Theresa Rie-Andro: Zwei Mädchen am
Meer
Dies war das
schönste: wenn Marghè im Badeanzug leichtfüßig die Treppen der Terrasse
herunterstürmte, eine Klippe hinaufturnte und kopfüber ins Wasser sprang. Das
schwarze Trikot umschloß sie wie der Panzer einer jungen Kriegerin, der weiße
Gummihelm gab ihr etwas von einer Amazone und aus ihren Badeschuhen schienen
Flügelchen zu wachsen, die ihr alle Schwere benahmen. Aber auch wenn sie
umgekleidet zu Tisch erschien, war Marghè schön: dann lag ihr dunkles Haar auf
klassische Art um den schmalen Kopf und ihre weißen Kleider flossen ganz von
selbst zu milde bewegten Raffungen und Falten. Marghè, die eigentlich
Margherita Bazzini hieß, war die Tochter einer vornehmen Florentinerin, die
leidenschaftlich in der Bildhauerei dilettiert hatte, und eines römischen
Malers. Ehe und Eintracht der Eltern gehörten der Vergangenheit an, aber in
Marghè schien noch etwas von ihren Kunst- und Schönheitsträumen lebendig.
Wir waren ein Dutzend Menschen in diesen blauen Tagen an der
Adria, und Marghè kümmerte sich um niemand sonderlich. Sie saß fast immer bei
ihrer kränklichen Mutter, die ein feines, wissendes Gesicht hatte, und las ihr
aus kunstgeschichtlichen Werken vor. Auch vorher, als hier noch alles von Jugend
erfüllt war, sollte Marghè immer kühl und ablehnend gewesen sein. Das ging
alles so, bis die Studenten kamen. Dann wurde es in dem kleinen Hotel mit einem
Mal anders.
Sie kamen eines Abends, ein Bursch und ein Mädel, beide groß und
schlank und so zwanzig Jahre alt – etwas abgekämpft vom Tragen ihrer
Handköfferchen und mit sehr bestaubten Schuhen, denn sie hatten den Weg vom
Bahnhof zu Fuß zurückgelegt. Herr Meyer, der gerade im Haustor stand, sagte:
Nanu! Sie sind wohl auf der Hochzeitsreise?“ Das Mädchen zog den Jungen am
Ärmel und flüsterte: „Du! Da bleiben wir nicht!“ Worauf der Bursch sie
abschüttelte und brummte: „Sei nicht so albern, ja?“
Sie versuchten keineswegs, von der Wirtin, der sie ja ihre Pässe
abliefern mußten, Diskretion zu erzwingen. Nein, sie gaben ganz offen zu, nicht
im geringsten verheiratet zu sein. Er hieß Ernest und sie Ilse. Sie studierten
an der gleichen Universität und hatten sich zusammengetan, um diese Adriafahrt
zu unternehmen. Das erklärte der Junge so aufrichtig, daß selbst Herr Meyer
„nichts bei“ finden konnte. Sie zogen ihre Geldbörsen und rechneten und waren
selig, daß es auf zwei Mansardenzimmerchen mit voller Pension langte.
Nun hätte man denken sollen, daß es im Hotel endlose Bemerkungen
über die unklaren Beziehungen der beiden gab; denn ob sie ein Liebespaar waren,
blieb vielen zweifelhaft. Nie sah man sie in zärtlicher Umschlingung, sie
schwammen, ruderten, segelten, kletterten miteinander, es war gar nichts
„Schwüles“ um sie, wie Frau Meyer bemerkte, aber ihr Gatte sagte: „Das ist eben
neue Sachlichkeit. Zwei so junge Menschen, ganz allein in Italien und obendrein
unbeaufsichtigt im dritten Stock! Nee, mich macht man nicht dumm!“ Aber Meyers
waren die einzigen, die Neugierde zeigten. Bei den anderen Ehepaaren riefen die
beiden Sehnsucht, ja Rührung hervor. Da kam eine neue Jugend herauf, die leben
durfte, wie sie wollte. Die Frauen seufzten – ihnen war eine solche Reise nicht
zuteil geworden. Und auch die Männer, denen solche Liebesfahrten bekannter
waren, wurden ein wenig wehmütig, wenn sie die schlanke rotbraune Ilse mit dem
Hasengesichtchen ansahen; ihre Partnerinnen waren nicht so nett gewesen.
Alle waren freundlich zu den jungen Leuten, und jeder versuchte,
ihnen etwas Nettes zu erweisen. Ilse taute auf dabei, die mehr Hemmungen zu
überwinden gehabt hatte als ihr Kamerad. Nur eine wollte von den beiden nichts
wissen: Marghè. Trotzdem es natürlich gewesen wäre, wenn ihre Jugend sich
einmal zur Jugend der anderen gesellt hätte. Aber sie wandte den Kopf
verächtlich weg, wenn sie dem Paar begegnete und vermied nach Kräften ein
Zusammentreffen auf den Badeklippen. „Warum bist du so häßlich zu ihnen,
Marghè?“ fragte die Mutter, als sie in ihren Liegestühlen auf der Veranda
ruhten.
Marghè ließ den Band Burckhard sinken, aus dem sie in ihrem
harten, aber klaren Deutsch vorgelesen hatte. „Mammina! Du möchtest, dass ich
mit – solchen Gemeinschaft halte …!“
„In anderen Ländern ist es ganz anders als bei uns, Marghè, wo die
Mädchen noch völlig in der Familie leben… Man muß sehen und verstehen. Ich
wünschte, du wärst mehr wie andere junge Mädchen; du beurteilst alle Dinge des
Herzens so hart!“
„Du möchtest vielleicht, daß ich auch so herumzöge?“ fragte Marghè
schneidend.
„Da sei Gott vor! Nein, das muß schwer für Mütter sein. Auch für
die von Ilse. Aber ich glaube ganz sicher, daß die nichts davon weiß. Denn
neulich weinte das Mädchen vor Angst, weil sie eine kleine silberne Nadel
verloren hatte, und ich dachte: Wenn diese Mutter schon wegen einer kleinen Silbernadel
zankt… Verstehe mich recht, Marghè, du sollst nur nicht verurteilen, was du
nicht kennst. Ach, Kind, ich habe soviel gesehen…“
Aber Marghè schien nicht wissen zu wollen, was die Mutter gesehen
hatte. Sie nahm das Buch wieder auf und las in ihrem korrekten, etwas harten
Deutsch von der Kultur der Renaissance.
Das Seltsame war, daß Ilse und Marghè einander ähnlich sahen.
Nicht in der Nähe natürlich und nicht von Angesicht, denn Marghès Züge zeigten
reinsten lateinischen Schnitt und hinter Ilses rötlich umbuschtem Hasengesichtlein
stand in gottlob noch weiter Ferne die Häßlichkeit. Aber sie waren gleich
hochbeinig und schlank, wenn Ilse auch ein wenig knabenhafter und eckiger
schien, als die wundervoll fein modellierte Marghè. Sie trugen beiden die
Badeuniform des Jahres, Trikot schwarz, Badehelm, Gürtel und Schuhe in Weiß,
und sah man eine von ihnen kühn von den Klippen ins Meer sausen, so konnte es
sein, daß man später sein Kompliment über diese sportlich prächtige Leistung an
die falsche Adresse brachte: was Ilse Verlegenheit schuf, während Marghè
verächtlich die Lippen kräuselte.
So ging die Woche herum, die den Studenten gehörte. Eines Abends
bezahlten sie ihre Rechnung, denn am frühen Morgen sollten sie heim, und Ilse
bekam bei dem Wort Tränen in die Augen, woraus man entnehmen konnte, daß „Heim“
für sie beide nicht das Gleiche war. Ernest ließ eine Flasche Asti Spumante
kommen, und sie ratschlagten unter Assistenz der ganzen Terrasse, wie dieser
letzte Abend, an dem der Vollmond so herrlich über dem Meere stand, besonders
zu feiern sei. „Wir wollen schwimmen!“ entschied Ernest. „Hinaus in den
Mondschein – Mond macht warm!“ sagte Ilse träumerisch. „Also hopp, spring
hinauf und nimm dein Badezeug wieder aus dem Koffer!“ befahl Ernest. „Ich habe
meines unter dem Anzug an. Vertrödle dich nicht, ich gehe jetzt noch ins Boot
und hole dich in zehn Minuten an der Klippe ab!“
Das Meer war licht und perlmuttfarben, aber die Klippen lagen im
tiefsten Schwarz; dennoch konnte Ernest im Dunkel den weißen Badehelm, die
weißen Schuhe schimmern sehen. „Los, ins Wasser! Ich mache nur den Kahn fest
und komme dir nach!“
Gehorsam sauste die schmale Gestalt mit prachtvollem Schwung ins
Meer und tauchte gleich wieder auf. Ernest sprang ihr nach. Plötzlich hatte er
ein sonderbares Gefühl: „Aber das ist doch nicht Ilse!“ „Du!“ rief er leise.
Das Mädchen senkte den Kopf aufs Wasser und begann zu kraulen. Ernest war in
ein paar Stößen an ihrer Seite. „Marghè!“ flüsterte er. Er hatte kaum je mit
ihr gesprochen, nur gehört, daß man sie so rief.
Marghè war ganz nahe bei ihm und doch weltenweit getrennt durch
kühles Element. Warum war es Marghè? Wozu setzte sie sich an Ilses Stelle? Sie
waren jetzt im hellen Mondschein, alles war wie ein Zauber, fremd und doch
bekannt; hatte er das in seiner Seele schon lange geträumt? „Marghè!“ rief er
nochmals leise und wollte ihre Hand fassen, aber sie bog ab. Er begriff, daß es
nicht größere Nähe gab, als die, in der sie schon waren.
Sie hatten das Tempo verlangsamt, zogen schweigend nebeneinander
her, und vor ihnen war blasse, schimmernde Unendlichkeit. Nichts war zu hören
als das leise Rauschen, mit dem sie die Wellen teilten. Man verlor das Gefühl
für Zeit und Raum. Ernest wusste nicht, war sein Körper eins mit dem Meer
geworden. Oder mit Marghè.
Das Licht war nun bis ans Ufer gedrungen, und auf der Klippe stand
Ilse allein. Sie hatte sich, wie immer, ein wenig vertrödelt, und nun glaubte
sie zu träumen. War Hexerei in dieser Mondnacht möglich? Stand sie zugleich
hier und schwamm weit draußen mit Ernest? Aber gleich erkannte sie die
Wahrheit. Marghè, Kühlste aller Kühlen, hatte ihr heimtückisch dieses Erleben
des letzten Abends gestohlen!
Sehr einfach, dachte Ilse wütend. Man geht ins Wasser und ihnen
nach. Verbieten kann ich Marghè das Meer nicht, aber sie mir auch nicht.
Indessen begriff sie sofort das Lächerlichste einer solchen Situation. Überdies
sahen von der Hotelterrasse oben sicherlich Leute diesem nächtlichen Mondbad
zu. Grotesk, wenn neben einem weißen Helm ein zweiter auftauchte, wenn die Lage
offenbar würde!
Nun wandte sich Marghè dem Ufer zu und Ernest mit ihr. Sie
schwiegen beide und ihr Schwimmen war lautlos, es war, als ob das wundervolle Wasser
sie trüge oder der Mond. Das Meer war seidenglatt, sie zogen Furchen darin, schimmernd
wie Platin.
Dann sprang Marghè ans Ufer und sah Ilse stehen. Beide Mädchen
hielten sich gerade aufgerichtet und blickten einander an. Sie waren gleich
groß, gleich schlank, fast gleich gekleidet, aber dennoch hätte man sie jetzt
nicht verwechseln können. Wie Kämpfer hatten sie ihre Helme abgenommen, die
sonst nur eben die Nasenspitze freigaben. Aus Marghès Gemmenantlitz und aus
Ilses Hasengesichtlein blitzten entschlossene, kampflustige Augen. Zwei Mädchen
standen hier, aber auch zwei Charaktere, zwei Nationen, zwei Weltanschauungen –
was hatten sie sich zu sagen?
Doch in den großen Augenblicken des Lebens pflegt nicht gesprochen
zu werden. Vielleicht bedrängten sie ihre Gedanken zu heftig, als daß sie ihnen
Ausdruck verleihen konnten, vielleicht hatte keine von ihnen die Gabe des
richtigen Wortes. So standen sie nur eine Weile und sahen sich an. Der
schuldig-unschuldige Mann hielt sich hinter ihnen: entschieden verlegen, einen
Ausbruch der beiden befürchtend und doch leise hoffend, wie auf ein prächtiges
Naturschauspiel.
Endlich blickte Marghè von Ilse fort, die dastand, gehemmt und
rechtlos, im Innersten empört und doch die Aussichtslosigkeit ihrer Lage
begreifend. „Ich danke vielmals für den Ausflug!“ sagte Marghè in ihrem harten
klaren Deutsch. „Ich wollte versuchen. Aber ich weiß jetzt: nicht für mich! Es
tut mir leid, wenn ich gestört habe. Ich wünsche eine gute Reise!“ Sie sagte
das nicht triumphierend, sondern sehr ernst und nachdenklich, beinahe traurig.
Dann schwang sie sich von der Klippe zur Erde nieder, die im Dunkel lag, und
verschwand.
Als sie den gleichen Felsen am nächsten Morgen wieder erklomm, um
von hier mit einem Kopfsprung ihr tägliches Bad zu beginnen, waren die
Studenten schon lange fort. Sie saßen in der Eisenbahn mit bestaubten Schuhen
und recht abgemüdet vom Schleppen ihrer Handkoffer, die schwer waren von dem
noch nicht recht getrockneten Badeanzug. Ernest war sehr nett zu Ilse, legte
ihr seinen Rock auf die Holzbank unter und kaufte ihr grünrosige Fei-* Feigen
auf der Station. Alles war wie sonst, und nichts schien geschehen. Aber dennoch
wußte Ilse mit dem Hasengesichtlein, daß nicht nur die Reise, sondern auch
mancherlei anderes dem Ende zutrieb.
In: Die Bühne, H. 380 (1934), S. 20f und S. 52.