Tairow (auch: Tairoff), Alexander

auch Tairov, Tairoff, als A. Kornblit geb. am 24.6./6.7. (gregor. Kal.) 1885 in Kowno (heute: Ukraine) – gest. am 25.9.1950 in Moskau; Theaterregisseur, Dramaturg, Theoretiker des modernen Theaters

1904 begann Tairow mit einem juristischen Studium und arbeitete gleichzeitig an verschiedenen Laienbühnen als Schauspieler und Regisseur; 1905/06 erhielt er ein Engagement in St. Petersburg. Dort lernte er die Regiearbeit von Stanislavski und V. Mejerchol’d (Meyerhold) kennen und schätzen. Seit 1906 war er zudem mit Anatoli Lunatscharsky befreundet und entwickelte in den Folgejahren ein Theaterkonzept, in dessen Mittelpunkt der Schauspieler stand. 1912 war Tairow in Riga im Zuge einer Gastregie antisemitischer Hetze ausgesetzt; er konvertierte daraufhin zum Protestantismus. 1914 gründete er mit seiner Frau, der Schauspielerin Alissa Koonen das Moskauer Kammertheater, an der auch die bekannte Malerin u. Bühnenbildnerin Alexandra Exter bis Anfang der 1920er Jahre mitwirkte. 1917 bekannte er sich zur Revolution und konnte seine experimentelle Theaterarbeit fortsetzen. Eine der ersten typischen Tairow-Inszenierungen war die Bearbeitung der Salome von O. Wilde.

1921 legte er seine seit 1915 verstreut veröffentlichten Überlegungen in der Schrift Zapiski reshissiëra vor, die 1923 unter dem Titel Entfesseltes Theater auf Deutsch erschien und schlagartig das Interesse an ihm und seinem Theater in Berlin und Wien erweckte, etwa bei B. Balázs oder M. Reinhardt.

1923 unternahm er mit seinem Kammertheater eine erste Europa-Tournee, die ihn nach Frankreich und Deutschland führte. Seine Aufführungen, u.a. Giroflé, Giroflà, Prinzessin Brambilla, Salome oder Phädra, stießen durchwegs auf positive Resonanz, z.B. durch S. Jacobsohn in der Weltbühne (19.4. 1923) und sind erstmals auch in einem Beitrag im NWJ, einem bearb. Interview mit Tairow, fassbar.

Aus: Neue Freie Presse, 18.6.1925, S. 1

Im Juni und Juli 1925 kam es im Zug der nächsten Europatournee auch zum ersten Gastspiel in Wien (Raimundtheater, Dt. Volkstheater), das großes Interesse hervorrief. Am Programm standen die Operette Giroflé, Giroflà von Charles Lecocq, O. Wildes Salome, G.B. Shaws Heilige Johanna, K.G.  Chestertons Der Mann, der Donnerstag war (in einer Bearbeitung durch S. Krzhizanovsky), A. Ostrowskis Das Gewitter und A. Schnitzlers Pantomime Der Schleier der Pierette. Während die Rote Fahne das Tairowsche Theater keineswegs als Höhepunkt des proletarisch-revolutionären Theaters einstufte und bloß die technische Leistung (d.h. das exakte Arbeiten) positiv herausstrich, schrieb F. Salten dazu in einem NFP-Feuilleton: „hier nimmt Tairow den alten Fetzen einer Lecoqschen Operette her und spielt Tairow damit, nichts als Tairow“, womit Salten einen totalen Bruch mit der Tradition von Bühnenbearbeitungen anzeigen will und Tairow als „eine der intensivsten Naturen“ vorstellt, als „wahrhaft großen Aufreger“, bei dem alles Tempo habe. Im Zuge dieser Tournee hielt Tairow auch einen Vortrag über seine Theateridee am 30.6. 1925, über den die Ztg. Rote Fahne kurz berichtete. 1926 befasste sich Tairow auch mit Revue-Konzepten wie z.B. in Kukirol.

Aus: Die Bühne (1926), H. 88, S. 19

Ausgewählte Rezensionen zu den Wiener Aufführungen des Jahres 1925 finden Sie hier.

1929 geriet Tairow erstmals ins Visier der stalinistischen Kulturpolitik im Zuge einer Aufführung eines Stückes von Bulgakow. Trotzdem konnte er 1930 zu einer neuerlichen Europa-Tournee aufbrechen, mit zwei Gastspielen von O’Neill am Neuen Wiener Schauspielhaus im April und nachfolgender Amerika-Tournee. 1933 geriet Tairow nach einer Inszenierung von V. Vishnewskiys Revolutionsstück Optimistische Tragödie wieder ins Visier der stalinistischen Literaturzensur und wurde bis 1935 nach Sibirien verbannt; er entging dadurch weiteren Repressionen. Nach seiner Rückkehr produzierte er die russ. Erstaufführung der Dreigroschenoper. 1936 folgte ein neuerlicher Formalismus-Vorwurf und einschlägige Untersuchungen. 1941 wurde sein Kammertheater aufgrund des Krieges nach Sibirien evakuiert; er trat dort in Kontakt mit versch. Künstlern, u.a. auch jiddischer Provenienz. 1945 mit dem Leninorden ausgezeichnet, hatte er ab 1946 neuerlich Schwierigkeiten mit seiner Theaterarbeit. Diese führten 1949 zur Schließung des Moskauer Kammertheaters.


Aus: Die Bühne (1935), H. 399, S. 43

Quellen und Dokumente

-s: Das entfesselte Theater. Berliner Gastspiel des Moskauer Kammertheaters. In: Neues Wiener Journal, 25.4.1923, S. 5, E. Ditlein: Alexander Tairoff: Das entfesselte Theater. In: Salzburger Volksblatt, 14.6.1923, S. 3, Felix Salten: Tairow. (Raimund-Theater.) In: Neue Freie Presse, 18.6.1925, S. 1-3, er.: Gastspiel des Moskauer Kammertheaters. Tairoffs Truppe im Raimund-Theater. In: Die Rote Fahne, 17.6.1925, S. 3, Alfred Markowitz: Tairoffs Moskauer Kammertheater. Der Mann, der Donnerstag war. In: Arbeiter-Zeitung, 28.6.1925, S. 10f., Tairoff über „Die Bühne unserer Zeit“. In: Die Rote Fahne, 2.7.1925, S. 6, Tairoffs Neuinszenierungen. In: Die Bühne (1926), H. 88, S. 19.

Literatur

James Roose-Evans: Experimental Theatre. From Stanislavsky to Peter Brook (1970, 132004) 31-34 (Online verfügbar); D. Krijanskaia: A. Tairow. In: S. Mitter, M. Shertsova (ed.): Fifty Key Theatre Directors (London-New York 2005) 37-40 (Online verfügbar).

Eintrag bei yivoencyclopedia.org. Bericht zum DFG-Projekt Aus dem Geiste der Bewegung geboren. Moskauer Kammertheater von Aleksandr Tairov im Spannungsfeld zwischen Russland und dem Westen (Online verfügbar).

(PHK)