Der Blaue Vogel

Der Blaue Vogel war ein deutsch-russisches Kleinkunst-Bühnenensemble, das sich in den 1920er Jahren zu einem der erfolgreichsten und langlebigsten Vertreter unter den europäischen Emigrantenkabaretts entwickelte.

Im Gefolge des Russischen Bürgerkrieges und der umfassenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Neuordnung im kommunistisch-sowjetischen Sinn flohen ab 1917 Hunderttausende – darunter eine Vielzahl Kulturschaffender – nach Westeuropa. Bevorzugte Ziele der EmigrantInnen waren – neben der Tschechoslowakei, die ihren auf der Flucht befindlichen „slawischen Brüdern“ ein umfassendes staatliches Hilfsprogramm zur Verfügung stellte –, besonders die pulsierenden Metropolen Paris und Berlin. In letzterer hatte sich zu Beginn der Zwanziger Jahre eine bedeutende russische Künstlerkolonie etabliert; Schätzungen gehen davon aus, dass zu diesem Zeitpunkt etwa 400.000 RussInnen in Berlin lebten. Entsprechend entwickelte sich bald ein blühendes russisches Kulturleben: Neben einem beachtenswerten Verlagswesen und einer lebendigen Musikszene waren vor allem die Kleinkunstbühnen von Bedeutung, in denen dem westeuropäischen Publikum eine gänzlich neue Form des Kabaretts geboten wurde, die schließlich weltweit Bekanntheit erlangen sollte.

Zu diesen Kabarettbühnen zählte auch Der Blaue Vogel, 1917 noch in Moskau von dem aus Odessa stammenden Regisseur, Schauspieler und Autor Jascha Južnyj gegründet und seit 1921 in einem kleinen Theater in Berlin-Schöneberg untergebracht. Der Name war eine Anspielung auf das aus der Feder von Maurice Maeterlinck stammende Märchen „Der blaue Vogel“, das die Sinnsuche und das Streben nach Glück thematisiert. 

Ebenso wie das nach Paris emigrierte russische Kabarett Die Fledermaus (La Chauve-Souris) unter der Leitung von Nikita Baliev verfolgte auch Južnyjs Der Blaue Vogel durch ein neuartiges „multi-mediales Zusammenspiel der Künste“ (Lesák, S. 151) die Idee des Gesamtkunstwerks, das durch „inniges Zusammenarbeiten von Maler, Musiker, Schauspieler, Regisseur und dem Genius des guten Geschmacks“ (Járosy, Cabaret, S. 3-11) erreicht werden sollte. Mit diesem Erfolgsrezept avancierte die Truppe mit Južnyj als Conférencier innerhalb kurzer Zeit zum wichtigsten Vertreter des russischen Emigrantentheaters und bot seinem internationalen Publikum ein Potpourri aus russischer Volkskunst und westeuropäischen Kunstformen. Im Mittelpunkt des in seinem Darstellungsstil expressionistisch dominierten Programms standen mehrsprachig vorgetragene, teils naive, dabei aber durchwegs anspruchsvolle Sketches, die sich mit der Populärkultur und mondänen Elementen des westlichen Lebensstils auseinandersetzten, vor allem aber mit bilderbuchartig gestalteten Stoffen aus der Welt des russischen Volksmärchens. Ausgespart blieben dagegen sozialkritische oder politische Themen. Flankiert wurden die szenischen Darbietungen von musikalischen, häufig von Gesang untermalten Elementen, die den Bogen von klassischen Stücken bis hin zu Volksmusikweisen spannten.

Zentral für den Erfolg der russischen Kleinkunstbühnen im Allgemeinen und ihres Vorreiters Der Blaue Vogel im Besonderen waren darüber hinaus die Szenengestaltungen, die sich mit Stilrichtungen wie Suprematismus oder Rayonismus der bereits im vorrevolutionären Russland entstandenen Spielarten westeuropäischer Kunstströmungen wie Expressionismus und Kubismus bedienten und maßgeblich von der Malerin Natalija Gontscharowa und Bühnenbildnern wie A. Chudjakow beeinflusst und (mit)gestaltet wurden. Indem die Szenengestalter das verstörend Abstrakte der Avantgarde durch Elemente der farbenfrohen russischen Volksmalerei ins Dekorativ-Gefällige, ja beinahe Exotische kehrten, konnten die neuen Kunststile aus Russland einem breiteren Publikum in Westeuropa zugänglich gemacht und gleichzeitig als Wiedererkennungsmerkmal genutzt werden. A. Polgar erblickte in diesen dekorativen Bühnengestaltungen „eine mit allem geistigen Comfort der Neuzeit ausgestattete Puppenstube“.

Im Rahmen seiner Auslandstournee gastierte Der Blaue Vogel im Dezember 1922 erstmals in den Wiener Kammerspielen, wurde vom Publikum frenetisch gefeiert und das Programm von Kritikern als Reise ins „Reich der Phantasie und des Humors“ bejubelt (NFP, 20.12.1922, S. 9). Dabei fand neben dem herausragenden Bühnenbild besonders der Deutsch radebrechende, humorige Conférencier Južnyj lobende Erwähnung. Vertreter der österreichischen Theaters- und Literaturszene wie etwa Béla Balázs erhofften sich durch Gaststpiele wie diese wichtige Impulse für die Belebung des österreichischen Kabaretts.

Bis 1930 folgten beinahe jährlich weitere Auftritte des Blauen Vogel in Wien – unter anderem auch am Deutschen Volkstheater – doch beklagten Kritiker zunehmend den Verlust des typisch russischen Charakters: „Man fühlt deutlich, dass der jahrelange Aufenthalt in der Fremde, die Losreiszung vom russischen Mutterboden dieser Kleinkunst die besten Säfte entzogen haben.” (WMZ, 5.10.1924, S. 11). Für Robert Musil, der für die Prager Presse schrieb, blieb Der Blaue Vogel dennoch qualitativ herausragend unter den vielen russischen Kleinkunst-Bühnen, die als dessen Ableger entstanden waren: „Genau genommen, hält sich auf diesem dünn gespannten Seil nur der Blaue Vogel, die führende der drei russischen Kleinkunstbühnen, die sich in Berlin aufgetan haben und als Gäste auch nach Wien gekommen sind; die beiden andern, das „Karusell“ und die „Russische Kleinkunst“, fallen gelegentlich dies- oder jenseits herunter.“ (Musil, Kritik, 23.3.1923). Diverse Versuche von russischen Exilbühnen, dauerhaft in Wien Fuß zu fassen, scheiterten. Nach 1930 setzte die Gastspieltätigkeit russischer Theatergruppen völlig aus – eine Ausnahme bildete lediglich ein Auftritt des Blauen Vogelin der Schönbrunner Sommerarena 1936. Nach dem Tode Južnyjs löste sich die Truppe im Jahr 1938 auf.


Literatur

Barbara Lesák, Russische Theaterkunst 1910-1936. Bühnenbild- und Kostümentwürfe, Bühnenmodelle und Theaterphotographie aus der Sammlung des Österreichischen Theatermuseums, Wien 1993;Dies., „Entfesseltes Theater“ und „Blauer Vogel“. Gastspiele sowjetrussischer Theatergruppen und russischer Emigrantenbühnen im Wien der 1920er Jahre. In: P.-H. Kucher, R. Unterberger (Hg.), Rote Spuren. Zur Rezeption russischer Kunst und Literatur im Österreich der Zwischenkriegszeit 1918-1938, Frankfurt/Main, Wien u.a. 2017, im Druck; Britta Marzi, Theater im Westen – die Krefelder Bühne in Stadt, Region und Reich (1884-1944). Rahmen, Akteure, Programm und Räume des Theaters in der Provinz, Münster 2017; Liessner-Blomberg Elena, Cabaret „Der Blaue Vogel“. In: Fritz Mierau (Hg.), Russen in Berlin. Literatur, Malerei, Theater, Film, 1918-1933, Leipzig 1990Dies., Freunde des „Blauen Vogels“. In: Fritz Mierau (Hg.), Russen in Berlin. Literatur, Malerei, Theater, Film, 1918-1933, Leipzig 1990; Wolf Oschlies, „Eine mit allem geistigen Comfort der Neuzeit ausgestattete Puppenstube“. In: Eurasisches Magazin [Online verfügbar]

Quellen und Dokumente

Friedrich Járosy, Vom Cabaret. In: Der Blaue Vogel, Programmheft, Berlin o. J.,  3-11; A. Polgar, Der blaue Vogel. In: Der Tag, 3.12.1922, S. 7; „Der blaue Vogel“. Eine jüdische Kleinkunstbühne in Wien. In: Wiener Morgenzeitung, 5.10.1924, S. 11; Felix Salten, „Der blaue Vogel“. In: NFP, 3.12.1922,  S. 1-3; „Der blaue Vogel“. In: NFP, 20.12.1922, S. 9; Ernst Decsey, Der blaue Vogel. In: Neues Wiener Tagblatt, 2.12.1922, S. 2f; Leopold Jacobson, Es kam ein Vogel geflogen … In:  Neues Wiener Journal, 2.12.1922, S. 3f; B. Wolfgang, E. Göndör, Der blaue Vogel: Zeichnung, Gedicht. In: Die Muskete, 10.12.1922, S. 6; Kurt Tucholsky, Der blaue Vogel. In: Gesammelte Werke in zehn Bänden, Bd. 3, Hamburg 1975, 149-151 [Online verfügbar].

(MK)