Joseph Eberle: Zum 12. November – Umsturzerinnerung (1925)

Joseph Eberle: Zum 12. November – Umsturzerinnerung

Wer heute geschichtliche Erinnerung pflegt, auf Ereignisse der Vergangenheit zurückblickt und über sie nachdenkt, kommt bei den Modemenschen nicht gut an. „Laßt die Toten ihre Toten begraben“, wird ihm ins Gesicht gedonnert. Das Bild von Lots Weib, das nach dem brennenden Sodom zurückschaute und zur Salzsäure erstarrte, wird ihm vorgehalten. Und doch: Einzig der Sinn für die Geschichte, das Leben aus den Zusammenhängen mit der Geschichte, das Betrachten der Geschichte zwecks Lernens aus der Geschichte, unterscheidet Kulturvölker von Nomaden. Der Geschichtsverächter wird Sklave der Tagesmode, Schlachtopfer der Tagesillusionen.

Wenig ist so lehrreich wie die Geschichte von Katastrophen, von Umsturzzeiten. Es sind zumeist die Schlußakte gewaltiger Dramen, wo das Geschehen sich überstürzt, wo Knoten entwirrt, Rätsel gelöst werden, wo ein Stück Räderwerk der Dinge sichtbar wird, wo menschliche Werte und Unwerte, Tugenden und Charakterlosigkeiten, Tapferkeiten und Feigheiten in hüllenloser Nacktheit sichtbar werden. Katastrophen, Umstürze sind immer erschütternde Lektionen über Völkergesetze und Menschenqualitäten. […]

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            Der Umsturzgedächtnistag wird in Österreich und in verschiedenen Nachfolgestaaten als Festtag gefeiert; in Wirklichkeit müßte er als Trauertag begangen werden. Er wäre angebrachter, Trauerfahnen auszuhängen und über alttestamentarische Klagelieder nachzudenken, als Volksmassen mit Banner und klingendem Spiel in Parade aufmarschieren zu lassen. Der Umsturzgewinner sind ja so wenige, die Zahl der Umsturzverlierer dagegen ist Legion.

            Die Zerschlagung der Donaumonarchie und die Begründung neuer Staaten und Regierungssysteme auf ihrem Gebiet ist zum Teil die Folge äußeren Druckes, des verlorenen Krieges; zum Teil die Wirkung langjähriger innerer Wühlereien, denen Not und Verwirrung die Wege ebneten. Umstürze können die begreifliche natürliche Reaktion gegenüber Tyrannenherrschaft und Volksausbeutung sein; sie können aber ebenso die Frucht geistiger Erkrankungen, phantastischer Ideologien sein. Letzteres war beim Umsturz in Österreich-Ungarn, soweit er von Innenkräften bedingt und von langer Hand angestrebt war, vorwiegend der Fall. Die Umsturzführer waren Sklaven einer falschen Ideologie. So berechtigt gesunde Schätzung von Nation und Volk, von Muttersprache und Heimat ist, so falsch ist die Vergötterung, die Verabsolutierung des Nationalen. Neben dem Nationalstaat steht gleichberechtigt, in gewisser Hinsicht sogar höherberechtigt  und übergeordnet, der Völkerstaat oder Völkerbund, der Volksstämme, die zahlenmäßig zu klein zu eigenen normalen Staatsgebilden sind, zu einem gewissen gemeinsamen politischen und wirtschaftlichen Leben zusammenfaßt, zumal wenn die Geographie, wenn die Geschichte und die Gesetze der Volkswirtschaft zu solcher Zusammenarbeit drängen. Die Ideologie des Nationalstaates beziehungsweise die These „Jeder Nation auch ein eigener Staat“ ist Ausfluß des neueren Individualismus. Sie ist eine Modesache im Hinblick auf die Gesamtgeschichte; sie ist ein blutiger Anachronismus im Hinblick auf neuere Entwicklungen: in Presse und Kulturorgani-//sation, in Handel und Verkehr treten immer mehr große internationale Mächte hervor; die Bedrohung Europas durch die anderen Kontinente legt europäische Solidarismen größerer und kleinerer Ordnung geradezu gebieterisch nahe. Wie lächerlich ist da der Wille zur politischen Balkanisierung, zur Duodezstaaterei! Jedenfalls hat die Balkanisierung Altösterreichs nicht die versprochene Freiheit, sondern nur Versklavung gebracht. In den Klageliedern des Jeremias heißt es vom niedergebrochenen Jerusalem, vom besiegten Judenvolk: „Wie sitzet so einsam die Stadt, einst an Volk so reich; wie eine Witwe ist die Gebieterin der Völker geworden, ihre Feinde sind ihre Beherrscher, ihre Widersacher sind reich geworden. Unser Erbe ist Fremden zuteil geworden, unsere Häuser Ausländern, unser Wasser trinken wir um Geld, unser Holz müssen wir um Zahlung erwerben, Knechte haben Gewalt über uns erlangt, niemand rettet uns aus ihrer Hand. Fürsten werden an der Hand aufgehängt, das Antlitz der Ältesten wird nicht geachtet.“ Muß das nicht heute auch von Wien und Budapest und Agram gesagt werden? Wo ist heute die Freiheit der Österreicher, der Ungarn, der Slowenen, der Kroaten, der Slowaken? Ehedem war Österreich-Ungarn eine führende Großmacht und jeder Staatsangehörige Nutznießer der Großmachtstellung; die neuen kleinen Staaten sind nur Spielbälle, Spielzeuge der Großen, und jeder Staatsbewohner erleidet dieses Schicksal mit. In Wien und Budapest ist das ganze staatliche Sein von Ententekrediten abhängig. Vertrauensmänner des Auslandes überwachen als Kontrollorgane die Schlüssel des Geldschrankes! Aber nicht nur die Wirtschaft – die ganze Kulturpolitik, die Frage, ob Antisemitismus oder nicht, ob konfessionelle oder konfessionslose Schulleiter, ob Anschlußkundgebungen oder nicht, wird vom Ausland bestimmt, wird vom Ausland belobt oder mit bitteren Repressalien bedacht. […]

            Es gab schwere Mängel, starke verfassungsrechtliche Unausgeglichenheiten in der alten Donaumonarchie, die ein längerer Weltkrieg steigerte. Weil das alte Regime, die alte Obergesellschaft dafür verantwortlich gemacht wurde, galt der Kampf der Umsturzführer vor allem diesem Regime, dieser Obergesellschaft. Aber auch hier sind die Umsturzführer von langer Hand Sklaven von Falschvorstellungen. […] Seit 1848 sind die Parlamente, die Journale, die Universitäten, die Bücher das eigentlich Führende der Völker, sind Könige und ihre Ministerien weitgehend gezwungen, sich zu begnügen, Exponenten der stärksten geistigen und politischen Strömungen ihrer Länder zu sein. Wie dürfen dann Monarchien und Adel für die Entwicklung dieser Zeit verantwortlich gemacht werden! Die Journale waren die geistigen Nährmütter des Kapitalismus und seiner Unerträglichkeiten. Die Journale legten Holz ins Feuer der nationalen Überspannungen und Zwistigkeiten; die Journale sangen das hohe Lied der Volksvermögen fressenden Plutokratie, die Journale förderten den Aufstieg des Judentums, die Journale förderten den Libertinismus und Zynismus im Buchwesen. Die Journale aber waren nicht in den Händen von Monarchie und Adel! Die Parlamentarier wieder sekundierten weithin der Weltmacht Presse, fütterten den nationalen Egoismus, leisteten Lakaiendienste für die Reitzes und Rothschild, für die Gutmann und Taussig, machten die Bedürfnisse von Industrie und Handel einseitig zu wichtigsten Staatsbedürfnissen; die liberalen Koryphäen der Universitäten aber gingen voran, gingen voran in der Verkündigung des Dysevangeliums vom Kapitalismus und Nationalismus, vom Egoismus und Libertinismus – warum wendet sich die Umsturzführung nicht gegen diese wirklichen Könige der Neuzeit und die Fluchwirkungen ihrer Politik? Warum gegen die um die wahre Führungsmacht gebrachte Dynastie, gegen den Adel, die, noch bessere Traditionen und besseren Geist verkörpernd, als letzte Vertreter konservativer Kultur und Wirtschaft, übervölkischer Versöhnlichkeit, gesunden Interessenausgleiches der Gesamtvolksschichten, eher Verstärkung ihrer Position als Vertreibung , Vermögenskonfiskation und Tod verdienten? Schon im Hinblick auf die französische Revolution, bei Besprechung der Frage der an ihr Schuldigen, wendet sich Carlyle gegen jenen Pharisäismus, der sich anklagend einseitig nur gegen das alte Regime kehrt, das damals noch wirkliche Führungsmacht war. Gegenüber denen, die nur von der Schuld des Königs, der Königin, der Minister sprechen, betont er mit größtem Nachdruck die Schuld des ganzen Volkes – auch rückwärts, bis zu Karls des Großen Tagen; die Schuld aller, die auf ihren Posten irgend einmal ihre Pflicht nicht erfüllt haben. […]

            Nicht als ob das alte Regime in Bausch und Bogen gerechtfertigt werden sollte; es hatte seine genügende Portion Mängel. Gerade wenn nicht nur gefragt wird: Wer war schuld an soundsoviel Fehlentwicklung?, sondern wenn weiter gefragt wird: Warum hat Gott die Katastrophe mit allem Drum und Dran zugelassen?, muß auf viel mangelnde Aktivität, auf allerlei geistige Unzulänglichkeiten in der Erfassung der brennenden Zeitaufgaben beim alten Regime hingewiesen werden. Ganz und gar gefehlt ist es nur, die kleineren Schuldigen abzuurteilen, die großen aber laufen zu lassen. Ganz und gar gefehlt ist es nur, die energischen Vertreter schlechter Ideen den unvollkommenen Vertretern guter Ideen vorzuziehen.

            Jedenfalls hat der Sturz der konservativen Mächte, hat die volle Demokratisierung das erwartete soziale Heil nicht gebracht, sondern nur die sozialen Übel vermehrt. Die Gegensätze von arm und reich sind nicht verschwunden, sondern nur gewachsen. An Stelle der Feudaladels tritt mit wesentlich vermehrter Macht und mit wesentlich vermehrtem Besitz der Industrie- und Handels-, vor allem der Bank- und Börsenadel. […]//

            Ein altes großes Reich wurde zerschlagen, die alte Dynastie wurde vertrieben: nun regiert der internationale Geldmann, der Geldadel, das Geldkönigtum im Zeichen jenes Geldsymbols und Geldstolzes, von dem Carlyle sagt: „Es ist das schlechteste und niedrigste unter allen Bannern und Symbolen der Herrschaft, nur möglich in einer Zeit des Unglaubens in allem, außer in brutaler Gewalt und Sensualismus. […]

            Was ist bei solcher Sachlage, bei solcher Auffassung der Sachlage die Aufgabe? Nicht jammern und die Hände in den Schoß legen, auch nicht tun, als ob die Tatsachen aus der Welt geschafft werden könnten, sondern durch Aufklärung und Tat tapfer für das Morgen zu arbeiten.

            Die falsche nationale Ideologie trägt schwerste Mitschuld an dem gegenwärtigen Elend. Also Abbau, Bekämpfung dieser Ideologie! So sehr jedes Volk Anspruch auf volle Auswirkung seiner nationalen Eigenart hat, so falsch ist jede Verabsolutierung des Nationalen auf Kosten der höheren Werte: Religion, Kultur, Recht. Kleine Völker scheinen von der Natur verkürzt gegenüber den großen Völkern, deren Zahlen- und Landschaftsverhältnisse von selbst den eigenen Staat mit sich bringen; dafür entgehen sie der Symbiose mit anderen Völkern viel mehr der Gefahr der geistigen Verengung und rassischen Erschlaffung. Nicht Balkanisierung Mittel- und Südosteuropas und damit Degradierung Mitteleuropas zum Schlachtfeld, zur Weide, zum Experimentierfeld Fremder, sondern Föderierung und damit Freiheit Mittel- und Südosteuropas muß Zukunftslösung sein.

            Eine weitere schwere Mitschuld am gegenwärtigen Elend trägt der überspannte Demokratismus. Also: Abbau der üblichen Ideologie und Kampf für gesündere, organische Auffassungen! Die Demokratie bedarf starker Gegengewichte, das Regime von untenher gewisser Bindungen von obenher. Christliches Ideal war immer die Synthese der bewährtesten Staatsverfassungen, die Verbindung des demokratischen mit dem aristokratischen und monarchischen Prinzip. Wer dieserart konservativ denkt, ist nicht Romantiker, Träumer und Illusionist, sondern Illusionisten und Träumer sind jene Naivlinge der Provinz, jene Grasgrünen unter 25 Jahren und jene unruhigen Neophyten aus dem Judentum über 25, die, ohne Kenntnis des Riesenhaften und Dämonischen der modernen plutokratischen Mächte, nicht einsehen, daß diesen gegenüber wieder Mächte aufgeboten werden müssen, daß echte Dynastien und Aristokratien geradezu letzte Schutzpfeiler gegen die Gegenwartsplutokratie sein können. Ganz abgesehen davon, daß nicht die Gesellschaft der gleichgeordneten Atome, sondern die hierarchisch geordnete Gesellschaft das Normale ist, wie denn auch der Himmel, die Gemeinschaft der Heiligen, nicht demokratisch, sondern hierarchisch geordnet ist. Es gibt keine Kultur ohne starke Wirksamkeit der Faktoren Tradition und Autorität, so auch keine politische Kultur ohne Wirksamkeit von Mächten der Tradition und Autorität.

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In: Schönere Zukunft. Kulturelle Wochenschrift. Wien Nr. 7, 15. Nov. 1925, S. 157-160.