Jazzoperette

Der Begriff tauchte in der österr. Diskussion erstmals im Beitrag Operettenmöglichkeiten von Rudolf Lothar im NWJ im Okt. 1923 auf. Lothar meinte, in der modernen Operette, analog zur modernen Tanzmusik, setze sich die Tendenz durch, die Melodie durch Rhythmik u. „Koloristik“ zu ersetzen, womit sich die Operette der „amerikanischen Amüsiermusik“ nähere, sodass „die richtige Jazzoperette nicht lange auf sich wird warten lassen“. Er erblickt darin einen Endpunkt der Gattungsentwicklung, auf den wieder eine Rückkehr zum Singspiel folgen werde. Es dauerte bis 1927, dass die erste als solche ausgewiesene Jazzoperette im Apollo-Theater zur Aufführung kam: Lady X von G. Edwards, der niemand anderer als der (Jazz-)Komponist, Kritiker und Wien-Kenner Louis Gruenberg (1884-1964) war; das Libretto stammte von Ludwig Herzer (1872-1939). Den Durchbruch, auch von der Resonanz her, brachte 1928 Emmerich Kálmáns (Jazz)Operette Die Herzogin von Chikago, die mit kurzen Unterbrechungen ab April 1928 bis in den März 1929 am Theater an der Wien gespielt wurde. Kálmán montierte dabei „alle eigenartigen Reize der Revue“ ein (Wiener Ztg.) und baute um eine sonst recht schablonenartige Handlung (US-Dollarprinzeßchen auf der Suche nach Gatten aus altem aber verarmtem Adel) einen „musikalischen Ringkampf zwischen Europa und Amerika, zwischen alter und neuer Tanzmusik“ (L. Hirschfeld), während P. Pisk nur Klischierungen und Kommerzialisierungstendenzen an ihr erkennen konnte. Im Dezember folgte die Revue von F. Grünbaum und K. Farkas Flirt und Jazz in den Kammerspielen. Wie sehr das Thema Jazz und Operette polarisieren konnte, zeigte sich am Protest der Witwe von Joh. Strauß, als in Dresden im Zuge einer Fledermaus-Aufführung Jazzstücke einmontiert wurden und sie daraufhin von der österr. Regierung einen besonderen Schutz (auch nach Ablauf der Urheberrechtsfrist) 1929 verlangte. 1930 stand im Zeichen der Jazzoperette Reklame von Bruno Granichstaedten (1879-1944) aber auch der erfolgr. Auff. von Aber Otty (Libretto: Julius Horst) in Prag und Brünn sowie der Wiener Auff. von Paul Abrahams Viktoria und ihr Husar (Libretto von A. Grünwald u. F. Löhner nach dem ungar. Original von E. Földes),  die bereits zuvor in Leipzig „sensationellen Erfolg“ hatte. An ihr lobte R. Holzer in der Wiener Ztg. sowohl das klassische Operettenfundament als auch die innovativen musikal. Ansätze, die auf Synthesen von ungarisch-wiener Musiktradition wie von Jazz-Elementen abzielten. Sie wurde auch im Londoner Palace Theater 1931 in über 250 Auff. gespielt u. zu einem Tonfilm verarbeitet, der ab Nov. 1931 in Wiener Kinos zu sehen war.

Auch die zunächst in Berlin aufgef. Revue-Operette Im weißen Rössl von Ralph Benatzky (Mitarb. von J. Gilbert u. B. Granichstaedten), die ab 25.9.1931 auch in Wien im Stadttheater gegeben wurde, setzte auf ein Nebeneinander von klass. und Jazz-Elementen, die wesentlich ihren Erfolg mitbegründeten. Ebensfalls „sensationell“ im Erfolg sowie akzentuierter in der Jazz-Ausrichtung war Abrahams nächste Operette Die Blume auf Hawai (UA 25.7.1931 Leipzig), die ab 20. 8. 1932, nach vorherigem Erfolg in Budapest, am Theater an der Wien anlief.  Es handelte sich hierbei offensichtlich um zeitaktuelle Tendenzen, die jedoch in Teilen der Wiener Kritik keineswegs außer Streit standen. Anlässl. der Aufnahme der Operette Opernball von V. Léon (Musik: R. Heuberger) in den (Staats)Opernspielplan Anfang 1931 sah sich nämlich der Musikkritiker der NFP, Julius Korngold, veranlasst, in einer ausgreifenden Besprechung Bemerkungen über die ›moderne Operette‹ einzuflechten. Diese Bemerkungen waren von einem tiefen Misstrauen gegen die Form getragen, „anästhesiert“ sie, so Korngold doch „das gute Gewissen“ und sei längst „ein Geschäft geworden, das die Kunst zurückgedrängt hat“. Letzteres umso mehr, wenn sie Jazzelemente aufgreife: „Dreigroschen-Gänsemärschen von Jazzsongs und Jazztanz“ könnten, so J. K., keine Fortentwicklung des Genres anzeigen. Nichtsdestotrotz, und wohl vor dem Hintergrund eines Publikumsinteresses für das Genre, waren Opernlibretti für Jazzoperetten, wie eine Werbeanzeige des NWTBl. vom 31.5.1931 dokumentiert, nachgefragt. Während 1932 mit P. Abraham auf Jazz-Stücke rekurrierende Operetten in Europa noch durchgehend Erfolge verbuchen konnte, wendete sich 1933 das Blatt grundsätzlich und langsam auch in Österreich. Das Genre erschien durch den NS-Druck diskreditiert; neue Aufführungen kamen nicht mehr zustande. Jazzoperetten, meist englische aber auch österreichische, waren nur mehr über das internationale Radioprogramm in Übertragungen zugänglich. Im Aug. 1936 verkündete das NWJ denn auch, die Jazzoperette habe sich „überlebt“. Eine letzte, kurz dauernde Ausnahme, bildete im März 1937 die UA der auch um Jazzelemente (Foxtrott) angereicherten Abraham-Operette am Theater an der Wien Roxy und ihr ‚Wunderteam‘, die Anfang 1938 auch als Film herauskam.


Quellen und Dokumente

Rudolf Lothar: Operettenmöglichkeiten. In: Neues Wiener Journal, 7.10.1923, S. 12, Emil Kolberg: „Lady X“. Die Jazzoperette im „Apollo“. In: Der Morgen, 19.9.1927, S. 4, Paul Pisk: Apollotheater. In: Arbeiter-Zeitung, 20.9.1927, S. 9, Paul Pisk: „Die Herzogin von Chikago“. In: Arbeiter-Zeitung, 6.4.1928, S. 7, Rudolf Holzer: Theater an der Wien. „Die Herzogin von Chikago“. In: Wiener Zeitung, 7.4.1928, S. 8, Fritz Grünbaum über Fritz Grünbaum. Und über „Flirt und Jazz“. In: Neues Wiener Journal, 7.12.1928, S. 11f., Kammerspiele. „Flirt und Jazz“, Revue von Grünbaum und  Farkas. In: Wiener Zeitung, 13.12.1928, S. 11, Rudolf Holzer: Theater an der Wien. Viktoria und ihr Husar. In: Wiener Zeitung, 25.12.1930, S. 5, Julius Korngold: Operntheater. („Der Opernball“, Operette von Victor Léon und H. Waldberg. Musik von Richard Heuberger.) In: Neue Freie Presse, 25.1.1931, S. 1-4, -ron: „Im weißen Rößl“. In: Neues Wiener Journal, 26.9.1931, S. 11, Die neue Paul Abraham-Operette. Sensationspremiere in Leipzig. In: Neues Wiener Tagblatt, 26.7.1931, S. 12, J. B.: „Die Blume von Hawai“. In: Neues Wiener Journal, 20.8.1932, S. 10f., Herbert Stifter: Worüber Wien lacht. In: Salzburger Volksblatt, 10.4.1935, S. 5, Wiener Operettenkonjunktur. In: Neues Wiener Journal, 6.8.1936, S. 15, Schaubühne. Roxy und das Wunderteam. In: Mein Film (1937), H. 589, S. VIII.

Literatur

Nach-Kakanische Operette um ‘33 und ‘38 am Beispiel von Emmerich Kálmán und Ralf [sic] Benatzky“. In: Österreichische Musiker im Exil. Wien 1988, 66–72; F. Henneberg: Ralph Benatzky. Operette auf dem Weg zum Musical. Lebensbericht und Werkverzeichnis. Wien 2009; G. Paul: Sound der Zeit: Geräusche. Töne. Stimmen 1889 bis heute. Göttingen 2014; K. Ploog: Als die Noten laufen lernten. Geschichte und Geschichten der U-Musik bis 1945. Nordstedt (on demand) 2015, Teil I, S. 313f. (zu Granichstaedten)

Kevin Clarke: Paul Abraham: An Interview with His First Biographer (2014) (Online verfügbar), Eintrag zu Die Herzogin von Chicago bei operetten-lexikon.info.

(PHK)