Müller, Anitta

ab 1921 Anitta Müller-Cohen, geb. am 6.6.1890 in Wien – gest. am 29.6.1962 in Tel Aviv; Sozialpolitikerin, Frauenrechtsaktivistin, Journalistin

M. wuchs als Anitta Rosenzweig in einer wohlhabenden assimilierten jüdischen Familie in Wien auf und absolvierte ein Lehramtsstudium. 1909 heiratete sie den Kaufmann Arnold Müller, von dem sie sich für die Ehelichung des Zionisten Samuel Cohen 1921 scheiden ließ. Schon vor 1914 engagierte sie sich, beeinflusst vom befreundeten Sozialpolitiker und Feministen Julius Ofner, wie u.a. Klara Mautner und Therese Schlesinger im Allgemeinen Österreichischen Frauenverein (AÖFV) und gehörte zum Kreis um Auguste Fickert. Zudem war sie Mitglied Robert Strickers Jüdischnationaler Partei. Bekannt wurde M.-C. im Ersten Weltkrieg für die Einrichtung der Sozialen Hilfsgemeineschaft Anitta Müller, die u.a. unterernährte jüdische Kinder in Europa versorgte und rund 12.000 Erholungsreisen ermöglichte. Am 7. März 1918 erhielt sie von Kaiser Karl das Kriegskreuz für Zivilverdienste II. Klasse. Sie gehörte als jüngste Abgeordnete 1918/19 dem prov. Wiener Gemeinderat an. M.-C. gründete 1919 die Jüdische Hilfe für das jüdische Kind und den Jüdischen Frauenbund, hielt international Vorträge zur sozialen Not in Wien nach dem Krieg und war 1923 Mitorganisatorin sowie neben u.a. Regine Ulmann AÖFV-Delegierte beim ersten Weltkongress Jüdischer Frauen in Wien, bei dem auch Marianne Hainisch auftrat. 1920 wurde sie u.a. Vorsitzende der Weltkonferenz der jüdischen Sozialverbände, 1929 Vizepräsidentin der World Federation of Jewish Women. Sie vertrat auch das American Jewish Joint Distribution Comitee in Wien.

Nach dem Krieg betätigte sich M.-C. als Publizistin und schrieb für die zwischen 1919 und 1927 erscheinende jüdischnational-zionistische Wiener Morgenzeitung, in der sie 1919 die Rubrik Frauenrecht und Frauenarbeit leitete, für das Neue Wiener Journal, die Jüdische Rundschau und Menorah. Illustrierte Monatsschrift für die jüdische Familie. Frauenrechte, Sozialarbeit und die Entwicklung der jüdischen Familie stellten ihre maßgeblichen Themen dar. Am 22. Mai 1919 hielt M.-C. gemeinsam mit Bruno Frei unter dem Titel Bilder vom Wiener Elend im Kleinen Saal des Wiener Konzerthauses einen Vortrag, bei dem rund 150 Lichtbilder von Anton und Hans Bock zu Freis in Der Abend veröffentlichten Sozialreportagen präsentiert wurden, die Eingang in die Sammlungen Jüdisches Elend in Wien (1920) und Bilder vom Wiener Elend (1921) fanden. Wohl auf ihre Vermittlung hin wurden Freis Bilder zur internationalen Werbung um humanitäre Hilfe von jüdischen Organisationen wie auch von der Stadt Wien eingesetzt. 1925 unternahm M.-C. eine Reise nach Amerika, wo sie am American Jewish Congress in Chicago teilnahm, und lebte 1926/27 in Palästina. 1929 übersiedelte M.-C. mit ihrer Familie nach Luxemburg, 1932 nach London und 1934/35 nach Palästina, wo sie u.a. als Vorsitzende im Verein der Österreichischen Einwanderer sowie der zionistischen Misrachi-Frauenbewegung fungierte. 1950 trat sie der konservativ-nationalistischen Partei Cherut bei.


Quellen und Dokumente

Beiträge A. M.-C.s: Frauenrecht und Frauenarbeit. In: WMZ, 2.2.1919, S. 7, Interessante Frauenportraits. In: WMZ, 5.5.1923, S. 4,The Return of Yewish Woman to Judaism. In: Menorah 1 (1923), 1, S. 14, Das große Schweigen. In: Menorah 1 (1923), 5, S. 17f., Jüdische Frauenarbeit in den Nachfolgestaaten. In: Menorah 1 (1923), 6, S. 16, Eine Musterschule in Palästina. In: Menorah 2 (1924), 2, S. 16/18, Amerikanische Philantropen. In: WMZ, 14.2.1926, S. 8, Otto Abeles: Besuch in Erez-Israel. In: Jüdische Rundschau, 30.4.1926, S. 3, Die Frauenfrage in Palästina. In: WMZ, 28.8.1927, S. 4f.

Felix Salten: A. M. In: NFP, 15.7.1917, S. 1-3, Soziale Frauenarbeit. Von der Wohltätigkeit zur Fürsorge. In: Mittagsblatt des Neuen Wiener Journals, 14.6.1918, S. 3f., Alpheus (= Carl Colbert): Sozialpolitische Wochenplauderei. Von den Kindern Ahasvers. In: Der Abend, 8.5.1919, S. 3, Frauenrechte und Menschenrechte. A. M.über die politische Zukunft der bürgerlichen Frau. In: Neues Wiener Journal, 12.11.1918, S. 3, Christoph Brant: Gespräch mit A. M. Die Frau im Gemeinderat. In: Neues Wiener Journal, 7.12.1918, S. 4, Josef Grob: Die Schattenseiten unserer Wohlfahrtseinrichtungen. In: Jüdische Korrespondenz, 8.8.1919, S. 4f., Amerikabericht einer Wiener. (Mit Abbildung.). In: Das interessante Blatt, 21.1.1926, S. 3.

Literatur

Meir Marcell Faerber: A. M.-C. (1890-1962). In: Ders.: Österreichische Juden. Historische Streiflichter, 95f (1996), Dieter J. Hecht u.a.: Nischen und Chancen – jüdische Journalistinnen in der österreichischen Tagespresse vor 1938. In: Medien & Zeit 18 (2003) 2, 31-39, Ders.: Zwischen Feminismus und Zionismus. Die Biografie einer Wiener Jüdin. A. M.-C. (1890-1962) (2008), Ders.: Anitta und Sam Cohen. In: Chilufim. Zeitschrift für Jüdische Kulturgeschichte 7 (2009), 189-198, Ders.: A. Müller-Cohen: Sozialarbeit und Zionismus zwischen Wien und Tel Aviv. In: Medaon 14/2014.

Dieter J. Hecht: Eintrag bei Jewish Women’s Archive, Eintrag beim Projekt Ariadne der ÖNB, Eintrag bei wien.gv.at.

Walter Mentzel: Das Flüchtlingshilfwerk Anitta Müller und das Kinderwaisenheim Wien-Baumgarten. Beitrag in der Reihe 1. Weltkrieg & Medizin (2015).

(ME)