geb.
am 7.2.1870 in Wien – gest. am 24.5.1937 in Aberdeen; Arzt, Psychotherapeut.
Ps.: Aladin, Alladin, Aladdin.
Als zweitältester
Sohn von sieben Geschwistern einer jüdischen Familie in Rudolfsheim (damals ein
Vorort von Wien) geboren, wächst A. in bescheidenen Verhältnissen in der Wiener
Vorstadt auf. Nach dem Besuch des Hernalser Gymnasiums absolviert er 1888–1895
ein Medizinstudium an der Wiener Universität, wo er Mitglied des
österreichischen Studentenverbands wird. Dieser sozialistisch gesinnten
Studentengruppe mit ausgeprägtem Interesse an moderner Kunst und Kultur gehören
u. a. auch F. Bleigeb. am 18.1.1871 in Wien – gest. am 10.7.1942 in New York; Schriftsteller, Essayist, Kritiker, Satiriker, Herausgeber..., J. Strassergeb. am 11.9.1870 in Krakau – gest. am 15.10.1935 in Wien; Journalist, Politiker S., Sohn einer Eisenbahnerfamilie, e..., H. Thaller und D. J. Bachgeb. am 13.8.1874 in Lemberg (Lviv) – gest. am 30.1. 1947 in London; Kulturfunktionär, Journalist, Kritiker Aus:... an, außerdem
nimmt A. an den Aktivitäten des von Blei geführten Diskutier- und Singverein Veritas teil. In dieser Zeit lernt A.
auch seine spätere Ehefrau, die Russin Raissa Timofejewna Epstein kennen, die
sich vehement für die Gleichberechtigung von Frauen einsetzt und zuweilen auch
radikale Standpunkte vertritt, was immer wieder zu Konflikten mit dem politisch
und emanzipatorisch zwar aufgeschlossenen, im Grunde jedoch eher bürgerlich-traditionellen
Vorstellungen verhafteten A. führt.
Nach dem Abschluss
seines Studiums arbeitet A. zunächst an der von M. Benedikt gegründeten
Poliklinik, einer wohltätigen Institution, an der Mittellosen eine kostenlose
Behandlung zuteil wird. In eigener Praxis ist er dann als Augenarzt, später als
Allgemeinmediziner tätig. Seine Praxis in der Wiener Leopoldstadt nahe dem
Prater suchen vor allem Patienten aus ärmlichen Verhältnissen auf, was A.s
Ansichten über die Notwendigkeit einer sozialmedizinischen Betreuung der Wiener
Bevölkerung bestärkt. 1898 publiziert er Das
Gesundheitsbuch für das Schneidergewerbe, in dem er die Verbesserung von
Arbeitsbedingungen, Kranken- und Unfallversicherung sowie die soziale
Absicherung der Arbeiter fordert.
1904 konvertiert
A. mit zwei seiner Töchter zum Protestantismus, vor allem wohl aus dem Wunsch,
gesellschaftlich dadurch besser gestellt zu sein. In diesem Jahr erscheint auch
seine erste pädagogische Arbeit Der Arzt
als Erzieher, in der er die erzieherische Aufgabe des Arztes bei der
Behandlung seiner PatientInnen betont und seine Ansichten über Kindererziehung
darlegt. 1907 formuliert A. in seiner Studie über Minderwertigkeit von
Organen die grundlegenden Gedanken zu seiner Neurosenlehre, die er in
seinem 1912 erschienenen Werk Über den
nervösen Charakter zusammenfasst. Diese auch an der Universität Wien als
Habilitationsschrift eingereichte Studie wurde allerdings von J. von
Wagner-Jauregg, dem Vorstand der Psychiatrisch-Neurologischen
Universitätsklinik, abgelehnt.
Bereits seit 1902
Mitglied von S. Freuds Psychologischer Mittwoch-Gesellschaft verdichten sich im
Laufe des Jahres 1910 die inhaltlichen Differenzen zwischen Adler und Freud.
Nach A.s Versuchen, der Mittwoch-Gesellschaft den Marxismus näher zu bringen
(z. B. 1909 durch seinen Vortrag „Zur Psychologie des Marxismus“), greift
A. in mehreren Vorträgen (z. B. „Zur Kritik der Freudschen Sexualtheorie
des Seelenlebens“) Grundkonzepte der Freud’schen Lehre an. So hinterfragt A.
die zentrale Stellung des Ödipuskomplex und stellt den Menschen weniger als von
sexuellen Trieben gesteuert, denn von sozialen und kulturellen Faktoren
bestimmt dar. Diese Ideen sind für Freud unvereinbar mit seiner eigenen
psychoanalytischen Theorie. 1911 tritt A. (und in seinem Gefolge einige seiner
AnhängerInnen wie z. B. C. Furtmüller, M. Hilferding oder D. E. Oppenheim)
aus der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung aus und legt die
Mitherausgeberschaft des Zentralblatts
für Psychoanalyse zurück. Im selben Jahr eröffnet A. eine Praxis als Neurologe
und gründet den Verein für freie
psychoanalytische Forschung, der ab 1913 als Verein für Individualpsychologie weitergeführt wird. Hier werden
neben psychologischen, psychotherapeutischen und medizinischen Fragen auch
explizit künstlerische und literarische Themen verhandelt, um
tiefenpsychologische Probleme besser verstehen und lösen zu können. 1914
erscheint dann der erste Jahrgang der Zeitschrift
für Individualpsychologie sowie der mit Furtmüller gemeinsam herausgegebene
Aufsatzband Heilen und Bilden.
Unter dem Eindruck
seiner Erfahrungen als Militärarzt im Ersten Weltkrieg und der infolge des
Krieges verstärkten Jugendverwahrlosung erhält der Begriff des
›Gemeinschaftsgefühls‹ für A. einen wesentlichen Stellenwert. In diesem
erblickt er ein grundlegendes Prinzip menschlichen Verhaltens und
Zusammenlebens sowie die beste Prävention gegen Minderwertigkeitsgefühle und
Machtstreben. So ist die von den Sozialdemokraten in den 1920er-Jahren in Wien
lancierte Schulreform unter O. Glöckel ideologisch und personell eng mit A.s
Individualpsychologie verbunden und maßgeblich durch das individualpsychologische Konzept, das Kind als
aktives, soziales Wesen aufzufassen, geprägt. Begleitend zur Schulreform werden
auch Aus- und Weiterbildungmaßnahmen mit individualpsychologischer Beteiligung
angeboten: sowohl in den zahlreichen von IndividualpsychologInnen gegründeten
Erziehungs- und Schulberatungsstellen als auch am 1923 errichteten Pädagogischen Institut der Stadt Wien,
an dem namhafte WissenschaftlerInnen und PsychologInnen wie C. und K. Bühler, H.
Kelsen, W. Jerusalem und A. selbst lehren.
Individualpsychologische Ortsgruppen entstehen in der Folge in vielen
europäischen Städten, wenn sich deren ideologische Orientierung auch nicht
immer mit A.s Vorstellungen deckt, wie sich beispielsweise an der Kontroverse
mit einem seiner begeistertsten Schüler M. Sperbergeb. am 12.12.1905 in Zablotów (Ostgalizien, heutige Ukraine) – gest. am 5.2.1984 in Paris; Schriftsteller, Psycholog... zeigt: Für Sperbers Idee,
individualpsychologische und marxistische Konzepte miteinander in Einklang zu
bringen, kann der radikalen politischen Positionen abgeneigte A. überhaupt kein
Verständnis aufbringen und so erlebt A. mehr als 20 Jahre nach dem eigenen
Bruch mit seinem Lehrer diesen nun aus der anderen Perspektive.
A. unterrichtet
nicht nur am Pädagogischen Institut der Stadt Wien (wo er seit 1924 eine Stelle als
Professor hat), er hält auch Kurse und Vorlesungen an
zahlreichen Volkshochschulen. Darüber hinaus führt ihn seine Vortragstätigkeit
in viele Städte Europas und ab 1926 zu immer längeren Aufenthalten in die USA,
wo er der Individualpsychologie bessere Zukunftschancen zurechnet. Hier hat er
1929 eine Gastprofessur an der renommierten Columbia University inne, 1932
erhält A. einen Lehrstuhl für medizinische Psychologie am Long Island Medical
College und eröffnet in New York eine Praxis für Psychotherapie sowie eine
Erziehungsberatungsstelle.
Infolge des
Verbots der Sozialdemokratischen Partei 1934 und der damit verbundenen
Einschränkungen der Aktivitäten des Vereins für Individualpsychologie in
Österreich, intensiviert A. seine amerikanischen Kontakte. Er gründet die
englischsprachige Zeitschrift International
Journal of Individual Psychology und übersiedelt 1935 mit seiner Familie
endgültig in die USA. Seine letzten Lebensjahre sind geprägt von einer
unermüdlichen Vortragstätigkeit, völlig überraschend stirbt A. auf einer
Vortragsreise am 24.5.1937 in Aberdeen in Schottland.
Weitere Werke
(Auswahl)
Das Problem der
Homosexualität (1917); Die andere Seite. Eine massenpsychologische Studie über
die Schuld des Volkes (1919); Praxis und Theorie der Individualpsychologie
(1920); Liebesbeziehungen und deren Störungen (1926); Menschenkenntnis (1927);
Die Technik der Individualpsychologie. Erster Teil: Die Kunst, eine Lebens- und
Krankengeschichte zu lesen (1928); Individualpsychologie in der Schule. Vorlesungen
für Lehrer und Erzieher (1929); Neurosen (1929); The Science of Living (1929,
dt. Lebenskenntnis 1978); Die Technik der Individualpsychologie. Zweiter Teil:
Die Seele des schwererziehbaren Kindes (1930); The Education of Children (1930,
dt. Kindererziehung 1976); What Life Should Mean to You (1931, dt. Wozu leben
wir? 1979); Der Sinn des Lebens (1933); gemeinsam mit Ernst Jahn: Religion und
Individualpsychologie (1933).
Alfred Adlergeb. am 7.2.1870 in Wien – gest. am 24.5.1937 in Aberdeen; Arzt, Psychotherapeut. Ps.: Aladin, Alladin, Aladdin. Als z... Studienausgabe. 7 Bde. Hg. v. Karl
Heinz Witte. Göttingen 2007–2010.
Quellen und Dokumente
Nachlass an der Library of Congress (Washington).
Bestand A.A. im Tagblattarchiv der Wienbibliothek.
Volltext online: Studie über die Minderwertigkeit von Organen (1907), Über den nervösen Charakter (1912), Die andere Seite (1919), Praxis und Theorie der Individualpsychologie (1920).
Volltexte von Artikeln in Fachzeitschriften und digitalisierten Bücher von A. (auch auf Englisch) finden Sie hier.
unter Alladin: Leben und Schicksal der Säuglinge. In: Arbeiter-Zeitung, 16.2.1902, S. 1f.; unter Aladin: Wie ernähren wir unsere Kinder? In: Arbeiter-Zeitung, 28.12.1902, S. 8 und 30.12.1902, S. 5f.; Amerika und die Individualpsychologie. In: Neue Freie Presse, 13.6.1929, S. 12; Was ist Individualpsychologie? In: Neue Freie Presse 4.8.1929, S. 22.
Was ist Individualpsychologie? [Fortsetzung] In: Neue Freie Presse, 11.8.1929, S. 23; Körperform, Bewegung und Charakter. In: Der Querschnitt 10, 9, September 1930, S. 569-573; Mann und Frau. In: Der Querschnitt 11, 11, November 1931, S. 730f.; Bericht über einen Vortragsabend von A. in: Neue Freie Presse, 13.10.1927, S. 7; D. B. (= D. J. Bach): Alfred Adler zum sechzigsten Geburtstag. In: Arbeiter-Zeitung, 4.2.1930, S. 4.
Literatur
Phyllis Bottome: Alfred Adler. Aus der Nähe porträtiert. [1939] Berlin 2013; Almut Bruder-Bezzel: Geschichte der Individualpsychologie. [1991] Göttingen 21999; Bernhard Handlbauer: Die Entstehungsgeschichte der Individualpsychologie. Wien 1984; ders.: Die Freud-Adler-Kontroverse. Gießen 2002; Edward Hoffman: Alfred Adler. Ein Leben für die Individualpsychologie. München u. a. 1997; Clara Kenner: Der zerrissene Himmel. Emigration und Exil der Wiener Individualpsychologie. Göttingen 2007, bes. S. 62–67; Gerald Mackentun (Hg.): Alfred Adler – wie wir ihn kannten. Göttingen 2015; Josef Rattner: Alfred Adler. [1972] Reinbek bei Hamburg 101997; ders.: Alfred Adler: Der Mensch und seine Lehre. Berlin 2013; Rüdiger Schiferer: Alfred Adler. Eine Bildbiographie. München 1995; ders. und Almut Bruder-Bezzel: Alfred Adler: 1870–1937. Katalog zur Ausstellung der der Österreichischen Nationalbibliothek Wien. München 1990; Alexander Kluy: Alfred Adler. Die Vermessung der menschlichen Psyche – Biographie. München 2019.
(VH)