreß der Frauen, der in diesen Tagen wohl an tausend seiner Mitglieder und Gäste in unserer Stadt versammelt, hat wie ein warmer Frühlingsregen auch auf dem bei uns sonst nicht allzu ergiebigen Boden der bildenden Kunst – ergiebig im materiellen Sinn! – ganze Pflanzungen aufsprießen lassen. Da ist zunächst eine Ausstellung in den Terrassensälen der Neuen Hofburg, von der Gruppe „Wiener Frauenkunst“ veranstaltet – der Bericht darüber ist eben erschienen -, die das Ewig-Weibliche in seinen radikal modernen Spielarten vorführt; dann die von der Vereinigung bildender Künstlerinnen Oesterreichs in den Räumen des Hagenbund (1. Zedlitzgasse 6) unter dem Titel „Zwei Jahrhunderte Kunst der Frau in Oesterreich“ kürzlich eröffnete, die auch höchst interessante Blicke in die Vergangenheit tun läßt. Bald soll auch im Theseustempel (Volksgarten) eine Nachlaßausstellung der Bildhauerin Anna Margarethe Schindler eröffnet werden, auf die man gespannt sein darf, denn die kürzlich in jungen Jahren Verstorbene war ohne Zweifel eine der stärksten Begabungen, die in letzter Zeit hervorgetreten sind. Auch auf eine bescheidene, rasch improvisierte Schulausstellung der „Wiener Frauenakademie“ (1. Bäckerstraße 1) darf hingewiesen werden, weil aus dieser vor einem Menschenalter gegründeten Anstalt zahlreiche namhafte Künstlerinnen hervorgegangen sind, die wir in den beiden eben genannten Ausstellungen vertreten finden. Schließlich mag man auch die prächtige Maria-Theresia-Ausstellung in Schönbrunn damit in einen gewissen Zusammenhang bringen, da in ihr das Wirken einer der genialsten Frauen, die jemals gelebt haben, auf imposante Weise vor Augen geführt wird.

            Naturgemäß drängt sich hier die Frage auf: Haben die in den erwähnten Kunstausstellungen gezeigten Werke etwas Gemeinsames, das man als das spezifisch Weibliche in der Kunst bezeichnen könnte? In dieser Hinsicht sind die Antworten lehrreich, die auf eine, von den Veranstalterinnen der „Wiener Frauenkunst – Ausstellung“ an zahlreiche Persönlichkeiten gerichtete Rundfrage: „Wie sieht die Frau?“ eingelaufen, im Katalog dieser Ausstellung abgedruckt erscheinen. Während hier sonderbarerweise die Aueßerungen einiger Kunstgelehrten nur ganz vage und allgemeine, zum Teil ins Abstrakt – Nebelhafte sich verlierende Ansichten wiedergeben, sind es zwei Frauen, Marianne Hainisch und Rosa Mayreder, die sich am präzisesten fassen und meines Erachtens in der Hauptsache den Nagel auf den Kopf treffen. Beide sagen kurz und bündig, daß die künstlerisch veranlagte Frau nicht als Geschlechtswesen, sondern als Individuum ficht. „Je höher die Begabung, desto weniger machen sich die spezifischen Geschlechtseigenschaften geltend. Ich könnte nicht sagen,“ fährt Rosa Mayreder fort, „inwiefern die Werke der Rosa Bonheur, der Tina Blau, der Käthe Kollwitz, der Feodorowna Ries“ – wir zitieren nur einige der von ihr angeführten Namen – „spezifisch weiblich gesehen sind. Früher einmal hat man das spezifisch Weibliche in der Neigung zur minutiösen Durchbildung, zum Miniaturhaften, in der Vorliebe für das Detail erkennen wollen – aber da müßte man die meisten Zeitgenossen Waldmüllers“ – und diesem selbst, fügen wir hinzu! – „die Männlichkeit aberkennen … Die größte Verherrlichung der Mutterschaft in der Malerei, die Darstellung der Madonna, stammt nicht von Frauen“, usw. Auch Maler A.D. Goltz und der Schreiber dieser Zeilen haben in ihren Antworten Aehnliches, wenn auch nicht so scharf formuliert, gesagt. Es ist ja auch einleuchtend genug! Begegnen wir doch im Leben nur zu oft Männern, die eigentlich alte Weiber sind und Frauen, die die Hosen anhaben; in der Kunst sogar solchen, von denen das letztere auch im wörtlichen Sinne gegolten hat, wie etwa von Rosa Bonheur, von George Sand und auch von einer gelegentlich dieser Ausstellung für die weitere Oeffentlichkeit neuentdeckten Wiener Künstlerin, Hermine Gartner, die in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gelebt hat. Da in den sechziger Jahren den Frauen das Kopieren in der Akademie nicht gestattet war, zog sie Männerkleidung an und behielt diese auch später bei. Im Katalog der „Zwei-Jahrhundert-Ausstellung“ wird ihr abenteuerlicher Lebenslauf und ihr tragisches Ende kurz geschildert. Ihr ausgestelltes Selbstporträt ist eine vortreffliche Arbeit, die aber keineswegs besonders „männlich“ anmutet.

            So viel scheint sicher – von einem gewissen Qualitätsniveau an spielt das „Weibliche“ oder „Männliche“ keine Rolle mehr. Wenn man sich im Mittelsaal der Ausstellung im Hagenbund umsieht, wird man vielleicht an den Werken aus dem achtzehnten und der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, also an den Porträts der Carriera, der Angelika Kauffmann (5, 6), der Vigee-Lebrun (9), an den Blumenstücken der Pauline Koudelka-Schmerling (11), den Miniaturen der Henriette v. Brevillier (29)  – wir haben gleich die besten Stücke mit ihren Nummern bezeichnet – das Glatte, Gefällige, dem Auge Schmeichelnde als „weiblich“ bezeichnen wollen; doch darf man nicht vergessen, daß zu jener Zeit die Bilder der Grassi und Lampi, der F. X. Petter und anderer Blumenmaler, die Aquarellporträts von Johann Ender usw. auf das heute keineswegs „männlicher“ wirken. Das lag eben in der Zeit. Vor einem Gemälde, wie es die wundervolle Praterlandschaft der Tina Blau (36) ist, denkt man überhaupt nicht daran, ob es ein Mann oder eine Frau geschaffen hat. Das Bild ist nahezu fünfzig Jahre alt, zur selben Zeit entstanden, wie die große Praterlandschaft, die im Belvedere hängt, und wirkt in seiner unglaublichen, mit den einfachsten und ehrlichsten Mitteln erzielten Lichtfülle als sei es eben von der Staffelei gekommen. Seinerzeit wurde diese Malerei nur von wenigen ganz nach Verdienst gewürdigt, und ich glaube, die bescheidene Künstlerin selbst war sich nicht klar darüber, was sie da eigentlich geleistet hatte. Als das erwähnte große Praterbild – es dürfte im Jahre 1881 gewesen sein – zur Ausstellung im Künstlerhaus eingereicht wurde, wäre es bei einem Haar zurückgewiesen worden. Es war so rücksichtslos hell und farbig, daß es zu den anderen Bildern absolut nicht passen wollte und überall ein „Loch in die Wand“ riß. Damals legte sich Makart ins Mittel und erklärte der Jury, dies sei das beste Bild der ganzen Ausstellung; so erhielt es schließlich sogar einen besonders guten Platz und schon im folgenden Jahr im Pariser Salon die mention honorable.

            Denkt man, wie gesagt, vor den Bildern der Blau gar nicht daran, ob ihr Schöpfer ein Mann oder eine Frau gewesen, so möchte vor denen ihrer bedeutendsten Rivalin, Olga Wisinger-Florian (es sind drei Werke von ihr im ersten Seitenraum linkt ausgestellt), jeder, der ihre Signatur nicht kennt, darauf wetten, daß ein Mann sie gemalt habe. Sie sind mit einer so draufgängerischen Verwegenheit hingespachtelt, daß niemand eine zarte Frauenhand darin erkennen würde. Schade, daß nichts aus ihrer früheren Zeit hier zu sehen ist, keines von den reizenden, ganz dünn und delikat gemalten Feldblumenstücken mit Schmetterlingen und dunklem Grund! Der Katalog tut ihr ein wenig unrecht, wenn er sie nur „als Blumenmalerin geschätzt“ sein läßt, und wenn die Selige wüßte, daß besagter Katalog von ihren Auszeichnungen nur zwei anführt und verschweigt, daß sie Officier de l’Academie gewesen, so würde sie sich im Grab umdrehen, denn sie hielt etwas auf solche Dinge! Die unheimlich groß gewachsene, fabelhaft häßliche, aber höchst geistreiche, amüsante und redegewandte Frau war als Künstlerin vielseitiger, beweglicher, virtuoser als Tina Blau (wenn mir die letztere gleichwohl als die bedeutendere Individualität erscheint), auch stand sie beständig im Mittelpunkt eines regen geselligen Großstadtlebens, während Tina Blau – zum Teil auch ihrer Schwerhörigkeit halber – nur ungern unter Menschen ging, besonders seitdem sie nach einer siebenjährigen, aber überaus glücklichen Ehe Witwe geworden war. Im Menschlichen wie im Künstlerischen zwei Gegensätze, wie man sie ausgeprägter wohl selten antreffen wird.

            Die enorme technische Bravour der späteren Wisingerschen Malerei erregte vor fünfundzwanzig, dreißig Jahren das größte Aufsehen, gelegentlich sogar Widerspruch! Heute haben sich die Maßstäbe verändert. Man sieht in dieser Ausstellung eine große Zahl von Arbeiten, die gerade in dieser Hinsicht sehr weit gehen und dabei – was ja die Hauptsache ist – auch qualitativ vortrefflich sind. So etwa – wir gehen in der vom Katalog angezeigten Richtung durch die Säle – das breit hingestrichene Männerporträt von Friederike v. Koch (98), die „lettische Bäuerin“ (107) von Therese Mór, ein Bild das in eine öffentliche Galerie gehört, den alle Zufälligkeiten virtuoser Aquarelltechnik ausnützenden „Spaniel“ von Vilma Friedrich (109), die koloristisch brillanten Blumenstücke von Marie Magyar (151, 153), die meisterhaften Hundebilder von Norbertine Breßlern-Roth (164, 166, 167), einer der stärksten Individualitäten unter den lebenden österreichischen Malerinnen (die sich nur davor hüten muß, in Manier zu verfallen!), das wuchtige Vernis-Mou-Blatt von Pepi Weixlgärtner (200), die geradezu ungestüm hingeworfenen Schneebilder der hochbegabten Katharina Wallner (220, 222), die freilich in ihrer exzessiven Art schon an die äußerste Grenze gehen und denen ich darum manche frühere Arbeiten der Künstlerin vorziehen möchte; die monumental gesehenen Figurenstudien und das großzügig einfache Pastellporträt von Johanna Kampmann-Freund; unter den Plastiken die imposante Halbfigur des Grafen Wilczek von Feodorowna Ries (Saal II), ein Werk, das hier durch die zerstreute Beleuchtung und das Material (getönter Gips) nicht so zur Geltung kommt wie in Bronze an seinem Standort vor dem Haus der Rettungsgesellschaft; die wundervolle „Schreitende“ von Anna M. Schindler (Saal V), und die leider etwas zu tief placierte Marmorfigur der verstorbenen Nora Exner, an herbe italienische Renaissanceplastiken gemahnend. Alle die genannten und noch manche andere in dieser Ausstellung gezeigten Werke, die zu erwähnen uns hier der Raum fehlt, enthalten auch nicht die Spur irgendwelcher Süßlichkeit, Glätte oder gefälligen Oberflächlichkeit. Auch dies ist ein Zeichen der Zeit. Für die künstlerisch schaffende Frau von heute fallen zahllose psychische – und sogar physische! – Hemmungen weg, die noch vor dreißig Jahren wirksam waren. Ja, in extrem modernen Ausstellungen von Frauenkunst finden wir den Ausdruck dieses Freiheitsgefühles oft zur forcierten und innerlich hohlen Kraftmeierei ausgeartet.

            Es wäre darum ganz falsch, anzunehmen, daß eine losgeherische oder brutale Skizzenhaftigkeit an sich schon etwas „männliches“ an sich habe. Wir brauchen da nur an Jan van Eyck, Memling, Dürer, Holbein, Terboch, Ingres zu denken, um uns klar darüber zu werden, daß auch die subtilste Durchbildung, die feinste Detailmalerei nicht den Eindruck des Weiblichen oder sagen wir noch bezeichnender, des Frauenzimmerhaften zu machen braucht. Es kommt eben auch hier wieder nur auf die Qualität an! Erreicht diese eine besonders hohe Stufe, so denkt niemand mehr an solche Unterscheidungen. Auch dafür bringt die hier besprochene Ausstellung einige charakteristische Beispiele: im Mittelsaale das Obststilleben der Rosalie Amon (13), so gut wie ein Waldmüller, im Seitenraum I, links das winzige Stilleben von Camilla Friedländer (67), das in Komposition und Haltung freier, daher sozusagen „männlicher“ wirkt als die ähnlichen noch heute gut bezahlten Bildchen von Max Schödl; ferner die geradezu mikroskopisch durch-geführten Tierstudien von Hilde Gräfin Vitzthum gebornen Goldschmidt (IV, 112 bis 114), die nicht nur als technische Leistungen stupend sind, sondern ein Einfühlen in die Natur verraten, wie es in dieser Intensität nur ganz selten zu finden ist. Auch der mit der Feder gezeichnete Männerkopf von Martha E. Fössel (123) oder die Pflanzenstudien von Mila v. Luttich (121) wären etwa noch auszuführen und nochmals auf das schon erwähnte Blumenbild der Baronin Koudelka (Mittelsaal, Nr. 11) aufmerksam zu machen, eine Arbeit, die kurzweg als Meisterstück bezeichnet werden muß. Hier sei auch noch auf das Mädchenbildnis (VII, 206) von Luise Fränkel-Hahn hingewiesen, ein Kniestück, das, obwohl lebensgroß, mit einer an die Quattrocentisten erinnernden Subtilität aller Details durchgeführt, doch nichts an Lebendigkeit und Bewegung verloren hat.

            Werke dieser Art müssen besonders hervorgehoben werden, weil sie gerade bei vielen sogenannten „Fachleuten“ heute auf vollkommenes Unverständnis stoßen, ein Unverständnis, das erstaunlich wäre, wüßte man nicht, daß diese Sorte von Kennern Bilder nicht mit dem Sehorgan, sondern mit dem Literaturorgan betrachtet und dort wo sie ihr reichlicher Fremdwörtervorrat im Stiche läßt, nichts mit dem Kunstwerk – und mit sich – anzufangen weiß.

(Ein Schlußartikel folgt.)

In: Neue Freie Presse (Morgenblatt.), 30.5.1930, S. 1-3.