Bernfeld, Siegfried

geb. am 7.5.1892 in Lemberg (heute L’viv, Galizien/Ukraine) – gest. am 2.4.1953 in Los Angeles; Reformpädagoge, Psychoanalytiker, Drehbuchautor, Exilant

Bernfeld wuchs als erstes von drei Kindern in gesicherten Verhältnissen auf; sein Vater war der jüdische Tuchgroßhändler Isidor Bernfeld, seine Mutter Hermine Schwarzwald-Bernfeld. Nach Übersiedelung der Familie nach Wien wuchs B. dort auf u. legte 1911 die Matura ab, um danach an der Univ. Wien bis 1915 Biologie, Geologie, Pädagogik, Psychologie u. Philosophie zu studieren und zum Dr. phil. mit der Arbeit Über den Begriff der Jugend zu promovieren. 1912 gab er bereits mit George Barbizon (Berlin) die Zs. Der Anfang. Zeitschrift der Jugend heraus u. betätigte sich als Vortragender u. Kursleiter im Volksheim (Ottakring), wo er z.B. am 1.2.1914 über J.G. Fichte hielt. Im April 1914 bot er für den Allgem. österr. Frauenvereins einen Vortrag über Frauenbewegung – Jugendbewegung an u. wurde dabei in der Zs. Neues Frauenleben (H 4/1914,107) als „jugendlicher Führer der Wiener Jugendbewegung“ tituliert. 1915 nahm er erstmals an Sitzungen der Wiener Psychoanalyt. Vereinigung teil u. wurde, auch von S. Freud gefördert, 1919 deren ord. Mitglied. Ab H.2/1916 findet sich B. als Beiträger in der von M. Buber hg. Zs. Der Jude. 1917 näherte er sich der zionist. Bewegung an u. organisierte im Mai 1918 einen zionist. Judentag, allerdings an einem Sabbat, was der anwesende M. Buber kritisch kommentierte. Zur selben Zeit ist er auch Hg. der jüd. Zs. Jerubbaal (April 1918- März 1919), die im jüd. R. Löwit-Verlag erschien, aber aus finanz. Gründen ihr Erscheinen einstellen musste. In der Übergangsphase von der Monarchie zur Republik engagierte sich B. auch im sog. Jüdischen Nationalrat u. fungierte als Kommandant der Jüdischen Selbstwehr. 1919 engagierte sich B. in mehreren Jugend- und Studententagen mit zionist. Ausrichtung, an denen auch bekannte Exponenten des Zionismus wie H. Bergmann oder R. Weltsch teilnahmen sowie am Projekt des Kinderheims Baumgarten, das vom American Joint Distribution Committee unterstützt wurde u. Ausgangspkt für die 1920 erfolgte Grd. des Jüdische[n] Institut für Jugendforschung und Erziehung war. 1920 erschien auch seine Schrift Das jüdische Volk und seine Jugend; 1920-21 war B. zudem als Sekretär von M. Buber tätig, u.a. auch für dessen Zs. Der Jude. 1922 eröffnete B. auf Anraten u. Förderung durch S. Freud eine psychoanalyt. Praxis in Wien u. widmete sich in den Folgejahren in zahlr. Vorträgen der Freudschen Psychoanalyse.

1924 wechselte B. von der zionist. Bewegung zur sozialdemokrat. Partei, was in der jüd. Wiener Morgenzeitung ebenso heftig kritisiert wurde wie in bürgerl. Blättern. 1925 ersch. seine Schrift Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung, die auf große Resonanz stieß, weil sie u.a. eine Synthese aus Marxismus u. Psychoanalyse als wesentliche Fundamente pädagog. Arbeit behauptete. Zugleich hielt er am neugegr. Lehrinstitut der Wiener Psychoanalyt. Vereinigung den Einführungskurs zur Psychoanalyse. Gemeins. mit F. Zoref besorgte er auch die deutsche Übers. des Western-Romans von D. Clifford Pretty Polly and the Prairie unter dem Titel Das Lassomädel. In dasselbe Jahr fällt auch seine Übersiedelung nach Berlin. Im Sept.Heft des Kampfes 1926 veröffentl. er den programmat. Essay Sozialismus und Psychoanalyse; im Dezember mischt er sich auch in die Schmutz- und Schunddebatte ein und tritt erstmals im Programm von Radio Wien auf. 1927 trug er u.a. zum Sonderheft der Zs. für Psychoanalyt. Pädagogik (Thema: Sexuelle Aufklärung) bei, befasste sich in der Zs. Praxis mit dem Massenproblem und sozialist. Erziehung, betätigte sich als Übersetzer von Feuilletons von G. Clifford in der Salzburger Wacht, in der auch am 10.2.1927 sein Jazz-Feuilleton erschien, ferner in der AZ, Die Bühne und das NWJ (insgesamt über 20), war somit trotz Wohnorts Berlin in Österreich überaus präsent. 1928-29 wandte er sich wiederum dem Film verstärkt zu (Liebe im Mai, den F. Rosenfeld am 20.9. 1928 in der AZ gnadenlos verriss, ebenso Nachtlokal im darauffolgenden Jahr), betätigte sich aber auch als Literaturkritiker, Herzmanovsky-Orlandos Roman Der Gaulschreck im Rosennetz besprechend, und weiterhin als Übersetzer, 1929-30 v.a. von Texten von Henry O‘Hara. 1930 verf. B. gem. mit Robert Wohlmut als Regisseur den Film Lebende Ware, der von der Verleihfirma so verstümmelt wurde, dass sich die beiden zu einer Distanzierung von der Kinofassung gezwungen sahen. Im selben Jahr konnte der als Gemeinschaftsprod. der neugegr. Arbeitsgemeinschaft Neuer Film außerhalb des kommerz. Filmbetriebs Der Vagabund gedreht werden, den F. Rosenfeld als den „erste[n] österreichischen Avantgardefilm“ begrüßte. 1931 folgt der mit Arthur Berger verf., von Rosenfeld angesichts der Sascha-Produktionen durchaus begrüßte Tonfilm Die große Liebe. 1931-32 arbeitete er maßgeblich am Berliner Psychoanalyt. Institut mit u. mit Kurt Lewin zusammen. Zu seinem Bekannten- und Diskussionszirkel gehörten auch Th. W. Adorno, M. Horkheimer, W. Reich u.a.m. 1933 kehrte B. nach Wien zurück; zuvor war er noch mit dem Drehbuch des vom Völkerbund finanz. Films Der Haß, der stirbt betraut worden; ein Projekt, das jedoch nicht zustande kam. 1934 emigrierte er mit seiner Frau Suzanne Cassirer nach Menton (Südfrankreich), hielt aber noch Kontakt zu Wien, 1937 dann über London in die USA, wo er sich in San Francisco ansiedelte u. in den 1940er Jahren an der Medical School der Univ. of California tätig wurde.


Weitere Werke

Die neue Jugend und die Frauen (1914); Kinderheim Baumgarten (Berlin 1921); Psychologie des Säuglings (1925); Das Wolgamädchen (Stummfilm, 1930); Die vom 17er Haus (Drehbuch, gem. mit A. Berger, 1932)

Zionismus und Jugendkultur. = Werke Bd.3 (= Essays 1916-22), hg. von U. Hermann, W. Fölling, M. Fölling-Albers; Gießen 2011.

Quellen und Dokumente

Das Kind braucht keinen Schutz vor Schund. In: Arbeiterwille, 12.12.1926, S. 14, Sozialismus und Psychoanalyse. In: Der Kampf (1926), H. 9, S. 385-389, Ueber sexuelle Aufklärung. In: Arbeiterwille, 24.7.1927, S. 9, Jazz im Prater. In: Salzburger Wacht, 23.4.1928, S. 5, Der Gaulschreck im Rosennetz. Roman von Fritz von Herzmanowsky-Orlando. In: Salzburger Wacht, 13.6.1928, S. 6, Warum ich gegen den Sprechfilm bin. Aus einem Gespräch mit Charlie Chaplin. In: Salzburger Wacht, 8.3.1930, S. 9, J. U.: Der jüdische Jugendtag und wir. In: Jüdische Korrespondenz, 23.5.1918, S. 5, Zum jüdischen Erziehungsproblem. In: Wiener Morgenzeitung, 5.6.1921, S. 4f., F. S.: Ueber Psychoanalyse. In: Neues Wiener Tagblatt (Abendausgabe), 14.12.1923, S. 4, N.N.: S. B.: Sysiphos oder die Grenzen der Erziehung. In: Die Mutter, 16.12.1925, S. 13f., Inserat zu Liebe im Mai. In: Österreichische Film-Zeitung, 26.5.1928, S. 3, Verstümmelung eines Films durch die Verleihfirma. In: Das Kleine Blatt, 3.1.1930, S. 9, Fritz Rosenfeld: Der Vagabund. In: Arbeiter-Zeitung, 20.4.1930, S. 24f., Inserat zu Die große Liebe. In: Das Kino-Journal, 7.11.1931, S. 10, Fritz Rosenfeld: Filme der Woche [zu Die große Liebe]. In: Arbeiter-Zeitung, 25.12.1931, S. 9f.

Cover zu: Das jüdische Volk und seine Jugend [online verfügbar]

Nachlass: Library of Congress (Washington); Deutsche Nationalbibliothek (EB 96/274)

Literatur

L. Utley: Siegfried Bernfeld’s Jewish Order of Youth 1914-1922. In: Yearbook. Leo Baeck Institute 24(1979), 349-368; Karl Fallend, Johannes Reichmayr (Hgg.): Siegfried Bernfeld oder die Grenzen der Psychoanalyse. Basel-Frankf./M 1992; Armin A. Wallas: Die Zeitschriften Jerubbaal (1918/19) und Esra (1919/20) als Sprachrohr und Diskussionsforum der zionist. Jugendbewegung in Österreich. In: Ders.: Österreichische Literatur-, Kultur- und Theaterzeitschriften im Umfeld von Expressionismus, Aktivismus und Zionismus. Hg. von A. Lauritsch. Wuppertal 2008, 133-185; Peter Dudek: ›Er war halt genialer als die anderen.‹ Biografische Annäherungen an Siegfried Bernfeld (2012).

Roland Kaufhold: S. B. oder Die Grenzen der Psychoanalyse. In: haGalil.com, 18.10.2010, R. K.: Jugendbewegt. Der Zionist, Reformpädagoge und Psychoanalytiker. In: Jüdische Allgemeine, 30.8.2012.

(PHK)