Vor einigen Jahren stand ich in der großen, weißen
Halle eines Wasserkraftwerkes, das mit vielen Feierlichkeiten eröffnet wurde. Ein
Redner nach dem anderen würdigte das Ereignis, ein Redner nach dem anderen
sprach von Volkswirtschaft, Aufbauarbeit, Fortschritt und was man so sagt, wenn
man dazu berufen ist. Es war sehr langweilig. Schließlich besprengte ein
Priester die blanken, jungen Maschinen mit Wasser und weihte sie im Namen des
Herrn, nahm sie auf in die Gemeinschaft der katholischen Kirche. Auch für uns
Menschen hatte er einige Tropfen übrig, obwohl wir nicht so gute Christen
waren, nicht so fleißige Gottesstreiter wie die braven Maschinen und die braven
Feldhaubitzen.
Dann trat der Monteur an ein Schaltwerk und stellte
einen Hebel: und von diesem Augenblick an bereute ich es nicht, daß ich zu der
Eröffnung des Wasserkraftwerkes hinausgefahren war. Hoch oben auf dem Berg
hinter dem weißen Haus stürzte das Wasser des gefangenen, des gebundenen
Wildbachs in das Turbinenrohr. Heulend, singend, jubelnd, gurgelnd, sausend,
orgelnd brach das Element in die Halle herein. Tausend Raubtiere, Drachen,
Riesen, Dämonen waren losgelassen, tausend Urwaldstimmen vermengten sich zu
wüstem Gesang, tausend Posaunen des Untergangs schleuderten irre Musik in das
Chaos. Es war, als habe jemand die dünne Schicht Ordnung und Gesetz, die Haut
der Natur, die wir für das Wesen der Dinge halten, von allem Dasein gerissen,
als habe jemand die schreckliche Wahrheit, das fürchterliche Blut des Daseins
entfesselt. Immer gewaltiger, immer drohender wurde das Gedröhn – in einer
Sekunde mußte die Halle zusammenbrechen, mußten Trümmer von Stein und Erz uns
alle begraben. Einige öffneten den Mund, riefen, so laut sie konnten, den neben
ihnen Stehenden etwas zu – man hörte nichts, die Stimme des Menschen wurde
hinweggefegt von der übermenschlichen Stimme niederstürzender Elemente.
Hinweggefegt wurden die schönen Worte: Volkswirtschaft, Aufbauarbeit,
Fortschritt, hinweggefegt die wohlgefügten Gedanken der Minister, Abgeordneten,
Industriellen, die das Wasserkraftwerk eröffnet hatten – der Berg brüllte, das
Wasser schrie, die Mächte triumphierten über den Menschen.
Und plötzlich – geisterhaftes Schauspiel! – zitterten
die Maschinen aus ehernem Schlaf empor, plötzlich pochten die Pulse der
glänzenden Ungeheuer, plötzlich begannen die Räder sich feierlich zu drehen,
begannen die Kolben zu stampfen, die Riemen zu gleiten, die Walzen zu rollen.
Und plötzlich sprang aus hundert Lampen elektrisches Licht in den weißen Tag,
plötzlich schlug das Wasser, das in den Turbinen schoß, hundert gespenstische
Augen auf. Plötzlich starrte das Element aus hundert gespenstischen Augen uns
an… […]
Von Zeit zu Zeit, im Verlauf der Jahre, war es auf
einmal wieder da, diese unvernünftige Angst, dieses Grauen vor der Uebermacht
der Maschine – stets aber fand ich pathetische Worte und beruhigende Beweise
gegen das Gefühl der Ohnmacht und der Hoffnungslosigkeit, gegen die jähe
Vision, daß unser eigenes Werk uns niederwirft, daß wir alle unter die Räder
geraten, die wir ins Rollen brachten. Unsere Phantasielosigkeit überwindet
solche Eindrücke, diese Phantasielosigkeit, die uns vor dem Wahnsinn bewahrt
und die menschliche Gesellschaft mit all ihrem Elend, mit all ihren Krisen und
Kriegen, mit all ihren wohlgeordneten Schändlichkeiten und salbungsvollen
Schurkereien zusammenhält.
Diese Phantasielosigkeit dann und wann zu zerstören,
ist höchste Aufgabe der Kunst.
Solch ein hohes Kunstwerk ist Leo Lanias Film „Im Schatten
der Maschinen“, den wir vor einigen Tagen in Wien gesehen haben. Was jeder
von Zeit zu Zeit, im Verlauf der Jahre, bedrängend, bedrückend gefühlt hat;
diese unvernünftige Angst, dieses Grauen vor der Maschine – hier hat es
konzentrierten, herzzermalmenden Ausdruck gewonnen. Der Mensch ist nichts, Die
Maschine alles – Bild auf Bild bombardiert uns mit dieser Erkenntnis, Bild auf
Bild brodelt empor aus der Hölle der mechanisierten Arbeit. Ehe der Film
beginnt, ertönt das Lied der Arbeit,
am Ende verklingt es im Schatten der Maschinen wie bitteres Hohngelächter.
Maschinen zerren Hunderttausende täglich hinab in die
Dunkelheit der Bergwerke, tragen Hunderttausende täglich empor auf Dächer,
Gerüste und Telegraphenmaste, Maschine zwingen die Hände, die Füße, den ganzen
Körper des Menschen, sich ihrem monotonen Rhythmus, ihrer magischen
Unbeirrbarkeit anzupassen, unterwerfen der starren Diktatur ihrer Hebel und
Räder den lebenden Organismus. Ihre Funktionen wechseln – hier brechen sie
Kohle, hier hämmern sie Eisen, hier mahlen sie Mehl – aber ihr Wesen bleibt
überall gleich: überall dieselbe mörderische Melodie: „Hin und her! Auf und ab!
Eins und zwei! Hin und her! Ohne Rast! Ohne Ruh’! Auf und ab! Immerzu! Eins und
zwei!“ Anfangs merkt man noch Unterschiede, sieht man noch Einzelheiten, findet
man noch bestimmte Eigenarten dieser und jener Produktion – allmählich aber
lösen sich diese Unterschiede, Einzelheiten, Eigenarten auf in einen einzigen
monotonen Arbeitsprozeß. Was da erzeugt wird, Lebensmittel oder Todesmittel,
Dünger oder Giftgas, Mehl oder Stahl, ist dem, der es erzeugt, vollkommen
gleichgültig […] Er hat keinen Anteil
an dem, was da erzeugt wird – wie sollte er daran Anteil nehmen? Er ist ein Stück Produktionsapparat – schade, daß man den
Kerl bezahlen muß! Man schaltet ihn ein.
Man schaltet ihn aus. Und eines Tages montiert man ihn ab: Arbeitslosigkeit,
Krankheit, Tod.
Die Maschine ist vollkommener als der Mensch. Manchmal, wenn man ihr pochendes, pulsendes,
stampfendes Auf// und Ab vor den Augen hat, meint man, den ungeheuren
Herzschlag, das ungeheure Atemholen eines Lebewesens zu sehn – aber wie
unvollkommen ist unser Herz, hundertfältigen Leidenschaften, Gefühlen,
Erlebnissen ausgeliefert, launenhaft und unregelmäßig, einmal tobend und einmal
stockend, von Schmerzen und Hoffnungen irritiert, von Wünschen bedrängt und von
Verzweiflung gelähmt, und ebenso launenhaft, ebenso unregelmäßig der Atem des
Lebenden! Wie unvollkommen ist unser Herz, wie vollkommen ist das Herz der
Maschine. Mit schauerlicher Genauigkeit vollbringt es die vorgeschriebenen
Schläge, keinen zuviel und keinen zuwenig, keinen zu kurz und keinen zu lang,
mit fürchterlicher Regelmäßigkeit atmen die stählernen Lungen aus und ein […]
Die Produktion geht weiter, ein Mensch ist nichts, der
Mechanismus funktioniert. Erde ist Material, Kohle ist Material, Eisen ist
Material, die Menschen sind Material.
Hier wird Mehl gemahlen, dort werden Granaten gedreht – werden just Kinderwagen
produziert oder Haubitzen, sind es Mehlsäcke, die da liegen oder Leichen?
Teuflisch verwirrt sich die Maschinerie: da brechen auf einmal Geschütze und
Tanks in die Welt der Technik herein, da sät man Korn, da sät man Blut, da
ragen Gewehrpyramiden in leerem Feld und morgen sind es Getreideschober, da
wälzt sich eine Nähmaschine über das Land und reife Aehren fallen zu Garben, da
wälzt sich ein Tank über das Land, und was ein Aehrenfeld war, wird zum Felde
der Ehre, Krieg und Frieden, Erz und Fleisch, Korn und Blut, dieselbe Bewegung,
derselbe Takt, dieselbe mörderische Melodie…
Die Produktion geht weiter, ein Mensch ist nichts, der
Mechanismus funktioniert. Die Musikanten spielen das Lied der Arbeit – „Stimmt an das Lied der hohen Braut“… Am
feuerspeienden Kessel ein nackter Prolet, umflockt von höllischer Glut,
niedergetrommelt von Flammenfäusten – „die schon dem Menschen angetraut“ – im
Kohlenbergwerk ein nackter Prolet, halberstickt auf dem Rücken liegend, von
Schweiß überschwemmt und überprasselt von Wasserstürzen – „eh er selbst Mensch
war noch…“ Und ist er Mensch, eingekeilt in Eisen und Stein? ein Stück
Produktionsapparat, sonst nichts – „Was sein ist auf dem Erdenrund“ –
Erdmassen, Felsmassen stürzen ein, Krämpfe schütteln den Sterbenden, der seiner
Frau, seinen Kindern nichts hinterlässt, als das unveräußerliche Proletenrecht
auf staatlich geregelten Hungertod – „entsprang aus diesem schönen Bund“ –
riesige Zangen greifen zu, schmieden die Kette, Glied für Glied – „die Arbeit
hoch!“ – Alleszerstampfend, alleszermalmend rollt ein phantastisches Ungetüm
heran, näher und immer näher heran, über uns alle hinweg: die Arbeit in dieser Welt der kapitalistischen Maschinerie…
Das ist der Film „Im Schatten der Maschinen“. Ein
Fiebertraum, Vision eines pessimistischen Künstlers? Nein: Wahrheit,
Wirklichkeit, unsere Welt! Reportage
und Photographie, ohne ein Wort der Erklärung und der Anklage. Aber kein
Revolutionsfilm der Russen wirkt so aufreizend, so erbitternd, so elementar wie
diese konzentrierte, diese kommentarlose Wirklichkeit. […]
In: Arbeiter-Zeitung, 19.5.1929, S. 17-18.