Ernst Fischer: Ein Mann ohne Eigenschaften. Ein Roman von Robert Musil (1930)
Endlich einmal, in dem Tumult der nur-aktuellen, nur-lärmenden, nur-marktgängigen Bücher, ertönt die große Symphonie eines Romans, von dem Manne gedichtet, der den Mut hat, nicht für Analphabeten und andere Liebhaber von Kurzgeschichten, Magazinen und „Tempo-Tempo!“- Reportagen, sondern für intelligente Leser zu schreiben. Das ist allerhand; denn von hundert Schriftstellern verzichten neunundneunzig auf diese schwierigen und unerquicklichen Leser, die sich bei den sozusagen effektvollsten Büchern langweilen, die bei den sozusagen spannendsten Fabrikaten der Literatur kaum ein Gähnen unterdrücken können und bereit wären, die wildeste Handlung von zweihundert Seiten für eine halbe Seite Geist und Gescheitheit herzugeben. Hier aber ist das Erstaunliche geschehen: der Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musilgeb. am 6.11.1880 in Klagenfurt – gest. am 15.4.1942 in Genf; Schriftsteller, Essayist, Wissenschaftler, Theaterkritik... ist mehr als tausend Seiten lang (den Leser, der auf das „Tempo der Zeit“ eingeschworen ist, wird das nicht wenig abstoßen), und tausend Seiten lang atmet man die helle, hohe Luft von Geist und Gescheitheit. […]
Der Kollektivroman.
Robert Musil hat eine neue Form des Romans gefunden; das Suchen nach dieser neuen Form hat begonnen, als die Menschen, die Bücher schreiben, erstaunt und beunruhigt entdeckten, daß in diesem Jahrhundert völlig anders gelebt wird, als in den besten Büchern der besten Autoren. Musil drückt das, nebenbei, präziser aus, als es bisher üblich war: „Es ist die einfache Reihenfolge, die Abbildung der überwältigenden Mannigfaltigkeit des Lebens in einer eindimensionalen, wie ein Mathematiker sagen würde, was uns beruhigt; die Aufreihung alles dessen, was in Raum und Zeit geschehen ist, auf einen Faden, eben jenen berühmten „Faden der Erzählung“, aus dem nun also auch der Lebensfaden besteht… Die meisten Menschen… lieben das ordentliche Nacheinander von Tatsachen, weil es einer Notwendigkeit gleichsieht, und fühlen sich durch den Eindruck, daß ihr Leben einen „Lauf“ habe, irgendwie im Chaos geborgen. Und Ulrich bemerkte nun, daß ihm dieses primitiv Epische abhanden gekommen sei, woran das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem „Faden“ mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet.“ Man könnte, mit einem etwas verschwommenen Wort, sagen, daß unser Leben ein „Kollektiv“ ist; und dieses Kollektivleben, dieses Ineinanderfluten und Auseinanderdrängen der ganzen Welt in jedem Einzelwesen, den Wirbel von Geschichte, Gesellschaft, Atmosphäre, Zweckhaftigkeit, Zwecklosigkeit, Illusion, Zufall, Gestirn und Bazillus unter der Haut der Persönlichkeit darzustellen, ist das leidenschaftliche Bemühen aller Schriftsteller, die dem Geiste und nicht dem Büchermarkt dienen. Der „Ulysses“ des James Joyce, „Manhattan Transfer“ von Dos Pas[s]os, der „Alexanderplatz“ von Alfred Döblin und nun der „Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil sind die Bücher, in denen diese durchaus neue Methode der Lebensdarstellung kompromißlos angewendet wird.
Oesterreich-Ungarn.
Wie im „Alexanderplatz“ das ungeheure Lebewesen Berlin, ist in Musils Roman das geisterhafte Monstrum Österreich-Ungarn das Kollektiv, in dem die Menschen kreisen wie Himmelskörper in einem Sonnensystem, wie Ionen in einem Molekül. Nie zuvor wurde dieses geisterhafte Monstrum, die mythische Monarchie, so traumhaft-wirklich, so gespenstisch-real heraufbeschworen, kein Historiker, kein Satiriker hat ihr innerstes Wesen mit solcher Intensität durchleuchtet. Ja, durchleuchtet: es ist eine Röntgenaufnahme, exakt und dennoch wolkenhaft zart, das Fleisch wie lockerer Schaum, die Knochen wie magische Schatten, die phantastische Sachlichkeit einer Röntgenphotographie. „Die Tage schaukelten und bildeten Wochen. Die Wochen bleiben nicht stehen, sondern verkränzten sich. Und wenn unaufhörlich etwas geschieht, hat man den Eindruck, daß man etwas Reales bewirkt… Stelle Eins schrieb, Stelle Zwei antwortete; wenn Stelle Zwei geantwortet hatte, mußte man Stelle Eins davon Mitteilung machen, und am besten war es, man regte eine mündliche Aussprache an; wenn Stelle Eins und Zwei sich geeinigt haten, wurde festgestellt, daß nichts veranlaßt werden könne; es gab unaufhörlich etwas zu tun. Es gab außerdem unzählig viele Nebenrücksichten zu beachten. Man arbeitete ja mit allen verschiedenen Ministerien Hand in Hand; man wollte die Kirche nicht verletzen; man mußte gewissen Personen und gesellschaftlichen Beziehungen Rechnung tragen; mit einem Wort, auch an Tagen, wo man nichts Besonderes tat, durfte man so vieles nichts tun, daß man den Eindruck großer Tätigkeit hatte.“ Wurde je das Wesen der Habsburgermonarchie, das legendäre „Oesterreichertum“, in eine bessere Formel gebracht?
„Etwas muß gescheh’n!“
Folgendes „geschieht“ in dem Roman: Im Jahre 1913 erfährt man in Österreich, daß Deutschland im Jahre 1918 das dreißigjährige Regierungsjubiläum Wilhelm II. großartig feiern will. Was soll man da tun, erstens, um zu zeigen, daß Österreich ebenfalls da ist, und zweitens, um die Preußen zu ärgern? Also, man beschließt, eine Parallelaktion vorzubereiten, das siebzigjährige Regierungsjubiläum Kaiser Franz Josef I. soll noch großartiger gefeiert werden. Aber wie? Dem Grafen Leinsdorf, dem Anreger der Aktion, fällt nichts Konkretes ein. Jedenfalls soll es eine „glanzvolle Lebenskundgebung Österreichs“ werden, ein „Markstein“ auf dem Wege zu einem „Ehrenplatz in der Familie der Völker“, und das alles mit dem Besitz eines achtundachzigjährigen „Friedenskaiser“ verknüpft. Das schwebt dem Grafen vor; alles andere ist Aufgabe eines Komitees, das sich in viele Komitees teilt, aus denen wieder ein Zentralkomitee gewählt wird usw. Das funktioniert fabelhaft; nur eine Idee fehlt. Künstler und Wissenschaftler, Beamte und Organisationen werden befragt, tausend Ideen tauchen auf, nur die eine Idee fehlt nach wie vor. Irgendetwas Pazifistisches wäre gut, das paßt zum „Friedenskaiser“, zur „Familie der Völker“ usw., man könnte eine Friedenskonferenz oder eine Spende für den Friedenspalast in Haag…, aber auch dagegen werden Bedenken laut, und auf eine behutsame Anfrage erwidert Seine Majestät mit delphischer Weisheit: „I laß mi net vordrängen!“ So durfte man vieles, nein alles, nicht tut; neue Ideen, neue Widersprüche, achselzuckend lächelt das Österreichertum: „Man kann die Forderungen der Kaiser-Franz-Josef-Jubiläum-Suppenanstalt oder die des Schutzverbandes der Hauskatzenbesitzer verwirklichen, aber gute Gedanken kann man so wenig verwirklichen wie Musik! Was das bedeutet? Ich weiß es nicht. Aber es ist so.“ Es ist so. Immerhin: Die Tatsache, daß ein Komitee in Österreich etwas für das Jahr 1918 vorbereitet, erregt überall Aufsehen. Die Außenministerien ziehen Erkundigungen ein. Die Diplomaten haben zu tun. Die Slawen wittern etwas Deutschfreundliches, die Deutschen etwas Antideutsches, Demonstrationen und Gegendemonstrationen werden veranstaltet, alles in allem: „Ulrich erinnerte sich einer ähnlichen Erfahrung aus seiner Militärzeit: Die Eskadron reitet in Zweierreihen und man läßt ‚Befehl weitersagen‘ üben, wobei ein leise gesprochener Befehl von Mann zu Mann weitergegeben wird; befiehlt man nun vorn: ‚Der Wachtmeister soll voranreiten‘, so kommt hinten heraus: ‚Acht Reiter sollen sofort erschossen werden‘ oder so ähnlich. Auf die gleiche Weise entsteht auch Weltgeschichte.“ Schließlich kommt das Jahr 1914. Man weiß noch immer nicht, was 1918 geschehen soll. Aus einer pazifistischen Kundgebung wird wohl nichts werden. Aber General Stumm v. Bordwehr, der in das Komitee hineingeraten ist, niemand weiß genau, wie, hat einen guten Einfall: Wenn man schon keine Weltfriedenskonferenz einberuft, könnte man wenigstens die Armee und die Flotte aufrüsten; das wäre ja auch etwas. Der Roman endet ohne Ergebnis. „Etwas muß gescheh’n!“, davon sind alle überzeugt. Aber was? Das weiß keiner, 1914. Im September wußten es alle. Das liegt wie ein Riesenschatten über dem ganzen Roman. Riesenschatten der Ironie und des Untergangs.
Unser Leben – Ein Experiment.
Ja, dieser Roman, in dem auf tausend Seiten nichts und zwischen den Zeilen Phantastisches geschieht, ist viel mehr als der Roman der untergehenden Monarchie. Dieser „Mann ohne Eigenschaften“ ist der denkende, kalt-leidenschaftliche, skeptisch-abenteuerliche, unruhig-passive Mensch einer unterminierten, von rationalisiertem Wahnwitz durchfieberten, von exaktem Aberglauben durchflackerten Welt. Der Mensch im Höllenbetrieb einer Wirklichkeit, die wahrzunehmen und wahrzuglauben schwieriger ist, als die Zukunft der Menschheit aus den Sternen wahrzusagen. Der Mensch, der „die Wirklichkeit abschaffen“ und sie durch Ideen ersetzen will, der Mensch, der sich selber durchsichtig und sich selber unglaubwürdig geworden ist, der Mensch „ohne Eigenschaften“, weil die sogenannten Eigenschaften Rückstände der Vergangenheit sind, sonst nichts, leere Hülsen, entkernte Schalen, Schlagworte, Redensarten, weil unterirdische etwas völlig Neues, etwas Namenloses und Überwältigendes beginnt, weil wir nicht mehr fühlen, was wir zu fühlen meinen, weil wir keinen Kontakt mit unserem eigenen Ich haben, aber tausend rätselhafte Kontakte mit allem, was um uns vorgeht. „Etwas muß geschehen!“, das jagt die Menschen in diesem Roman von Leben zu Leben, das jagt sie Zielen zu, die verhüllt sind, das läßt sie alles als provisorisch, als Experiment, als Laboratoriumsversuch betrachten. „Etwas muß geschehen!“ Es ist als bröckle das „Ich“, der Mörtel der Eigenschaften, der Kalk der Vorurteile, die Stukkatur der Konventionen, von uns ab und unser Unterirdisches, bisher unausgesprochen und unausprechlich, taucht nackt und kraß ans Licht. „Etwas muß geschehen!“ Die alte Ordnung ist nur mehr eine dünne Kruste von Staub, Spinnweb, Erinnerung, die neue Ordnung besteht noch nicht, unser Leben ist ein Experiment. Unsere große Leidenschaft ist die Neugier, die Gier nach dem Neuen. Unsere große Tugend ist die Tapferkeit der Erkenntnis. Unsere große Sehnsucht ist die Synthes aller Widersprüche zu einer klaren, präzisen und ordnenden Idee.
Das alles auf tausend Seiten in einzigartiger Vollkommenheit der Sprache und des Gedankens gesagt, kann nicht auszugsweise wiedergegeben werden. Man muß dieses Buch lesen und wieder lesen; bisher gibt es kaum ein zweites, das unser geistiges Schicksal, das den Aufbruch unseres Lebens ins Unbekannte mit ähnlicher Größe und Leuchtkraft erzählt.
In: Arbeiter-Zeitung, 9.12.1930, S. 8.
Fritz Rosenfeld: Rudolf Brunngraber: Karl und das 20. Jahrhundert
Fritz Rosenfeld: Rudolf Brunngraber: Karl und das 20. Jahrhundert (1933)
Die Lebensgeschichte Karl Lackners. Eines Wiener Arbeiterkindes, eines Menschen dieser Zeit, der im Krieg dem Vaterland diente, in der Inflation die verschiedensten Berufe hatte, abgebaut wurde, hungerte, einer Dirne Zuhälterdienste leistete und schließlich aus dem Gefühl der tiefsten Trostlosigkeit seinem Leben selbst ein Ende machte, beginnt nicht mit der Geburt, auch nicht mit der Schilderung des Elternhauses des Helden, sondern mit einer Darstellung der wirtschaftsumwälzenden Theorie Taylors und mit einer Beschreibung des Hauses Rockefeller. In Form einer romanhaften Chronik wird die wirtschaftliche und politische Geschichte der Welt erzählt, solange Karl Lackner in ihr lebt. Die mit Zahlenmaterial belegte, manchmal bis zur nüchternen Statistik erhärtete Schilderung der weltpolitilchen Ereignisse ist nicht etwa Hintergrund eines Einzelschicksals, sondern das Schicksal selbst.
Brunngraber, ein junger Wiener Dichter, versucht, geschult an den Romanen Jlja Ehrenburgs, die schicksalhafte Macht wirtschaftlicher Ereignisse über den einzelnen Menschen in Romanform zu gestalten. Als Motto steht vor dem Buch das Napoleon-Wort: „Die Politik ist das Schicksal“ und das Rathenau-Wort: „Die Wirtschaft ist das Schicksal“. Nicht erbliche Veranlagung, nicht eigner Trieb bestimmen das Leben Karl Lackners. sondern die Ausfuhr und Produktion von Waren in Ländern, die er nie gesehen hat, die wirtschaftlichen Kämpfe von Staaten, die scheinbar weit ab liegen und mit dem Land, in dem er geboren wurde, gar nichts zu schaffen haben. Das Leben wird als ein ungeheurer wirtschaftlicher Organismus aufgefaßt, in dem jeder Staat nur ein kleines Rädchen ist.
Der Gefahr, daß die romanhafte Gestaltung zur trockenen wirtschaftspolitischen Abhandlung verblaßt, ist Rudolf Brunngrabergeb. am 20.9.1901 in Wien – gest. am 5.4.1960 in Wien; Schriftsteller, Maler, Grafiker Ps.: Sverker Brunngraber (... nicht entronnen. Lange Abschnitte seines Buches haben mit dem Roman nicht einmal mehr die äußere Form epischer Erzählung gemein, sie sind Essays oder gar nur Zusammenstellung von Tatsachen und Zahlen. Hier wird das Prinzip, nicht zu fabulieren, sondern typisches Schicksal auf Grund von unanfechtbaren Tatsachen zu erzählen, doch ein wenig übertrieben. Die Aufgabe des Dichters ist es nicht, den Wirtschaftsteil einer Tageszeitung abzuschreiben oder nachzuahmen, sondern Ereignisse, ob sie nun erfunden oder der Wirklichkeit entnommen sind, plastisch, lebendig zu gestalten. Die plastische, lebendige Gestaltungskraft vermißt man an vielen Stellen dieses Werkes; sie macht erst in den letzten Kapiteln, in der erlebten Schilderung des Arbeitslosenschicksals, die „sachliche“ politische und wirtschaftliche „Reportage“ zum Roman.
Ein Einzelschicksal wird analysiert, wie die Weltwirtschaft analysiert wird. Ein Mensch geht zugrunde, weil die Rüstungsindustrie dunkle Geschäfte abschließt, weil Geld für den Krieg verpulvert, statt zum Aufbau neuer Städte verwendet wird, weil Absicht und Unfähigkeit, Habgier und Gewissenlosigkeit der regierenden Mächte, der Bankdirektoren, Stahlmagnaten und Konservenfabrikanten der ganzen Welt die Menschheit in die große Krise dieser Zeit stürzen. Das Leben Karl Lackners wird eingeteilt in die verschiedenen Epochen wirtschaftlicher Konjunktur oder Depression, mit der Technik filmischer Montage wird das große Schicksal der Welt und das kleine Schicksal eines einzelnen Menschen in Zusammenhang gebracht. Man muß nicht der Meinung sein, daß die Zukunft des Romans auf diesem Gebiet liegt, man kann das neue epische Prinzip, das Brunngraber experimentell anwendet, aus grundsätzlichen Erwägungen ablehnen oder man kann seinen Versuch im einezlnen als mißglückt betrachten – aber man muß sich mit dem Buch befassen, weil es aus dem ehrlichen Bemühen eines begabten jungen Dichters erwachsen ist, der sich auf neue Art mit der Welt auseinandersetzen, der eine neue Form des gesellschaftskritischen Romans schaffen will. Vielleicht wird gerade dieses Buch die Situation des Romans der Gegenwart klären, der zwischen Dichtung und Reportage, Gestaltung und Bericht, Phantastik und Sachlichkeit ratlos hin- und herschwankt.
In: Salzburger Wacht, 10.1.1933, S. 6.
Edwin Rollett: Neue Romane (Colerus u.a.)
Edwin Rollett: Neue Romane (Colerus u.a.) (1921)
In Zeiten sozialen Tiefstandes blüht immer die Mystik, wendet sich der Menschengeist von der Gegenwart ab und sucht Zuflucht in Fernen oder phantastischen Ländern und Zeiten. Wohl noch selten hat der Wegzeiger der Literatur so entschieden von der Gegenwart weggewiesen, wie jetzt in der Nachfolge der großen Welterschütterung des Krieges. Der Realismus der Literatur hat Schiffbruch gelitten mit dem Niederbruche der materiellen Blüte. Die Tendenz der Dichtung stiebt von dem wirklichen unerfreulichen Geschehen weg, doch es gelingt nicht immer. Meist kann sich auch der Dichter seiner Erdgebundenheit nicht entziehen und es ergibt sich ein interessantes Wechselspiel von bewußtem Wollen und unvermerktem Haftenbleiben. Hinter der phantastischen Form birgt sich das Nachzittern wohlbekannten Geschehens von gestern oder es lugt aus dem Prunkgewande des Orients das Antlitz eines Gegenwärtigen. Die Auswirkungen großen Erlebens lassen sich auch in der merkwürdigsten Verkleidung nicht wegleugnen.
Egmont Colerus schafft ein Sodom,[1] ein Reich, dem Menschen des 20. Jahrhunderts nicht realer als Shakespeares meerumschlungenes Böhmen, ein Land der Phantasie. Und er belebt diese Stadt mit Menschen,’die die Brunst, die Grausamkeit und den zum Träumen gekehrten Sinn des Orients in sich vereinigen. Wühlende Leidenschaft, brutaler Sinnenrausch und Verbrechen durchwuchern die verglühende Stadt, in deren schwüler Hitze noch einmal alles Leben zu Riesendimensionen auswächst, alle Früchte, alle Blüten, alle Menschenliebe zur sattesten Feistheit aufschwellen, ehe der Schwefelregen sie vernichtet. Namunan, der Übermensch, Marduk, das Raubtier, nacheinander auf einem Königsthron, dessen gigantischer Bau auf einer feilen Priesterkaste ruht und von ihr vernichtet wird. Ein lebender Moloch, dem das Volk opfert. Greuel über Greuel, ein Chaos von Rausch und Taumel. Ihm gegenüber der körperlose Warner Sahadheva, das Symbol eines großen Gewissens und ein Einziger, der von dem Schmutz unberührt, menschlicher Reinheit lebt, um als Einziger dem Schwefelregen zu entrinnen und dereinst wieder in die Welt zu kehren als der Erlöser Buddha.
„Sodom ist nur ein Gleichnis.“ Dieser Satz geht wie ein Leitmotiv durch den Roman. Das Gleichnis einer aus den Fugen geratenen Welt, mag man hinzufügen, in der sich hemmungslos alle Raubtiertriebe entfalten können und die nach dem Schwefelregen einen Erlöser erwartet, der die Brücke vom Alten zum Neuen schlägt.
Schwere Sehnsucht liegt über diesem Werke. Die leuchtenden Farben einer jugendlichen Phantasie dringen aus den Bildern und hemmungslos, jünglinghaft schwillt der Stoff zu immer phantastischerer Menge. Symbol, Gleichnis und oftmals allzu deutliches Philosophieren folgen einander in einer reichen, bibelhaft getragenen Sprache und legen einen eigenartigen, exotischen Reiz um diese Dichtung, deren ungelöstes Gären einem „toten Freund und reinen Menschen“ zu eigen gegeben ist.
Nicht ganz so tief in die Vergangenheit flüchtet der jüngste Roman des Lyrikers Felix Braun: Die Taten des Herakles[2]). Sehr bezeichnend ist aus dem Altertum gerade das Rom des Tiberius und Nero und das gleichzeitige Athen der Epigonenphilosophie zum Schauplätze des Romans gewählt, während gegenständlich dem Urchristentum der Hauptteil des Interesses zugewendet ist. Daß ein Lyriker diesen Roman schrieb, zeigen seine Schwächen und seine Stärken. Starte Effekte und Bewegungen, farbenreiche Bilder sind vermieden. Auch dort, wo sie vielleicht am Platze waren, ist die zarte Aquarelltechnik beibehalten, die ihr Schwergewicht auf die Geistigkeit legt. In der Psychologie ist denn auch eine nicht gewöhnliche Tiefe erreicht. Die Wandlung des jungen Römers, der, dem Herakles geweiht, in stark veräußerlichter griechischer Religiosität seine ersten Jugendjahre lebt, um in einer eindringlichen Schule des Verzichtens und Mißlingens sich zur ethischen Höhe der Entsagung und zum Märtyrertode hinanzuläutern, ist bis in die verstecktesten Winkel ihres Werdens aufgezeigt. Mit liebevollen zarten Händen ist das Material einer Entwicklung zusammengetragen und ineinandergefügt zu einem Bauwerk, dessen wohlabgewogene // Harmonie unbewußt erhebt. Ohne je eine Absicht oder Konstruktion erkennen zu lassen, stellt der Verfasser alle Geschehnisse in dieser etwas schwermütigen Geschichte einer Jugend unter den einen Gedanken, der den Kern des Werkes enthält: „Du mußt deinen Gott in dir bestatten wie einen Samen, daß er aufblühe und Frucht und Schatten gebe.“
Stoffauswahl und Problemstellung dieses Romans sprechen deutlich für einen innigen geistigen Zusammenhang mit den Fragen der Gegenwart und man wird kaum fehlgehen, wenn man das dem Buche vorangesetzte Apostelwort: „Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?“ als den Klageruf eines Modernen betrachtet, der an dem Zwiespalt von Geist und Materie krankt.
Nicht annähernd so gläubig und Gott ergeben, aber fester geht Josef Gregor in dem kurzen, inhaltsreichen Roman Erben[3]) an das Problem des jüngst Vergangenen heran. An der Küste des Adriatischen Meeres, wo die vielerlei Machtbestrebungen der im alten Österreich vereinten Stämme zusammentrafen, baut er sein Symbol: Der letzte Sprosse der alten Familie der Scaliger wird durch ein eigentümliches Erbe aus einem lässigen Dandyleben herausgerissen und verwandelt. Sein Erbteil ist ein Schrein voll Plänen und ein junges Weib. Mit dieser Erbschaft kommt der Geist seiner Vorfahren über ihn und das „aus sieben Jahrhunderten getürmte Erbe“ der Scaliger gebiert sich. Was die Vergangenheit ersonnen, eine „urbs splendida“, Genua, Florenz und Venedig niederzuschlagen, soll nun durch seine Hand verwirklicht werden. Er wächst zum Übermenschen. Orgien der Arbeit beginnen, und es entsteht das Riesenwerk der Metropolis mit Werfte, Reederei, Hafenanlage und voll der wundersamsten südlichen Pracht. Nur auf die Person des Gründers gestellt, bleibt das Riesenwerk aber dem Volke fremd und findet nur zur Staatsgewalt Verbindung, die eben-
so vereinsamt und fremd auf den Völkern lastet. Als Repräsentanten dieser Macht führt der Autor eine Person ein, die an Klarheit der Problemstellung und scharfer Plastik das Bedeutendste an dem Roman ist. Fürst Ferdinand, sichtlich nach dem Modell des ermordeten österreichischen Thronfolgers geformt, selbst ein Erbe, in dem sich ein Jahrhunderte getürmtes Gut gebären will, eine eiserne Herrschernatur voll eigenwilliger, vergewaltigender Liebe mit der Tragik des Unverstandenen an sich, deren Lanzknechtkraft am Hasse derer zerschellt, die keinen Vätergeist verwalten, sondern nach eigenem mündigen Leben schreien. In parallelem Ablauf zu dieser Fürstentragödie vollzieht sich das Schicksal des großen Schiffsherrn, der auch keine Kompromisse kennt und sogar dem Volke selbst das Erbe seiner überkommenen Machtbestrebungen aufzwingen will. Hohn, Erpressung und die unlautersten Kampfesmittel sind die Antwort, sind sein Fall. Ein Chaos der wildesten Leidenschaft und widerstrebendsten Wünsche verschlingt die Erben – alle. Ein
großer Untergang, ein Schwefelregen Sodoms, ist das Ende, nach dessen vernichtender Gewalt als letztes Wort wieder nur eines übrig bleibt: „Lasset uns beten, da der Letzte gestorben ist, daß dir Ersten wiederkämen.“
In einer am Expressionismus vielfach geschulten Form sind in diesem Roman die Ideen in reiner Form gegeneinandergestellt, und durch ein starkes Herausarbeiten alles Intellektuellen stellenweise sehr starke Wirkungen erreicht. Das Problem der großen Umwälzung ist klar und rückhaltlos ergriffen und geformt.
Was dem einen ein Kreuzweg ist, kann dem anderen zum, nachdenklichen Spaziergang werden. Auch das letzte nachgelassene Werk Thaddäus Rittners [4]) beschäftigt sich mit dem Problem der sozialen Umgestaltung. Aber während Gregor die frühere Ordnung der Dinge zu erfassen strebt, rückt Rittner in seiner ironischen Jules Verneiade Die Geister in der Stadt der unmittelbarsten Gegenwart an den Leib und führt sie liebenswürdig ad absurdum: „Die Zeit des Schaukelns ist vorbei.“ „Geld und Muskeln waren oben.“„Man wußte wohl, daß es sogenannte Intellektuelle gab. Doch beunruhigte das keinen Menschen; denn nach § 327 des Staatsgrundgesetzes sind mittellose Subjekte mit schwerem Kerker zu bestrafen.“ In diese erbauliche Stadt zaubert nun der junge Zyprian ein Theater – kein Kino, kein Varieté – ein Schauspielhaus, und noch dazu eines, in dem richtige Geister alle Theater- und Dichterträume, seiner Kindheit ver- // wirklichen und durch die Ungewohntheit bald zur ersten Sensation machen. Er, von den Geistern reichlich mit Millionen versorgt, wird ein angesehener, umworbener Herr, der Bräutigam der Bürgermeisterstochter, und die Kunst gewinnt Kredit, so viel, daß ihn auch die Katastrophe des Geisterhauses nicht erschüttern kann; denn „wahrscheinlich hatten die Herren die Rentabilität solcher Unternehmungen eingesehen“. Siehe da, die sogenannten Intellektuellen gewinnen die Oberhand, wiegen sich im Bewußtsein unerschütterlicher Sicherheit, „bis eines schönen Tages im Mai…“ Damit schließt das Büchlein. Das Rad der Zeit rollt weiter. Es hieße den schnurrigen Stil des Romans verkennen, wollte man von „über dem Leben stehen“, „Weltweisheit“ oder ähnlichem sprechen. Viel eher ist vom Geiste Wilhelm Busch etwas darin zu finden. Und das Übersinnliche, seit jeher Rittners Eigenheit, verwächst mit dem Humor zu einem niedlichen Mummenschanz, zu einer Marionettenbühne, auf der die Menschlein Theater, nichts als Theater spielen.
Die entscheidende Bedeutung, die der Schaubühne in diesem öffentlichen Leben zugedacht ist, paßt auch ganz in den Ton leichter Satire hinein. Anders als lächelnd kann man doch kaum an die Menschen heran, denen Kulissenluft und Garderobenzauber das Alpha und Omega des Lebens sind. Gewiß haftet jedem Theater ein romantischer Hauch an, sind Konflikte und Abenteuer in dieser Sphäre häufiger; aber wenn Kory Towska in ihrem Prinzen von Hysterien[5]), den Schatten Josef Kainz‘ beschwört und ihm, als eine Art Gottmenschen, noch nach seinem Tode magische Kräfte zuschreibt, so ist das etwas anderes, als wenn Gregor das Problem eines Fürsten gestaltet. Ihm handelt es sich um menschliches, ihr um theatralisches Geschehen. Dabei steht die Verfasserin auch keineswegs über ihrem Stoffe, sondern sehr leidenschaftlich mitten darin, kämpft pro und kontra und verschont nicht rechts noch links. Ob die Personen nun ihre wirklichen oder erfundene Namen tragen, jeder nur einigermaßen Kundige weiß doch, woher die Elemente stammen. Das aber sollte nicht sein. Gewiß kann kein Schriftsteller ohne Modelle schaffen; aber das Rohmaterial des Lebens zu stilisieren und zu einem Kunstwert zu formen, ist eigentlich die Arbeit des Schriftstellers.
[…]
In: Wiener Zeitung, 23.10.1921, S. 3-5.
[1] [Originalfußnote] Verlag von Ed. Strache in Wien.
[2][Originalfußnote] Rikola-VerlagGegründet 1920 durch Richard Kola. Dazu grundlegend: Murray G. Hall: Österreichische Verlagsgeschichte. Online verfüg... in Wien.
[3] [OFN] Verlag von Ed. Strache in Wien.
[4] Rikola-Verlag, Wien
[5] [OFN] Wien, Donau-Verlag.
Rudolf Olden: Egon Erwin Kisch, der Reporter
Rudolf Olden: Egon Erwin Kisch, der Reporter (1924)
Der rasende Reporter heißt ein neuer Band von 300 Seiten und enthält Berichte des Reporters Kisch. Warum „rasend“? Da das Buch kein Vorwort enthält, aus dem ich die Erklärung abschreiben könnte, so weiß ich es nicht. Dieser Reporter ist, scheint mir, gar nicht durch irgend welche besondere Raserei, Geschwindigkeit, Eile belastet. Er ist ein langsamer, genauer, breiter, sachlicher Erzähler des Geschehenen. Er sagt, ausführlich und Präzis, „was ist“. Höchstes Lob des Reporters!
Man muß, glaube ich, bevor man weiter redet, Mißverständnisse aufklären. Es gibt zu viele der Zeitung Fern- und Nahestehende, die den Reporter als einen Journalisten minderen Grades ansehen, als einen Vorzimmersitzer, Auskunfteinholer, Unterläufel, der die grobe Arbeit in der Zeitung verrichtet und dafür schlecht bezahlt wird. Diese Ansicht ist ebenso richtig wie sie falsch ist. Das heißt also: der Reporter ist allerdings manchmal äußerlich das, wozu man ihn macht. In Wahrheit aber ist er der König des Journalismus, der ihm erst den wahren Inhalt gibt. Die Herzen, die die Artikel und Feuilletons schreiben, tun das meist deshalb, weil es zu keinem Buch langt. Dem eigentlichen, wirklichen Zeitungszweck, den Zusammenhang zwischen Ereignis und Leser herzustellen, die Welt von gestern zu schildern, erfüllt einzig die Reporter.
Die Eigenschaften, die man von ihm verlangt, sind zugleich minimal, und ungeheuer schwer zu erfüllen. Er muß sehen können, was vorgeht, und erzählen können, was er gesehen hat. Von jedem aufsatzschreibenden Bürgermeister, von jedem Gerichtszeugen wird dasselbe verlangt. Es ist daher sehr merkwürdig, daß ein fähiger Reporter so schwer zu finden ist, einigermaßen häufig nur in den angelsächsischen Ländern vorkommt, und in deutscher Sprache geradezu eine Seltenheit bildet. Ich kenne einen, den man unbedingt anerkennen muß. Das ist eben Egon Erwin Kischgeb. am 29.4.1885 in Prag – gest. am 31.3.1948 in Prag; Journalist, Schriftsteller K., Sohn eines jüdischen Tuch.... Vielleicht gibt es mehr Reporter, aber sie sind keine Journalisten. Unter diesen leben fast nur Dichter, Philosophen und Politiker. Wenn sie eine aufgerissene Straße, einen überfahrenen Hund oder eine überschwemmte Wiese schildern sollen, so schreiben sie von der Unfähigkeit der Regierung, vom Marxismus oder von ihrem Liebesleben. Sie machen das so, man weiß nicht recht, ob weil sie nicht sehen können; oder weil sie nicht schreiben können, was sie gesehen haben; teils auch deshalb, weil sie sich es so schuldig zu sein glauben. Es ist also schließlich doch kein solches Wunder, das Mißverständnis über den Reporter.
Nun noch etwas. Es gibt auch sehr viele Menschen— ein großer Teil des Lesepublikums —, die meinen, erdichtete Geschichten seien interessanter als erlebte, geschehene. Dieser Irrtum hängt mit der Vernachlässigung des Reporterberufes eng zusammen. Kisch ist nicht nur der erste Reporter deutscher Zunge, sondern auch ein Propagandist seines Gewerbes. Er betreibt seine Propaganda auf die vorzüglichste Art dadurch, daß er seine eigenen Reports gesammelt herausgibt. Sie sind geschrieben, um am anderen Tage durch die Rotationspresse zu laufen. Und dabei sind sie heute, nach zehn Jahren oder nach einem Jahre, noch so frisch, so interessant, so fesselnd, wie sie nur am Tage nach dem Erleben gewesen sein können. Man trennt sich nur mit Schmerzen von dem Band und greift gleich wieder danach, wenn eine freie Viertelstunde kommt. Und dabei ist da kein anderer Faden als die offenen Augen des Reporters, die so verschiedene Dinge gesehen haben, wie etwa: die Obdachlosen von Whitechapel, die Verhaftung des Einbrechers Sternickel, Venedig vom Erkundungsflugzeug aus, das in Brand geschossene Skutari, slowakische Auswanderer in Le Havre, Wien bei Nacht vom Stephansturm aus, das Begräbnis einer alten Zimmervermieterin in Kopenhagen, Schweineschlachten am Roeskilde-Fjord, Hopfenpflücken in Saaz, den Kampf zwischen Reichswehr und Hakenkreuzlern in Küstrin — hundert bunte Dinge der Welt, die nichts miteinander zu tun haben; die durch nichts verbunden sind als durch die Sachlichkeit, Lauterkeit, Helläugigkeit, die Klarheit, Knappheit, Wahrhaftigkeit des Reporters Kisch.
Der Reporter, auch schließlich der mangelhafte, ist der wahre Lehrer des Volkes. Was, darüber muß man sich klar sein, würden wir eigentlich von der Welt und von unserer Zeit wissen, wenn uns nicht jeden Morgen, Mittag, Abend tausend fleißige Männer erzählten, was sie gesehen haben? Niemand möge einwenden, er lese keine Zeitung. So erfährt er durch Erzählen, was die Reporter geschrieben haben. Die Kinder erfahren es von den Lehrern und Eltern, die Historiker schreiben es in die Bücher — gesehen hat es der Reporter. Aber keiner, der deutsch schreibt, sieht besser als Kisch. Er hat einen anderen Sammelband herausgegeben unter dem Titel Klassischer Journalismus. Er hätte auch diesen, mit eigenen Werken gefüllten so nennen können.
In: Der Tag, 21.11.1924, S. 4.
Hermann Menkes: Neue Romane
Hermann Menkes: Neue Romane (1920)
Trotz der Abgeschlossenheit, in der wir leben, ist in unserer Zeit das Interesse für fremde Kulturen, Länder und Völker in verstärkter Weise wach geworden. Während des Krieges sind die Maler und Zeichner nach Polen, Rußland und in den Orient gekommen und haben da in einem farbigeren und volkstümlicheren Leben ihrer Kunst Verjüngung und neuen Reiz zugeführt. Den Schriftstellern offenbarten sich in der Fremde Sitten und Lebensanschauungen, die ihnen bisher verschlossen waren.
Der Roman „Menschen im Abgrund“ von Jakob Fingermann (Wien, R. LöwitDer Löwit-Verlag wurde 1883 mit Firmensitz in der Wiener Rotenturmstraße 22 von Richard Löwit (1854-1908) registriert... Verlag) ist aus derartigen Erlebnissen entstanden. Ein zumeist jüdisches Milieu in einer polnischen Stadt wird vorgeführt, Menschen im Krieg mit einer heftigeren Lebensgier, einer zäheren Tragik. Ein Judenroman, aber keine der üblichen Gettogeschichten mit der schwermütigen Poesie des Verfalls. Eine- soziale Note ist in der Darstellung Fingermanns, etwas von bitterer Anklage. Er zeigt die seelischen Zerstörungen des Krieges, eine Anarchie der Empfindungen und eine sittliche Verelendung. Mehr noch als die menschlichen Physiognomien ist das Gesicht der Judenstadt Lublin gezeichnet mit ihren so grausamen Kontrasten von Elend und verschwenderischer Lebensführung, moralischer Fäulnis und Idealismus. Ein unsagbar korrumpiertes Europa gibt sich als Scheinkultur dieser Stadt, in der Brände der Leidenschaft emporlohen und hungrige Sinne nach Genuß lechzen.
In diesen Strudel hineingezogen sind die österreichischen Offiziere. Es ist eine glühende, sinnliche Atmosphäre in dem Buche, das mehr dramatisches als erzählerisches Temperament zeigt. Es ist hier nicht das am Geistigen hängende Judentum, sondern das merkantile und irgendwie in den sittlichen Abgrund geratene. Es sind auch nicht die stillen, leidvollen Frauen des Gettos, sondern Messalinanaturen, die bedenken- und seelenlos nur mit den Sinnen lieben. Die Stärke des Romans mit seinen wechselnden Bildern liegt in der Unmittelbarkeit der Darstellung, sein Reiz in dem fremden Milieu, seine Schwäche in einer gewissen Flüchtigkeit, die die Konturen nur andeutet und in einer an der Oberfläche haftenden Psychologie die Geschehnisse abbricht, aber nicht zu innerem Abschluß bringt. Trotzdem ist dieser Roman ein interessantes Zeitdokument von mancherlei schönen literarischen Qualitäten, das unsere Teilnahme bis zuletzt wachzuhalten versteht.
Als ein „fast heiteres Judenbuch“ gibt sich die Sammlung von Erzählungen und bekenntnisreichen Auseinandersetzungen, die unter dem Titel „An den Wassern von Babylon“ bei Georg Müller in München erschien. Jüngere deutsche Schriftsteller jüdischer Abkunft grenzen hier ihr Verhältnis zum Volke, dem sie entstammen und zum andern, in dessen Mitte sie leben und dessen Kultur zu ihrer eigenen geworden, ab. Damit berühren sie ein Problem, das einen tragischen Zug und Zwiespalt in das Empfinden des jüdisch-deutschen Kulturmenschen bringt. Die vier Dichter, die sich hier aussprechen,. sind Nach beiden Richtungen hin treu und wurzelstark. Sie finden einen harmonischen Ausgleich zwischen zwei Welten und meinen, daß gerade daraus etwas Neues und Wertvolles entsteht: ein weltmännisch orientiertes Deutschtum. Am schönsten und gefühlsmäßigsten gibt dem Hermann Sinsheimer in seiner Knabengeschichte „An den Wassern von Babylon“ Ausdruck. Sehr sinnig ist das Sehnen eines Kindes nach dem Heimatlichen geschildert, das in seiner Phantasie mit der Urheimat seines Volkes verschmilzt. Lion Feuchtwanger läßt den ewigen Juden in moderner Fasson und mit ironischen Auslassungen über den Antisemitismus erscheinen. Auch Fritz C a s s i r e r s „Breviarium Judaicum“ ist eine Abrechnung mit nationaler Beschränktheit und blindwütendem Haß, während Paul Schlesinger allerhand jüdische Menschlichkeiten in einer Anekdotenreihe witzig beleuchtet. So ist aus dem Ganzen ein Buch der Verständigung geworden, das man auch bei persönlich abweichenden Anschauungen gutheißt.
In: Neues Wiener Journal, 27.5.1920, S. 3.
Rudolf Jeremias Kreutz: Robert Hohlbaum: Die deutsche Passion.
Der Epiker Robert Hohlbaum ist eine stete Hoffnung, die unaufhaltsam nach Erfüllung drängt. In jedem seiner Bücher spürt man gleichsam ein tiefes, leidenschaftliches Atemholen: fleißig trainierte, geschmeidige, wenn auch nicht athletische Kraft strafft sich zum Sprung nach dem Erfolg. In jedem seiner Romane sind Ansätze zum Erzähler großen Stils, in jedem aber auch drohen Grenzen, türmen sich Schranken. Die deutsche Welt, Von ihm in heißer Seele umschlungen engt ihn, gerade weil sie ihn allzu innig beglückt. Die Objektivität im Goetheschen Sinne, jene kühle, scharfäugige Liebe zum Objekt – in Hohlbaum lodert sie allemal in Verliebtheit auf. Dies mag vom Standpunkt des tendenzdeutschen Schriftstellers ein Vorzug sein, dem Werke des Dichters geschieht naturnotwendig Abbruch. Wohl gehört Hohlbaum keineswegs zum Kreise jener germanischen Infallibilitätsherolde, deren lehrhaftes Pathos nur noch von ihrer abgründigen Langweiligkeit übertroffen wird, doch zeigt eine Einstellung zur Problematik deutschen Wesens öfter das begeisterungsdurchglühte Gesicht eines Couleurstudenten, als das Antlitz eines Mannes, der sein Volk auch dort kennt, wo es weniger liebenswürdig ist. Aus solcher Einseitigkeit erwachsen Vorzüge und Mängel seiner Werke. Immer steht ein junger Fant im Mittelpunkte der Handlung, ein frischer, herzfroher Geselle, dessen anmutiger Entwicklung wir mit aufrichtiger Anteilnahme folgen. Stets rankt sich um das Schicksal der Hauptperson episodistisches Beiwerk, das Folie bleibt für den ewigen Lenzkampf des Helden, den er gegen feindliche Gewalten erfolgreich ausficht. Liebe, Leid, welsche Tücke, zuweilen ein schwarz gemalter Widersacher aus eigenem Stamm – aus solchem Quellgebiet ergießt sich eine Fülle Jugend über uns: helläugig, rein, köstlich wohlgemut, aber auch befremdlich voraussetzungslos. Dieses gefühlsmächtige Strömen aus eigener Jugend zu ähnlicher Jugend hin, dieses unbedenklich innige sich Verstreuen ist Hohlbaums stärkste Kraft. Sie bezeugt den geborenen Erzähler. Mühelos, spielerisch – das fühlt man – fügt sich ihm Bild zu Bild. Der Lust zum Fabulieren gesellt sich eine beträchtliche Plastik der Formgebung, insbesondere dort, wo ein Milieu geschildert, der Hintergrund eines Schicksals gezeigt wird.
Nicht auf gleicher Höhe steht die Schicksalsgestaltung selbst. Selten nur springt eine Individualität scharfen Profils aus dem Rahmen. Die Menschen gleiten farbig, aber wenig körperhaft an uns vorbei. Hohlbaum erfaßt deutsche Vergangenheit kulturhistorisch ungemein geschickt, der Ausdruck der Zeitepoche ist sprachlich verblüffend echt getroffen. Diese virtuose Fähigkeit museale Garnituren zu beleben, gab dem Dichter wohl auch Ansporn und Mut zu einer Trilogie deutschen Leidens, Kämpfens und Werdens. Ein Stoff von bedrückender Größe, gemessen nicht nur an der Kühnheit des Vorwurfes, deutsches Schicksal vom Ausgang des Dreißigjährigen Krieges bis in das achtzehnte Jahrhundert episch zu gestalten, sondern vornehmlich durch die Schwierigkeit, Menschen glaubhaft lebendig in das historisch Gegebene zu stellen. Den Milieuteil der Aufgabe, ihren dekorativen Prospekt gleichsam, löst1 Hohlbaum in der Deutschen Passion auf das glücklichste. Und das will nicht wenig sagen angesichts des Umstandes, daß jenes von allen guten Geistern verlassene Deutschland der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts bisher überhaupt kaum einen Schilderer gefunden hat. Der törichte und unfruchtbare Kampf zwischen Luthertum und Katholizismus, die Rohheit entlassener Kriegsknechte, der Seelenpferch des Ghettos, die öde Lebensgier der besseren Stände, die »Affenschande der à la Moderei“ – das alles zieht in farbenglühenden Wandelbildern an uns vorüber. Die Menschen freilich erscheinen der Mehrzahl nach als Statisten im gewaltigen Panorama. Sie agieren in ihrem Charakterellen schemenhaft wenngleich sie in Sprache und Gehaben vortrefflich dem Bilde eingefügt sind. Sie stellen weit mehr Figurinen dar als Individuen, sie fesseln durch die Echtheit ihrer Kostüme, ohne menschlich sonderlich zu interessieren. Zwei nur treten schärfer konturiert aus der Menge: Michel Moschewin, der Vorbilddeutsche, in die chaotische Tragik seines auf blutigen Irrwegen taumelnden Volkes als ein „Held Unverzagt“ gestellt, und Schmul Kurtzhandel, der Jude. In diesen beiden – Pol und Gegenpol – stecken, von der mitunter allzu grellen Weiß- und Schwarztechnik und seiner wohl unbewußten Verbeugung vor gewissen völkischen Instinkten abgesehen, kräftige Ansätze zur Charakterformung. Moschewin = Baldur und Kurtzhandel = Loki leben, haben Fleisch und Blut. In ihnen glimmt etwas von dem „dreimal glühenden Licht“, das dem Künstler leuchten muß, auf daß er den aus dem Handgelenk spukendem papierenen Geist des Schreibtisches überwinde. Insbesondere in einzelnen Ghettoszenen gewittern Spannungen geheimnist ein Grauen, das stilistische Findigkeit nie vermitteln kann. Hier tritt ein ander[e]s hinzu, unwägbar, kostbar und selten im Reiche des Schaffens: Sparkunst am leeren Wort — Wirkung des Dichters. Robert Hohlbaum, der Dichter, ist des fruchtbaren Schriftstellers wesentlicherer Teil. Auch Die deutsche Passion erweist dies wieder, seinen vielen Freunden zum Wohlgefallen
In: Neue Freie Presse, 13.6.1926, S. 32.
Otto Koenig: Neue Romane und Erzählungen. (F. Werfel: Der Abituriententag, B. Brehm: Der lachende Gott)
Otto Koenig: Neue Romane und Erzählungen. (F. Werfel: Der Abituriententag, B. Brehm: Der lachende Gott) (1928)
Der neue Roman Der Abituriententag von Franz Werfeleigentlich Franz Viktor Werfel, geb. am 10.9.1890 in Prag – gest. 26.8.1945 in Beverly Hills, USA; Schriftsteller... (Paul-Zsolnay-Verlag. Wien) zählt zu den stärksten epischen Werken der Gegenwartsdichtung. Er ist die Geschichte einer Jugendschuld. Durch die Erinnerungen, die einer der üblichen Zusammenkünfte ehemaliger Maturakameraden, ein sogenannter „Abiturrententag“. weckt, wird auch das Erinnern an den Mitschüler Adler, einen Verschollenen, einen Abgesunkenen der Klasse, lebendig; der Untersuchungsrichter Sebastian glaubt jenen ehemaligen Mitschüler Adler in einem Untersuchungshäftling wiederzuerkennen, der ihm als eines Prostituiertenmordes verdächtig, eben an diesem Vormittag der Abiturientenzusammenkunft vorgeführt worden war. Er glaubt dies, weil er mit jenem befähigten Adler damals um die Herrschaft in der Klasse gerungen, weil er ihn gedemütigt, verführt und ihn schließlich, um sich selbst vor vernichtenden Gymnasialkonsequenzen seiner Jugendstreiche mit Katalogfälschungen und heimlichem Bordellbesuch zu retten, zur Flucht drängte und verhalf, er glaubt dies, weil er an jenem verschollenen Mitschüler schuldig geworden ist. In der Nacht nach dem Erinnerungsabend fiebert und phantasiert der aufgewühlte Richter diese fernvergangene Gymnasialschuldtragödie, aus der er durch Aufopferung jenes andern heil hervorgegangen ist, noch einmal durch. Am darauffolgenden Morgen, im Amt vor dem Inkulpaten Franz Adler, der aber jener andre Franz Adler gar nicht ist, erfolgt im furchtbaren seelischen Ringen um Entsühnung ein Nervenzusammenbruch und durch ihn seelische Befreiung. Tiefe Zusammenhänge zwischen dem ethischen Gott in uns und dem Dämon des Selbsterhaltungstriebes offenbaren sich in dem hocherregten, dramatisch komprimierten Werk hinter der Schilderung und Handlung, die mit feinfühligster Detailmalerei den kaiserlich österreichischen Beamtenstaat, seine Beamtendrillschulen, die Gymnasien und das Provinzmilieu, naturfarbig illuminiert.
Der lachende Gott.
Mit Altösterreich, seinen Gymnasiarchen, sonstigen Unterrichts- und andern Beamten, mit seinem Militär, seinen Kleinstädtern und der Provinzmoral hat es auch der soeben im Verlag R. Piper (München) erschienene Roman Der lachende Gott zu tun. Sein Dichter, Bruno Brehm, ist ein neuer Mann, der aber wegen seiner in dieser Erzählung frappant in Erscheinung tretenden sicheren Schilderungskraft und reifen Begabung mit Ehren empfangen werden muß, obwohl sein lachender Gott — ein Priapus ist, der antike, in spätrömischer Zeit besonders eifrig kultivierte Gott männlicher Zeugungskraft mit dem symbolisch übertriebenen, ungeheuren Phallus, also in unserer Zeit, da die Erotik offiziell nicht mehr religiös überhöht zu werden pflegt, eine frivole Obszönität. — Dieser grün patinierte römische Bronzepriapus wird von einem Bauern in der Nähe einer altösterreichischen Provinzstadt, die der Verfasser so liebevoll und genau schildert wie Goethe das Städtchen seines Hermann, auf seinem Acker ausgegraben. Der Sohn des Bauern, der Schüler am Provinzgymnasium ist und die Figur dem Direktor überbringen will, wird als unbeliebter Bauernsproß von diesem engstirnigen Unterrichtsbeamten in eine Disziplinaruntersuchung hineingetrieben und ausgeschlossen. Die ehrbar verhohlene Erotik der Spießbürger aber kommt durch den lachenden Gott außer Rand und Band. Der Einzug der feurigen Offiziere und Mannschaften eines ungarischen Infanterieregiments verstärkt die aufstachelnden Reizungen und Wirkungen. Die drei „destruktiven Elemente“ des Städtchens mischen sich ins Spiel, der lachende Gott wird aus dem Gymnasium gestohlen; die in verschiedenen Gesellschaftsschichten und Menschen in verschiedenen Nuancen aufflammende Sexualität führt zu Lächerlichkeiten, Komödien, Duellen, Orgien, zu Mord, behördlichen Verfolgungen, Verhaftungen und zum aktiven oder auch passiven Selbstmord der kompromittierten Honoratioren, unter denen die Künstlernatur des Zeichenprofessors RabI die sympathischeste ist. Der Dichter versteht sehr wohl in Spannung zu halten, weiß sein Garnisonsstädtchen zwischen der Thaya und Carnuntum vorzüglich zu zeichnen, prachtvoll echte Offiziers-, Beamten- und Provinzproletariergestalten zu formen, die auch dann lebensecht sind, wenn er nach seiner katholischen Idealismen zugeneigten Art eine Ausnahmefigur wie die des gütigen und weisen Religionsprofessors Pichler schildert. Eine leise und klug lächelnde Satire ist dieser Provinzroman aus der altösterreichischen Provinzgarnisons- und Gymnasialstadtskandalgeschichte, die zwischen unverhältnismäßigen, aber in diesem Milieu wahrscheinlichen Katastrophen eindringlich andeutet, wie der Schuldige, der Gymnasialdirektor, in allen Würden bleibt, während die einzige Konsequenz, die die Provinzgemeinde öffentlich zieht, die ist, daß die straßenkehrenden Lumpenproletarier und Saufbrüderln, die ohnehin „gemütliche Menschen“ sind, die mit dem Eros keine Beziehungen unterhalten, nicht mehr auf dem Hauptplatz lungern dürfen.—
Und dann geistert noch ein tiefes und großartiges Wissen bedeutsam durch diesen originellen Roman: Das Wissen vom Erschrecken vor einer in die Gegenwart tretenden kultischen Vergangenheit, die Ahnung, daß das Bild des Gekreuzigten, in fernen Tagen zufällig auferstehend, auch Grauen, Entsetzen und Verwirrung anrichten müßte.
In: Arbeiter-Zeitung, 22.12.1928, S. 6.
Rudolf Holzer: Neue Romane (H. Mann – Wassermann – Stehr)
Rudolf Holzer: Neue Romane (H. Mann – Wassermann – Stehr) (1919)
In nicht großen Abständen sind in letzter Zeit drei umfangreiche Romane erschienen, die, abgesehen von ihrer ästhetischen Bedeutung, wahrhaftig Spiegelungen und Dokumente der gegenwärtigen Zeit sind. Der künftige Kultur- und Literaturhistoriker wird aus ihnen einst unsere Geistesverfassung, unser menschliches Sein in diesen Tagen, unseren Anteil an den Forderungen der ewigen Entwicklung lesen können. Unabhängig von ihrem literarischen Werte darf man die drei Romane auch als Schöpfungen dreier bedeutender Schriftsteller, an sich als charakteristische Erscheinungen bezeichnen. Heinrich Mann, Hermann Stehr, Jakob Wassermanngeb. am 10.3.1873 in Fürth b. Nürnberg – gest. am 1.1.1934 in Altaussee, Steiermark; Schriftsteller, Essayist Aus:... sind so sehr schöpferisch, daß sie kraft ihrer Naturen und Begabung nicht leere Abschreiber des Tages, sondern Träger der latenten Ideen und Konflikte sind.
Im Stile und Realismus des platten, politischen, tendenziösen Pamphlets ist Heinrich Manns Roman Untertan gehalten; er enthüllt angeblich das Abbild des Deutschlands Wilhelms II. Am Scheitel des Bogens schwebt, entrückt der Alltäglichkeit und dem Dutzendgeschmack, das literarische Gebilde Wassermanns Christian Wahnschaffe; jenseits ruht der Bogen verdichtet in Hermann Stehrs Roman Der Heiligenhof, im deutschen Neumystizismus, in einem Sozialismus, der an Urchristentum anknüpft.
Der Roman Heinrich Manns Der Untertan[1] wurde kurz vor dem Kriege beendet; er erschien zuerst in einer Wochenschrift im Frühjahr 1914, wurde aber als eine geschmacklose Verletzung der Stimmung bald nach Kriegsausbruch abgebrochen. Heute feiert er – leider! – als zu wahrhafter Satire geworden, eine Auferstehung; er nimmt sich — leider! — geradezu als ein historisches Kulturwerk aus; er segelt heute als Sittengeschichte des Deutschen Reiches zu Ansang des 20. Jahrhunderts in die Öffentlichkeit. Nun, zu dem Anspruch, ein wirkliches Bekenntnisbuch zu sein, fehlt ihm Objektivität und Unbefangenheit. Mit Haß und Hohn ist man niemals ein gerechter Zeuge. Heinrich Mann vermeint, die Psyche des braven, gehorsamen Untertanen enthüllt zu haben. Sein bürgerlicher Kleinindustrieller Diederich Heßling, dieses Muster eines Nationalgesinnten, beweist nur leider nichts, denn Mann bildet ihn als Ausbund der Einsichtslosigkeit, Dummheit, Charakterlosigkeit. Nach einem kurzen, in
Berlin verlaufenden Vorspiel, wohin der junge Diederich gelangt, um Chemie zu studieren, setzt sich die eigentliche Handlung in einer typisch preußischen Stadt, nicht allzu weit von der Reichshauptstadt gelegen, um die Zeit der Neunzigerjahre fort. Heßling wird zum Träger angeblich neudeutscher Kultur, die nach Manns Darstellung nichts anderes ist als knechtische Unterordnung und Bewunderung des preußischen Militärstaates. Der „Untertan“ Diederich Heßling, Fabriksdirektor und Unternehmer, wird als Typus des Geschäftssinnes und der Schneidigkeit des preußischen Staatsbetriebes gekennzeichnet. Bald stößt er natürlich mit den politisch Freisinnigen der Stadt zusammen; namentlich mit dem klugen und menschenfreundlichen Achtundvierziger Buck. Die Gutheißung der Erschießung eines Arbeiters durch einen militärischen Posten, eine Denunziation wegen Majestätsbeleidigung, eine vom Gerichtshof und den Zeugen liebedienerisch durchgeführte Verhandlung, zweifelhafte Kompromisse mit anderen politischen Strömungen, eine Reichstagswahl, die Errichtung eines Kaiserdenkmals, das sind die einzelnen Szenen der Handlung, die immer nur Gelegenheit gibt, Diederich Heßling als lächerlichen und widerlichen Gesellen zu kennzeichnen. Er wirkt durchaus als Karikatur. Der offizielle Geist der vergangenen Jahre wird mit beißender, höhnischer Laune dargestellt, wird als am Staate nagendes Gift, als Produkt der Fäulnis geschildert, des in seinem hohlen, geschmacklosen Protzentum, seinem stets die Ideale der Nation im Munde führenden Materialismus den Staat dem Abgrund entgegentreibt. Mann weidet sich an dem bekannten Pathos der Reden Wilhelms II., die Adel und Bürgertum Deutschlands einlullten. Aber in Heßlings Munde werden sie zu unausstehlichen Trivialitäten, zu fürchterlicher Satire. Der gehorsame und getreue „Untertan“, der keinen anderen Ehrgeiz kennt, als seinem kaiserlichen Herrn zu dienen, wird bei Mann zu einer verzerrten und lächerlichen Kopie des Monarchen. Seinem Charakter nach ein hohler, eitler Komödiant und Streber, schwindelt und bramarbasiert sich Heßling in der Kleinstadt zu Einfluß, und Macht empor, spielt dort den nationalistischen Scharfmacher, bedrückt seine eigenen „Untertanen“ – die Angestellten seiner Fabrik – macht zweifelhafte Geschäfte, liegt vor jeder höheren Macht im Staub, ist aber brutal und rücksichtslos nach unten und findet endlich seinen Ehrgeiz als Generaldirektor, anerkannter Patriot und Festredner bei einer Denkmalsenthüllung gekrönt.
Mit dem Rechte des Satirikers hat Mann den Diederich Heßling zu einem Zerrbild des Untertanen im Zeitalter des preußischen Imperialismus gemacht. Durch Verzerrungen hebt er die Schäden der Zeit schonungslos ins grellste Licht. Die kleine Stadt, Netzig, in der Heßling das große Wort führt, ist beherrscht und belebt von Anhängern des Imperialismus. Offiziere, Staatsbeamte, Pastoren, Industrielle, Oberlehrer, Frauen der bürgerlichen Welt, Damen aus der Halbwelt sind benebelt und berauscht von patrio-// tischen Gefühlen, die in Wahrheit der Ausfluß krassesten Egoismus sind. Es ist Mann kein Vorwurf zu machen, daß er in der Wunde seiner Zeit wühlte, es berührt jedoch nicht angeehm, daß er seinen Witz ausschließlich an Begriffe knüpfte, die dem nationalen deutschen Empfinden bisher achtenswert waren. Seine Schilderungen der Berliner Korpsstudenten, der politischen und moralischen Verhältnisse der Netziger Bürger sind überaus scharf und geistreich gesehen. Die Charakterlosigkeit und Feigheit, mit der sich Heßling der Militärpflicht entzieht, gleichzeitig aber mit seiner patriotischen und militärfreudigen Gesinnung flunkert, um später Aufnahme und Einfluß im Kriegerverein zu finden, das bürgerliche Leben, seine und die Liebesangelegenheiten der Netziger sind in dem Buche zu virtuosen Episoden verwertet. Der schärfste und reinste Niederschlag des Buches kommt aber in einer mit der Handlung gar nicht zusammenhängenden Analyse des Wagnerschen Lohengrin zum Ausdrucke. Da entgleitet dem Verfasser endgültig die Maske. Da verrät er sich endgültig als politischer Pamphletist, als – nach dem von Thomas Mann geprägten Ausdrucke – Zivilisationsliterat, als Parteigänger der undeutschen Empfindung, als Schriftsteller, dem für deutsches Fühlen und Denken nicht nur die Organe fehlen, sondern der allem Deutschen mit Hemmungen gegenübersteht. Um später einmal etwa als „historischer“ Roman zu gelten, fehlt dem Buche die einwandfreie Objektivität, aber Mann hat uns, was nicht zu leugnen ist, ein ironisches Werk von aufreizender Grausamkeit und Schonungslosigkeit gegeben. Daß das Buch vor dem Kriege entstanden ist, macht es ethisch einzig und allein erträglich; heute geschrieben, müßte man es als Ausdruck krankhaften Flagellantentums bezeichnen.
Jakob Wassermann, der zu Anfang des Krieges mit seinem Roman Das Gänsemännchen der neueren deutschen Literatur eine Dichtung von außerordentlicher Tiefe schenkte, legt jetzt in zwei Bänden die seltsames Seelengeschichte eines jungen Deutschen, Christian Wahnschaffe, vor. Sie fußt in einer Weltanschauung, in Gedankengängen, einem Stoffkreise, die auf die Anfänge aller Dichtkunst zurückgreifen. Wassermanns neues Buch ist die nach dem Himmel, nach der Erlösung anblickende Legende des Menschen und der Welt von 1919; es ist die modernste, aus der ursprünglichsten Gegenwart hervorwachsende Dichtung vom leidenden, durch irdische Entbehrung und Demut zu seelischer Befreiung und Erhebung strebenden Menschen von heute. Wer würde nicht durch den Helden des Romans, durch den mit allen glänzenden Vorzügen und Tugenden der Kultur, der Bildung, des Reichtums, der Lebensführung ausgezeichneten Christian Wahnschaffe an die Helden der alten lateinischen, deutschen, englischen Mysterienspiele und Moralitäten, an die der späteren Klosterspiele erinnert werden. Auch Christian ist ganz im Sinne lehrhafter Legenden eine Gestalt mit doppeltem Antlitze: jenem der Lebenslust und jenem der Askese, jenem der sieghaften Schönheit und dem des scheußlichen Lasters, dem der heidnischen Sinnenlust und dem der entsagenden religiösen Selbstkasteiung. Die geistige und literarische Verwandtschaft führt dann weiter über die großen psychologischen und moralisierenden Romane der Russen: über Dostojewski und Tolstoi, bis er in einem Neobuddhismus unserer Tage eine Art Glaubensbekenntnis formuliert.
Christian Wahnschaffe ist der Sohn eines jener unbegrenzt reichen Industriellen, in denen die Macht und Größe Deutschlands vor dem Kriege ihren eigentlichsten Ausdruck erhielt. Von der Natur verschwenderisch begabt, mit allen Vorzügen eines Lebemannes und Dandys ausgestattet, bildet er zunächst das Ideal eines jungen Mannes der großen Welt aus den paar führenden Familien Deutschlands. Es gibt keinen Genuß, der ihm nicht zugänglich, und keine Laune, die für ihn nicht einlösbar wäre. Sein Leben spielt sich in einem Stil ab, der bestimmt wird von unbegrenzten Einkünften, erlesenem Luxus, kultiviertester Schönheit. Dementsprechend tritt er auch kaum aus einer Umgebung, die anders empfindet. Eines Tages schießt ein Arbeiter auf seinen Vater, den Geheimrat Wahnschaffe. Dieses für sein äußeres Leben ohne weitere Folgen bleibende Geschehnis bringt ihn in Beziehung zu einem russischen Revolutionär, in weiterer Folge zum Proletariat. Vom Hochzeitsfeste seiner Schwester wandert er in die armselige Wohnung des wegen des Attentates verurteilten Arbeiters. Das menschliche Elend, das er kennen lernt, wirkt auf ihn derartig mächtig ein, daß er sich seines Vermögens entäußert, in freiwilliger Armut lebt und seinen Besitz mit Armen, am Leben Leidenden teilt. In einer elenden Matrosenschenke Hamburgs findet er die verkommene, halb vertierte Dirne Karen Engelschall. Er widmet sich ihrer Pflege und weicht bis zu ihrem Sterben nicht mehr von ihrem Lager. Christian nimmt mit diesem Leidenszug gleichsam das Kreuz auf sich, um sich selbst von dem Verbrechen seines Reichtums zu entsühnen. Er wird auch zum ruhelosen Sucher nach dem Mörder eines armen, einem Lustmorde zum Opfer gefallenen Mädchens, findet dann aber keineswegs in der Überantwortung des Mörders an die irdische Gerechtigkeit Befriedigung, sondern führt den Verworfenen zu seelischer Läuterung durch ein Geständnis, zu einer – vom Dichter allerdings bloß angedeuteten – Selbstsühne hinan…
Agitatorischer, fast inbrünstiger Trieb zum Bekennen der Menschenliebe und Menschengüte durchzieht dieses Buch; es ist in seiner Art ein Evangelium der Menschenliebe. In flammenden Worten predigt es die //Verwerflichkeit der Macht, des Reichtums und der Genußsucht. Wem noch irgend Zweifel bleibt über den Charakter von Wassermanns Buch als einem einer neuen, zeitgemäßester Sittlichkeit, der sei auf Christians Ende verwiesen: es ist eine Art „Himmelfahrt“, indem Wassermann Christian sich in Geistigkeit, im Fluidum sittlicher Reinigung einfach auflösen läßt; in dem der Dichter Christians kargen Rest von bürgerlicher Existenz im Namenlosen verschwinden läßt.
[…]
In: Wiener Zeitung, 31.1.1919, S. 2-4.
[1] Verlag von Kurt Wolff, Leipzig.
E. Guglia: Neue Romane
E. Guglia: Neue Romane (1919)
Thaddäus Rittner kennt man bis jetzt nur als Dramatiker. Er hat zwar einen Band Novellen veröffentlicht, aber das ist schon zwanzig Jahre her und vergessen. Dagegen sind seine Erfolge auf dem Theater, nicht zwar rauschende, aber tiefgehende, in frischer Erinnerung, sie reichen bis in die neueste Zeit. Das wird seinem vor kurzem erschienenen ersten Roman Das Zimmer des Wartens schon eine lebhafte Nachfrage sichern. Und er wird den Freunden seiner Dramen keine Enttäuschung bereiten. Er besitzt dieselben oder doch ähnliche Vorzüge: große Spannungen, starke, grelle Effekte wird man ja nicht erwarten. Aber alle die Feinheiten, die jene auszeichnen, sind da. Das Zimmer des Wartens, in dem wir am Beginn der Geschichte die Kinder mit einem Onkel so wie in E. T. A. Hofmanns Nußknacker und Mausekönig vor der Bescherung am Weihnachtsabend beisammenfinden, ist ein Symbol des Lebens für den Knaben zunächst, der der Held der Geschichte wird – aber darüber hinaus noch für viele, deren Leben sich in einem ewigen Warten verzehrt. Die harmlose Stimmung des Wartens im „Nußknacker“ verfliegt sofort: Onkel Theodor schlägt vor der verschossenen Tür, die ins Zimmer führt, wo der Christbaum angezündet wird, das tragische Motiv des Romans an: „Wie wäre es, wenn ihr sitzen und warten müßtet?“ Den Knaben ergreift ein Vorgefühl seines Geschickes: er erschrickt tief in sich hinein. Der Dichter zeigt ihn dann aus einigen Stationen seiner Lebenspilgerschaft – es sind zart abgetönte Federzeichnungen mit melancholischen Arabesken. Wir heben drei davon heraus. Der Knabe kommt in eine „Anstalt“, in der wir sofort das Theresianum erkennen, dessen Zögling auch Rittner einmal war. Hier hat also der Roman einen autobiographischen Hintergrund. Wir werden mit dem Leben in einer sogenannten Kamerate bekannt gemacht, mit dem Präfekten, genannt Kamel, der sie beherrscht, mit verschiedenen Zöglingen, von denen fast jeder einen bezeichnenden Spitznamen trägt: mit dem „Zuckerl“, dem „Hampelmann“, dem „Storch“, dem besten Springer Zilgitz, mit einem ewig büffelnden Ungarn, der in das Geplauder der Kameraden über das Leben draußen und seine Verheißungen sein monotones Paradigma wirft: Cado, cadere, cecidi, casum, wir wohnen den Vigilien für Kaiser Karl VI. in der Kapelle bei, wo ein schwarzer Vorhang mit weißem Kreuz dem Knaben ein ähnliches Geheimnis zu bergen scheint wie einst die verschlossene Tür im Zimmer des Wartens. Wir lernen das Glück der Krankenabteilung kennen, in der man nicht zu lernen braucht und ganze Tage ruhen und träumen darf. Auch ein Professor der Mathematik, Silius, tritt auf, der stark porträthafte, aber ins Phantastische gesteigerte Züge trägt. Dem fallen Hefte des Knaben in die Hand, in der dieser, ein frühreifes Dichtertalent, versucht hat, Töne, Gerüche, Gedanken zu beschreiben: „Mensch, wach auf!“ sagt Silius zu dem Knaben. »Hörst du nicht den ersten Hahnenschrei? Das Leben beginnt. Und ich sage dir aus Erfahrung, sobald das Leben begonnen hat, ist es auch bald zu Ende… Du wirst nie den heutigen Tag loben, denn du bist dazu verdammt, stets den gestrigen wiederzukäuen.“ Dies ist das zweite Leitmotiv für das Leben des Helden, für den Roman. Das erste, das Warten auf etwas, das nie kommt, oder wenn es kommt, dort nicht die Erfüllung bringt, die man daran geknüpft hat, nimmt im Theresianum den breitesten Raum ein: die Zöglinge warten immer auf das Ende der Stunde, das Ende des Tages, das Ende der Woche, dos Ende des Jahres, das Ende der Zeit, die sie in der Anstalt zu verbringen haben. Aber immer ist – wenigstens für den Helden – das Erwartete nur ein vorläufiges, das Anlaß zu neuem Warten gibt. Nach der Matura darf der Glückliche nach Venedig und verbringt dort, zum Ärgernis seiner Verwandten, nichtstuend ein ganzes Jahr. Venedig ist übrigens die einzige Station im Leben des Helden, wo nicht bloß gewartet wird, wo er etwas erlebt, sich in ein halbwüchsiges Mädchen verliebt, der er auf Wunsch ihres Vaters, eines Spielwarenfabrikanten, Stunden in Geographie und andern Wissenschaften gibt. Aber nach Wien zurückgekehrt, öffnet sich ein Zimmer des Wartens nach dem andern. Am längsten sitzt er in dem, das man gemeiniglich mit dem Namen „Amt“ oder „Beruf“ bezeichnet, es ist ein Zimmer gegenüber von einer großen Mauer: wenn die Sonne daraus scheint, ist es, „als wenn ein blutarmes Gesicht zu lächeln versuchte“. Das Kapitel, das von diesem Zimmer erzählt, ist betitelt: „Tausend Jahre Zwangsarbeit“ – so // empfindet es der zuerst noch junge, dann allmählich und doch blitzschnell, wie es der Professor Silius vorausgesagt hat, alternde Mann. Ein Kollege, jener Zilgitz aus dem Theresianum, der der beste Springer war, erhängt sich, weil er in die Provinz versetzt werden soll, und als der Held vom Begräbnis wieder in sein Bureau kommt, sagt er zur Mauer: „Du bist immerhin besser als der Tod. Vielleicht fliegst du eines Tages wie ein Vorhang in die Höhe. Und die Freiheit bricht an.“ Ja, der Vorhang fliegt wirklich zuletzt in die Höhe, die Freiheit bricht wirklich an. Aber das ist zugleich die Stunde des Sterbens. Er erlebt sie in demselben Zimmer des Wartens, in dem er als Kind auf die Christbescherung gewartet hat: „Einen Augenblick war es still, dann läutete es aber ganz hell und heiter. Die Tür sprang auf…“
In: Neues Wiener Tagblatt, 9.5.1919, S. 2-3.
Hugo Glaser: Die Kaiserin der Liebe
Hugo Glaser: Die Kaiserin der Liebe (Über A. J. Koenig: Der heilige Palast) (1922)
Der griechische Geschichtschreiber Prokopius von Cäsaren gibt in seinen Memorien ein geradezu erschreckendes Bild von der Lasterhaftigkeit der Kaiserin Theodora, die an der Seite Justinians, des oströmischen Kaisers, in Byzanz herrschte. Die jüngere Geschichtsforschung, die zur Beurteilung dieser Zeit, des sechsten Jahrhunderts, auch andre Quellen kennt als die Erinnerungen eines von Haß erfüllten Geheimschreibers, ist geneigt, den Charakter dieser Kaiserin milder zu beurteilen und von den Übertreibungen Prokops sich loszusagen. Jedoch man begreift, daß sie, deren Laufbahn zweifellos in Zirkustheatern und in jenen Häusern, an denen farbige Laternen die Gäste lockten, Stationen machte, auch nach ihrer Thronbesteigung die Vergangenheit der Hetäre nicht völlig vergessen konnte. Aber historisch beglaubigt ist auch, daß sie nicht nur die zur Augusta erhobene Geliebte Justinians war, sondern auch als Herrscherin auf einem Thron saß, den ihre Klugheit und ihr Mut in schweren Tagen zu stützen verstand. Damals zum Beispiel, als der // berühmte Nika-Aufstand das oströmische Kaisertum zu vernichten drohte, der Kaiser und seine Berater zu verzweifeln schienen und sie, die Kaiserin, die Anordnungen zur Unterdrückung der Revolution klar und zielbewußt, grausam und mutig gab.
Es ist klar, daß in dieser Frau die hervorragendsten Eigenschaften, im Guten und im Bösen, vereinigt sein mußten. Es gab auch andre schöne Mädchen in der Hafengasse, sie aber wurde Kaiserin. Den Roman dieses Lebens künstlerisch zu verwerten, die großen Erlebnisse phantasievoll auszugestalten, hat jetzt eine Wiener Schriftstellerin unternommen (Alma Johanna Koeniggeb. am 18.7.1887 in Prag - ermordet am 1.6.1942 in einem Lager nahe Minsk, vermutlich in Maly Trostinec; Schriftsteller..., Der heilige Palast. Rikola-VerlagGegründet 1920 durch Richard Kola. Dazu grundlegend: Murray G. Hall: Österreichische Verlagsgeschichte. Online verfüg..., Wien 1922). Und um es gleich zu sagen: das Ergebnis ist ein Roman von so spannendem Inhalt, von einer derartigen Farbenglut, von solch glänzenden Schilderungen, daß er den besten Romanen, die die Verfallszeit einer alten Kultur zum Gegenstand wählten, beigezählt werden muß. Künstlerisch werden hier die Sternchen zusammengetragen, aus denen das Mosaikbild besteht, und die die Geschichte nicht bot, werden durch die Phantasie ersetzt, die in alle Kühnheiten der justinianischen Epoche einzudringen vermag. Wo die historische Überlieferung versagt, setzt die Dichtung ein; gibt jene die Wirkungen, so vereint diese die Ursachen, die vielen Ursachen, die aus dem kleinen Zirkusmädchen die große Kaiserin machten, die Kaiserin der Liebe.
Auf der Schwelle des Zirkus Konstantinus fand man das weggelegte Kind mit dem amethystenen Doppelkreuz über dem Hemdchen. Der ganze Zirkus strömte zusammen, um das Kind zu sehen, und man gab ihm den Namen Theodora, da es ja doch ein Geschenk Gottes war. Und dort, wo sie auch ihr Leben empfangen hatte, zwischen Käfigen und Tieren, wuchs sie auf und atmete den Geruch der Löwen und Tiger ein. Sie war noch lange ein Kind, als sie zum erstenmal in die Arena trat und tanzend vor der klatschenden Menge die Schleier zerriß, die ihren kleinen Körper verhüllten. Der Bischof Vigilius, der sie damals sah, sagte es gleich: „Dieser Käfer da wird einmal die größte Dirne von Byzanz.“ Die Zirkusspiele gingen indessen weiter. In Pantomimen, die von den Heroinen der Griechen und von den Mysterien der Bibel die Stoffe nahmen, tanzte sie das Spiel der Liebe und ließ den erblühenden Garten ihres Körpers im Dichte der Arena leuchten. Aber eine Unmut, die sich nie verlor, und ein Stolz ihrer Schönheit, die nicht zu übertreffen war, stellte ihre Leistungen hoch über die der andern Zirkusdirnen. Daran konnte auch Prokop nichts ändern, der sich veranlaßt sah, sicherlich nur über höheren Auftrag, gegen die Verwendung biblischer Motive bei solchen Zirkusdarbietungen einen scharfen Erlaß zu richten. Unterdes war Theodora herangereist, und den Lustgreisen der Kinderjahre folgte die Legion der Liebhaber: Hekebolos, der Kaufmann, der wie ein Sieger aussah, vielleicht der einzige, der von ihr geliebt wurde, Krieger und Sieger, die wie Kaufleute handelten, Matrosen und Sklaven, bis wieder eine neue Welle des Lebens Theodora aus den Niederungen emportrug und sie zur Freundin des Griechen Agathon machte. Ein neues Dasein begann, das Leben einer Hetäre, der nichts versagt wurde. Antonina wird ihre Freundin, die Geliebte des Feldherrn Belisar, und vielleicht wurde auf diesem Wege die Beziehung zu Justinian hergestellt, ihrem späteren Gemahl.
Der junge Kaiser mag auch sonst von der berückend schönen Hetäre gehört haben. In einer Szene, die an dramatischen Effekten nicht zu überbieten ist, schildert Alma Koenig das erste Zusammentreffen Justinians mit Theodora. Er verlangte, was auch die andern Männer begehrten, und sie verlangte von ihm, wie stets von jedem, alles, was er zu geben habe, nur daß es diesmal eine Kaiserkrone war. Und in derselben Nacht erfolgte die Komödie der Trauung, die aus ihr eine Kaiserin machte, „die gottgesandte und unantastbare Kaiserin…“. In dem heiligen Palast, in der fürstlichen Siedlung, die zehntausend Menschen beherbergte, wurde sie nun Herrin. Sie war die geborne Herrscherin, und die neue Rolle fiel ihr nicht schwer. Sie wurde die Beraterin in allen Regierungssachen, sie ließ den Nika-Aufstand unterdrücken, sie pflegte den schwerkranken Kaiser auf das aufopferungsvollste, wußte sie doch, daß sein Sterben auch ihren Tod bedeuten müßte. Groß war die Zahl ihrer Feinde: Prokop, der Geheimschreiber, Narses, der Feldherr, das ganze Volk. Und viele liebten sie. So wie früher. Bloß, daß die Liebhaber kein zweitesmal kamen; der Dolch eines Sklaven sorgte für die Verschwiegenheit der Beschenkten…. Grauenvoll war das Ende dieser Kaiserin. Der Wahnsinn tobte in ihr, und aus den Halluzinationen der vom Irrsinn Gequälten drohte gräßlich der Lerchenkops eines getöteten Liebhabers, des letzten, der im Sterben ihr verkündet hatte, er werde wiederkommen, immer wiederkommen.
In diesem Roman, der so reich an prächtig gezeichneten Nebenfiguren ist, ist der Kaiser an zweite Stelle gerückt. Eiseskälte umgibt ihn, Aszetentum und kühlste Diplomatie macht aus ihm eine Persönlichkeit wie aus einer viel, viel späteren, der Renaissancezeit. Er war aber doch auch etwas mehr als der Gatte der Theodora. In Justinian schätzt man den Begründer des Corpus juris, der Gesetzessammlung, die für viele Jahrhunderte die Grundlage aller Rechtsprechung wurde. Seine Regierung wurde auch bedeutend durch die Zahl der glänzenden Bauten, die er hatte ausführen lassen. In sechs Jahren emsiger Tätigkeit vollendeten zehntausend Arbeiter die Kirche der heiligen Sophia, die jetzt die Hauptmoschee ist. Aber zu der vielfältigen Liebe der Kaiserin stehen diese Taten Justinians in keiner Beziehung, und es ist das Recht des Dichters, die Stoffe der Geschichte frei zu gestalten. Auch die Theodora des Romans ist nicht die Theodora der Geschichte. Die Erinnerungen Prokops beeinflussen ihre Wertung, und wenn Prokop von seiner Kaiserin wirklich so gestraft wurde, wie es in dem Roman der Alma Koenig geschildert wird, dann begreift man den Haß, den der Geschichtsschreiber gegen Theodora hegte und der ihn später veranlaßt, ihr in seinen Denkwürdigkeiten das Zeugnis abzugeben, daß sie an Sittenlosigkeit nicht mehr zu übertreffen war. Aber es handelt sich, wie bei allen Romanen, die man als historische oder als kulturgeschichtliche wertet, auch hier nicht darum, die Grenzen zwischen geschichtlicher Ueberlieferung und phantasievoller Ergänzung zu ziehen. Interessanter wäre die Frage, warum in Romanen aus der Römerzeit immer wieder nur die Epoche des Niederganges geschildert wird, die Zeit, in der die Fäulnis des Reiches, des Westens wie des Ostens, Zustände schuf, aus deren Sumpf eine Theodora eigentlich doch nur als großartige Blüte hervorwachsen konnte. Aber die ganze vorchristliche Zeit römischen Heldentums mit ihren so großen Menschen und bedeutsamen Taten hat zuweilen Tragödiendichtern, nie aber zu einem großen Werk einem Romanschriftsteller Interesse geboten. Vielleicht hängt dies mit den Neigungen der Dichter zusammen — oder noch mehr mit denen jener, die ihre Bücher lesen.
In: Neues Wiener Tagblatt, 24.5.1922, S. 2-3.
Ernst Fischer: Ein Mann ohne Eigenschaften. Ein Roman von Robert Musil
Ernst Fischer: Ein Mann ohne Eigenschaften. Ein Roman von Robert Musil (1930)
Endlich einmal, in dem Tumult der nur-aktuellen, nur-lärmenden, nur-marktgängigen Bücher, ertönt die große Symphonie eines Romans, von dem Manne gedichtet, der den Mut hat, nicht für Analphabeten und andere Liebhaber von Kurzgeschichten, Magazinen und „Tempo-Tempo!“- Reportagen, sondern für intelligente Leser zu schreiben. Das ist allerhand; denn von hundert Schriftstellern verzichten neunundneunzig auf diese schwierigen und unerquicklichen Leser, die sich bei den sozusagen effektvollsten Büchern langweilen, die bei den sozusagen spannendsten Fabrikaten der Literatur kaum ein Gähnen unterdrücken können und bereit wären, die wildeste Handlung von zweihundert Seiten für eine halbe Seite Geist und Gescheitheit herzugeben. Hier aber ist das Erstaunliche geschehen: der Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musilgeb. am 6.11.1880 in Klagenfurt – gest. am 15.4.1942 in Genf; Schriftsteller, Essayist, Wissenschaftler, Theaterkritik... ist mehr als tausend Seiten lang (den Leser, der auf das „Tempo der Zeit“ eingeschworen ist, wird das nicht wenig abstoßen), und tausend Seiten lang atmet man die helle, hohe Luft von Geist und Gescheitheit. […]
Der Kollektivroman.
Robert Musil hat eine neue Form des Romans gefunden; das Suchen nach dieser neuen Form hat begonnen, als die Menschen, die Bücher schreiben, erstaunt und beunruhigt entdeckten, daß in diesem Jahrhundert völlig anders gelebt wird, als in den besten Büchern der besten Autoren. Musil drückt das, nebenbei, präziser aus, als es bisher üblich war: „Es ist die einfache Reihenfolge, die Abbildung der überwältigenden Mannigfaltigkeit des Lebens in einer eindimensionalen, wie ein Mathematiker sagen würde, was uns beruhigt; die Aufreihung alles dessen, was in Raum und Zeit geschehen ist, auf einen Faden, eben jenen berühmten „Faden der Erzählung“, aus dem nun also auch der Lebensfaden besteht… Die meisten Menschen… lieben das ordentliche Nacheinander von Tatsachen, weil es einer Notwendigkeit gleichsieht, und fühlen sich durch den Eindruck, daß ihr Leben einen „Lauf“ habe, irgendwie im Chaos geborgen. Und Ulrich bemerkte nun, daß ihm dieses primitiv Epische abhanden gekommen sei, woran das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem „Faden“ mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet.“ Man könnte, mit einem etwas verschwommenen Wort, sagen, daß unser Leben ein „Kollektiv“ ist; und dieses Kollektivleben, dieses Ineinanderfluten und Auseinanderdrängen der ganzen Welt in jedem Einzelwesen, den Wirbel von Geschichte, Gesellschaft, Atmosphäre, Zweckhaftigkeit, Zwecklosigkeit, Illusion, Zufall, Gestirn und Bazillus unter der Haut der Persönlichkeit darzustellen, ist das leidenschaftliche Bemühen aller Schriftsteller, die dem Geiste und nicht dem Büchermarkt dienen. Der „Ulysses“ des James Joyce, „Manhattan Transfer“ von Dos Pas[s]os, der „Alexanderplatz“ von Alfred Döblin und nun der „Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil sind die Bücher, in denen diese durchaus neue Methode der Lebensdarstellung kompromißlos angewendet wird.
Oesterreich-Ungarn.
Wie im „Alexanderplatz“ das ungeheure Lebewesen Berlin, ist in Musils Roman das geisterhafte Monstrum Österreich-Ungarn das Kollektiv, in dem die Menschen kreisen wie Himmelskörper in einem Sonnensystem, wie Ionen in einem Molekül. Nie zuvor wurde dieses geisterhafte Monstrum, die mythische Monarchie, so traumhaft-wirklich, so gespenstisch-real heraufbeschworen, kein Historiker, kein Satiriker hat ihr innerstes Wesen mit solcher Intensität durchleuchtet. Ja, durchleuchtet: es ist eine Röntgenaufnahme, exakt und dennoch wolkenhaft zart, das Fleisch wie lockerer Schaum, die Knochen wie magische Schatten, die phantastische Sachlichkeit einer Röntgenphotographie. „Die Tage schaukelten und bildeten Wochen. Die Wochen bleiben nicht stehen, sondern verkränzten sich. Und wenn unaufhörlich etwas geschieht, hat man den Eindruck, daß man etwas Reales bewirkt… Stelle Eins schrieb, Stelle Zwei antwortete; wenn Stelle Zwei geantwortet hatte, mußte man Stelle Eins davon Mitteilung machen, und am besten war es, man regte eine mündliche Aussprache an; wenn Stelle Eins und Zwei sich geeinigt haten, wurde festgestellt, daß nichts veranlaßt werden könne; es gab unaufhörlich etwas zu tun. Es gab außerdem unzählig viele Nebenrücksichten zu beachten. Man arbeitete ja mit allen verschiedenen Ministerien Hand in Hand; man wollte die Kirche nicht verletzen; man mußte gewissen Personen und gesellschaftlichen Beziehungen Rechnung tragen; mit einem Wort, auch an Tagen, wo man nichts Besonderes tat, durfte man so vieles nichts tun, daß man den Eindruck großer Tätigkeit hatte.“ Wurde je das Wesen der Habsburgermonarchie, das legendäre „Oesterreichertum“, in eine bessere Formel gebracht?
„Etwas muß gescheh’n!“
Folgendes „geschieht“ in dem Roman: Im Jahre 1913 erfährt man in Österreich, daß Deutschland im Jahre 1918 das dreißigjährige Regierungsjubiläum Wilhelm II. großartig feiern will. Was soll man da tun, erstens, um zu zeigen, daß Österreich ebenfalls da ist, und zweitens, um die Preußen zu ärgern? Also, man beschließt, eine Parallelaktion vorzubereiten, das siebzigjährige Regierungsjubiläum Kaiser Franz Josef I. soll noch großartiger gefeiert werden. Aber wie? Dem Grafen Leinsdorf, dem Anreger der Aktion, fällt nichts Konkretes ein. Jedenfalls soll es eine „glanzvolle Lebenskundgebung Österreichs“ werden, ein „Markstein“ auf dem Wege zu einem „Ehrenplatz in der Familie der Völker“, und das alles mit dem Besitz eines achtundachzigjährigen „Friedenskaiser“ verknüpft. Das schwebt dem Grafen vor; alles andere ist Aufgabe eines Komitees, das sich in viele Komitees teilt, aus denen wieder ein Zentralkomitee gewählt wird usw. Das funktioniert fabelhaft; nur eine Idee fehlt. Künstler und Wissenschaftler, Beamte und Organisationen werden befragt, tausend Ideen tauchen auf, nur die eine Idee fehlt nach wie vor. Irgendetwas Pazifistisches wäre gut, das paßt zum „Friedenskaiser“, zur „Familie der Völker“ usw., man könnte eine Friedenskonferenz oder eine Spende für den Friedenspalast in Haag…, aber auch dagegen werden Bedenken laut, und auf eine behutsame Anfrage erwidert Seine Majestät mit delphischer Weisheit: „I laß mi net vordrängen!“ So durfte man vieles, nein alles, nicht tut; neue Ideen, neue Widersprüche, achselzuckend lächelt das Österreichertum: „Man kann die Forderungen der Kaiser-Franz-Josef-Jubiläum-Suppenanstalt oder die des Schutzverbandes der Hauskatzenbesitzer verwirklichen, aber gute Gedanken kann man so wenig verwirklichen wie Musik! Was das bedeutet? Ich weiß es nicht. Aber es ist so.“ Es ist so. Immerhin: Die Tatsache, daß ein Komitee in Österreich etwas für das Jahr 1918 vorbereitet, erregt überall Aufsehen. Die Außenministerien ziehen Erkundigungen ein. Die Diplomaten haben zu tun. Die Slawen wittern etwas Deutschfreundliches, die Deutschen etwas Antideutsches, Demonstrationen und Gegendemonstrationen werden veranstaltet, alles in allem: „Ulrich erinnerte sich einer ähnlichen Erfahrung aus seiner Militärzeit: Die Eskadron reitet in Zweierreihen und man läßt ‚Befehl weitersagen‘ üben, wobei ein leise gesprochener Befehl von Mann zu Mann weitergegeben wird; befiehlt man nun vorn: ‚Der Wachtmeister soll voranreiten‘, so kommt hinten heraus: ‚Acht Reiter sollen sofort erschossen werden‘ oder so ähnlich. Auf die gleiche Weise entsteht auch Weltgeschichte.“ Schließlich kommt das Jahr 1914. Man weiß noch immer nicht, was 1918 geschehen soll. Aus einer pazifistischen Kundgebung wird wohl nichts werden. Aber General Stumm v. Bordwehr, der in das Komitee hineingeraten ist, niemand weiß genau, wie, hat einen guten Einfall: Wenn man schon keine Weltfriedenskonferenz einberuft, könnte man wenigstens die Armee und die Flotte aufrüsten; das wäre ja auch etwas. Der Roman endet ohne Ergebnis. „Etwas muß gescheh’n!“, davon sind alle überzeugt. Aber was? Das weiß keiner, 1914. Im September wußten es alle. Das liegt wie ein Riesenschatten über dem ganzen Roman. Riesenschatten der Ironie und des Untergangs.
Unser Leben – Ein Experiment.
Ja, dieser Roman, in dem auf tausend Seiten nichts und zwischen den Zeilen Phantastisches geschieht, ist viel mehr als der Roman der untergehenden Monarchie. Dieser „Mann ohne Eigenschaften“ ist der denkende, kalt-leidenschaftliche, skeptisch-abenteuerliche, unruhig-passive Mensch einer unterminierten, von rationalisiertem Wahnwitz durchfieberten, von exaktem Aberglauben durchflackerten Welt. Der Mensch im Höllenbetrieb einer Wirklichkeit, die wahrzunehmen und wahrzuglauben schwieriger ist, als die Zukunft der Menschheit aus den Sternen wahrzusagen. Der Mensch, der „die Wirklichkeit abschaffen“ und sie durch Ideen ersetzen will, der Mensch, der sich selber durchsichtig und sich selber unglaubwürdig geworden ist, der Mensch „ohne Eigenschaften“, weil die sogenannten Eigenschaften Rückstände der Vergangenheit sind, sonst nichts, leere Hülsen, entkernte Schalen, Schlagworte, Redensarten, weil unterirdische etwas völlig Neues, etwas Namenloses und Überwältigendes beginnt, weil wir nicht mehr fühlen, was wir zu fühlen meinen, weil wir keinen Kontakt mit unserem eigenen Ich haben, aber tausend rätselhafte Kontakte mit allem, was um uns vorgeht. „Etwas muß geschehen!“, das jagt die Menschen in diesem Roman von Leben zu Leben, das jagt sie Zielen zu, die verhüllt sind, das läßt sie alles als provisorisch, als Experiment, als Laboratoriumsversuch betrachten. „Etwas muß geschehen!“ Es ist als bröckle das „Ich“, der Mörtel der Eigenschaften, der Kalk der Vorurteile, die Stukkatur der Konventionen, von uns ab und unser Unterirdisches, bisher unausgesprochen und unausprechlich, taucht nackt und kraß ans Licht. „Etwas muß geschehen!“ Die alte Ordnung ist nur mehr eine dünne Kruste von Staub, Spinnweb, Erinnerung, die neue Ordnung besteht noch nicht, unser Leben ist ein Experiment. Unsere große Leidenschaft ist die Neugier, die Gier nach dem Neuen. Unsere große Tugend ist die Tapferkeit der Erkenntnis. Unsere große Sehnsucht ist die Synthes aller Widersprüche zu einer klaren, präzisen und ordnenden Idee.
Das alles auf tausend Seiten in einzigartiger Vollkommenheit der Sprache und des Gedankens gesagt, kann nicht auszugsweise wiedergegeben werden. Man muß dieses Buch lesen und wieder lesen; bisher gibt es kaum ein zweites, das unser geistiges Schicksal, das den Aufbruch unseres Lebens ins Unbekannte mit ähnlicher Größe und Leuchtkraft erzählt.
In: Arbeiter-Zeitung, 9.12.1930, S. 8.