Jakob Wassermann: Auflösung der Form

Wenn die Literatur ein Zeiger ist, der die geistig-seelische Verfassung einer Epoche meldet, so gibt sie den europäischen Völkern heute Signale, deren Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt. Es hat den Anschein als sei man der Geschlossenheit aller gültig gewesenen Formen überdrüssig geworden; man will sich nicht mehr an Gesetze binden, die man für veraltet hält, und anerkennt weder ein Metier, noch glaubt man an seine Erlernbarkeit ; man tritt fertig auf den Plan, mit zwanzig Jahren schon, und prätendiert, daß alles, was man macht, auch fertig sei. Es gibt unter jungen Autoren und Kritikern ein bequemes Schlagwort, das immer kräftiger zu lesen ist: es heißt bürgerlich und wird selten anders als in abschätziger Bedeutung angewendet. Aber es macht mich heimlich lachen, weil ich sehe, daß das sogenannte Bürgerliche bei allen Umkehrungen und Umstürzen am Ende obenauf bleibt wie die Ölschicht in einer Flasche mit Wasser. Außerdem kann ich nicht ganz vergessen, welche Galerie unsterblicher Werke diese bürgerliche Welt aufzuweisen hat, überflüssig, sie herzuzählen. Die Jugend erklärt aber, sie wolle sich diese Bevormundung durch Meisterwerke nicht mehr gefallen lassen, sie habe es nicht nötig, sie wünsche sich davon zu befreien, sie statuiere weder Meister noch Geselle noch Lehrling, jeder hab sich nach seiner Erfahrung, seiner Erkenntnis und dem Zustand seines Herzens zu äußern und gemäß den ihm innewohnenden Kräften zu behaupten. Was aber darnach zutage tritt, ist kläglich und hat so wenig Leben und Dauer in sich, daß die Offenbarungen von gestern immer schon die Makulatur von morgen sind. Sonderbare Verschwendung an Glut und Gut und Wille. Kein Zweifel, daß jede Übergangsepoche solche Stimmen kenn, ein- bis zweimal in jedem Jahrhundert kommt es dazu, daß selbst die konservativen Geister eine skeptische Bilanz der Zeit ziehen, warum sollten da die rebellischen nicht ihre Autodafés veranstalten ; die Menschheit hat einen großen Verbrauch in ihrer Wirtschaft, die zunehmende Verdichtung der Gesellschaftsgruppen bedingt eine Vermehrung der Abfallprodukte, mit derselben Regelmäßigkeit und Notwendigkeit wie die Städte verrottetes Eisen, Asche, Lumpen und schmutziges Papier ausscheiden, Ergebnis ihres gewaltigen Verdauungsprozesses, entledigen sich Nationen und Berufsklassen der Ideen, die ihnen gedient haben, der Werke, die in ihrer Mitte entstanden sind und deren sie von einem Tag zum andern nicht mehr bedürfen.

Aber das Tempo dieser Verdauung wird allmählich etwas zu stürmisch, und man fragt sich, ob dabei die Blutgefäße noch Säfte verarbeiten und der Magen noch einigermaßen funktioniert. So viel Absonderung fordert sehr viel Speise; daran mangelt es ja nicht; während noch vor fünfzig, vor dreißig Jahren der geistige Konsum auf bevorzugte Klassen und vorgebildete Schichten beschränkt war, gibt es solche Scheidungen heute kaum mehr, alle verzehren alles, aber die Flüchtigkeit der Aufnahme ist beinahe so groß wie die Mittelmäßigkeit des Aufgenommenen und die Vergeßlichkeit der Aufnehmenden. Dies ist keine Jeremiade, sondern Feststellung; es ziemt auch keinem einzelnen, sich darüber in Klagen zu ergehen, da er auf seine Weise teil hat an der Bewegung des Ganzen, und wenn er seine Kräfte zu fruchtlosem Wiederstand verwendet statt zur Bewältigung und Hilfe, wird er mitzermalmt und selber zum Kehricht geworfen. Wir stehen vor einer ungeheuren Veränderung des gesamten sozialen Organismus, und ob der Prozeß, der vor hundertvierzig Jahren begonnen hat, bereits zu seinem Höhepunkt gediehen ist, wage ich nicht zu sagen; die doppelt so lange Ära des Humanismus hat dem Gesichte Europas die Züge verliehen, durch die es dreimal vorher schon, in der Antike, im römischen Kaiserreich und in der Renaissance, sein individuelles Gepräge erhielt: nun ist es alt geworden und sein Träger tritt den in der Geschichte ewig wiederholten Gang zum Jungbrunnen an. Amerika war stets nur Abbild und Widerspiel dieser Kultur; anfänglich schien alles ein Zufallswesen und innere Verarmung, was dort in kolonialer Abhängigkeit von den Mutterländern geschah, plötzlich hat sich erwiesen und wird mehr und mehr zur historischen Tatsache, daß die zersprengten Teile wie ein einem Völkerglühofen zu neuer Einheit, neuer Gesellschaft und neuen Gesellschaftsidealen mit neuen Staatsgedanken zusammengeschmolzen sind, denn ich glaube, alles bei uns landläufige Urteil über Amerika ist Vorurteil, Unkenntnis und alexandrinischer Hochmut. Die östliche Welt aber war bis vor kurzem nur von esoterischen Plänklern und kühnen Geographen in unseren Gefühls- und Wissenskreis einbezogen worden. Asien, das schlummernde Rätsel, für ahnungsvolle Geister ein halb lockender, halb beunruhigender Traum, Rußland das große dunkle Tor, aus dem verführerische und prophetische Stimmen herüberdrangen und hinter dem visionär-verschwörerisch die ersten Versuche gemacht wurden, den ehrwürdigen Bau der christlich-germanischen Weltordnung in die Luft zu sprengen.

Indessen ist alles in Fluß geraten, wie wenn ein riesiger Zauberer im Weltraum den Planeten mit seinem Stab angerührt hätte; sogar der Kontinent, der durch Jahrtausende nie den Charakter als Appendix herrschender Kulturen und Imperien verloren hatte, Afrika sogar zeigt sich von eigenstrebenden Kräften belebt und steht auf und weist unbezahlte Schuldenrechnungen vor, die eines Tages eingelöst werden müssen, ob friedlich oder mit Blut, das wird ein Teil unseres Schicksals und ein besonderes Buch der Geschichte sein. Es ist kein Anlaß, zu erschrecken, es geht um anderes als um dein und mein Glück, wir sind nicht dazu geboren, um wie Kinder unterm Weihnachtsbaum jährlich eine Portion Versprechungen und Hoffnungen von der Weltregierung einzustreichen, damit wir uns dann arglos daran ergötzen können, es handelt sich um Verantwortlichkeit. In einer Gemeinschaft, deren Vitalität und geistige Zielgebung vornehmlich darin besteht, daß Formen zerstört werden, die nicht zurücklassen als Zersetzungsstoffe, das heißt Gärungs- , da heißt Aufruhrkeime, wo also unverhehlter Raubbau an allem überlieferten Besitz getrieben wird, verringert sich die Verantwortlichkeit in demselben Maße, in dem der lebendige Vorrat an geistigen, seelischen, religiösen Gütern zum Petrefakt wird, ein Zusammenhang, der zu jeder Stunde, durch jedes Geschehnis im öffentlichen wie im privaten Leben beweißbar ist, von den Gewaltmethoden der politischen Parteien bis zur Veräußerlichung und Verwahrlosung der Handwerke und Künste. Eine Sache können heißt, sich mit Freiheit der Formen bedienen, durch die sie zur Wirkung oder zur Erscheinung gelangt. Nicht anders ist es im Moralischen; wenn der  handelnde Mensch sich der Formen entschlägt, die die Arbeitsfrucht von Generationen sind, und zugleich ohne daß er es merkt, die Grenzen seiner Persönlichkeit ausmachen, wird sein Tun und sein Werk ursach- und folgenlos und steht unheimlich leer im Raum. Das ist das Tragische an so vielen Existenzen heute, das Leerstehen im Raum. Zu frühe Freiheit, zu frühe Befreiung, zu früher Verzicht auf Bindung, daher die Isolation, die so nah der Verzweiflung und dem Sturz ist. Inneres Gesetz wächst wie die Pflanze, kann nicht nach Willkür und Bedünken gezeugt oder gezüchtet werden; je tiefer die Wurzeln ins Erdreich gehen, je höher reckt sich der Gipfel, je mehr Vorleben einer in den Geschlechtern hat, je mehr Selbstleben hat er, je mehr Nachleben, es sei denn, Kern und Säfte seien erkrankt. Zu frühe Freiheit, das ist es; verbrauchte Form fällt von selber ab, doch dann ist die neue auch schon da : wie der Baum seine Ringe, die Natur ihre Gezeiten, so hat der Geist seine Erneuerungen und das Leben der Nationen seine auf- und niedersteigenden Perioden. Niemand kann aus eigener Machtvollkommenheit organisches Werden veranlassen, alles Dasein beginnt und endigt im Geheimnis und besteht durch die geschaffene Form.

Woher rührt eigentlich das rebellische Verlangen nach Lösung und Frucht von Formen, das vor keiner Errungenschaft mehrt Halt machen will, auch vor dem geheiligtesten Bestand nicht? Sind so viele eben dieses Bestandes müde geworden? Müde von dem, was man das Hergebrachte nennt (eine Bezeichnung mit einem wunderlichen Beigeschmack von Trägheit und Fäulnis), dieses großen Reservoirs von Bräuchen, Sitten, Moden, Regeln, Schulen, Zeremonien, Verträgen und Gesetzen, das den ungeduldigen Enttäuschen zu getrübt erscheint, als daß sie es noch länger der Verwaltung eines kraftlosen Regimes anvertrauen möchten? Müde der Kluft zwischen Wissen und Handeln, müde der vergeblichen Erfahrungen, der Institutionen und der Verheißungen? Müde der Juristenjustiz, der Künstlerkunst, der Priester- oder Kirchenreligionen, der Geschichtslügen und der Gesellschaftslügen? Unsicherheit ist das Gefühl, von dem sie am stärksten ergriffen sind, Zeit-, Welt- und Lebensunsicherheit. Das eigene Tun, der eigene Wert, der eigene Charakter sogar hat in ihren Augen keine Konsistenz und keine Kontinuität mehr. Ich verstehe es gut. Lichtenberg schreibt einmal: „Ich kann nicht sagen, ob es besser wird, wenn es anders wird, aber so viel kann ich sagen, es muß anders werden, wenn es besser werden soll.“ Das ist wohl die herrschende Meinung bei allen heute, die von einer Aufgabe und Idee getrieben werden, freilich auch bei denen, die nichts im Sinn haben als Ruinen hinter sich zu lassen. Lichtenberg konnte sich so einen Ausspruch leisten, denn in ihm war so viel vom Empörer wie vom Reaktionär, und nur durch die Resultante aus diesen beiden Kräften wird die Welt in Gang erhalten. Es ist kein Unglück, wenn das Ab- und Ausgelebte beiseite geworfen wird, wohl aber ist es eins, wenn die Kärrner den Königen ins Handwerk pfuschen, die Kühe, die Milch geben sollen, den Melkern den Bauch aufschlitzen und die Maschine ihren Erfinder und Erbauer zum Sklaven macht. Und ein weit größeres, wenn die aus dem Chaos sich lösende neue Form keine Spiegelung, kein Gleichnis mehr in den Menschen hat, die durch Verzerrungen geängstet und durch Ausschweifungen des Auges und der Phantasie entnervt, nicht mehr sehen was sie sehen und nicht mehr hören was sie hören. So ekel die Phraseologie der trägen Beharrung ist, so gefährlich und giftig ist die der Bilderstürmerei. Man muß die Form begreifen als ein Ausbruch der Gottheit, als das Symbol des in sich geschlossenen Ringes, der den einzigen Schutz darstellt gegen das Grauen der Ewigkeit und die auf allen Seiten hereinragende Finsternis des Todes. Anders zu leben ist unmöglich.

In: Neue Freie Presse, 1.1.1926, S. 1-3.

Paul Wertheimer: Georg Kaisers „Gas“

(Erstaufführung des ersten und zweiten Teils an einem Abend im Raimund-Theater)

Das Raimund-Theater hat den von Georg Kaiser selbst gebilligten Versuch unternommen, die beiden Teile des sozial-revolutionären Dramas „Gas“ zu einem Abend zusammenzuschließen, zu ballen wie man in der Expressionistensprache sagen müßte. Auf der Bühne rasen die Explosionen, die äußeren und die inneren, stürmen in überhitzt glühender Atmosphäre fieberhaft erregte Menschen durch sieben Akte gegeneinander, gegen jede Gewaltherrschaft, auch gegen die der Natur – beklommen, angeregt und erregt, menschlich und künstlerisch zweifelnd und zuletzt widersprechend, sieht man vor diesem Getöße, ohne darum die dramatische Stoßkraft vieler dieser Szenen und die Bedeutung des ganzen Werkes zu verkennen, die Bedeutung eines wichtigen künstlerischen Zeitsymptoms.

Ein Werk, nicht wie „Die Weber“, oder selbst noch Tollers „Die Maschinenstürmer“, geboren aus Strömen der Gestaltenfülle oder aus mitleidigem Weltverstehen, vielmehr, selbst chaotisch-ideologisch, kraft- und willensbewußt, aus dem Chaos einer gärenden Zeit. Ein Werk, das sich eine über alle klaren Theatermöglichkeiten hinausgreifende Doppelaufgabe gesetzt hat; die soziale Revolution soll mit den Errungenschaften der künstlerischen auf dem Theater aufgezeigt, ja, das soziale Problem soll mit dem künstlerischen zugleich in einem mehr gedachten, als geformten Werk gelöst werden. Ein Versuch, unternommen mit den Mitteln einer großen Begabung, als die wir Georg Kaisers schätzen – er ist doch wesentlich anders als seine Mitläufer im Expressionistischen und bei allem Kalt-gedanklichen seiner Art doch nicht bloß ein „Hirnhund“, wie sich seine Genossen selbst verzweifelnd nennen. Gestützt wird dieser Versuch durch einen scharf intellektuellen, zu jedem kühnsten Experiment aufgelegten und dabei praktisch bühnenkundigen Regisseur, wie es Dr. Rudolf Beer ist. Dennoch konnte ein solches Wagnis nicht zur Gänze gelingen, weil abstrakte Gebilde, seien sie noch so mutig gedacht, auf dem Theater trotz aller explosiven Heftigkeit uns nie innerlich aufwühlen, weil sie doch nur wie gewalttätige Schemen an uns vorüberziehen.

Man erinnert sich aus der Darstellung des ersten, stärksten Teiles dieses Dramas im Deutschen Volkstheater an die Umrisse des Geschehens. Umrisse, die wie aus einem feurigen Gedankennebel auftauchen. Georg Kaiser hat den „Milliardärssohn“, dessen Geschicke im ersten Teil seines Schauspiels „Gas“ gezeigt werden, aus seiner Tragödie „Die Koralle“ übernommen. Dort sieht man den zu ungeheurem Reichtum hinaufgeklommenen Emporkömmling. Dessen Sproß  ist eben jener Milliardärssohn mit dem sozialen Gewissen. Er ist Herr über einen Riesenbetrieb, in dem er sich selbst nur als Arbeiter betrachtet. Der Gewinn wird gleicherweise verteilt, ohne daß darum die Anklagen, Leidenschaften, Wünsche rings zur Ruhe gebracht werden.  Da ereignet sich während des Hochzeitsfestes seiner Tochter mit einem Offizier die Katastrophe, jene Explosion im Gaswerke. Wer ist daran schuld? Der Ingenieur, dessen mathematische Formel ohne Zweifel richtig gewesen ist? Irgend ein Zufall? Nein, die Natur selbst, nicht immer durch eine Formel zu binden, hat gegen ihre Versklavung aufbegehrt, wie es diese Menge gegen den Erfinder der Formel, den Ingenieur, unternimmt. Der Milliardärssohn deckt seinen Helfer vor den Ausbrüchen der Waffe. Ihm, diesem unbeirrbaren, wenig klaren Ideologen, ist nun ein anderer Plan aus der Schule Tolstois oder Henry Georges gekommen: die Arbeiter sollen Bauern werden. Doch jener Ingenieur reißt die Menge durch seine hymnischen Lobpreisungen der Arbeit mit; sie helfen das Werk wieder bauen. Inzwischen ist der Krieg aufgeflammt, der Staat verlangt das Werk für sich: der Milliardärssohn sieht solcherart auch seinen Beglückungsplan zerstört, er bricht in dem Augenblick zusammen, da die Tochter heimgekehrt ist. Ihr Gatte, der Offizier, hat sich wegen schimpflicher Schulden erschossen, ein letzter Traum lockt und narrt den phantastischen Unternehmer: das Kind, das die Tochter im Schoße trägt, soll der neue Menschenheiland werden….

Dieses Kind, zum Mann herangewachsen, steht im zweiten Teil des Dramas „Gas“ im Mittelpunkt der ungewissen Ereignisse. Jener Krieg, dessen blutige Schatten Kaiser in den ersten Teil seines Werkes warf, ist in dem zweiten noch nicht zu Ende. Der staatliche Betrieb, dem das Gaswerk jetzt untergeordnet wurde, bringt nur Enttäuschungen hervor. Georg Kaiser ist doch zu sehr Dichter und darum Individualist, um das sozialistische Programm vorbehaltlos anzuerkennen. Er zeigt oder deutet viel mehr nur skizzenhaft an, wie sich auch hier sehr rasch Uneinigkeiten und Streits entwickeln. Der Milliardärarbeiter, Enkel jenes ersten Besitzers, wird Führer der Waffe, in Weltbrüderschaft will er sich mit dem bisherigen Feind zu einem Menschheitsbund vereinen. Aber der Feind selbst besetzt das Werk und bestellt den Großingenieur, der es bisher geleitet hat, zum Bürgen für die Kriegsschuld. Als Frondienst wird die Arbeit nunmehr unter ehernem Kriegsgebot – Arbeit noch dazu den Feind – betrieben. Kaiser ist auch hier Dichter und Individualist genug, um das nationale Element gegenüber der sozialistischen These nicht zu verkennen. Neuer Unfrieden, neuer Haß, neue Debatten und, wie sein Großvater der Milliardärssohn, steht jetzt dessen Enkel, der Milliardärarbeiter, zwischen der Waffe, und rät, eine Giftgasbombe, die der Großingenieur konstruierte, gegen die feindliche Besetzung zu schleudern und so die hier Eingeschlossenen und, symbolisch, die Welt zu befreien. Aber sein Ruf bleibt ohne Widerhall. Nun greift er selbst nach der Bombe und schleudert sie gegen sich. In Dampf und Feuer lodert das Werk: der Tod schreitet über der vernichteten Welt….

Diesem zweiten, ganz gedankenhaften Teil, sind nicht mehr die erregenden Kräfte des ersten eigen. Was hier geschieht, sind nur Gedankenkämpfe, Debatten, die trotz der hitzigen Explosionsatmosphäre nur doktrinär ausgefochten werden. Und künstlerisch-doktrinär erweist sich hier die expressionistische Technik, die anfangs mit ihrem Telegrammstil, den stoßweisen Worten, den in hitzigen Ekstasen aufgetürmten Bildern steckt. Aber eine Ermüdung des Interesses tritt bald, zumal in dem zweiten Teile, in jeder Weise ein. Auf dem Theater, modern oder nicht, mit jeden „Ismus“ oder davon befreit, wie wir für die Zukunft erhoffen, immer gibt es hier nur ein Gesetz: alles ist erlaubt, wenn es sich nicht wiederholt. Aber hier wiederholt sich alles: die Debatten, in das Endlose geführt, das Nebulose der Weltbeglückungspläne, die Atmosphäre bleibt die gleiche. Hier steht alles, so heftig auch die Worte prasseln, dramatisch still, und selbst die Detonation zum Schluß erschüttert oder entsetzt nicht mehr, weil sie ja nur Wiederholung ist, benutzte Wiederholung diesmal. Wie anders hat sie einmal bei Björnson in „Ueber unsere Kraft“ gewirkt, wo man grauenhaft ihr Herannahen fühlte. Wie selbst noch in diesen ersten Szenen dieses Schauspiels „Gas“, in dem zuletzt Schemen statt Menschen durch Dampf und Rauch und Gedankennebel irren. So ist das Spiel, die Waffe dramatisch zu packen, trotz redefrohen Antagonisten nicht erreicht.

Dennoch bleibt dieser ersten Wiener Aufführung der beiden Teile des Kaiserschen „Gas“ der Eindruck eines Ereignisses von einer gewissen theatergeschichtlichen Wichtigkeit. Dieses Schauspiel bedeutet den Gipfelpunkt einer ganzen Richtung, einen Gipfel, der bereits zum Abstieg führt. Heute ist, wie jeder praktische Theatermann weiß, der Expressionismus, dieser Schrei des Theaters von morgen, bereits eine Formel von gestern geworden. Nur das Dichterische auch an den Werken dieser Epoche hat Bestand. Aus einem Werk wie „Gas“, so stark man auch daraus die nervös zuckende Faust eines Dramatikers – eines Dramatikers von preußischem Zuschnitt trotz der Revolutionsgeste – spürt, erwächst doch nur die Sehnsucht nach Menschen und ihren Schicksalen, nicht nach Schemen und explodierenden Ideen. Aus diesem Nebelland geballter Zeitgedanken wird auch Georg Kaiser den Weg in das Menschenland, mit dem er vielverheißend begonnen, zurückfinden. Er hat ihn bereits in Werken, die „Gas“ nachfolgten, gefunden.

Regie und Darstellung sahen sich hier vor einer nicht geringen Aufgabe. Das unheimliche Tempo mußte bewahrt und dabei der Eindruck der Gehetztheit vermieden werden. Er ist im zweiten Teil, der dadurch ungewollt zu einer leichten künstlerischen Persiflage des ersten wurde, nicht ganz, trotz Dr. Beers wieder höchst kluger Führung, vermieden worden. Die Darstellung hatte die eine Aufgabe, sich auf Stil, den expressionistischen Stil, zu stellen. Der Eindruck des linienhaft Typischen, nicht das Individuell-Menschliche, mußte im Gesamtbilde dieses Abends festgehalten werden – man sieht, daß diese auf Schrei und seelische und Wortexplosion gestellte expressionistische Kunst auch den Schauspieler typisieren und um sein Eigentümlichstes, das persönliche Gestalten, bringen muß. Hans Ziegler, Rudolf Zeife, Richard Duschinsky, Hermann Wail, Louis Böhm, Grete Witzmann, Lilly Karoly, Lina Loos, Karl Ehmann, Heinrich Schnitzler, Friedrich Rosenthal, Wolf B. Kersten, Eduard Loibner, Rosa Fasser, Alfred Neugebauer,  und Karl Skraup wußten stilecht zu typisieren und fast, immer verständlich, „gebrüllt“ zu sprechen. Der Heftigkeit der Wirkungen entsprach die Heftigkeit des Erfolges. Die Beifallsdetonationen begannen auf der Galerie und setzten sich, freilich zuletzt sehr wesentlich abgeschwächt, nach unten fort.

In: Neue Freie Presse, 9.3.1924, S. 14f.

Helene Tuschak: Die neue Frau.

Nicht durch die Fortentwicklung der Kultur, vielmehr durch den grausamen Rückschlag des Krieges ist die Frau dorthin gelangt, wo sie sein wollte: zur Selbstständigkeit. Man weiß es längst, daß ihr künftig alle Berufe offen stehen werden. Sie wird auch Juristin, Ingenieurin und Handwerkerin sein, sie wird wählen und gewählt werden, man wird ihre Stimme in der Volksvertretung hören – das ist alles nur mehr eine Frage der Zeit, deren geschlossener Weibestypus jedenfalls die intellektuelle, die vergeistigte Frau darstellt.

            In ihrer Vollendung liegt aber schon die Ueberwindung. Man blickt dieser kaum fertig gewordenen Frau in die ernsten Züge und empfindet, daß sie eigentlich nicht glücklich ist. Sie mag zufrieden sein mit jenem inneren Lohn, den Arbeit stets verleiht, vielleicht sogar froh, aber irgendwo scheint es zu fehlen. Es ist, als lebte sie über sich selbst hinweg. Sind Bildung und Wissen ihr zur Hemmung geworden? Hat die dadurch verlernt, das Leben zu seiner naiven Ursprache zu erfassen? Bei all ihrem geistigen Reichtum scheint etwas in ihr leer zu bleiben. Ihr Wesen ist eingedunkelt. Und diese abhanden gekommene Helle mangelt auch ihrer Umgebung, bewußt oder unbewußt.

            Man findet so oft, daß die Männer dieser tüchtigen, klugen, geistigen Frauen sich dem nichtssagenden, oft wertlosesten Uebermut einer andern zuneigen, in der sie etwas von dem verlorengegangenen Licht wiederzufinden wähnen. Und wenn man diese Tatsache auch keineswegs überschätzen will, wissend, daß unter allen Umständen das andre reizt und daß ehedem auch der Gatte der ungeistigen Frau oft zu der geistigen seine Zuflucht nahm, so muß man sich doch fragen, ob diese scheinbaren Gegensätze sich nicht binden ließen, ob nicht aus der Frau von einst in ihrer Entwicklung durch die Frau von heute eine Wesensart entstehen könnte, eine „neue“ Frau, die sich trotz ihres Intellektes den Reiz und den Wert des instinktiven Seins bewahrt hat.

            Von solch einem idealen Frauentypus spricht Fanni Künstler in einer bemerkenswerten „Untersuchung der geistigen Wesenheiten unsrer Gegenwart“, die sie „Die Kulturtat der Frau“ nennt (Wilhem Braumüller, Wien und Leipzig). Sie erblickt in der Frau unsrer Epoche nur einen Uebergangstypus. Gewiß galt es in erster Linie, die Stufe der Geistigkeit zu erreichen. Sie war Vorbedingung für den sozial notwendigen Kampf um Freiheit und Gleichberechtigung, den man als Frauenemanzipation bezeichnet hat, ein Wort, das jetzt überholt, beinahe veraltet klingt. In diesem Streit hat es anfangs eine Aera der kurzen Haare und der vermännlichten Kleidung gegeben, die rasch überwunden wurde. Was davon im Wesen noch nachwirken mag, wird ebenfalls bald aufgesogen sein. Und in dem Maße, in dem diese Härten sich mildern, dieser ein wenig auftrumpfende Verstand zur Selbstverständlichkeit geworden sein wird, dürfte auch das durch die Unruhe der inneren und äußeren Werdenot gedrosselte Instinktbewußtsein der Frau, die Intensität ihres Fühlens wieder durchbrechen. Dann wird sie Geist und Herz besitzen, aber „der Impuls wird das Primäre sein, das Sekundäre der Intellekt – als Ordner!“

            Das Zentrum der Frau ist und bleibt das Gefühl. Niemals wird sie durch den Verstand das erreichen, was ihr dank ihrer Instinktsicherheit zufällt. Darin liegt ihre Macht und ihre Stärke. Wie oft geschieht es, daß der Mann seine logischen Gedankenreihen baut, um irgendeine Sache oder einen Menschen geistig zu erfassen. Die Frau hingegen spürt nur, worauf es ankommt, und das Urteil, das sie aus dieser Empfindungserkenntnis schöpft, ist nicht selten sicherer als das des Mannes. Und je feiner ihre Instinkte sind, um so wertvoller ist sie selbst, um so wohltuender wird ihre Nähe sein, für alle Menschen, namentlich aber für die geschärften Sinne der Unglücklichen, die deutlich fühlen, daß ihnen etwas Warmes, Gütiges entgegenkommt, etwas, das ihnen gern helfen möchte.

            Unwillkürlich sagt und tut die Frau das, was gerade das Richtige ist. Ihr Instinkt macht sie in jeder Lebenslage anpassungsfähig. Man hat oft mit Staunen gesehen, wie innerhalb der kürzesten Zeit aus einem Kleinbürgermädchen eine große Dame, oder aus einer ungebildeten Frau die kluge Gefährtin eines geistig hochstehenden Mannes wurde. Auch was man gleichermaßen mir Unrecht wie mit Recht das „Komödiantentum“ der Frau nennt, ist im Grunde nichts andres als ihr ungeheures Vermögen des Einfühlens. Sie kann heute Gretchen, morgen Messalina sein und kommt sich selbst, der eigenen Empfindung nach, beidemal echt vor, so sehr ist sie das, was sie sein will, namentlich dann, wenn ihr Gefühlsleben stark beteiligt ist, wenn sie spürt, daß der Mann, den sie liebt, sie gerade so und nicht anders haben will.

            Aber selbst wenn man von dieser Art des Wesensspieles absieht, das den Begriff vielleicht verwirrt, hat nicht gerade die Gegenwart bewiesen, wie intensiv die Frau imstande ist, sich in allen Lagen zurechtzufinden? Sie ist jeglichem Geschäfte ferngestanden und hat plötzlich gelernt, einen Betrieb zu leiten; sie hat nur im Hause gewirkt und wurde zur organisatorischen Begabung.

            Diese Fähigkeit erwächst ihr, wie Fanni Künstler sehr richtig erläutert, aus dem vollkräftigen Durchdringen der Daseinstatsachen. Sie steht der Materie, dem Leben überhaupt weit näher als der Mann, nicht nur in ihrer körperlichen Bestimmung, sondern, daraus folgend, in ihrem ganzen Wesen.

            „Der Mann ist das fruchterzeugende Prinzip Idealität = Geist.

Die Frau ist das fruchtbringende Prinzip Materie = Wirklichkeit.“

            Darum ist sie zur Helferin berufen. Das ist ihre beste und tiefste Aufgabe. Deshalb soll die Frau nicht selbst nach Rang und Macht, nach Ruhm und Reichtum streben, sondern den Mann, dem diese Güter zukommen, dahin geleiten. „Der Mann soll von der Frau geführt seinen Weg gehen.“ In ihrer Nähe sollen seine besten Empfindungen sich regen, an ihrer Harmonie, ihrer inneren Ausgeglichenheit muß sein ins Schwanken geratenes Gleichgewicht sich wieder aufrichten. Wie in einem Spiegel soll der Mann in der Frau sein Selbst verklärt und geadelt finden. Dann wird es ihr möglich sein, ihn nach sittlich großen Zielen zu lenken und die Welt dadurch um ein Stück vorwärts zu bringen dem nächsthöheren menschlichen Standpunkt zu, den es in jeder Entwicklung zu verfechten gilt.

            Das ist „Die Kulturtat der Frau“, von der Fanni Künstler mit jener Leidenschaftlichkeit des Charakters spricht, in dem sie die Voraussetzung der wertvollen intuitiven Frau erkennt. Um diese Kulturtat zu vollbringen, muß die Frau aber, wie bekannt, erst den Intellektualismus überwinden oder, besser gesagt, ihn so zur Selbstverständlichkeit werden lassen, daß er ihr eigenstes, ihr instinktives Sein nicht unterjocht, sondern läutert. „Denn im tiefsten Grunde erschaut und erfaßt, bedeutet es für das Wohl der Menschheit nicht hauptsächlich, daß die Frau als Persönlichkeit verstanden wird, sondern, daß sie – als gotterfüllte Wesenheit – alle andern erfaßt und versteht und führt.“

            Sie soll Meisterin, Künstlerin, mehr als das, Seherin auf seelischen Gebiete sein – das ist die Sendschaft der neuen Frau.

            Fanni Künstler hat ihr Buch vor dem Kriege geschrieben. Aber die Wirren der Welt stoßen ihre Erkenntnis nicht um, sondern vertiefen sie. Die Neuregelung des Lebens, die wie alle erwarten, bedarf der Instinktsicherheit, der geistig gehobenen seelischen Kraft der Frau ganz besonders, und wenn sie uns auch nicht in der hehren Verkörperung werden kann, von der die geistvolle Philosophin träumt, so müssen wir uns mit dem Streben danach bescheiden in jenem Idealismus des wirklich Möglichen, in dem die Daseinsweisheit der Frau wurzelt. Denn „nur das höchste Ideal ist auch am vollsten real“.

In: Neues Wiener Tagblatt, 10.10.1918, S. 2-3.

Elsa Tauber: Neu-Oesterreich und die Frauen

Umgestaltung, wohin man blickt und hört. Alles Alte ist unbrauchbar geworden, der Umsturz hat kommen müssen, nicht weil ihn einzelne oder selbst ganze Völkerklassen gewollt haben, sondern weil er ein Zwang der Notwendigkeit war. Alle traditionellen Begriffe von Herren und Dienern, von niedriger und höherer Bevölkerungsschichte haben ihre Geltung verloren, das Volk läßt sich nicht mehr regieren, will nicht mehr blindlings gehorchen müssen, wenn man das Blut seiner Kinder für imaginäre Werke von ihm fordert. Selber will es sein Schicksal bestimmen und nur seine  seine eigenen Beschlüsse sollen maßgebend sein für die Gestaltung seiner Zukunft. Das Volk – es besteht aus Männern und Frauen. Schon ist an bedeutungsvoller Stelle das Wort ausgesprochen worden, ein von Männern und Frauen gewählter Rat soll Oesterreichs Geschicke steuern. Ob  auch ein von Männern und Frauen zusammengesetzter Rat? Es liegt kein Grund vor, an dieser Annahme zu zweifeln. Der heilsame Sturm, der jetzt durch das Bestehende fährt und alte Traditionen umreißt, daß sie an ihrer Morschheit krachend zusammenbrechen, wird hoffentlich auch die unsinnigen und und unbegründeten Vorurteile gegen die offizielle Bestätigung der Frauen hinwegfegen.

Seien wir ehrlich: Schlechter hätte es auch dann nicht kommen könne, wenn Frauen schon bisher ein mitbestimmendes Wort zu reden gehabt hätten. Auch sie hätten nicht kurzsichtiger und verständnisloser den unausweichlichen Anforderungen des Tages gegenüberstehen können, als es gewiegte österreichische Staatsmänner taten. Wenn es froh macht, nicht mitverantwortlich an schlechten und falschen Maßnahmen zu sein, dann können Oesterreichs Frauen heute jubeln. Aber sie sind viel zu lange schon politisch reif, als daß sie sich darüber freuen könnten, unbeteiligt an dem gegenwärtigen Debacle zu sein. Denn diese Frauen sind auch Hausfrauen, die jetzt mit vorwurfsvollsten Zweifeln fragen: Wäre es so weit mit unserer Ernährung gekommen, wenn wir im Rate der Gemeinde und des Staates eine Stimme gehabt hätten? Diese Frauen sind Mütter, deren verzweifelte Anklage dahin geht, daß sie ihre Söhne widerspruchslos für längst entwertete Phantome opfern mußten.

Das alte Oesterreich ist tot. Niemand wird dem, was damit starb, eine Träne nachweisen, es sei denn jene Kaste, der nun die Führung aus den längst altersschwachen Händen genommen wurde. Aus den Ruinen soll neues Leben entstehen und nun harren die Frauen, ob sich die Erkenntnis Bahn brechen wird, daß auch sie ihren Platz in der Oeffentlichkeit verdienen. Die Erkenntnis besteht eigentlich längst. Aus ihr stammt die immer lauter zum Ausdruck gelangende Sorge, die Frauen würden sich mit dem bescheidenen Platz in der Häuslichkeit nicht mehr begnügen, nachdem sie einmal im Erwerbsleben ihre Kräfte erprobt haben. Nur Böswilligkeit kann der Frauenarbeit Unzulänglichkeit nachsagen. Und wenn nicht jede einzelne ihren Platz musterhaft ausfüllte, so liegt dies daran, daß nicht jeder Mensch ein Muster an Pflichterfüllung ist, die Männer genau so wenig wie die Frauen. Der Beweis aber, daß der Durchschnitt der Frauen ihre Arbeit schlechter versieht als der Durchschnitt der Männer bei gleichem Alter und gleicher Bezahlung – dieser Beweis wäre erst zu erbringen.

Jene Demokraten, die Oesterreichs Verwaltung jetzt hoffentlich in die Hand nehmen und zum allgemeinen Heile durchführen werden, schätzen Frauenarbeit und Frauenverständnis schon lange richtig ein. In ernster Stunde sei es aber in Erinnerung gebracht, daß die Frauen nicht mehr und nichts anderes sein wollen, als das was sie sind. Den Frauen ist es nicht darum zu tun, den Mann vom Arbeitsmarkt zu verdrängen und sich dadurch jede Aussicht auf eine gutfundierte Ehe zu zerstören. Sie will nur nicht als Hausfrau in die vollständige Abhängigkeit vom Manne geraten, und weil die richtige Wertschätzung der Frau offiziell noch nicht besteht, versuchen die meisten instinktiv oder bewußt, sich im Kleinkampf persönlich die Stellung zu erwerben, die ihnen zukommt. Eine politische Anerkennung der Frauenrechte würde daher nicht, wie häufig befürchtet, eine Vernichtung aller vielgerühmten weiblichen Eigenschaften, sondern deren neuerliche Entfaltung bringen. Der Besitz überhebt des Kampfes darum, und eine Selbstverständlichkeit, wie es die anerkannten politischen Frauenrechte in absehbarer Zeit hoffentlich sein werden, verursacht nicht einmal Aufmerksamkeit, geschweige denn Beachtung.

Es widerstrebt beinahe heute schon, die Widersinnigkeit der Verknüpfung politischer Rechte mit dem Geschlecht an dem Analphabeten irgendwo in einer Dorfhütte des Hochgebirges und der akademisch graduierten Frau zu beweisen. Dieses Beispiel hat jedoch im Laufe der letzten Jahre nur an Schlagkraft gewonnen, denn immer größer wird die Anzahl der Frauen, deren geistige Entwicklung steigt, immer größer wird leider auch die Zahl derer, die nicht mehr damit rechnen können, in der Ehe Schutz und Zuflucht zu finden, sondern den Kampf ums Dasein auf eigenen Füßen stehend ausfechten müssen. Sie alle haben ein Recht darauf, als vollwertige Staatsbürger endlich auch in anderer Weise anerkannt zu werden, als dadurch, daß sie die volle Steuer plus 10% für Alleinstehende zu entrichten haben. Sie dürfen in einer Volksvertretung einen Platz für sich fordern, ebenso die Frauen, die in ihren Haushaltspflichten aufgehen, und alle anderen, die einer Kategorie von Männern mit politischen Rechten entsprechen. Das Dienstmädchen, das zur Wahlurne geht, bietet dem logischen Denker nicht mehr Stoff zur Verspottung wie der Hausknecht im gleichen Fall, und schon oft hat eine Sache von der Karikatur in den Witzblättern aus ihren Siegeszug durch die Welt genommen.

Ueber die politischen Forderungen der Frauen wird übrigens schon lange nicht mehr gelacht. Sie sind gewissen Kreisen höchstens so unangenehm gewesen wie die Forderungen der Demokraten. Mit diesen zugleich werden sie hoffentlich jetzt anerkannt werden.

In: Neues Wiener Journal, 26.10.1918, S. 4.

N.N.: Der Tatlinismus.

Der neueste Kunstwahnsinn.

Daß die russische Kunst unter der Herrschaft des Bolschewismus besonders modern und revolutionär sich entfaltet hat, ist bekannt. Aber die Weiterentwicklung dieses Stils, der für uns im wesentlichen durch den bereits vor dem Krieg aufgetauchten Expressionismus Chagalls und Kandiskys repräsentiert wird, war bisher in Dunkel gehüllt. Nun dringen Nachrichten aus Berichten russischer Reisender und neuesten Moskauer Kunstblättern herüber über die jüngste Bewegung, und Frank Thieß erzählt von dieser neuesten russischen Kunst in der „Freien Deutschen Bühne“. Der Hauptmeister und Mittelpunkt dieser Malerei ist Wladimir Tatlin, der in den ersten Kriegsjahren mit seinen Arbeiten an die Oeffentlichkeit trat. Um ihn hat sich eine große Schule gebildet, die Schule der Tatlinisten, die mit Leidenschaft das neue Evangelium der Schönheit, den Tatlinismus, predigen. Diese „Kunst“, der sich neuerdings auch Dichter und Musiker angeschlossen haben, geht über die Forderungen des Expressionismus weit hinaus und will überhaupt die gesamten Grundlagen aller bisherigen Kunst forträumen. Nach // den Angaben scheint es sich dabei um einen Stil zu handeln, der auch bei uns [] von einigen kühnen Neuerern in der Form der „Merzbilder“ angewendet wird. Der Tatlinismus erklärt nämlich „die souveräne Herrschaft der Objekte, des maschinellen, des Materials“. Das Material, der tote Stoff, welcher unser Leben beherrscht, hat auch die Kunst zu beherrschen. Die Kunst hat nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, dieses Material zu ihrem „Material“ zu machen, muß sich also des Holzes, des Eisens, des Glases, der Schrauben, der elektrischen Drähte und der mathematischen Formeln genau so bedienen, wie sich die Zeit ihrer selbst bedient: Alle Dinge der Außenwelt haben Heimatsrecht in der Kunst, welche dem Geist die Wohnung zu kündigen hat, um die Maschine an seine Stelle zu setzen. Der gegenstandslosen „Kunst“, welche die Tatlinisten höhnisch in Ausführungszeichen setzen, tritt die radikale gegenständliche Maschinenkunst entgegen, die sich aller Dinge zu gleichen Rechten bedient und jedem, auch dem belanglosesten Objekt, gestattet, auf der Bildfläche zu erscheinen. Der Tatlinismus ist der Schrittmacher der „totalen Materialisiertheit“ unseres Lebens und opfert – ähnlich wie die Dadaisten in Deutschland und die Männer um die Zeitschrift „Valori Plastici“ in Italien dem „rational“ meßbaren Ding die „Irrationalität“ des Geistes und der Seele.

In: Neues Wiener Journal, 13.4.1920, S. 4-5.

Claire Bauroff: Die Arbeit der Tänzerin

                Wer am Abend das Spiel der Tänzerin an sich vorübergleiten sieht, lächelnd, heiter, in bunten Farben, der ahnt nicht, welche schwere Mühe und Arbeit, welche Kraft und Ausdauer erforderlich waren, ihm diesen gefälligen Anblick zu verschaffen. „Sie hat einen schönen Körper, sie ist anmutig und biegsam“ – der Laie spricht über diese Dinge, als handelte es sich um zufällig vorhandene Naturgaben, nicht bedenkend, daß „nur aus vollendeter Kraft die Anmut hervorblickt“. Vielleicht würde es ihn sogar stören, zu wissen, wieviel Entsagung und Energie immer wieder aufgewendet werden müssen als Preis für dieses „gute Material“. Man weiß zwar aus der Artistennovelle von Hermann Bang, daß kaum ein tägliches Leben enthaltsamer und spießbürgerlicher verläuft als das der Trapezakrobaten, aber von der Tänzerin will man es nicht wissen. Der duftige Hauch der Wirklichkeitsferne, die Illusion einer heitereren Welt, die hervorgerufen werden, wenn sie über die Bühne schwebt, würden getrübt, dächte man daran, daß auch dieser Erfolg nur im Schweiße – nicht bloß des Angesichts – errungen wird.

            Ein bekannter Bildhauer war aufs höchste überrascht, als ich ihn einmal zu meinem allmorgendlichen Training zuließ und er sah, wie ich an Ribstoel und schwedischer Bank, mit Medizinball und beschwerter Springschnur zwei Stunden lang arbeitete und von meinem Trainer „in Form“ gebracht wurde. Und das war kein „Potemkinsches Dorf“! Jahraus, jahrein, mit einer Regelmäßigkeit, deren sich kein Postbeamter zu schämen hätte, wird so jeden Morgen der ganzen Körper trainiert, in Schwüngen und Sprüngen gekräftigt und gelockert.

            Ribstoel und schwedische Bank sind Geräte, die von modernen Tänzerinnen und in Gymnastikschulen abgelehnt werden und zum Teil mit Recht, denn ihre Verwendung birgt die große Gefahr übertriebener und unharmonischer Muskelbildung. In der Hand erfahrener Sachverständiger aber sind sie das wirksamste Korrektiv besonders für sehnige, in unserer Fachsprache „trockene“ Körpertypen. Hänge- und Dehnungsübungen am Ribstoel strecken die Sehnen und Muskeln in einem Grade, den man kaum für möglich hielte. Oder Bodenübungen für Kräftigung der Rumpfmuskulatur, die wir zu allen Schwüngen des Oberkörpers im Tanz brauchen, sind, auf der schiefen Ebene der schwedischen Bank ausgeführt, von doppelter Schwierigkeit und Wirkung. Ein besonders reizvoller Behelf beim Training ist der drei Kilogramm schwere, mit Roßhaar prall gefüllte Medizinball, von fünfunddreißig Zentimeter Durchmesser, der bei allen Fang- und Wurfbewegungen die Brustmuskulatur stark in Anspruch nimmt und dessen Masse den Körper zum Beispiel bei hochgestreckten Armen so kräftig rückwärts in den Bogen zieht, daß die gleiche Bewegung nachher ohne Ball dann leicht fällt. Die beschwerte Springschnur wieder verhindert die sich sonst beim Sprung leicht einstellende Verkrampfung der Arme. Alle diese Übungen werden zweckmäßig kombiniert, um je nach Bedarf dem Körper richtige Proportionen bei größter Leistungsfähigkeit zu verleihen und zu erhalten.

            Wenn das tägliche Pensum absolviert ist, dann kommt noch eine halbe Stunde durchgreifendster Massage, die die Bildung athletischer Muskelformen zu verhindern hat. Wenn man nun erwägt, daß all dies nur Vorbereitung des Materials, technische Angelegenheit war, daß dann erst die eigentlich produktive Arbeit der Künstlerin beginnt: Komposition und Studium ihrer Schöpfungen, so kann man ohne Übertreibung sagen, daß wir, von unserer Kunst besessene Tänzerinnen, im Vergleich zur Dame der Gesellschaft Schwerarbeiterinnen sind. Kommen dazu noch Engagements, die allabendliches Auftreten erfordern, so wird jeder einsehen, wie wenig das oft gebrauchte Bild einer flatterhaften Libelle für uns zutrifft.

            Einem sterbenden Tanzstil war zwar die Technik alles, doch obwohl wir modernen Tänzerinnen nicht mehr auf Zehen trippeln, nie als Selbstzweck die Beine möglichst hoch werfen und unnatürliche Verrenkungen vollführen, darf man nicht glauben, daß wir an uns weniger hohe technische Anforderungen stellen. Nur das ist der Unterschied: während das alte Ballett in seelenloser Technik aufging, stellen wir unser Können ganz in den Dienst einer geschlossenen Ausdrucksform – sei diese nun ein Musikstück, dessen Gefühlsgehalt wir rhythmisch bewegt verkörpern, oder eine mimische Idee, die wir sichtbar gestalten.

            Diese Verinnerlichung des modernen Kunsttanzes hat zur Folge, daß wir auch die Kleidung in den Dienst der Idee stellen, sie also auf ein Mindestmaß beschränken, wenn es die künstlerische Einheit erfordert. Besonders das mimische Moment im Tanz verlangt, das sich der Ausdruck nicht auf Kopf und Hände beschränke: der ganze Körper hat in harmonischer Einheit mitzutun. Dadurch sind unserer Kunst Themen zugänglich geworden, die dem alten Stil, der nur konventionelle Gesten kannte, verschlossen bleiben mußten. Mit „Nackttanz“ hätte das natürlich selbst dann, wenn wir aus künstlerischen Gründen nackt tanzen müßten, nichts zu tun – denn dieser benützt den Tanz nur als Vorwand für die Schaustellung des unbekleideten Körpers. Aber wir leiden unter dem Unverständnis vieler für uns wichtiger Faktoren im Theaterleben, die den „schönen Körper“ herausstreichen, ohne zu wissen, daß auch der schönste Körper mit Kunst noch gar nichts zu tun hat, wenn dieses allerdings unentbehrliche Material ohne künstlerische Formung bleibt.

            Früher waren Tanz und mimische Kunst durchaus voneinander getrennt – heute ist jede echte Leistung eine Mischung der beiden. Vom rein musikalischem Tanz bis zum Mimus oder Tanzdrama, von der Tordis bis zur Wigman, führt eine ungebrochene Linie, und es kann sehr zweifelhaft sein, ob das, was ich zum Beispiel als „Erweckung der Statue“ in der Haller-Revue darstelle, überhaupt noch Tanz genannt werden kann oder schon reine Pantomime ist.

            Eine ganz irrige Meinung herrscht in Laienkreisen zumeist über die Art, wie ein Tanz entsteht. Es gibt dabei, je nachdem, welchem der beiden eben erwähnten Extreme die Tänzerin zuneigt, zwei ganz verschiedene Typen. Die eine, die rein musikalische Tänzerin, wird von einer Musik, die durchaus keine „Tanzmusik“ zu sein braucht, angeregt und übersetzt die Sprache der Töne in die Sprache rhythmischer Bewegung im Raum, die mit ihren eigenen Formmöglichkeiten ein ganz Neues schafft. Bei der anderen beginnt die Produktion mit einer Bewegungsidee, die einen typischen Gefühlsverlauf – Erweckung, Genesung, Vision, Flucht usw. – oder, an der Grenze von Tanz und Pantomime, einen Menschentypus – Geizhals, Narr, Paria usw. – darstellt und, soferne sie auf Begleitmusik nicht überhaupt verzichtet, diese erst wählt oder hinzukomponieren läßt, wenn die Tanzkomposition vollständig feststeht.

Mag man diesen neuen Stil in der Tanzkunst nun Expressionismus oder sonstwie benennen, so muß doch jedenfalls allgemein anerkannt werden, daß wir mit den seelenlosen Konventionen, die der Ausdruck einer leeren und zeremoniellen höfischen Kultur gewesen sind, radikal gebrochen und die Tanzkunst wieder zum Ausdruck lebendiger Kämpfe und Leidenschaften gemacht haben, die einst an ihrer Wiege gestanden sind. Im Dienste dieser Erneuerung nehmen wir gern alle entsagungsvolle Arbeit auf uns, ohne die die Tänzerin das Luxusgeschöpf geblieben wäre, als das die Primaballerina in der alten Gesellschaft galt.

In: Die Bühne (1926), H. 75, S. 10f.

Emil Kläger: Großstadtromane

Menschen im Hotel“, Roman von Viki Baum. Ullstein-Verlag, Berlin. – „Petersburg“, Roman von Schalom Asch. Paul-Zsolnay-Verlag, Wien-Berlin. – „Dritter Hof links“, Roman von Günther Birkenfeld. Bruno-Cassirer-Verlag, Berlin. „Jugend“, Roman von W. E. Süskind. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart.

In neuen Büchern wird wieder einmal der Versuch gemacht, die große Stadt abzuschildern. Häusermassen, Massenmenschen, Erlebnismassen, es reizt die Romanarchitekten, deren es jetzt eine ganze Anzahl gibt. Die Schicksale werden sozusagen etagenweise übereinander gelagert, türmen sich zum Wolkenkratzer. So ähnlich, beispielsweise, hat die in Berlin zu großem Erfolg gelangte Viki Baum ihre „Menschen im Hotel“ konstruiert. Das ergibt ein Nebeneinander, ein Gewirr von Lebensläufen, einen Roman, zusammengesetzt nur aus Episoden, die ineinandergeschachtelt sind. So eine Episode steigt in der Handlung unerwartet als Passagier auf Zimmer Nummer soundsoviel ab, bleibt vielleicht ein halbes Kapitel lang, zieht unvermutet wieder aus. Unbekannt, wohin. Kehrt eines Tages möglicherweise als Gast der Handlung für eine Zeit zurück, verschwindet. Im Zimmer nebenan wohnt indes eine ganz fremde Episode, und überhaupt wohnen fremde Episoden und Schicksale nebeneinander. Sie kennen sich gar nicht. Wohnen aber alle zusammen in demselben Hotel : Roman.

Die seltsamsten Gegensätze stellen sie vor, nur durch eine dünne Zimmerwand getrennt, ergeben ein Beieinander der schreiendsten Kontraste, Tür an Tür, wissen einer vom anderen nichts und blieben auch gänzlich unbeteiligt, wenn ihre Existenzen sich berühren würden, die da entlang des Hotelganges nebeneinander hausen. Obwohl manche Nachbarn wohl täglich um dieselbe Stunde über denselben langgestreckten Korridor zur Treppe gehen. Ein Chaos, in Zimmer abgeteilt, durch Wände geordnet, in Häusern verstaut, von ordentlichen Gassen durchzogen, in denen Schutzleute tadellos den Verkehr regeln. – es ist schon etwas wesentlich Großstädtisches an einem solchen Buch, wie Viki Baums „Menschen im Hotel“.

Die Verfasserin ist eine immens begabte Unterhaltungsschriftstellerin, geht nicht tief, aber die Oberfläche, die sie bietet, vibriert immer interessant, gibt ausgezeichnet gesehene Schilderungen heutiger Menschen wieder, wie überhaupt in ihren Büchern ohne Literaturmätzchen die Heutigkeit spannend und fast richtig abgebildet wird. Nur fast, weil Frau Viki Baum nicht zögert, rechtzeitig an hohe Auflagen zu denken, der Marktgängigkeit die unerläßlichen Konzessionen zu machen. Sie ist zweifellos eine Künstlerin, wie schon aus ihrem Buch „Hell in Frauensee“ festzustellen war, aber sie hat sich auf die Erwerbsseite geschlagen, weicht dem reinen Kunstwerk aus, höchstwahrscheinlich bewusst. Echte Figuren werden von ihr kandiert, der Handlung an einem Wendepunkt nützliche Sentiments beigebracht. Es ist Rücksicht auf die Ware, offenbar. Wahrscheinlich will sie weniger bewundert als gelesen und bezahlt werden. Dennoch sind ihre Bücher ausnahmslos auf durchaus nicht banale Weise unterhaltend und spannend. Sie hebt das Genre.

Ein Großstadtroman ist auch das jüngste, in deutscher Sprache erschienene Werk von Schalom Asch, „Petersburg“. Der Titel trifft nicht ganz zu. Das Wort „Petersburg“ auf dem Buchumschlag lockt bloß an, gerade, weil es allein dasteht. Man denkt also, es handle sich um die vormalige Hauptstadt Rußlands, wobei zunächst offen bleibt, ob die Residenz des Zaren oder das Petersburg der Sowjets gemeint ist. Das Buch greift zeitlich weit zurück, betrifft schon historisch gewordene Russen, in der Hauptsache Juden, zeigt das immer halbdunkel verhängte Petersburg vor dem Krieg, ein Roman, umschlungen von Großstadt, doch kein Städteroman. Das Problem Petersburg wird gar nicht angefaßt. Daher stimmt der Titel nicht. Aber es ist das Werk eines in blühender Kraft stehenden starken Gestalters mit fesselnden, dichterischen Zügen. Es ist ganz unmodisch, eigentlich unmodern. Da gibt es nichts Skizzenhaftes, keinen artistischen Stil, wie überhaupt niemals aus dem Buch, wie jetzt so häufig, scharfes Licht reflektiert wird auf den Autor, der zwischendurch sein von Individualpsychologie zerpflügtes Gesicht, von allem anderen ablenkend, sehen läßt. Rein, es ist ein gesunder, vollblütiger Roman, schön und reich gegliedert, mit völlig durchgezeichneten Figuren, einem sorgfältig gemalten Milieu. Die russischen Menschen von gestern, die zerbrochen und verweht sind, die jüdischen Bürger der Hauptstadt leben auf, ein Gewimmel von merkwürdigen Geschäften und sonderbar gefärbten Menschlichkeiten, Typen und Charaktere, über die sich das heilige Rußland wie ein dämmeriger, mystisch-altertümlicher Mauerbogen wölbt. Es ist ein gesunder, ausführlich geschriebener Roman, in dessen Stofflichkeit sich schwelgen läßt und in dem sich der Leser an Handlung und Schilderung einmal ordentlich sattlesen kann. Dabei verläuft die Handlung dieses empfehlenswerten Werkes anscheinend mit Absicht auf der mittleren Linie des Bürgertums. Es hätte besser heißen können : „Petersburger Bürger.“

Bei Bruno Cassirer erschienen ist „Dritter Hof links“ von Günther Birkenfeld. Das ist ein Buch von der Großstadt, allerdings von ganz unten gesehen. Not, Arbeitslosigkeit, Prostitution wird hier mit Erbarmungslosigkeit, armen, nackten, schamlosen Worten erzählt, mit einem finsteren Stolz auf vernarbte Wunden, die sich die Helden im Kampf mit dem Großstadtmoloch zugezogen haben. Es ist die düstere Arbeit eines verbitterten, jungen Menschen, der alles hart und derb herausstößt, schonungslos, wie auch mit ihm verfahren worden sein muß, eine Arbeit, die über gründliche Milieukenntnisse verfügt und den Verfasser trotzig hersagen läßt, was er geschaut hat. Im dritten Hof einer Zinskaserne links. Über die Grenzen des Geschmackes tritt der Verfasser achtlos hinaus, weil er sie für gering erachtet, weil er alles so schamlos auszusprechen beabsichtigt, wie es ist, wie er es empfindet und uns nicht schenken will. Ohne dabei leidenschaftlich oder anklägerisch zu sein. „Er tut es mit erstarrter Fassung, mit entschlossenem Haß. Es ist eine festgefügte Gesinnung zu spüren, es sind Milieueinblicke in das Vegetieren der Ärmsten zu gewinnen. Ob der Verfasser auch über wirkliche Begabung verfügt, ob er seinen Blick von dieser zerfetzenden Trostlosigkeit befreien kann, darüber vermag nach einem solchen Erlebnisbuch allein nichts Bestimmtes gesagt werden.

Ein wunderhübsches Buch, das schönste, das ich seit langem in der Hand gehabt habe, ist „Jugend“ von W. E. Süskind, wirklich jung, erfrischend natürlich, ein Roman von den deutschen Pennälern , die in Klassenzimmern und Gymnasienhöfen ihren Schulkrieg ausfochten, als drei Viertel der Männer Deutschlands im Schützengraben langen. Im Buch sieht man die im Krieg gewordene Generation wachsen. Man erlebt, wie sie entflieht, schaut die werdende Zeit, ihre Knaben, ihre Jungmänner, die heute schon die Stützen der ganzen Wirtschaft geworden sind, fast dreißig Jahre alt, also noch halb Hoffnung, zum Teil aber schon Erfüllung. Die Stützen der Gedanklichkeit und des Charaktergesichtes unserer Epoche. Man macht die geistige Geburt dieser Generation mit, ist dabei, wenn sie während der letzen Klassen zur Schule geht. Da ist das Buch noch ein Schulroman, einer der farbstärksten, der unbestechlichsten, die man je gelesen hat. Mit allem, was zur Schule gehört, die einen eigenen Weltkörper bildet neben dem anderen, in dem wir leben, einen eigenen Luftkreis besitzt, mit ganz anderen Maßen für Wichtigkeiten, anderen Gefühlswerten. Süskind erzählt davon, zeichnet Köpfe, eröffnet Seelen, alle ganz sachte, ganz innig, dabei überströmt von Erlebten, als geschehe das eben jetzt, so feuchtfrisch mutet die Schilderung an. Unvergeßliche Schulszenen, unvergeßliche Knabenköpfe. Er legt ganz tendenzlos, unpädagogisch, Grundsteine von Menschen. Man sieht sie wachsen, man sieht die Zeit wachsen, die fürchterliche Nachkriegszeit, die Katastrophenepoche, die Katastrophenmenschen.

Die Generation sitzt noch in der Schule, draußen ist Krieg, die Generation macht ihr Abiturium, der Zusammenbruch ist da. Die Jugend tritt vor die Schultür, das Chaos ist hereingebrochen, das deutsche Chaos. Der Sturm reißt sie vom Studium weg, sie klammern sich noch ein wenig an Klassenzimmerideale, überhaupt an Ideen, sie suchen noch ein wenig den festen Weg. Den Anfang hat man sie gelehrt, jetzt sollen sie ihn selber gehen. Aber das Chaos nimmt sie mit, wirbelt sie in den Schlammboden der Inflation hinein, so daß nicht einmal die Stirnen sich mehr davon freihalten können, sie werden Spekulierer und Schieber. Die Jugend wird devalviert. Die Schulvergangenheit ist zertreten, Familien zerkriegen sich wegen der Börse, ein Benjamin hat bessere Typs als der greise Vater, dessen Begriffe ins Schaukeln gekommen sind, mit den Seinen hungert, und den der unreife Sohn verachtungsvoll mit zweifelhaften Gewinn aus Nöten herausrettet. Die Mädels laufen mit den Schiebern, mit denen, die gewinnen. Man kauft sich um ein paar Kilo entwerteter Geldscheine Nachtgenüsse, erschachert Liebe. Sie ist bloß zum Vergnügen geworden, hat ihren alten, festen Wert verloren. Die Inlandliebe steht, ach, so tief. Der Dollar grinst.

Die Generation und die Zeit haben die Schulbank verlassen. Nun sind sie beide erwachsen, ausgereift. Man sehe sie in dem innigen, leisen und feinen Buch Süskinds und erkenne diese heutige Welt.

In: Neue Freie Presse, 19.1.1930, S. 27.

Es war vorauszusehen. Das Radio wird den Menschenkindern eine neue Kunstgattung. Denn eine neue Technik, die etwas auf sich hält, kann sich nicht damit begnügen, bescheiden der Verbreitung und Vermittlung alter Künste, so da sind Musik und ihre Rezitation, zu dienen. Sie will ihre eigene Muse ins Parlament auf dem Parnaß entsenden. Das gehört auch zum guten Ton. Wie ein neuer Reicher solange gesellschaftlich nicht ganz arriviert ist, bis in seinem Salon keine Literaten und Künstler verkehren, so wird auch einer neuen Technik nur die Verbindung mit einer eigenen Kunst die notwendige mondäne Eleganz verleihen.

Nun ist das Radio so weit. Es hat sich seine eigene, neue Spezialkunst erschaffen, die bald Mode und mit der Zeit sogar Volksbedürfnis werden kann, wie das Kino. Die Erfindung der Kinematographie brachte die Filmkunst; die Darstellung des Lebens nur fürs Auge. Das Radio bringt die neue, die nur hörbare Kunst: das akustische Drama. Die Darstellung des Lebens, nur für das Ohr. Wie in der Zeitschrift ‚Die Radiowelt’ zu lesen ist, hat eine Sendestation einen großen Preis für so eine ‚Tondichtung’ ausgeschrieben, die irgend eine Handlung, eine Geschichte mittels Tönen und Geräuschen deutlich und spannend darstellen soll. So wie sie ein Blinder erleben würde. Also keine gesprochene Beschreibung, in der etwa gesagt wird: „Sie kamen ans Meer. Da brach ein Sturm los.“ Sondern ein unmittelbares Drama, in dem bei dieser Stelle das Brausen der Wellen und das Pfeifen des Windes zu vernehmen ist.

Denn das Radio ist in der Lage, wie der Film, auch die Natur auf seine Art darzustellen. Die sichtbaren Kulissen der Bühne werden sozusagen ins Akustische übersetzt. Wir hören das Knarren einer Türe, das Rücken eines Stuhles, das Ticken einer Wanduhr und hören die intime Stimmung einer stillen Szene im Zimmer. Dann hören wir den Lärm der Straße einer Großstadt, der die Worte zerreißt. Dann hören wir die Dorfglocke läuten, den Hahn krähen, die Schafe blöken und wir sind auf dem Lande. Dann nähern sich Schritte durch den dumpf widerhallenden Korridor, ein Schlüsselbund klirrt, ein Schrei, ein Schuß und es wird still. 

Ja, es ist möglich. Das Radiodrama wird eine eigene Kunst werden und sich, wie der Film durch Kitsch, triviale Rohheit und Stumpfsinn, einmal zu hohen poetischen Möglichkeiten emporringen. Das Radiodrama muß sich zu einer bedeutenden Kunst entwickeln, weil es – wie der Film – aus technischen Gründen eine billige und allgemeine Volksunterhaltung werden kann. Es wäre schade, wenn die berufenen Anwärter der Kunst auch diesmal zu spät kämen. Denn die Technik geht voran. Die Kunst ist überhaupt nur eine Begleiterscheinung. Der Kinematograph wurde nicht erfunden, um der Asta Nielsen die Möglichkeit zu ihren mimischen Offenbarungen zu schaffen. Die Möglichkeiten werden erst im nachhinein erkannt und verwertet. Vielleicht wurde auch der Pinsel erst zu anderen Zwecken erfunden und dann kam man auf die Malerei. Bei der Kunst ist es eben so, sondern daß man die Suppe erfindet, weil es schon Löffel gibt, mit denen man sie essen kann.

Also nach dem Film, nach der Kunst für Taube, kommt das Radiodrama: Kunst für Blinde. Eigentlich ist das nichts Neues. Die Künste waren ja von jeher Krüppelperspektiven. Die Malerei ist nur für das Auge und die Musik nur für das Ohr. Kunst entsteht überhaupt nur durch das Ausschalten einiger Sinne, und jedes Mal war noch das Gesamkunstwerk ein dilettantisches, unerfreuliches Unternehmen. Die Welt ist irgendwie zu viel für den Menschen und leitet seine Empfindung in die Breite, wo sie verflacht. Man kann nicht in ein Gebäude durch fünf Tore auf einmal und nicht durch fünf Sinne auf einmal eingehen in die Welt. Für die Seele sind die Fünfe nur zur Auswahl da. Denn die Dinge sind zwar zu sehen und zu hören, zu riechen, zu tasten und zu schmecken. Aber – und das ist das Geheimnis – was wir hören und was wir sehen, ist nie dasselbe Ding. Doch dieses Geheimnis soll jetzt nicht gelüftet werden.

In: Radiowelt. Illustrierte Wochenschrift für Jedermann (Wien), Nr. 14, 1924, S. 14 (ED gem. Angabe der RW in der Ztg. Der Tag)

Fritz Beck: Zehn Jahre Foxtrott

Als im Jahre 1911 argentinische Gauchos (Viehhirten) ihre Kaschemmentänze einem attraktionslüsternen Publikum vorführten, ahnte noch immer niemand, daß damit bereits der erste Auftakt zu jenem Umschwung in der Tanzmode gegeben war, der sich vor genau zehn Jahren in seiner ganzen Ausdehnung und Bedeutung vollzog: Alle die 1918 aufgekommenen Modetänze waren nämlich in Schritt und Bewegung, wenngleich in jeweils anderem Rhythmus eingeordnet, dem alten Tango argentino entlehnt, und erst später nahm jeder Modetanz seine ganz bestimmte Richtung für sich an… Weit gefehlt wäre es indessen, den beispiellosen Erfolg des Tango argentino lediglich auf das Konto irgendeines gefinkelten Pariser Tanzprofessors zu buchen, verband sich doch von 1912 bis 1918 mit der Tanzmode, im Sinne des Tanzes, zugleich auch ein Umsturz in der Kleidermode, und vollzogen sich in weiterer Folge auch im Bilde unserer Gesellschaft gleichsam u m s t ü r z e n d e Veränderungen!

Die Ursache dieses ganz plötzlichen Eindrucks neuer, überraschender, zuweilen ungemütlicher Strömungen, die in engsten und weitesten Kreisen nich nur äußerliche, sondern auch ›innere‹  Umorientierungen erforderten, hätte gewiegten Seelenforschern bedeutsamen Anlaß zu tieferen und tiefsten Betrachtungen geben können: Wie die Weltgeschichte lehrt, sind es stets gewaltige w i r t s c h a f t l i c h e und p o l i t i s c h e Ereignisse, die sich naturgemäß auch innigst mit Umwälzungen in der Kleider– und Tanzmode zu verbinden pflegen; sie müssen aber nicht immer gerade als eine Folge von einschneidenden politischen Veränderungen einhergehen, sie können leicht begreiflich auch solchen voraneilen, gewissermaßen als untrügliches Anzeichen bevorstehender ›großer Dinge‹.

Die so rasch durchgreifende Beliebtheit der modernen Tänze, besonders nach Kriegsende, ist unschwer als Bruch mit allem Alten zu erkennen, und nichts legt heute mehr Zeugnis von heuchlerischer, verlogener und verschrobener Gesinnungsart ab, als das krampfhafte Festhaltenwollen an verflossenen Tänzen und Moden… Gewisse völkische und klerikale Kreise lehnen heute noch mit geradezu krampfhafter Aengstlichkeit und der Entrüstung kleinlicher, kurzsichtiger Beschränktheit die modernen Tänze (ebenso Bubikopf und kurze Kleidermode) ab, weil sie unausgesetzt ganz besonderen sittlichen Unrat wittern; sie ahnen nicht oder wollen nicht wissen, daß das sinnliche, geschlechtliche Moment bei den modernen Tänzen weit mehr zurückgedrängt ist als beim Walzer. Die Ausführung der modernen Tänze erfordert nämlich vor allem in vollstem Maße die Aufmerksamkeit der Tanzenden, und so wurde aus dem heutigen Gesellschaftstanz schon längst ein Mittelding zwischen SpielSport und Kunst. Die Bezeichnung der modernen Tänze mit Tanzsport hat also sicherlich ihre vollste Begründung!

Wenn indessen ältere Leute, die sich heute ebenfalls zu den modernen Tänzen bekannten, mit Wehmut und etwas Trauer an den alten Walzer zurückdenken, so verbindet sich damit bloß die traute Erinnerung an verflossene goldene Jugendzeit, bei der leicht begreiflich das Tanzvergnügen stets eine große Rolle zu spielen pflegt. Spricht man da von einer ›guaten alten Zeit‹, so sind darunter wahrhaft nicht die großartigen wirtschaftlichen oder politischen Verhältnisse von einst gemeint, sondern bloß die poesieumwobenen Tage eines flott und heiter verbrachten Jugendabschnittes…

Nichts verrät mehr die heutige, praktische, nüchterne, sachliche Einstellung zum Leben als die modernen Tänze! Der Foxtrott ist getanzte neue Sachlichkeit; der ungekünstelte Gehschritt, aus dem sich bekanntlich alle weiteren modernen Tanzschritte entwickeln, liegt der Natur des Menschen am allernächsten; das menschliche Geschöpf hat ja zwei Beine, Gehschritte gehören also zu seinen selbstverständlichsten, wesentlichen Bewegungen, der Zweivierteltakt entspringt daher gleichsam seiner innersten Natur! Der Zauber einer Marschmusik, der jede Müdigkeit verscheucht und die schlaffsten Gemüter wie elektrisiert aufpulvert, übertraf an Macht seit je den wiegenden Dreivierteltakt. Die österreichischen Militärmärsche sind es auch, die, so seltsam und geradezu unglaubwürdig es klingen mag, an der Entwicklung der amerikanischen Tanzmusik den größten Anteil haben: Sousa, der bedeutendste Marschkomponist Amerikas, verwendete nämlich zum Aufbau seiner Kompositionen das System der österreichischen Märsche als Muster; und der amerikanischen Tanzmusik wieder dienten Sousas Marschkompositionen als Vorbild zu ihren Schöpfungen, und die modernen Tanzschlager bestehen ja bekanntlich – wie es bei den österreichischen Märschen auch der Fall ist – im Prinzip aus Vorspiel und Trio, respektive Chorus (Refrain)…

Viel wurde wieder in letzter Zeit auch von einer Wiederkehr des Walzers gesprochen, und was hierbei besonders bezeichnend ist: immer wieder kommen diese Nachrichten  gleichsam aus dem Lager der Reaktion, die mit Wiener Tanzlehrern gar nicht spärlich beschickt ist! Natürlich ist für ein ›Modernwerden‹ des Walzers derzeit weniger Aussicht vorhanden als sonst; der Walzer ist tot: so tot wie die einstige k.k. österreichische Monarchie! Der moderne Tanz, der die breitesten Massen beherrscht, bleibt weiterhin Beherrscher des Tanzparketts, nicht nur Oesterreichs, sondern der ganzen Welt, und mögen hiergegen unsere wackeren ›Teutschvölkischen‹ und sittsamen Klerikalen noch so sehr wettern und der Linzer Bischof serienweise seine lächerlichen Hirtenbriefe an seine Schäfchen adressieren…

In: Arbeiter-Zeitung, 12.2.1928, S. 8.