Carnap, Rudolf

geb. am 18.05.1891 in Ronsdorf (heute Stadtteil von Wuppertal, Nordrhein-Westfalen) – gest. am 14.09.1970 in Santa Monica, CA; Philosoph und Wissenschaftstheoretiker

C. wurde als Sohn des als Inhaber einer Weberei zu Wohlstand gekommenen Johannes S. C. 1891 in Ronsdorf (Wuppertal, Nordrhein-Westfalen) geboren. Seine Mutter Anna C. war die Tochter des Pädagogen und Herbartianers Friedrich Wilhelm Dörpfeld, deren Bruder, C.s Onkel, Wilhelm Dörpfeld ein bedeutender Archäologe und Mitarbeiter Heinrich Schliemanns. Nach dem Besuch des humanistischen Gymnasiums in Barmen (heute ebenfalls Wuppertal) und dem Abitur in Jena studierte C. Mathematik, Physik und Philosophie in Jena (u.a. beim Nobelpreisträger für Literatur 1908, dem Philosophen Rudolf Eucken, und insbes. beim Logiker Gottlob Frege) sowie in Freiburg (v.a. beim Neukantianer Heinrich Rickert). In Jena engagierte er sich u.a. im der Jugendbewegung zugehörigen Sera-Kreis um den bedeutenden Verleger Eugen Diederichs. Nach seinem Dienst als Soldat im Ersten Weltkrieg und der Heirat mit Elisabeth Schöndube 1917 setzte C. sein Studium der Philosophie in Jena fort und promovierte dort 1921 mit der Arbeit Der Raum bei dem Neukantianer Bruno Bauch. Im Anschluss an weitere philosophische Studien in Buchenbach bei Freiburg und der gemeinsam mit dem Physiker und Philosophen Hans Reichenbach 1923 organisierten Erlanger Tagung, die als erste Manifestation jener neuen wissenschaftlichen Philosophie gilt, die dann der Wiener Kreis ausarbeitete, kam es ab 1924 zu persönlichen Kontakten mit den seit Anfang der 1920er Jahre in Wien wirkenden Moritz Schlick und Otto Neurath. An der Universität Wien erfolgte 1926 auch C.s Habilitation in Philosophie mit seinem ersten Hauptwerk Der logische Aufbau der Welt. Hier wirkte C. dann bis 1931 zunächst als Privatdozent, seit 1930 als außerordentlicher Professor. 1931 bis 1935 lehrte C. als außerordentlicher Professor für Naturphilosophie an der Deutschen Universität in Prag, wo er sein zweites Hauptwerk Logische Syntax der Sprache fertigstellte. Seit 1929 von seiner Frau geschieden, mit der er vier Kinder hatte, heiratete C. 1933 Elisabeth Ina Stögren. In seiner Abwesenheit während einer Gastprofessur in Harvard mit Wirkung ab 1936 zum Ordinarius in Prag ernannt, emigrierte C. aufgrund der sich radikalisierenden politischen Lage bereits im Dezember 1935 in die USA, wo er bis 1952 an der Universität Chicago, sodann bis 1954 am Institute for Advanced Study in Princeton und zuletzt bis 1961 als Nachfolger seines verstorbenen Freundes Hans Reichenbach auf dessen Lehrstuhl an der University of California in Los Angeles (UCLA) lehrte. Seit 1941 amerikanischer Staatsbürger, erfuhr C. 1963 mit der Veröffentlichung des Bandes The Philosophy of Rudolf Carnap in der vom legendären Philosophen und methodistischen Theologen Paul Arthur Schilpp seit 1939 herausgegebenen und bis zum heutigen Tag fortgesetzten Reihe Library of Living Philosophers mit eine der größten Ehrungen in der Welt der akademischen Philosophie. 1964 schied C.s an schweren Depressionen leidende Frau Ina freiwillig aus dem Leben. Pläne, seinen Lebensabend in Deutschland zu verbringen, konnten nicht mehr realisiert werden: Nach kurzer Erkrankung starb C. 1970 in Santa Monica, Kalifornien.

Als neben dem Philosophen Schlick und dem Soziologen Neurath führender Kopf des Wiener Kreises und ein Hauptvertreter des logischen Empirismus galt C.s philosophisches Hauptinteresse der Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache (so der Titel eines Aufsatzes von 1931/32). Zwar wurden andere als erkenntnis- oder wissenschaftstheoretische sowie sprachphilosophische und logische Themen im Wiener Kreis selten diskutiert, was die in der Rezeption nach dem Zweiten Weltkrieg lange Zeit vorherrschende Auffassung von dessen unpolitischer, ja weltanschaulich dezidiert neutraler Position nährte. Doch verstanden die Mitglieder im Allgemeinen und im Besonderen C. als Vertreter von deren linkem Flügel die geteilten philosophischen Absichten dezidiert als Teil eines umfassenderen Programms zur Erneuerung der Gesellschaft, und C.s Beitrag wurde von zeitgenössischen politischen Theoretikern wie Otto Bauer, dem Begründer des Austromarxismus, auch explizit in diesem Sinne verstanden und – mit einem von C. selbst geprägten Ausdruck – als „methodischer Materialismus“ begrüßt (so Bauer in einer Festrede zur Würdigung von Max Adler 1933). Von Beginn seiner Wiener Zeit an stand C. mit Künstlern und Kunst- bzw. Architekturtheoretikern des Bauhauses (v.a. László Moholy-Nagy, dessen Frau Lucia Moholy sowie Sigfried Giedion, aber auch Hannes Meyer, Wassily Kandinsky und Josef Albers) und der Neuen Sachlichkeit in Verbindung. Im Vorwort zum Logischen Aufbau der Welt (1928) attestierte C. seiner philosophischen Haltung „eine innere Verwandtschaft … mit der geistigen Haltung, die sich gegenwärtig auf ganz anderen Lebensgebieten … in Strömungen der Kunst, besonders der Architektur, … des persönlichen und gemeinschaftlichen Lebens, der Erziehung, der äußeren Ordnungen … (auswirkt)“ (Carnap 1928, zit. n. Limbeck-Lilienau/Stadler 2015, 283). Mit Neurath und unter Mitarbeit des Mathematikers und Philosophen Hans Hahn sowie des Philosophen Herbert Feigl verfasste C. – als „Dankschrift“ dafür, dass Schlick einen Ruf nach Bonn abgelehnt und sich für den Verbleib in Wien entschieden hatte – das Manifest Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis (1929). Darin affirmierten die Autoren unzweideutig (für den Adressaten Schlick sogar allzu vehement) den Zusammenhang zwischen der vom Kreis propagierten, titelgebenden wissenschaftlichen Weltauffassung einerseits und der Notwendigkeit aktiver politischer Beteiligung an den zeitgenössischen gesellschaftlichen Kontroversen andererseits, wie sie u.a. auch durch Vortragstätigkeit in versch. Einrichtungen des ‚Roten Wien‘, z.B. an den Volkshochschulen, gegeben war. Über den Literaturagenten und -kritiker Ernst Polak, einen Dissertanten Moritz Schlicks, der aus dem Prager Literatenkreis um Franz Kafka stammte und auch bei C. Vorlesungen hörte, wirkte auch C. auf jene Literaten seiner Zeit, die wie Hermann Broch und Robert Musil den aktuellen Entwicklungen der Philosophie interessiert folgten, und über Polaks Studentin, die spätere Schriftstellerin u. Literaturkritikerin Hilde Spiel, indirekt weiter auf den österreichischen Literaturbetrieb der Nachkriegszeit. C. seinerseits bezog in seinem Buch Scheinprobleme in der Philosophie (1928) eines der Beispiele für seine These, dass eine Aussage sinnvoll (weil „sachhaltig“) sein könne, ohne empirisch überprüft werden zu können, aus Leo Perutz’ Roman Der Meister des jüngsten Tages (1923). Er war also bei aller scharfen Kritik und Zurückweisung der Metaphysik in der Philosophie zugleich sehr aufgeschlossen für literarische Ausdrucksweisen und deren möglichen Erkenntniswert.


Hauptwerke in deutscher Sprache

Scheinprobleme in der Philosophie. Das Fremdpsychische und der Realismusstreit (1928); Der logische Aufbau der Welt (1928), Logische Syntax der Sprache (1934); Einführung in die symbolische Logik, mit besonderer Berücksichtigung ihrer Anwendungen (1954); Induktive Logik und Wahrscheinlichkeit (1959).

Weitere Werke (Auswahl)

Der Raum. Ein Beitrag zur Wissenschaftslehre (1922; Diss. Jena 1921);Physikalische Begriffsbildung (1926); (mit Hans Hahn und Otto Neurath) Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis (1929); „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“, in: Erkenntnis 2 (1931/32), 219–241; „Über Protokollsätze“, in: Erkenntnis 3 (1932/33), 215–228; Die Aufgabe der Wissenschaftslogik (1934); Philosophy and Logical Syntax (1935); Foundations of Logic and Mathematics (1939, dt. 1973); Science and Analysis of Language (1939); Introduction to Semantics (1942); „The Two Concepts of Probability“, in: Philosophy and Phenomenological Research 5 (1945), 513–532; Meaning and Necessity: A Study in Semantics and Modal Logic (1947); Logical Foundations of Probability (1950); The Continuum of Inductive Methods (1952); „Meaning and Synonymy in Natural Languages“, in: Philosophical Studies 6 (1955), 33–47; „The Methodological Character of Theoretical Concepts“, in: Herbert Feigl/Michael Scriven (Hg.), The Foundations of Science and the Concepts of Psychology and Psychoanalysis (1956), 38- 76; „Beobachtungssprache und theoretische Sprache“, in: Dialectica 12, Nr. 3/4 (1958 [1959]), 236–248; „The Aim of Inductive Logic“, in: Logic, Methodology, and Philosophy of Science, hg. v. Ernest Nagel (1962), 303–318; „Intellectual Autobiography“, in: The Philosophy of Rudolf Carnap, hg. v. Paul Arthur Schilpp (1963), 1–84 (dt. Übers.: Mein Weg in die Philosophie [1993]); Philosophical Foundations of Physics. An Introduction to the Philosophy of Science, hg. v. Martin Gardner (1966, dt. 1969); Studies in Inductive Logic and Probability. Bd. 1, hg. v. Rudolf Carnap und Richard Jeffrey (1971), Bd. 2, hg. v. Richard Jeffrey (1980); Untersuchungen zur allgemeinen Axiomatik, hg. v. Thomas Bonk und Jesus Mosterin (1999).

Quellen und Dokumente

The Collected Works of Rudolf Carnap. General Editor Richard Creath. Oxford University Press 2015 ff.:  http://rudolfcarnap.org/

Nachlass Rudolf Carnap: Archives of Scientific Philosophy, University of Pittsburgh, Special Collections Department

Literatur

Logic and Language. Studies Dedicated to Professor Rudolf Carnap on the Occasion of his Seventieth Birthday, hg. v. B. H. Kazemier und D. Vuysje (1962); The Philosophy of Rudolf Carnap, hg. v. Paul Arthur Schilpp (1963) (= Library of Living Philosophers, 11); Mulder, Henk, „Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis“, in: Journal of the History of Philosophy 6 (1968), 368–390; Krauth, Lothar, Die Philosophie Carnaps (1970); In Memory of Rudolf Carnap. PSA 1970. Proceedings of the 1970 Biennial Meeting Philosophy of Science Association, hg. v. Roger C. Buck und Robert S. Cohen (1971); Rudolf Carnap, Logical Empiricist. Materials and Perspectives, hg. v. Jaakko Hintikka (1975); Jacob, Pierre, L’Empirisme logique: Ses antécédents, ses critiques (1980); Erkenntnis Orientated: A Centennial Volume for Rudolf Carnap and Hans Reichenbach, hg. v. Wolfgang Spohn (1991); Wien – Berlin – Prag. Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie. Aus Anlaß der Centenarien von Rudolf Carnap, Hans Reichenbach und Edgar Zilsel, hg. v. Rudolf Haller und Friedrich Stadler (1993); Logic, Language, and the Structure of Scientific Theories. Proceedings of the Carnap-Reichenbach Centennial, University of Konstanz 1991, hg. v. Wesley Salmon und Gereon Wolters (1994); Stadler, Friedrich, Studien zum Wiener Kreis. Ursprung, Entwicklung und Wirkung des Logischen Empirismus (1997); Sigmund, Karl, „Musil, Perutz, Broch. Mathematik und die Wiener Literaten“, in: Fiction in Science – Science in Fiction. Zum Gespräch zwischen Literatur und Wissenschaft, hg. v. Wendelin Schmidt-Dengler (1998), 27–39; Mormann, Thomas, Rudolf Carnap (2000); Le Cercle de Vienne: doctrines et controverses, hg. v. Jan Sebestik und Antonia Soulez (2001); The Vienna Circle and Logical Empirism – Re-Evaluation and Future Perspectives, hg. v. Friedrich Stadler (2003); Verley, Xavier, Carnap, le symbolique et la philosophie (2003); Carnap Brought Home: The View from Jena, hg. v. Carsten Klein und Steve Awodey (2004); Carnap aujourd’hui, hg. v. François Lepage, Michel Paquette und François Rivenc (2006); L’Âge d’or de l’empirisme logique. Vienne-Berlin-Prague, 1929-1936, hg. v. Christian Bonnet und Pierre Wagner (2006); Carus, André W., Carnap and Twentieth-Century Thought. Explication as Enlightenment (2007); The Cambridge Companion to Carnap, hg. v. Michael Friedman und Richard Creath (2007); The Cambridge Companion to Logical Empirism, hg. v. Alan Richardson und Thomas Uebel (2007); Schmitz, François, Le Cercle de Vienne (2009); Vertreibung, Transformation und Rückkehr der Wissenschaftstheorie. Am Beispiel von Rudolf Carnap und Wolfgang Stegmüller, hg. v. Friedrich Stadler (2010); Bouveresse, Jacques, „Carnap et l’héritage de l’Aufklärung“, in: Ders., Essais VI. Les lumières des positivistes (2011) 55–133; Chalmers, David, Constructing the World (2012); Rudolf Carnap and the Legacy of Logical Empiricism, hg. v. Richard Creath (Vienna Circle Yearbook 16) (2012); Carnap’s Ideal of Explication and Naturalism, hg. v. Pierre Wagner (2012); Der Wiener Kreis. Ursprung, Entwicklung und Wirkung des Logischen Empirismus im Kontext, hg. v. F. Stadler (2015); Der Wiener Kreis. Texte und Bilder zum Logischen Empirismus, hg. v. Christoph Limbeck-Lilienau und Friedrich Stadler (2015).

Einträge u.a. in:

Internet Encyclopedia of Philosophy, Encyclopedia Britannica, wien.gv.at, Bibiotheca Augustana, rheinische-geschichte.lvr.de, philosophynow.org, carnap.org.

Trivia

An der Ruhr-Universität Bochum finden seit 2007 jährlich die Rudolf-Carnap-Lectures statt.

(ARB)