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N.N. [Friedrich Austerlitz]: Ungarn und wir

             Die proletarische Revolution in Ungarn hat ihre besonderen, ihre eigentümlichen Züge. Sie ist nicht so sehr eine Erhebung gegen die Bourgeoisie des eigenen Landes als ein Aufstand gegen die Ententebourgeoisie. Die Entente hat den größten Teil Ungarns an Tschechen, Rumänen und Südslaven verschenkt. Das ungarische Volk lehnt sich gegen die Zerstückelung seines Landes, gegen die Preisgabe magyarischer Städte an fremde Nationen auf. Es faßt den verzweifelten Entschluß, sich gegen die übermächtigen Sieger mit der Waffe in der Hand zur Wehr zu setzten. Aber werden die Arbeiter und die Bauern dem Rufe zu den Waffen folgen? Werden die kriegsmüden Soldaten todesbereit gegen Tschecho-Slovaken und Rumänen marschieren? Sie werden es nur dann, wenn Ungarn wirklich zu ihrem Vaterland wird; wenn der Staat ihr Eigentum wird, wenn die Fabriken und der Boden ihr Besitz werden. Die magyarische Bourgeoisie, deren wirtschaftliche Daseinsmöglichkeit die Zerstückelung des Landes zerstört, faßt den verzweifelten Entschluß, zeitweilig abzudanken, Arbeitern und Bauern kampflos die Staatsgewalt zu überlassen, weil sie darin das einzige Mittel erblickt, die Proletarier der Fabrik und der Scholle zu neuem Kampfe gegen den Landesfeind aufzubieten. So kann das Proletariat, ohne Widerstand zu finden, die Macht ergreifen. Die soziale Revolution dient hier der nationalen Verteidigung; der Übergang der Macht aus den Händen der Bourgeoisie in die Hände des Proletariats dient der Verteidigung des Landes gegen den äußeren Feind. Es ist nicht zum erstenmal so: 1792 hat das französische Volk die Jakobiner zur Macht erhoben, weil es sie allein für befähigt hielt, den nationalen Widerstand gegen die koalierten Fürsten ganz Europas zu entfesseln; 1871 ist die Pariser Commune aus der Bewegung der Patrioten hervorgegangen, die die Unterwerfung unter das Gebot des deutschen Siegers bekämpfen, den Krieg gegen Deutschland fortsetzen wollten.

             Das ungarische Proletariat ruft die Proletarier der Nachbarländer, auch die Proletarier Deutschösterreichs auf, seinem Beispiel zu folgen. Und schon leuchtet hier manches Auge heller, schon schlägt hier lauter manches Herz! Ist nicht auch hier – in Deutschböhmen und im Sudetenland, in Südtirol, Kärnten und Untersteier – deutsches Land vom übermütigen Sieger bedroht, der über Völker verfügt, als ob es Herden wären? Ist nicht auch für uns die Stunde gekommen, die Bourgeoisie zu stürzen, die Macht an uns zu reißen, die Fabriken und Bergwerke, den Boden des Adels und der Kirche mit einem Schlag dem Volke zuzueignen?

             Und doch sind wir in ganz anderer, viel schlimmerer Lage als die Brüder in Ungarn. Gewiß, die Bourgeoisie des eigenen Landes könnten wir so leicht und so schnell entthronen wie wie; das würden ein paar Bataillone Volkswehr besorgen. Aber von der Ententebourgeoisie sind wir ganz anders gefesselt als das magyarische Proletariat. Die Diktatur des Proletariats würde hier wie dort eine Herausforderung der Entente, eine Kriegserklärung an sie bedeuten. Die Ungarn ertragen es, wenn die Ententemissionen Budapest verlassen; sie haben immerhin noch Lebensmittel im eigenen Lande. Wir würden es nicht ertragen. Wir haben kein Mehl mehr als das, das die Entente uns schickt. Wenn die Entente die Lebensmittelzüge einstellt, hätten wir kein Brot mehr. Die Ungarn raten uns, uns von Paris zu trennen, um uns mit Moskau zu verbünden; aber Moskau ist weit, die Sowjetarmeen stehen noch mehr als tausend Kilometer von uns, Polen und die Ukraine sperren uns jede Verbindung mit ihnen; wir sind an Paris gefesselt, weil nur Paris uns Brot geben kann.

Was täten wir, wenn die Entente uns kein Getreide, kein Mehl mehr schickt? Bei den Reichen requirieren? In Wien gibt es ungefähr 500.000 Haushaltungen, unter ihnen etwa ein Zehntel, also etwa 50.000 reiche. Nehmen wir an, daß jede reiche Famile für zehn Tage Mehl vorrätig habe. Wir könnten dieses Mehl requirieren. 50.000 Familien brauche für zehn Tage so viel wie 500.000 für einen Tag. Wenn wir also die gehamsterten Vorräte der Reichen beschlagnahmen, so hätten wir gerade so viel Mehl, als das Wiener Volk für einen Tag braucht. Und dann?

Wir könnten bei den Bauern requirieren. Aber Deutschösterreich ist ein Gebirgsland; im größten Teil des Alpenlandes wächst kein Getreide. Wir haben auch im Frieden nie von deutschösterreichischem, sondern von ungarischem, galizischem, mährischem Getreide gelebt. Was heute bei den schärfsten Requisitionen aus den Bauernhöfen noch herauszuholen wäre, würde nicht einmal für einige Wochen, wahrscheinlich nicht für vierzehn Tage reichen. Und dann?

Ungarn kann uns nichts geben; seine getreidereichen Gebiete – die Bacsa, das Banat, die Slovakei – sind von fremden Truppen besetzt. Oder sollen wir darauf rechnen, daß die Revolution auch nach Böhmen überschlagen wird, daß die Tschechen uns dann helfen werden? Nun, die Tschechen könnten uns Kohlen liefern, sie könnten uns vielleicht für ein paar Tage mit Kartoffeln versorgen, aber Getreide für uns hätten auch sie nicht! Oder sollen wir darauf bauen, daß die Revolution auch die Ententeländer erfassen, ihr Proletariat uns dann Getreide schicken wird? Aber wann wird das geschehen? Vielleicht nach Monaten, vielleicht in einem Jahre! Und wir haben nicht für zwei Wochen Vorräte!

So ist Deutschösterreich ganz auf die Zuschübe der Entente angewiesen. Durch den Hunger sind wir der Entente wehrloser ausgeliefert, als wir es durch eine Besatzungsarmee wären. Der Versuch, hier eine Rätediktatur aufzurichten, würde damit enden, daß wir in ein paar Tagen ganz ohne Brot wären, binnen kurzem durch die Hungersnot zur Kapitulation gezwungen würden. Darum keine Illusionen! Mit der Bourgeoisie des eigenen Landes fertig zu werden, wäre leicht; aber die Ententebourgeoisie hält uns in Fesseln, die wir nicht zu sprengen vermögen, und sie hält schützend die Hand über der heimischen Bourgeoisie!

Aber so wehrlos wir heute sind, wir brauchen darum nicht zu verzweifeln. Die Rätedikatur in Ungarn beweist trotz alledem, daß unsere Sache marschiert. Unaufhaltsam wälzt sich die Welle der sozialen Revolution vom Osten nach dem Westen. Die Stunde wird kommen, in der auch die Arbeiterklasse Englands und Amerikas, Frankreichs und Italiens die Fesseln sprengen wird! Der Ententebourgeoisie wehrlos unterworfen, sind wir heute noch ohnmächtig; aber wenn sich das Proletariat der Ententeländer selbst gegen seien Bourgeoisie erhebt, dann werden im Bunde mit ihm auch wir alle Fesseln brechen.

In: Arbeiter-Zeitung, 23.3.1919, S. 1.

e[rnst] f[ischer]: Sprechchor und Drama

Alle, die das Problem des Theaters, des Dramas, der Bühnenkunst prüfen, konstatieren seit Jahren in sämtlichen europäischen Ländern die Krise des Schauspiels. Immer wieder ist es vor allem das eine, dessen Mangel schmerzlich empfunden wird: der unmittelbare Kontakt mit dem Publikum. Einst Megaphon religiöser Erlebnisse, später Tribüne herrschender oder revoltierender Klassen, ist das Theater ein Luxuslokal geworden, in dem zusammengewürfelte Massen sich unterhalten wollen. Einerseits erstarrte das klassische Drama in tönender Langeweile, Anlaß zu Festprologen und billigen Phrasen, andererseits waren Autoren und Regisseure gezwungen, durch Effekte lärmender oder sentimentaler Art die Nerven des Publikums zu dem neuen Werke zu verführen. Zwischen  dem zahlenden Publikum und der Bühne klaffte ein Raum, der nur durch die Sensation überbrückt werden konnte.  Dichtung, Inszenierung, Erfolg waren Zufälle ohne tiefere kulturelle Bedeutung, ohne lebendige Bindung mit der Zeit. Man konnte immer auch anders. –

             Das Theater der letzten Jahrzehnte war das Theater des altgewordenen Bürgertums, des Bürgertums, das die Klassiker zu Zitatenonkeln entfärbte und sich bei Operetten von ihnen erholte, des Bürgertums, dem die Werte Schillers zur Konvention und Extravaganzen der Kunst zum Bedürfnisse geworden waren, des Bürgertums, das aus der Wirklichkeit in die Romantik floh. Der Naturalismus war der letzte große und einheitliche Versuch, aus verstaubten Kulissen das schwindende Leben zu retten, der Naturalismus, der zugunsten der von den bürgerlichen Epigonen mit Limonade vergifteten Wahrheit auf Stil und Symbol verzichtete und sich daher sehr bald in innere Widersprüche verwickelte, an denen er starb. Dann kamen die teils genialen, teils schwachsinnigen Experimente des einzelnen, auf eigene Faust eine neue Form des Dramas zu finden. Von den gewaltigen Experimenten Strindbergs und Wedekinds bis zu den blutlosen Konstruktionen der Expressionisten oder den Kunststücken Pirandellos wirken nur ein gemeinsames Wissen, ein gemeinsamer Wille in den Dramatikern des interessant verwesenden Bürgertums: „Die alten Formen sind tot, wir müssen neue finden.“

             Es ist charakteristisch für die Zeit der triumphierenden Technik, daß die Regisseure (vor allem die russischen) die Möglichkeiten einer Theatererneuerung viel deutlicher witterten als die Dramatiker, daß die Inszenierung die Voraussetzungen für Kunstwerke schuf, mit denen die Zeit schwanger geht, ohne sie gebären zu wollen. Der Regisseur riß die Herrschaft an sich und wurde zum eigentlichen Schöpfer und Dichter, ohne daß aus der wundervollen Maschinerie ein Gott sich erhob. Aber die Bühnenzauberer unserer Tage, die Meister des Lichtes, der Farbe und der Dynamik, haben Urkräfte des Theaters entfesselt: Sie haben die von Pedanten vertriebene Lust am Spiel zurückgerufen und sie haben künstlerisch das zwanzigste Jahrhundert entdeckt. Das alles gilt freilich nur für die Inszenierung, nicht aber für die Unterwerfung der Darsteller unter einen bestimmten Stil.

             Das Proletariat war von diesen Ereignissen ausgeschlossen, das Theater war eine Angelegenheit der bürgerlichen Gesellschaft – und weil es das war, konnte es nicht mit strotzendem Leben erfüllt werden. Die sterbende Klasse war nicht mehr fähig, kulturproduktiv in die Zukunft zu zeugen. Nun aber erleben wir etwas seltsam Erschütterndes: Während das Bürgertum die technischen Voraussetzungen für eine neue Bühnenkunst improvisierte und das Theater technisch revolutionierte, begann im Proletariat die neue Form des Dramas organisch sich zu entfalten. Kulturelemente werden nicht am Schreibtisch erklügelt, sie wachsen langsam in tausend Herzen und sind auf einmal da.  Und so entstand an vielen Orten zugleich, aus der Schöpfersehnsucht der proletarischen Jugend geboren, der Sprechchor. In namenloser Gemeinschaft, wie es an den Maschinen steht, wie es gegen die Ordnung der Dinge sich aufbäumt, wie es zu schicksalsverkitteter Solidarität sich bekennt, schafft sich das Proletariat seine Kunst. Der Sohn, die Tochter aus bürgerlichen Familie imitieren, wenn sie sich künstlerisch betätigen, den übelsten Typus des bürgerlichen Kunstbetriebes, den Star, der junge Proletarier, die junge Proletarierin symbolisieren in ihrem Verlangen nach künstlerischem Ausdruck das Schicksal der Klasse, der sie angehören, den Dienst an anonymem, an kollektivem, an gemeinsamem Werk. Kunst und Leben sind eins in diesem Tun und das ist entscheidend, jede Kultur entsteht aus dieser Einheit von Kunst und Leben, jede Kultur zerbröckelt, wenn diese Einheit sich auflöst.

             Ich halte den Sprechchor in der Tat für die Urform eines neuen Dramas, wie einst der griechische Chor, wie einst der Chor der ersten Kirchenspiele es war. Und wer vor einigen Tagen im Opernhaus den Sprechchor der sozialistischen Arbeiterjugend sah und hörte, wer die wundervolle Kraft und Erschütterung, die von der Sinfonie ihrer Stimmen und der Reinheit ihres Spieles ausging, erlebte, der wird meinen Glauben und meine Hoffnung teilen. Man könnte vielleicht einwenden: Was soll ein gelungenes Experiment beweisen? Nun, was ursprünglich nur als Experiment gedacht war, wurde zum wesentlichen Ereignis. Es handelt sich nicht so sehr um den Effekt, den man mit einem sorgfältig geschulten Sprechchor erzielen kann, es handelt sich vor allem darum, daß das Publikum wieder mitspielt, daß die Menschheit der Zukunft, die Arbeiterschaft, die bisher im bürgerlichen Theater nur ein geduldeter Gast war, sich selber auf der Bühne erleben kann, und zwar nicht nur inhaltlich (das war schon bei manchen naturalistischen Dramen, man denke nur an „Die Weber“, der „Fall“), sondern auch in seiner ureigenen Form, in der unisono empfindenden und hanselnden Masse.

             Das Drama der Zeit, die Großstadt, die Arbeiterbewegung, die Revolution, mußten stets in die Formelemente des bürgerlich-individualistischen Dramas übertragen werden, damit man es überhaupt darstellen konnte – und an diesem inneren Widerspruch kranken alle revolutionären Bühnendichtungen unserer Tage. Es war wohl möglich, eine Massenaktion äußerliche richtig, in photographischer Natürlichkeit, auf die Bühne zu projizieren, aber die innere Wirklichkeit, das geheimnisvolle Fluidum der Masse mußte geopfert werden. Und da es im Drama vor allem um innere Erlebnisse geht, waren die großen, die mythischen, die göttlichen Dinge des zwanzigsten Jahrhunderts von der Bühne so gut wie verbannt und die erotischen und pathologischen Konflikte des untergehenden Bürgertums beherrschten das Repertoire. Eine Wiedergeburt der Tragödie aus dem proletarischen Sprechchor würde die Dichter zur Überwindung der kleinlichen Psychologie, der medizinischen Spässe, der überspitzten Gehirnschweinerein, würde sie zu Form und Größe erziehen.

             Das heißt natürlich nicht, daß morgen oder übermorgen das neue Drama blank und gepanzert vor uns hintreten wird; aber alle Dramatiker, die unter dem Zwiespalte der Bühnenkunst leiden und um den künstlerischen Ausdruck der Zeit ringen, werden bald zu dem Sprechchor der Arbeiterschaft in die Schule gehen und hier aufatmend, mitten unter Maschinen und Konstruktionen, etwas organisch Bewachsenes, herrlich Lebendiges entdecken, etwas das nur darauf wartet, einem Werke dienen zu dürfen. Die Möglichkeiten sind euch gegeben, und das Zeit, die Techniker der Inszenierung und das Proletariat haben alles für euch getan, ihr müßt nur hineingreifen in diese beginnende Welt und aus ihr ein dramatisches Gleichnis formen. Denn nicht aus euren einsamen Experimenten, nur aus dem Wesen einer neuen Gemeinschaft wird eine neue Kultur und mit ihr ein neues Drama sich bilden. Und tausendmal lebendiger und ergreifender als alle eure persönlichen Konflikte und Probleme ist der Sprechchor, den die Arbeiterjugend sich geschaffen hat.

In: Arbeiterwille, Graz, 18.10.1925, S. 5-6.1

  1. Der Text ist auch abgedruckt bei: Ernst Fischer: Neue Kunst und neue Menschen. Literarische und essayistische Texte aus seinen Grazer Jahren (1918-1927). Hg. von Jürgen Egyptien. Graz: Clio 2016, 219-223.

Franz Theodor Csokor: Ballade von der Stadt. Eine Vorbemerkung

Der Versuch, ein kollektiv gedachtes Drama ins Hörspielmäßige zu formen, wird hier gewagt. Gerade das kollektive Drama wäre ja wie kaum ein anderes zum Hörspiel vorbestimmt, da es ja auch durch das gewaltigste Kollektivmittel, den Sender, verbreitet wird. Doch erhebt seine Gestaltung in solchem Sinne besondere Ansprüche, die sich von einer bühnenmäßigen Interpretation scharf scheiden. Die Urelemente eines Hörspiels: Verwiesenheit auf das Wort, Bestimmung des Schauplatzes durch akustische Mittel, Übertragung der optischen Räumlichkeit in eine akustische, zu der das Ohr als als räumlich denkendes Organ erzogen werden müßte, architektonische Stufung der Vorgänge durch musikalische Cäsuren, die zugleich den Vorhang des Theaters ersetzen [‚Tonvorhang‘], Verflechtung psychologischer Rezitative und Leitmotive zur Verdeutlichung der Geschehnisse, und Lösung der notwendigen Geräusche vom zufällig Naturalistischen ins stilhaft Schicksälige, all das fordert, daß dem Text eine Art Partitur1 beigegeben sei, die ihm Satz um Satz begleite. Für die Wahrnehmung des Schauplatzes hier herrscht Einheit des Ortes, der nur seine Züge in dem mehr als ein Jahrtausend umfassenden Ablauf des Werkes vollendet, – griff der Verfasser zu der Figur des „Ansagers“, wie er auch im Kollektivdrama der Mysterienspiele, im Hans-Sachs-Stück und als „aboyeur“ der „Beller“ bei der französischen Komödie heimisch war. Mit einer der Dichtung angeglichenen gebundenen Strophe gibt er jeweilig die erforderlichen Erläuterungen über Szene und Vorgang in einer geistigen Synthese aus beiden.

             Nun zu den Vorgängen: Ursprung, Wuchs, Blüte, Gipfel, Verfall und Untergang einer Riesenstadt über dem Giftkeim des Goldes, also ein von Gier nach Macht und Besitz gestacheltes Werden, ausgedrückt durch die an dem Goldschacht aufwachsende Stadtmauer über dem bleibenden Schauplatz des Werkes, ist das Motiv der in balladesker Verkürzung geschürzten Handlung. Den Gegenspieler macht der Uralte, das ruhige, für alles Lebende gerechte und gleichmäßige Sein der Erde, die Frucht und Freude für jedermann hätte, wäre nicht Wahn und Hast jenes Werdens mit seinem wuchernden Kampf um das Gold. Der Uralte, – er ist die Erde selbst, die in sich Kraft und Willen hätte zu einem künftigen Paradies, das nicht erst jenseits des Lebens liegt, würde der Mensch sie nicht nur als Wert und Besitz begreifen wollen.

             Eine Art Calderonsches Welttheater also ist // dieses Stück, nur ohne eigentlichen ‚deus ex machina‘; die Lösung heißt hier; der höhere Mensch! Mensch in Gemeinschaft und Arbeit so streng gegen sich, als drohten noch alle Höllenstrafen, aber aus sich so, um des Menschen willen, stets inne der heiligen Einmaligkeit des irdischen Lebens, das befreit sein muß von aller Zweckversklavung zugunsten Einzelner. Das ist das Ziel, wie es das letzte Bild dieses Werkes aufreißt; es steht damit in Antithese zu dem Beginn.

             Im Anfang fährt das Gold im Blitze zur Erde nieder und weckt den Uralten als Wächter. Aber das Unheil muß ausreifen, wie alles. Ein Menschenpaar in bäuerisch mythischer Urzeit findet das Gold und umarmt sich über ihm, der Wurzel der Stadt, die von da ihren Ursprung nimmt. Doch beide, die nun mit dem Mauerbau beginnen, erfreuen sich nicht lange ihrer Macht; von ihren Knechten werden sie getötet. An der Mauer geraten die beiden Mörder in Streit; der eine erschlägt den andern und wirft sich zum Despoten auf. Er möchte die Mauer bis an den Himmel heben und über die ganze Erde herrschen kraft seines Goldes. Als er die ihm von der Natur gesetzten und durch den Uralten verkündeten Grenzen seiner Macht erkennt, will er sich auch ihrer Zeichen begeben, –  aber die Menge, die er sich selbst zu Sklaven gezüchtet hat, zerreißt ihn im gleichen Augenblick, da er die Geißel über sie zerbricht. Die früheste Äußerung der Massenherrschaft, die über ihn gesiegt hat, wird, ehe sie sich ihrer bewußt ist, von den eben so einfachen Urformen des Unternehmertumes, den Herren der Elemente, mit dem Symbol des geheiligten Königtums gebändigt. Das Bündnis von Krone und Gold erweckt den Krieg, und durch ihn gerät mit dem Sturz des Königtums der alte noch im Ständewesen fußende Reichtum in eine Krise. Die Revolution gärt auf, befehdet von der Gegenrevolution, – es ist eine Revolution, die noch um die Macht in der Stadt geht, nicht um die Befreiung des Menschen; sie, die auf dem verdorbenen Grunde des Goldes sich entzündet hat, führt mit unabweislicher Notwendigkeit die nackte Plutokratie herbei, die Herrschaft des Händlers. Die Menschheit der Stadt, nun selbst zur ruhelosen Maschine geworden, erliegt der Despotie ihrer Mittel.

Der Kampf um das Gold geht in rücksichtslosester, durch keinerlei Traditionsehrfurcht mehr gehemmter Art weiter. In der Figur des Händlers ist der neue Reichtum erstanden, in dessen Anfang nicht einmal mehr die eigene Arbeit wirkt wie den früheren Herren der Elemente, sondern die mühelose geschickte Ausnützung und Vergleichung von Angebot und Nachfrage. Das führt zu noch tieferer Versklavung; die Mauer hinter dem Goldschacht wird schließlich zu einer riesigen Klagemauer, an der die rettungslos an das Gold verhaftete Menge sich wütend die Fäuste wund schlägt, um so, – sei es auch über den selbstmörderischen gemeinsamen Untergang, – ins Freie zu gelangen. Verkündiger solcher stets schicksalshafter begehrter Zerstörung wird ein Schreiber, dessen Berufung zum Dichter an der Stadt verdorrte, und ein im Goldbergwerk irrsinnig gewordener Roboter des Reichtums. Der Schreiber erkennt im Sehergeist seines verstümmelten Künstlertums den Uralten, der durch alle Geschehnisse gewandert ist, als den letzten über die Stadt: Die Erde selbst schaut er in ihm, die Erde, die nach langer Duldung üb er der verkrampften Unnatur einer unlösbar dem Gold verdingten Gemeinschaft zusammenschlägt, angerufen von jener Gemeinschaft selbst, die ihres Daseins überdrüssig geworden ist. Eine furchtbare Katastrophe schlagender Wetter, die sich der Irre entfesselt zu haben rühmt, zermalmt die Stadt und alles, was in ihr lebte, also zu schwach für wirkliches Leben wurde. Und die Stimmen aller, die an der Stadt gestorben sind, mengen sich in diesen Untergang. Und wieder wird Acker wie zu Beginn. Wieder steht ein Menschenpaar darauf, Mann und Weib, dieses Mal Pioniertypus des neuen Menschen, des tektonischen, der sich jetzt Glied einer höheren Gesamtheit fühlt als einer durch Gold und Stein verpflichteten. Wieder findet die Frau das Gold, aber sie wirft es von sich. „Euer Siegt!“ ruft es ihnen aus dem Dickicht zu; dort entdecken sie den Uralten, wie im Schlafe liegend. Sie berühren ihn und er zerfällt zur Erde, die er ist, denn sein Hüteramt ging jetzt zu Ende mit der Absage der beiden an das Gold. Die neue
Stadt
braucht nicht Stein noch Erz zu ihrem die Welt umspannenden Bau. Hände, die einander fassen, sind ihre Mauer; Herzen, die einander finden, sind ihre Gassen; Geist, der sich brüderlich erkennt, ist ihr Gold. Und die Dinge sind ihnen untertan, nicht zu Gewalt, Schlacht und Mord, – sondern zu wechselseitiger Hilfe.

             Dies der Sinn meiner Dichtung, die so um einen sozialethischen, also von welcher Weltanschauung immer: kollektiv gebotenen Ausklang bemüht ist.

In: Radio Wien, 15.2.1929, S. 328-329.

  1. Alle im Text kursiv ausgewiesenen Stellen sind im Original gesperrt gedruckt.

Marianne Pollak: Vom Reifrock zum Bubikopf. Revolution und Mode

Die Mode ist seit jeher die besondere Domäne der Frau gewesen. Durch Schminke und Haartracht, durch Halsausschnitt und Faltenwurf haben die Frauen jahrtausendelang verstanden, dem Mann zu gefallen. Die Tracht ist vor allem ein lebendiger und sinnfälliger Ausdruck der jeweiligen  E r o t i k  einer Zeit. Immer haben Revolutionsepochen in der Geschichte strenge Kleiderordnungen gelockert und einer ungezwungenen und freieren Kleidung Raum geschaffen. Denn das Kleid ist zugleich eines der wichtigsten Mittel der  K l a s s e n s ch e i d u n g. Jede neue Mode geht von der herrschenden Schicht in der Gesellschaft aus, die darauf sieht, daß die Masse des Volkes ihr es in Schnitt und Ausführung der Gewänder nicht gleichtue. Die höhere Vernunft der menschlichen Kleidung aber liegt schließlich in ihrer  Z w e ck m ä ß i g k e i t, indem sie den Körper vor Wetterunbill schützt und den Gebrauch der Glieder nicht hemmt.

Als am Ausgang des fünfzehnten Jahrhunderts Europa, aus der Enge bäuerlicher und zukünftiger Wirtschaft erwachend, die grandiose Entwicklung zum Welthandel durchmachte, da brach eine Zeit ungehemmter Lebensfreude für die besitzenden Klassen an: die  R e n a i s s a n c e. Die grobe, die Körperformen entstellenden und verhüllenden Trachten des asketischen  Mittelalters waren kein richtiges Kleid für den machterfüllten Handelsherrn, dem die Schätze des Erdballs zuströmten. Die reiche Bürgersfrau der Renaissance – Rubens hat ihr unvergängliches Porträt geschaffen – trug nicht nur bei Festlichkeiten, nein auch daheim, ja auf der Straße und selbst in der Kirche, unter den Augen der Geistlichkeit, den tiefen  B r u st a u s s ch n i t t. Weit ausladende  W u l st e n r ö ck e  verbreiterten die Hüften durch Umlegen von schweren Stoffrollen, die nicht selten bis zu fünfundzwanzig Pfund schwer waren. Obendrein wurde die weibliche Brust mit Hilfe des Mieders, ja oft durch Wattierungen hervorgehoben. Strotzende Kraftfülle war das Schönheitsideal der Renaissance.

Im darauffolgenden Zeitalter der uneingeschränkten Macht des Landesfürsten wurde sozusagen der angedeutete Körper modern. Die Renaissance hat das Starke und Nackte geliebt. Das  R o k o k o  schwärmt für das Zarte und Ausgezogene. Der französische Hof wurde das Modevorbild für ganz Europa, Ludwig XIV., „der größte Komödiant der Gottesgnadenidee“, der erste Geck seiner Zeit. Die Mode spiegelt die ökonomischen Verhältnisse sehr deutlich wieder. Da im  A b s o l u t i s m u s  eine ganz besonders schroffe Klassenscheidung die Masse der arbeitenden Untertanen von der Gesellschaft der herrschenden Genießer trennte, machte die vom Adel ausgehende Mode den Körper zu jeder Art Arbeit völlig untauglich. Die Damen in ihren unnatürlich hohen  S t ö ck e l s ch u h e n, mit ihren  W e s p e n t a i l l e n  und riesenhaften  R e i f r ö ck e n – eine Fortführung des Wulstenrockes der Renaissance – konnten sich nur gravitätisch und tänzelnd fortbewegen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ihr Vorbild war ja auch die majestätische Steifheit des Monarchen, und oberstes Sittengesetz jener Tage, da die „Gesellschaft“ dem Abgrund entgegentaumelte, war: Körperliche Arbeit schändet.

Wieder stößt eine große geschichtliche Umwälzung die steifgraziösen Formen des Rokokos um:  d i e  f r a n z ö s i s ch e  R e v o l u t i o n. Die Adeligen in ihren Allongeperücken und edelsteinbesetzen Jabots, die gebrechlichen Luxuspüppchen königlicher Sinnenfreude mußten ihre gepuderten Köpfe auf der Guillotine lassen. In wilden Sturm fegte das Pariser Volk durch die Gassen. Dazu kann man keine Reifröcke brauchen. Die fließenden Gewänder der Antike wurden die Revolutionsmode: das  E m p i r e, die  m i e d e r l o s e  g r i e ch i s ch e  T r a ch t der Tunika, die, unter der Brust abgebunden, in weichen Falten den Körper schmeichlerisch umfließt.

Die regungslosen Jahre des  V  o r m ä r z , vom Wiener Kongreß bis 1848, und nach einem kurzen Revolutionsrausch die  R e a k t i o n  der fünfziger Jahre sind in der Frauenmode die eigentliche  B l ü t e z e i t  d e s  K o r s e t t s. Der weibliche Körper wird – gleich dem menschlichen Geist – in der unsinnigsten Weise eingeschnürt und mißhandelt. So wie der bis oben zugeknöpfte Mann in Zylinder und steifer Halsbinde als das Symbol staatserhaltender Zuverlässigkeit galt, so die Frau mit ihrer eingepreßten Taille und der Unzahl der gestalteten Unterröcke, die endlich zum Ungetüm der  K r i n o l i n e  entarteten: sie sollte in jeder Lebenslage würdig und geruhsam erscheinen.

Was folgt, ist nur eine Änderung im Verunstalten der natürlichen Formen. Als die Krinoline in ihrem grotesken Umfang nicht mehr überboten werden konnte, wurde das Drahtgestell zum alten Eisen geworfen. Aber das Mieder blieb und behauptete seine Macht noch durch mehr als fünf Jahrzehnte. Erbarmungslos mußte jede Frau, die etwas auf sich hielt, in  den Schnürleib, und die Mode verlangte von ihr, sich in der wahnwitzigsten Weise zusammenzupressen. Geraffte Röcke mit der besonderen Pikanterie des Cul de Paris wurden letzte Mode. F e st s i tz e n d e  „T a i l l en“, in denen obendrein noch Fischbeine sonder Zahl eingenäht waren, machten jeden freien Atemzug unmöglich. Die Alltagskleidung war hochgeschlossen; bis zum Hals hinauf quälten Steifheit und Enge. Nur im Ballsaal durfte die Dame im tiefen Ausschnitt erscheinen.

Es ist kein Zufall, daß die niederträchtige Herrschaft des Mieders wieder erst durch eine geschichtliche Epoche des  U m st u r z e s  gebrochen werden konnte. Unser eigenes Geschlecht ist Zeuge und Nutznießer der tiefgehenden  R e v o l u t i o n i e r u n g  d e r  F r a u e n m o d e  geworden.

Noch vor zwanzig Jahren war es im Bürgertum bis tief hinein in die Reihen der Arbeiterschaft gang und gäbe, den Töchtern Stück für Stück eine Ausstattung vorzubereiten und anzuschaffen. Aber wie hat diese  W ä s ch e  ausgesehen! Da wurde meterlang Zacke um Zacke für den Hemdansatz mit der Hand geschlungen, solide schwarze Strümpfe eingekauft, steifsitzende, geschwungene Miederleibchen, die gerade nur den Hals freiließen, zugeschnitten und flaumiger Flanell zu Unterröcken verarbeitet. Man stelle sich nur ein Sportsmadel von heute mit einem solchen Flanellunterrock vor!

Nicht anders ist es um die  F r i s u r  bestell. Nur mit grenzenlosem Staunen kann man der vielen „Einlagen“ gedenken, die für einen ordentlichen Schopf notwendig gewesen sind. Sie waren der letzte Ausklang jenes Perückenmonstrums, das die Damen des achtzehnten Jahrhunderts auf ihren – leeren! – Köpfen spazierengeführt hatten und das mit den verrücktesten Symbolen aller Art schwer behangen war: der „Fontange“. Die Schopfeinlagen um die Jahrhundertwende und später – Kopfmatratzen hat man sie in gerechtem Gott genannt – haben zwar nicht mehr die stattliche Höhe eines Meters erreicht wie ihr Vorbild, aber sie waren darum nicht weniger ungesund und machten das freie Ausatmen der Kopfhaut unmöglich. Jedes Haar mußte bei der morgendlichen Frisur fein säuberlich über den Wulst gelegt werden, um die künstliche Unterlage ordentlich zu verdecken. Und doch verschob sich der Bau bei jeder unvorhergesehenen Bewegung! Wie ungern entschloß man sich in jenen Tagen, das Haar am Nachmittag ein zweitesmal zu frisieren. Es war eine wirklich zeitraubende und schwierige Beschäftigung. In der rhythmischen Frauenturnstunde von heute könnte eine Dame mit auffrisiertem Schopf nicht mittun . . .

Der  K r i e g, der unsere Männer in die Schützengräben zwang, hat der Frau alle Gebiete des Arbeitslebens geöffnet. Sie fand Einlaß im Ministerium und in der Munitionsfabrik, kam zum Schreibtisch und auf den Kutschbock, ins Geschäft und in den Straßenbahnwagen. Überall mußte weibliche Arbeitskraft den eingerückten Mann ersetzen, ja es war die Frauenarbeit allein, die den halbwegs geregelten Fortgang der Wirtschaft möglich gemacht hat. Diese Zeit der unerhörtesten Kraftanspannung, des Hungers und der schamlosen Unterordnung der arbeitenden Menschheit unter das Gesetz des Massenmordes hat die bis dahin schlafenden Frauen zum Erwachen gepeitscht: Sie haben arbeiten müssen – und diese Arbeit hat sie denken gelehrt!

Und wieder hat eine Revolution mit eisernem Besen alte, strenge, steife Modeformen weggefegt. Wieder ist eine Revolutionsmode aufgetaucht. Aber diese letzte grundlegende Wandlung in der Frauenmode mußte sich – obwohl noch immer von Pariser und Londoner Modekönigen ausgehend und von ihnen ausgebeutet – wohl oder übel doch der geänderten gesellschaftlichen Funktion des weiblichen Geschlechts anpassen und  d a s  K l e i d  d e r  a r b e i t e n d e n  F r a u  schaffen: Das beengende Mieder ist verschwunden, der Hals frei, der Rock gekürzt und das lange Frauenhaar geschnitten.

Ist auch das nur ein revolutionärer Augenblickseinfall der wankelmütigen Modegöttin? Gewiß, in der kapitalistischen Wirtschaft wird der gesellschaftliche Geschmack in kurzen Zwischenräumen Extremen zugetrieben, um den Absatz künstlich zu steigern. Aber  k u r z e r  R o ck,  f r e i e r  H a l s,  l o s e  T a i l l e  u n d  B u b i k o p f,  diese vier wesentlichen äußeren Merkmale der modernen Frauenerscheinung, gehen über die gewöhnlichen Modeschöpfungen weit hinaus. Denn zum erstenmal verbindet sich hier der Wunsch nach Schönheit mit wirklicher Zweckmäßigkeit.

Für das Verwurzeltsein der heutigen Frauentracht in dem gesellschaftlichen Prozeß der Revolutionierung, der ganz besonders die Frau erfaßt, ist es bezeichnend, daß heute der  M a n n  auf dem Gebiet der Kleidung rückständiger ist. Er bleibt bei dem dunklen, dicken und dumpfen „Anzug“, dessen Weste, ein sinnlos gewordenes Überbleibsel, überhaupt nur dazu dient, daß sich kein Lufthauch bis zur Haut verirre. Auch der im Kriege aus Sparsamkeitsgründen zeitweilig verschwundene steife Kragen taucht immer öfter wieder auf und ist heute schon wieder das Sinnbild der Respektabilität geworden.

Die Frauen sind in ihrer Kleidung fortschrittlicher. Die heutige Mode entspricht wirklich den Anforderungen der Zeit. Wie herrlich können unsere Mädel in ihren kurzen Röcken laufen und springen! Wie natürlich schön ist es, wenn ihre losen Haare im Winde flattern! Wieviel leichter und gründlicher ist heute die Pflege und Reinigung der Haare! Wie praktisch ist der Bubikopf beim Sport, bei der Arbeit, in der Küche! Wie angenehm für die arbeitende Frau, sich bücken und wenden zu können, ohne daß Schnürbänder ihr den Magen zusammenpressen! Bei allen diesen großen praktischen Vorzügen entbehrt die moderne Frauenkleidung aber keineswegs der Grazie. Sie ist schön, weil sie vernünftig ist. Diese Elemente des Fortschritts wird keine Laune der Mode, kein Interesse des Konfektionskapitals mehr vollständig aus der Frauenkleidung zu tilgen vermögen. Und diese Errungenschaften der Freiheit des menschlichen Körpers soll uns keine Reaktion, die die Frauen zurück in Kirche, Küche und Mieder pressen will, mehr rauben!

In: Arbeiter-Zeitung, 5. Dezember 1926, S. 10.

Ernst Fischer: Wandlung des russischen Geistes

Russische Revolution! Ungeheures Gefühl, sagenhaftes Erlebnis über alle Kritik hinaus. Man kann das Resultat der großen Erschütterung prüfen, so weit uns das Resultat bekannt ist, man kann die wirtschaftlichen, politischen, sozialen Ergebnisse des Bolschewismus, des Leninismus analysieren, man kann seine Zeitung bejahen oder verneinen, anerkennen oder verwerfen, man kann sich in tausendfältiger Form mit ihm auseinandersetzen – aber es bleibt ein Rest, der aller Vernunft entrückt scheint: die Intensität, die Größe dieser Revolution, die unvergleichlich und beispiellos ist. Und, je mehr die vulkanische Masse auskühlt, je deutlicher das Produkt, der Niederschlag der gigantischen Gärung mit all den Widersprüchen, die das Wesen der Wirklichkeit sind, statistisch erfaßbar, objektiver Betrachtung und subjektiver Wertung zugänglich wird, desto bezwingender wird die Erkenntnis, daß diese Revolution viel mehr als ein politisches Faktum, daß sie ein geistiges Ereignis von welthistorischer Bedeutung war. Und so selbstverständlich es ist, daß man an politischen Überzeugungen, taktischen Maßnahmen, wissenschaftlichen Theorien Kritik übt, daß man sie für gut oder schlecht, klarer gesagt, für nützlich oder für schädlich hält, so töricht wäre es, geistige Umgruppierungen, kulturelle Wandlungen zu kritisieren, an dem zu messen, was bisher war. Man kann ein Buch, ein Bild, ein Theaterstück technisch bewerten – obwohl auch das sehr schwierig und problematisch ist – man kann eine Kunstform für diletantisch, wirkungslos, unecht halten, aber man kann nicht die Lebensform, die geistige Haltung, deren Ausdruck sie ist, mit einer abfälligen, höhnischen oder entrüsteten Kritik aus der Welt schaffen. Ihre Bedingungen nachzuspüren, ihre Elemente zu untersuchen, ihr Lebendiges zu erfühlen, das ist Aufgabe dessen, der sie darzustellen versucht – ob er sie anerkennt oder ablehnt, ist seine Privatsache. Nur wenn er liebt oder haßt soll er zu seiner Liebe, zu seinem Haß sich bekennen – denn dann will er nicht sie, die fremde Lebensform, sondern seine an ihr sich entzündende Leidenschaft darstellen.

Solche Leidenschaftsausbrüche haben wir häufig erlebt – und es schien lange Zeit, als könne man über die geistige Bedeutung der russischen Revolution nur in Ekstasen der Liebe, in Krämpfen des Hasses sprechen: wurde von einer Seite alles, was diese Revolution gebar, bedingungslos wie Blendwerk der Hölle verdammt, so wurde es von der andern Seite wie Erfüllung tiefster Träume gefeiert. […]

Interessanter und wesentlich ergiebiger als die maßlosen Manifeste für und wider die geistige Schöpfung des Bolschewismus, als das unfruchtbare Geschwätz der bürgerlichen Ästheten war ein Buch des großzügigen Journalisten René Füllöp-Miller, „Geist und Gesicht des Bolschewismus“, das vor einigen Jahren erschien. Füllöp-Miller hatte begriffen, daß die russische Revolution mehr war als ein politisches und wirtschaftliches Ereignis, daß sich dort im Osten ein kultureller Umsturz vollzogen hatte, dessen Konsequenzen noch unabsehbar sind. Und er fürchtete, daß das, was in Rußland geschah, Europas Kultur gefährden, Europas Seele vergewaltigen könne. Daher wollte er warnen, wollte er zeigen, daß die neue Lebensform europäischem Wesen vollkommen fremd sei, daß der Bolschewismus als geistiges Erlebnis zwar asiatische Barbaren, nicht aber westliche Kulturmenschen befriedigen könne. Trotz dieser kaum verhüllten Tendenz und obwohl sehr viele Behauptungen des geistreichen Autors unbewiesen, sehr viele Kombinationen gewaltsam, sehr viele Erklärungen oberflächlich sind, ist das Buch wichtig, nicht nur, weil es ein großes kulturhistorisches Material enthält, sondern auch und vor allem, weil es einen ernsthaften Versuch darstellt, hinter der wirtschaftlichen und politischen Umgestaltung die geistige Wandlung zu sehen. Das Füllöp-Miller meint, die Mechanisierung des Lebens, die Entpersönlichung des Menschen, der Triumph der Maschine über die Seele sei der Sinn dieser Wandlung, daß er den Schatten Dostojewskys beschwört, der ihm wie den meisten Europäern als der Inbegriff des „Russentums“ (einer unveränderlichen und undefinierbaren Substanz) gilt, um über den Leninismus Gericht zu halten, daß er über Experimente sich lustig macht, ohne zu untersuchen, was sie bedeuten – das alles vermindert zwar das Gewicht seiner Leistung, entwertet sie aber nicht. […]

Die Revolution war die gewaltsame Lösung, der explosive Ausgleich. Der Feudalismus wurde zertrümmert, der Bauer bemächtigte sich des Bodens, das Mittelalter verbrannte und in den Flammen ahnte man eine neue Welt. Ungeheuerste Aktivität entfaltet sich; in Lenin, dem gewaltigsten Tatmenschen aller Zeiten, kündigte sich auf einmal der neue Typus an, in ihm verkörperte sich das Rußland des zwanzigsten Jahrhunderts. Probleme der Wirklichkeit waren zu lösen, wirtschaftliche, gesellschaftliche, politische Probleme, Gestaltung des Staates war möglich, war brennend wichtig, Trägheit, Schwermut und Passivität mußten als ärgste Laster gelten – die historische Situation siegte über die „russische Seele“. Daß diese ungestüme und radikale Wandlung groteske Übertreibungen zeitigte, daß der fanatische Wille, die Entwicklung eines halben Jahrtausends in einige Jahre zusammenzupressen und nicht nur alles Versäumte nachzuholen, sondern plötzlich allen voran in die Zukunft zu stürmen, oft in phantastischen Experimenten zum Ausdruck kam, daß die Verneiner jeder Romantik aus der Sachlichkeit selber etwas Romantisches machten, war kein Wunder: und der scheinbare Widersinn, daß diese russischen Revolutionäre die sehr primitiven Wirtschaftsformen dem Sozialismus aufzwingen wollten, das kapitalistische, mechanistische Amerika vergöttern, ist nichts Ungewöhnliches, nichts dem „Russentum“ eigentümlich. Es gibt eine Reihe von deutschen Literaten, die ebenso verzückt von Amerika reden, für die Großstadt, Technik, Maschine, die in der Seele des Amerikaners keine besonderen Gefühle auslösen, weil er sie als selbstverständliche Elemente seiner Welt betrachtet, lyrische, mythische Angelegenheiten sind, ungefähr so, wie für den Emporkömmling die Manieren der guten Gesellschaft etwas Geheimnisvolles und Beunruhigendes sind; tausendmal mehr in dem wirtschaftlich unentwickelten Rußland, in dem „Elektrifizierung“ ein Zauberwort, das Taylor-System ein Kultus, die Technik ein Glaubensbekenntnis wurde. Wer in Rußland an den Erfolg der Revolution glaubte, mußte voll Inbrunst an neue technische und ökonomische Formen glauben, mußte sich mit Pathos und Leidenschaft zu ihnen bekennen, mußte sie fast ins Religiöse steigern, weil er sonst empfindungsgemäß die Zusammenhänge zwischen den Schwung des Geistes, dessen jede Revolution bedarf, und den realen Aufgaben der russischen Revolution verloren hätte. An Inbrunst, an Spannkraft, an Gläubigkeit fehlte es den Revolutionären nicht, aber an Maschinen, an Fabriken, an Elektrizitätswerken fehlte es und deshalb blickten sie voll Sehnsucht und Neid nach Amerika und deshalb mußte die mangelnde Realität durch den glühenden Willen, sie förmlich aus der Erde zu stampfen, ersetzt werden. Das Bekenntnis zu Amerika, es war das Bekenntnis zu den Voraussetzungen der Sozialisierung, die man in übermenschlicher Arbeit der Geschichte abtrotzen wollte.

Das formte die neue Geistigkeit: die Kunst, vor dem Zusammenbruch der alten Mächte psychologisch, fatalistisch, Sprengstoff der Seele, die Welt in das Nervensystem des Menschen konzentrierend, wurde nun „materialistisch“, aktivistisch, Sprengstoff der Gesellschaft, die Welt in das Nervensystem des Menschen konzentrierend, wurde nun „materialistisch“, aktivistisch, Sprengstoff der Gesellschaft, die Welt in die Wirklichkeit der Dinge und Ereignisse konzentrierend. Majakowsky, einer der Dichter, die im alten Rußland die Würdigkeit und den Überdruß des an allem verzweifelnden geistigen Menschen verkörperten, begeisterte sich an den Umsturz des Bestehenden, an der grellen Härte und Sachlichkeit der neuen Forderungen, er, der an den Sinn der Kunst nicht mehr glaubte, begriff angesichts der Revolution, daß man der Kunst neuerlich einen Sinn geben konnte: Aufruf zum Kampf, Ausdruck dessen, was nun wichtiger und bezwingender waren als alles, Ausdruck der politischen und sozialen Ereignisse. Die Sprache als Instrument der schönen Gefühle, der einsamen Seelenkomplikationen war abgebraucht, nun aber gab es Worte, die wie mit Ekrasit geladen waren, die man wie Bomben in die Masse schleudern konnte, die unmittelbar und berauschend wirkten: Elektrifizierung, Technik, Revolution, Internationale, Rote Garde – und diese Worte wie Blöcke aneinandergereiht, gegenständlich und dennoch durchfiebert von Fanatismus, waren die Elemente der Poesie, die nun begann. Einfacher und wuchtiger als die Gesänge des intellektuellen Majakowsky waren die plumpen Hymnen Budnji Demjans, poetische Tagesbefehle der Revolution, unverschnörkelte Manifeste des Klassenkampfes.

Es würde zu weit führen, alle Experimente zu schildern, in denen der Geist des Bolschewismus um Ausdruck rang: was diesen Experimenten gemeinsam war, ist die Erkenntnis von der sozialen, von der revolutionären Funktion der Kunst, die Erkenntnis, daß es im Sturme der Weltgeschichte nicht auf das Schicksal des einzelnen ankommt, nicht auf Seelenprobleme, nicht auf das, was die Menschen unterscheidet, sondern auf das, was sie zu kollektiver Aktion vereinigt, daß es sich, wenn Tausendjähriges stürzt und Niegewesenes aufsteigt, nicht um den „Ewigkeitswert“ einer Dichtung, eines Kunstwerkes, sondern um Aktualität und politische Wirkung handelt. Erst, wenn eine Klasse ihr Wesen gesellschaftlich verwirklicht, wenn sie das in ihr waltende revolutionäre Prinzip erfüllt hat, wenn nicht mehr die Macht zu erobern, sondern die Macht zu verwalten ist, kann sie versuchen, im Kunstwerk unpolitisch und weise zu sein! Solange sie kämpft, solange sie gegen alte Gesellschaftssysteme anrennt, ist Kunst ein Mittel, ist Kunst eine Waffe in diesem Kampf. Das haben die Künstler des Bolschewismus erkannt. Und mit unerhörter Entschlossenheit unterwarfen sie das Theater, das Kabarett, die Literatur, alle Kunstgattungen dieser Erkenntnis. Es gelang ihnen, das Theater, den Film, die kulturellen Gebilde, die am stärksten und unmittelbarsten soziologisch bedingt sind, von Grund aus zu wandeln, es gelang ihnen nicht oder nicht in diesem Maße bei allen übrigen Kunstgattungen.

[…]

Aber die freie, die auf sich selber angewiesene Kunst?

Sie ist lebendig wie nirgends in Europa. Und vor allem der russische Roman ist wieder bedeutungsvoll, fast so bedeutungsvoll wie der russische Film.

Um Romane zu schreiben, bedarf der Künstler einer gewissen Ruhe, einer gewissen Stabilität. In der ersten Revolutionszeit konnten keine Romane entstehen, in Gedichten und Theaterstücken entlud sich die geistige Spannung: als aber der Bolschewismus gesichert war, als Trotzky der Armee „das Knochengerüst eingerenkt“ und Lenin die Wirtschaft verhältnismäßig stabilisiert hatte, als man die Ereignisse einiger Jahre überblicken konnte ohne fühlen zu müssen, daß morgen schon alles anders sein könne als heute, war es wieder möglich, Romane zu schreiben. Und es zeigte sich, daß die junge Generation in Rußland, obwohl das Tempo der Entwicklung auf einmal stockte, obwohl die wirtschaftliche Reaktion die Seelen ernüchtert hatte, obwohl das Resultat der Ereignisse eine große Halbheit ist, die Zeit, in der wir leben, begreift, tausendmal besser begreift als die junge Generation in Deutschland, in Frankreich, in England. An der Idee des Bolschewismus gemessen enttäuscht seine Wirklichkeit: aber diese Enttäuschung verleitet die jungen Russen nicht dazu, aus der Wirklichkeit in die Romantik zu fliehen – im Gegenteil: stolz und tapfer bekennen sie sich zu dieser Wirklichkeit, schonungslos setzen sie sich mit den Problemen der Revolution, mit den Problemen des Sozialismus auseinander, unsentimental, in glühender Sachlichkeit schreiben sie die Geschichte der letzten Jahre. Immer ist es die Gesellschaft, die sie interessiert, immer ist es ein überpersönliches Schicksal, das sie schildern, immer stellen sie Menschen dar, in denen das welthistorische Ringen um die Neugestaltung aller Beziehungen zwischen den Menschen und Dingen sich spiegelt, nein, in denen es sich vollzieht. Sie wissen genau, daß es nichts Größeres gibt als die Revolution, deren erste Phasen wir erlebt haben, und weil sie das wissen, gibt es für sie nur einen Stoff: eben diese Revolution. In den westlichen Ländern knüpfen die meisten jungen Künstler dort an, wo man 1914 aufhörte, schwächlich und unfruchtbar: mag sein, daß die Revolution in Deutschland zu schnell vor sich selber erschrak, um künstlerisch so verpflichtend zu wirken wie die Revolution in Rußland, jedenfalls gibt es in Deutschland sehr, sehr wenige Bücher und Theaterstücke, die wichtig sind, wogegen in Rußland ein wichtiges Kunstwerk nach dem andern produziert wird.

Da ist vor allem Gladkows großer Roman „Zement“. Das Problem der Nepzeit, das Problem der siegreichen Revolution wird aufgerollt. Gljep, der Rotgardist, kehrt aus hundert Schlachten in sein Heimatsdorf zurück. Er träumte von einem romantischen Wiedersehen mit all den hübschen Dingen, die er verlassen hatte, von einer Familienidylle, von einem Leben wie eh und je.

Aber die Wirklichkeit ist anders als dieser Traum, die Straßen sind schmutzig und ungepflegt, die Häuser verwahrlost und halb verfallen, die Menschen hungrig und faul. Und die Frau, die kleine verliebte Frau, nach der er sich sehnte, ist anders geworden, hart, sicher und selbstbewußt, sie hat das Kind in ein Kinderheim gegeben, sie kümmert sich nicht um den Haushalt, sie sitzt nicht am Fenster und wartet auf ihren Gljep, sie spielt in der politischen Organisation eine Rolle, studiert marxistische Werke, sie nimmt an Sitzungen und Versammlungen teil, sie hat eine eigene Meinung und einen eigenen Willen. Ja, der Krieg hat alles umgestürzt, die Revolution hat alles verwandelt. Und wie ein Kleinbürger, wie einer der nichts von der neuen Zeit wissen will, bäumt sich Gljep gegen das veränderte Leben auf. Er war bereit, sein Blut und seine Gesundheit für die Revolution hinzugeben, aber sein Heim, seinen Traum von Familienglück und Ehebehaglichkeit, den will er nicht hingeben, den hält er für sein ewiges Recht. Das ist das eine – das andere ist nicht so persönlich, aber nicht weniger problematisch: die Fabrik, die große Zementfabrik, steht schon seit vielen Jahren, die Arbeiter, zermürbt und korrumpiert von dem dröhnenden Müßiggang des Krieges, der Revolution, wollen lieber in ihren Klubs debattieren, um jedes Stück Brot mit den Kommissären streiten, in Hunger und Elend verkommen als arbeiten. Nein, sie denken gar nicht daran, die verrosteten, von Spinnweb überwucherten Maschinen wieder in Gang zu setzen, sie lungern zerlumpt herum und warten auf irgendein Wunder. Nur der Maschinenmeister behütet seine eisernen Lieblinge, nur einer der alten Ingenieure hockt in seinem Arbeitszimmer über den Zeichnungen, gespenstischer Wächter einer zerborstenen Welt.

[…]

Arbeiten muß man, sagt Gljep, das ist die einzige Lösung. Und er reißt die Genossen mit, die Muskeln straffen sich wieder, das Blut pulsiert in den Adern. Arbeit, Arbeit, Flamme, die über alles Persönliche, alles Quälende und Verworrene triumphiert. Und die Maschinen erwachen aus ihrem Schlaf, die Kolben stampfen, die Transmissionen singen, die Förderkörbe klimmen den Berg hinan. Ungeheure Musik der Arbeit. – Oh, sie haben’s nicht leicht, Gljep und die Seinen, hundert Schwierigkeiten müssen sie überwinden, hart und grausam müssen sie sein, um sich das Nötigste zu beschaffen, aber sie greifen zu, sie sind nicht sentimental, sie kennen keine Schonung. Kosaken, Weißgardisten überfallen das Werk, da legt man die Schaufel weg und nimmt das Gewehr, da kämpft man mit derselben unerbittlichen Kraft gegen Menschen, wie man gegen den Widerstand der Materie kämpfte – und kehrt wieder zurück zur Arbeit, die das Entscheidende ist. Oh, sie haben’s nicht leicht, Gljep und die Seinen, sie müssen mit Dingen fertig werden, von denen sie früher nichts wußten, mit Problemen der Verwaltung, der Organisation, der Weltanschauung, mit Problemen der Erotik und des Gesellschaftslebens, der Freiheit und der Verantwortung. Alles müssen sie aus sich selber vollbringen, es gibt keine Traditionen, unbeholfen und schwerfällig, wie man ist, muß man die neue Welt gestalten, muß man sich in der neuen Welt zurechtfinden. Aber über alles hinaus donnert und singt das Werk, das sie, die Arbeiter, auf eigen Faust, aus freien Stücken, wieder in Gang gebracht haben, steigt der Hymnus der Arbeit, der Hymnus der Revolution empor.

Tapfer, ehrlich und strotzend von Lebenskraft ist dieses Buch, „unrussisch“, wenn man nur die Dichter des Zarenreiches als russisch gelten läßt, durchstürmt von ungestümer Aktivität. Gladkow macht sich und den Lesern nichts vor, er weiß, daß in Rußland nur ein Bruchstück dessen verwirklicht wurde, was man verwirklichen wollte, er kennt die Schwächen und Mängel der bolschewistischen Gesellschaft, er schildert sachlich und objektiv – aber durch all das braust und jubelt das leidenschaftliche Bekenntnis zu der Wandlung des Lebens, zu der Wandlung des Geistes in Rußland, seine Liebe zur Revolution und zur Arbeit. Und darum ist das Buch nicht „naturalistisch“ und nicht „romantisch“, nicht ein Stück Literatur, sondern ein Stück Leben.

[…]

Erkennt man in diesen drei Romanen, die aus einer Fülle von interessanten und bedeutenden Büchern herausgegriffen wurden, die Wandlung des russischen Geistes? Welch ein Bekenntnis zur Wirklichkeit, welch eine Härte und Präzision, welch ein unverschwommener, unromantischer Wille zur Lebensgestaltung! Das ist nicht mehr die „russische Seele“, die man wie eine rätselhafte Gottheit verehrte, das ist der Geist des Marxismus, der Geist der Revolution, der unsere Sprache spricht wie die Sprache des jungen Rußland. Die Probleme, die Tragödien, die Erkenntnisse jeder Revolution werden in diesen Büchern dargestellt, und während die deutsche, die westliche Literatur noch immer an der Vergangenheit schmarotzt, ist die russische Literatur heute der Ausdruck unserer Zeit, Flamme und Geist der Gegenwart. Darum lieben wir über alle Kritik und alle Gegensätze hinaus dieses bolschewistische Rußland.

In: Der Kampf, 1927, S. 499-507

B.: Theater, Kunst und Musik. „Brülle, China!“. Schauspiel von S. Tretiakow

(Neues Wiener Schauspielhaus.).

             Ein reichlich großmauliger Titel. Aehnlich jenem Plakat eines Kleiderhauses, auf dem ein Mann den Mund sperrangelweit aufreißt. Und gleichwie die Worte, die dieser Mann hervorstößt, mit ihren ersten Buchstaben ganz klein zwischen seinen Lippen stehen und mit ihren letzten riesengroß draußen in der Luft schwimmen (eine höchst unlogische Vorstellung, weil ganz im Gegenteile die erstgesprochenen Buchstaben gewissermaßen schon groß draußen im Raume schweben müßten, während die letzten eben neugeboren dem Gehege der Zähne entspringen), so plakatiert auch das Schauspielhaus auf dem Theaterzettel und auf den Wandtafeln sein „Brülle, China!“ in schiefer, rapid anschwellender Schrift, mit einem winzigen B beginnend, mit einem großmächtigen A schließend. Höchst apart, in der Tat! Jetzt wissen wir, wie chinesisches Gebrüll graphisch darzustellen ist. Phonetisch macht uns die Regie des Herrn Fritz Peter Buch mit ihm bekannt: Es erweist sich als widerlicher, mißtönender, demagogischer Lärm.

             Dieses angebliche Schauspiel des Russen S. Tretiakow dürfte dem Programm jener revolutionären Machwerke angehören, mit denen Sowjetrußland die übrige Welt belästigt. Der Tretiakow mischt sich da frech in eine Sache hinein, die ihn einen großen Schmarren angeht, nämlich in einen chinesisch-englischen „Zwischenfall“, der Jahre zurückliegt und, wenn er sich überhaupt so zugetragen hat, wie er hier geschildert wird, längst abgetan ist. Damals nämlich soll der Kapitän eines englischen Kriegsschiffes zur Sühne dafür, daß ein Amerikaner im Streit mit einem Chinesen ertrank, von den Einwohnern der Stadt Wansien unmenschliche Sühne verlangt und, da der wirkliche Täter nicht aufzutreiben war, zwei Geisel aufgeknüpft haben. Solche Grausamkeiten, wo und wann immer sie sich ereignen mögen, kann niemand schärfer verurteilen, als wir Christen, für ihre Opfer kann niemand aufrichtigeres Mitleid empfinden, als wir. Mit welchem Rechte aber heuchelt der Vertreter einer Weltanschauung Entrüstung und Mitleid, die den Martertod ungezählter Christen in Rußland, in Mexiko auf dem Gewissen hat, die das Blutregiment eines Bela Kun, den Geiselmord der Münchner Räteregierung zu ihren Ruhmesblättern zählt, die allerorten Mord und Greuel zum Parteidogma erhoben hat? So unerfindlich es ist, mit welchem Rechte er dies tut, so durchsichtig ist es, zu welchem Zwecke: Aus dem Einzelvorfall, der freilich jedem fühlenden Menschen ans Herz greifen muß, formt er revolutionäre Haßpropaganda. Eine Art von „Haßgesang wider England“. Dabei kommt es ihm nicht darauf an, die ganze weiße Rasse maßlos zu beschimpfen und zu verunglimpfen: Sie alle, die da, von geschäfts- oder berufswegen nach China kommen, Amerikaner und Engländer, sind wahre Bestien, beuten die armen Chinesen aus, mästen sich an ihren Hunger, mißbrauchen ihre Töchter, demütigen und kujonieren sie auf jede nur mögliche Art. Während die zum Tode geängstigten Gelben zitternd die beiden Opfer auslosen, tanzen die Europäer auf dem Kriegsschiff, spielen Tennis, flirten und singen zur Feier des blutigen Ereignisses das „God save the king“. Der katholische Missionär, die fromme Engländerin, auch sie, herzlose Scheinschriften, höhnen mitleidslos die gepeinigten Chinesen. Keine einzige fühlende Brust unter diesen Larven. Seht ihr, sagt Tretiakow triumphierend, so schaut die sogenannte Kultur aus! Die Wilden sind doch bessere Menschen! Da gibt es nur ein einziges Mittel: Revolution! Haut sie nieder, diese fremden Eindringlinge, murkst sie ab, erhebe dich, brülle China! Früher wird keine Ruhe sein. Ueberhaupt – so erzählt ein Kuli, der Herr Jakob Feldhammer – haben sie es drüben in Europa schon längst so gemacht, die Mächtigen, die Bedrücker gestürzt, davongejagt, sich ihre Menschenrechte erkämpft. Na also . . .

             Dieser Jakob Feldhammer, Direktor des Neuen Wiener Schauspielhauses, hat sich eine recht bequeme Rolle ausgesucht: Der Kuli hetzt nämlich fortgesetzt aus sicherem Hinterhalte, erzählt den armen Schiffern, jeder müsse die revolutionäre Kunst erlernen, für den anderen zu sterben, dabei fällt es ihm nicht entfernt ein, sich freiwillig für den alten Todeskandidaten oder für den gleichfalls zum Strick verurteilten Familienvater zum Sterben zu melden. Daran erkennen wir dich, du tapferer Revolutionär! Nur immer die anderen in den Tod geschickt, mein mutiger Phrasendrescher!

             Ein starkes Theaterstück? Mag sein. Gepeinigte Menschen in ihrem Leid zu sehen, ist immer „starkes“ Theater. Aber sicherer noch ist diese Aufführung in Wien ein starkes Stück. Es wird an einem Theater gewagt, das brave Währinger Bürger aus ihren mühsamen Ersparnissen zum Regierungsjubiläum des Kaisers Franz Josef bauten. Es wird mit all seiner maßlosen Verunglimpfung der englischen Nation in einer Zeit gewagt, da der österreichische Bundeskanzler in London herzliche und wertvolle Freundschaftsbeweise empfängt.

             Die Leistungen der einzelnen Darsteller zu würdigen müssen wir uns versagen. Die Regie des Fritz Peter Buch klappte ausgezeichnet. Gut gebrüllt China! Ein offenkundig parteimäßig eingestelltes Publikum raste vor Entzücken. Gut gebrüllt, Wien!

In: Reichspost, 4.5.1930, S. 13. Weitere Aufführungsdebatten finden Sie hier.

N.N.: „Brülle China“. Neues Wiener Schauspielhaus.

             In der dumpfen schwülen Wüste des völlig geistlosen, bürgerlichen Wiener Theaters eine kleine Oase. Sie sticht umsomehr von der Umgebung ab. Sie kommt für die Arbeiterschaft gerade dieser Stadt umso überraschender und kann deshalb mit umso größerer Freude begrüßt werden, weil das Theater in Wien überhaupt aufgehört hat, auf die Arbeiterschaft, die zu neunzig Prozent die Bevölkerung Wiens bildet, irgendwie Rücksicht zu nehmen. In keiner anderen Stadt z. B. Deutschlands wäre es möglich, daß ein solcher Kurs in den Theatern eingeschlagen wird wie in Wien, wo nahezu sämtliche Theater völlig abhängig sind von der Sozialdemokratischen Kunststelle und der sozialdemokratischen Gemeindeverwaltung. Darüber wird noch zu sprechen sein.

             Aktuelles Theater. Ein Ausschnitt aus den Kämpfen, den brennendsten Kämpfen der Gegenwart. Das bedeutendste Ereignis des gegenwärtigen Weltgeschehens: der Befreiungskampf der unterdrückten Kolonialsklaven, die Flammenzeichen gegen die imperialistischen Unterdrücker. Ein Russe, Genosse Tretjakow, hat ein bewußtes Tendenzstück geschrieben, das von Meyerhold in einer Weise inszeniert wurde, die in der ganzen Welt Beifall und Aufsehen erregte. Beide, Tretjakow und Meyerhold, haben damit neuerlich den Beweis geliefert, daß ein wirkliches Kunstwerk, das imstande ist, die Massen zu erfassen und mitzureißen, nur entstehen kann aus dem kämpfenden Leben bei eindeutiger und klarer Stellungnahme. Das ist verpönte „Tendenz“, die das Bürgertum und mit ihm auch die Sozialdemokratie aufs tiefste haßt und ablehnt.

             Die Handlung, die der Wirklichkeit entnommen wurde: Ein amerikanischer Kaufmann kürzt den Kulis, die ihn Lasten schleppen, den kärglichen Hungerlohn. Er beginnt auch mit dem Schiffer, der ihn auf einem kleinen Boot vom englischen Kriegsschiff an Land bringt, Streit wegen des Fuhrlohns, versucht dem Chinesen das Ruder zu entreißen, um ihn damit zu schlagen. Er kommt aber dabei selbst zu Fall, stürzt, fällt über Bord und ertrinkt. Viele Zeugen haben vom Ufer aus den Vorfall beobachtet, auch die Offiziere. Dennoch verlangt der Kommandant des „Kanonenboots Seiner Majestät des Königs von England“ von der Stadt Wanshien Sühne für den „Mord“. Entweder sofortige Hinrichtung des Schiffers, in dessen Kahn der Kaufmann fuhr oder – da dieser von den Schiffern versteckt wird – Hinrichtung von zwei Mitgliedern der Schiffergilde. Falls diese Forderung bis zum nächsten Tag nicht erfüllt ist, wird die Stadt bombardiert. Der englische Journalist drahtet an die Weltpresse: „Schamlose Ueberfälle von Chinesen auf Europäer, drei Kaufleute ermordet, als Auftakt zu weiteren Morden.“ Ein Telegramm der chinesischen Behörden wird nicht befördert. Die Chinesen sagen: „Auch ein englischer Kapitän muß sich in seinen Forderungen mäßigen, wir werden uns beim sozialistischen Ministerpräsidenten von England beschweren“. „Ich kenne keinen solchen“, antwortet der Kapitän, „ich kenne nur einen Ministerpräsidenten Seiner Majestät, des Königs von England.“

             Die Masse der verhungernden Kulis, die um sich vor dem Hungertod zu retten, ihre Kinder und Frauen für ein paar armselige Münzen an Europäer verkaufen, beginnt zu rebellieren. Noch kennen sie nicht den Grund ihrer Unterdrückung, noch haben sie kein Klassenbewußtsein. Allmählich – und das bringen Autor und Regisseur meisterhaft zum Ausdruck – dringt die Erkenntnis durch, daß die Kulis ganz Chinas zusammenstehen und kämpfen müssen gegen die Unterdrücker. Die Kulis fragen nach Recht. „Für euch gibt es keins“, antwortet einer aus ihrer Mitte, „ihr werdet getreten, geschunden, geköpft, euch nimmt man euer Land, weil ihr arm seid.“ Die Chinesen gehen nochmals aufs Kanonenboot, um den Kapitän zu bitten, von dem Mord an den Schiffern abzulassen. Der chinesische Bürgermeister erniedrigt sich vor dem englischen Offizier, kniet vor ihm nieder. Aber je mehr sich die Chinesen erniedrigen, desto frecher werden die Bedrücker. (So ist es nicht nur in China!) Zwei Schiffer werden ausgelost, um dem imperialistischen Blutsauger als Opfer vorgeworfen zu werden. Die ganze Stadt würde sonst in wenigen Stunden in Flammen stehen. Ein Kuli stirbt für den andern! Das Klassenbewußtsein beginnt, feste Formen anzunehmen. „Sag mir einen von jenen, die sich gegen die Ausbeuter auflehnen und sie zusammenschlagen, sag mir einen, ich will mittun.“ Der andere Kuli, ein Wissenderer, antwortet: „Du, ich, er, wir alle!“

             Die beiden Schiffer werden zur Richtbank geschleppt, der Kapitän ist unerbittlich. „Hier stehe ich und keine Macht der Welt kann mich zwingen, diesen Platz zu verlassen.“ Es fehlt nicht der Millionär, der den Mord mitvorbereitet hat und nun Krokodilstränen vergißt, von den Chinesen aber schroff abgewiesen wird, es fehlt nicht die Wohltätigkeitsdame, die verspricht, den kleinen Sohn des ermordeten Schiffers in ein Waisenhaus zu bringen.

             Das Programm des Kapitäns ist erfüllt. Stolz und auf die Chinesen zynisch herabblickend, will er sich entfernen. Aber da geht auch die Geduld der Kulis zu Ende, der Sturm bricht los und unter den derben Fäusten der Proleten bricht der „Offizier Seiner Majestät, des Königs von England“ und Seiner Exzellenz, des sozialistischen Ministerpräsidenten Macdonald tot zusammen. Schon krachen auch die Salven vom Kanonenboot gegen die Stadt Wanshien, aber die Kulis sind zu einer eisernen Masse zusammengeschweißt, vorwärts, aufwärts geht es unter der Fahne Sunyaisens. Aufschreien die Kulis: „Brülle, China!“

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             Der Originaltext wurde an einigen Stellen geändert. So wurden alle Hinweise auf die Sowjetunion, die die Kulis im Kampfe gegen die imperialistischen Unterdrücker unterstützt und wegweisend voranschreitet, gestrichen. Der revolutionären Kraft des Stückes konnte aber dadurch nicht Abbruch getan werden.

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             So wirksam wie das Stück selbst ist die Regie Fritz Peter Buchs, die für Wien eine wahre Revolution bedeuten könnte, wenn wir nicht wüßten, daß nach dieser kleinen Oase wieder endlose schwüle geisttötende Wüste kommt. Auch die Darstellung steht durchaus auf dem gleichen künstlerischen Niveau.

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             Die Wiener Arbeiter haben es sich im Lauf der Jahre abgewöhnt, ins Theater zu gehen und so ist es nicht weiter verwunderlich, daß die proletarischen Massen dieser Stadt nur sehr spärlich ins Schauspielhaus strömen. Bezeichnend für die sozialdemokratische Kunststelle ist es, daß sie wohl Operettentheater und Bühnen, die allen erdenklichen Mist und Schund aufführen, füllt, bisher aber nicht die Massen auf das wirklich revolutionär-proletarische Stück „Brülle, China!“ aufmerksam machte.

             Es ist zu hoffen, daß die Direktion des Schauspielhauses, die in Tretjakows Stück nichts als ein Kunstwerk sieht und glaubte, damit gute Geschäfte zu machen, auch den revolutionären Arbeiterorganisationen den Besuch von „Brülle, China!“ durch Abgabe von ermäßigten Karten ermöglicht. Kein Arbeiter soll die Möglichkeit, einmal in einem Wiener Theater ein aktuelles revolutionäres Stück, geschrieben von einem russischen Genossen, zu sehen, ungenützt vorübergehen lassen.

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             Die gesamte bürgerliche Presse brüllt auf. Skandal! Bolschewisierung des Theaters! Verbieten! – Wir erwähnen das als Bestätigung der Richtigkeit des von uns vorher Gesagten.

In: Die Rote Fahne, 7. Mai 1930, S. 5. Weitere Aufführungsdebatten finden Sie hier.

Oskar Maurus Fontana: Brülle China! Neues Wiener Schauspielhaus

             Unterdrückung und Befreiung sind die zwei starken Akzente dieses Schauspiels von S. Tretjakow (deutsch von Leo Lania). China ist unterdrückt, ist ausgebeutet von den weißen Männern, die die großen Schiffe und das viele Geld haben. Ein Beispiel dafür erzählt in neun Szenen Tretjakow. Ein englisches Kanonenboot und ein amerikanischer Händler liegen vor der Stadt Wanshien. Geschäfte werden gemacht, Löhne gedrückt. Die Kanonen schauen wie unbeteiligt zu. Wie sehr sie aber beteiligt sind, zeigt sich sofort, als der Amerikaner bei einer Rauferei mit einem Chinesen zugrunde geht. Nun drohen die Kanonen offenen Mord, nun sprechen sie die Sprache der Unterdrückung. Die Stadt und China mit ihr werden rücksichtslos gedemütigt. Der Schuldige ist nicht gefunden worden, also müssen zwei Unschuldige als Sühne sterben.  Alles Flehen hilft nichts, die Kanonen sind aus Erz, sie hören nichts. Die zwei Unschuldigen werden angesichts der ganzen Stadt gehängt. Stumm und leidend hat sie es geduldet. Bis plötzlich die Not der Unterdrückung die Dämme der Angst bricht, bis das Volk der Stadt Wanshien aufsteht, den englischen Kapitän niedermacht und auch dem Bombardement des Kanonenbootes mit der aufgerollten, flatternden Fahne der Kuomintang den unbrechbaren Trotz der Befreiten gegenübersetzt: Brülle China, brülle gegen die Knechtschaft, brülle gegen die Kanonen, die den Nutzen des Händlers sichern!

             Das Stoffliche des Stückes ist seine Stärke. Das Panorama einer Kolonialwelt, das da entrollt wird, regt auf, so sehr seine Zeichnung im einzelnen primitiv und grob sein mag. Menschliche Not und Überwindung menschlicher Not (und geschehe sie auch nur auf dem Theater) rufen seit je am stärksten die Herzen und Geister der Menschen an und damit die Dichter und ihre Gefolgschaft. Denn, darüber darf man sich trotz der alarmierenden Wirkung dieser Szenen keiner Täuschung hingeben, Tretjakow gehört nur zur Gefolgschaft der Dichter, nicht zu ihnen selbst. Sein Schauspielverhält sich zu einer Dichtung wie ein Plakat zu einem Ölgemälde. Tretjakows Schwarzweißtechnik – tieferes Schwarz für die Herren, strahlendes Weiß für die Unterdrückten – genügt für ein wirksames Gegeneinanderausspielen wirkender irdischer Kräfte, aber nicht für die Gestaltung von Menschen, für die innere Erhellung von Situationen. Tretjakows Schauspiel, in einer bereiten Welt entstanden, lebt dennoch, wie die unendlich gültigeren, unendlich reicheren „Weber“ nur von der Trotzmelodie einer unterdrückten Welt: „Ihr fesselt der Armen Hab und Gut und Fluch wird euch zum Lohne!“ Tretjakows Schauspiel kommt darum als künstlerisches und auch revolutionäres Dokument nicht über die Wiederholung hinaus. Das Neue, das es gibt, ist das Stoffliche, ist eine Ahnung der Welt Chinas, ist ein fernes Grollen der Tragödie des chinesischen Volkes.

             Aus diesen Möglichkeiten schlägt die Regie Fritz Peter Buchs Funken. Er gibt ein leidenschaftlich bewegtes Theater im Anschwellen, Abbeben und Wieder-Hochfluten der Massen. Er findet für die Feierstimmung im Schatten der Kanonen auf dem Kriegsschiff spitze Töne der Satire wie er der Verzweiflung der Chinesen den leisen Schmerz und den brüllenden Ausbruch zu geben weiß. Eine starke Regieleistung. Auch dort, wo sie Elemente der Inszenierungen Piscators und Eisensteins (Potiomkin) übernimmt, tritt sie nicht auf dem gleichen Fleck, sucht sie Anregungen weiter zu entwickeln. Daß Buch kein Nachahmer des Szenenaufbaus ist, merkt man an seiner Arbeit – am Schauspieler besonders deutlich. Hier ist nichts verwischt oder beiläufig, hier ist jede Type zu einem lebendigen Ausdruck gebracht.

             Wie ausgezeichnet Josef Zechell als chinesischer Student, geduckt aufbegehrend, wie voll fremder Würde der Dauyin des Herrn Rothauser, welche dunkle Klage ist in Anna Feldhammers Worte gebannt, was für leidende Menschen sind die alten Schiffer der Herren Weiß, Kalwoda, Lipschütz, welche Weißglut der Empörung in Jakob Feldhammers Kuli, welcher Trotz in Kurt Liecks Aufschrei gegen die Kanonen, wie stark und gar nicht theatralisch der Kapitän des Herrn Koch, wie gut ist die exakte, militärisch sachliche Besatzung des Kriegsschiffs von den plaudernden ahnungslosen weißen Zivilisten unterschieden, wie ergreifend mit ein paar Sätzen und Bewegungen der arme Chinesenboy der Elisabeth Eschbaum. Das alles ist starkes Theater und eine Bereicherung des Wiener Theaters.

             Ist es Bolschewistentheater – wie die Hetze höhnt? Nun, dann auch „Die Räuber“ mit ihrem Ruf „In Tyrannos“ als Bolschewikentheater ausgegeben werden. Daß es Revolutionen gegeben hat und geben wird, soll das auf dem Theater verschwiegen werden? Nicht Blindheit und die Torheit der sich Blindstellenden arbeiten den Revolutionen entgegen, sondern nur Erkenntnis und der Mut zur Erkenntnis.

In: Der Tag, 4.5.1930, S. 18. Weitere Aufführungsdebatten finden Sie hier.

Raoul Auernheimer: Die Signatur der Epoche

Ein Sommerbrief aus Wien

Sie sind sehr klug, verehrte Freundin. Was, wenn es erst bewiesen werden müßte und nicht hinlänglich bewiesen wäre durch die Geschicklichkeit, mit der Sie sich allen Schwierigkeiten zu Trotz in zwölfter Stunde eine Einreiseerlaubnis in das heilige Land Tirol zu verschaffen mußten, zur Evidenz hervorginge aus einem kleinen Satz des leider nur so kurzen Briefes, mit dem Sie mich dieser Tage beglückt haben. Denn was ist Klugheit? Man könnte definieren: Selbst einen möglichst kurzen Brief zu schreiben, der den Empfänger veranlaßt, uns in einem sehr langen zu antworten. Darauf aber verstehen Sie in der Mitte Ihrer zwölf Zeilen mit einer so vollendeten Unschuld an mich richten. Ich soll Ihnen, die Sie bereits seit Wochen – Sie Glückliche! – von der Weltgeschichte völlig abgeschnitten leben, in zwei Worten sagen, worin augenblicklich die Signatur der Epoche besteht. Die Signatur der Epoche und in zwei Worten ! Daran erkenne ich die Meisterin, auf deren Schreibtisch sich nicht umsonst so viele literarische Episteln häufen. Ja, Sie wissen, wie man die spröde Feder eines Schriftstellers in Bewegung setzt. Hätten sie einen langen Brief von mir beansprucht, so wäre ich Ihnen, bei aller Verehrung, die Antwort wahrscheinlich ziemlich lange schuldig geblieben. Aber zwei Worte ! Wer wäre so hartherzig, Sie einer guten Freundin abzuschlagen? Unwillkürlich beginnt man, darüber nachzudenken, sic mit der aufgeworfenen Trage zu beschäftigen, die Signatur der Epoche zu studieren, die Ergebnisse seiner Studien zu Papier zu bringen. Und so fängt man sich, zu Ihrem Vergnügen, in Ihrer Schlinge.

Mir wenigstens ist es so ergangen. Denn, wie ich Ihnen offen eingestehen will, im Anfang nahm ich Ihren Auftrag ernst und versuchte ihn buchstäblich zu erfüllen. Ich ging in unserem sommerlichen Wien umher und suchte die Signatur der Epoche, wie die mittelalterlichen Weisen die Quadratur des Zirkels gesucht haben. Ich blieb vor unseren Anschlagsäulen und =tafeln stehen, auf denen die längste Zeit die kommunistischen Aufrufe neben den Anpreisungen unserer neusten Heurigenetablissements zu lesen waren, und ich glaube, sie gefunden zu haben. Ich ging über den Ring, auf dem man jetzt fast nur Ungarisch reden hört und keinem einigen seiner Wiener Bekannten begegnet, obwohl sie nachweisbar alle, bis auf ganz wenige bedauerliche Ausnahmen, noch in Wien sind, und ich hatte dieselbe Empfindung. Ich sah über die von Wagen entvölkerte Ringstraße, über die nur hin und wieder ein zwitscherndes italienisches Automobil rast – die unseren dürfen nicht zwitschern und können nicht rasen – ein seltsam närrisches Fuhrwerk schwanken und ich meinte, wiederum die Signatur der Epoche, unserer Wiener Epoche zumindest, vor Augen zu haben. Denken Sie sich eine auf Räder gestellte turmartige, viereckige Plakatsäule, die auf allen vier Seiten von den Ankündigungen eines neuen Vergnügungsetablissements bunt überzogen ist und die ein ausgemergeltes Pferdchen – so ausgemergelt, daß man ihm alle Rippen zählen kann – mühsam vorbeischleppt, wiederholt kraftlos innehaltend und den blutjungen Kutscher zum Absteigen nötigend. Ist das nicht die Signatur der Epoche, wie wir sie jetzt in unserem halbverhungerten und zur anderen Hälfte so krampfhaft vergnügten Wien durchmachen? Schließlich glaubte ich ihr etwas später, im Weiterwandern, noch einmal zu begegnen, und zwar vor unserem Grillparzer-Monument im Volksgarten. Sie haben Grillparzer – ich meine natürlich sein Denkmal – noch ein seiner guten Zeit gekannt und Sie haben ihn sicherlich noch deutlich vor Augen, wie er inmitten der schön bewegten Reliefdarstellungen aus seinen Werken, bescheiden thronend dasitzt, mit seitlich geneigtem Haupt, in dieser Haltung, die für eine gewisse Art verstorbener Oesterreicher so charakteristisch ist ; denn sie bedeutet zugleich ein Ausweichen, aber auch, indem man ausweicht, ein Sichbehaupten, und beides war Grillparzers Art, die der Bildhauer aufs glücklichste in den Marmor bannte….Nun, Sie würden diesen Ihren Grillparzer, den Inbegriff des Altösterreichertums, aber in unanfechtbar reiner Form, zur Stunde nicht wiedererkennen. Man hat ihn, wie Sie wissen, bübisch bemalt und seither verhüllt. Nun sitzt er da wie eine Niobe, die ihr Peplum trauernd über den Kopf gezogen hätte, oder wie ein unförmiges Marktweib, das in einen Rotzen eingehüllt schläft. Soll man auch darin die Signatur der Epoche erblicken? Ich glaube, es hieße das, unserer Epoche unrecht tun, und einen Bubenstreich, der eben nur ein Bubenstreich ist, unstatthaft verallgemeinern.

Ueberhaupt die Epoche ! Man sagt ihr allerhand nach und nicht nur Gutes; es ist ja auch wirklich nicht alles schön und gut. Aber war das in früheren Epochen anders? Ich las kürzlich in den Briefen des Camille Desmoulins, dieses vielleicht liebenswürdigsten französischen Revolutionshelden, der die Revolution tadeln durfte, weil er für sie gelebt hat und an ihr gestorben ist. Nun, auch bei diesem Revolutionsritter ohne Furcht und – fast – ohne Tadel stößt man auf Sätze, in denen sich eine gewisse Verzagtheit, eine gewisse Hoffnungslosigkeit, jene mélancolie de quarante ans, die die Revolutionäre befällt, wenn die Revolution zu ihren Jahren kommt, ganz deutlich bemerkbar macht. Man kommt nämlich allgemach dahinter, daß Revolutionen – erschrecken Sie nicht, Bürgerin! – an den Tatsachen des Staates nur sehr wenig ändern. „Ehrgeiz an Stelle des Ehrgeizes und Habgier an Stelle der Habgier“, so charakterisiert Desmoulins, gewiß ein klassischer Blutzeuge, nach den ersten vier Jahren das Ereignis der französischen Revolution. Aber er läßt die und sich darum nicht fallen, sondern ermannt sich wieder mit den Worten : „Trotzdem ist der Zustand der Dinge, wie er jetzt ist, unvergleichlich besser als vor vier Jahren, weil es eine Hoffnung gibt, ihn verbessern zu können, eine Hoffnung, die unter dem Despotismus nicht da ist  …“. So sprach auch Mirabeau, die ritterlichste Erscheinung der französischen Revolution, wie Desmoulins die sympathischste, mitten im Sturm der Aufstände das wahrhaft königliche Wort: „Ich bin für die Wiederherstellung der Ordnung aber nicht der alten Ordnung.“

Uebrigens, „weil wir grad vom Schießen reden“, wie ein Onkel von mir zu sagen pflegte, der in seinem Leben nicht geschossen hat: so möchte ich Ihnen noch einiges anvertrauen dürfen, war auf die französischen Zustände Bezug hat, aber nicht die von 1793, sondern auf die weit ungefährlicheren von 1840, über die Heine in seinen französischen Briefen schreibt. Ich bin unlängst beim Durchstöbern meiner Bibliothek auf diese Lektüre gestoßen und ich kann Ihnen versichern, es gibt augenblicklich keine aktuellere. Allein die Titelaufschriften im Inhaltsverzeichnis, unter denen Sie folgende finden: „Der Kommunismus“, „Die soziale Weltrevolution“, „Angst der Bourgeoisie vor dem Kommunismus“, mögen dies beweisen, und um wie viel mehr beweist es der Inhalt. Zumal das Kapitel über die soziale Weltrevolution klingt wahrhaft prophetisch. Heine, der so lange aus der Mode war, weil er sich als Dichter unterstand, auch eine politische Meinung zu haben, und der gerade darum jetzt augenscheinlich wieder in die Mode kommt, sieht die soziale Weltrevolution heraufdämmern nach einem Kriege zwischen Frankreich und Deutschland, „diesen beiden edelsten Nationen“, der damals wie so oft seither als ein schwarzes Gewitter finster drohend am Horizonte stand. Der Krieg selbst, meint Heine, werde nur der erste Akt „des großen Spektakelstücks sein, gleichsam das Wortspiel“. Den Inhalt des zweiten aber werde ausmachen „die Weltrevolution, der große Zweikampf der Besitzlosen mit der Aristokratie des Besitzes, und da wird weder von Nationalität noch von Religion die Rede sein: nur ein Vaterland wird es geben, nämlich die Erde, und nur einen Glauben, nämlich das Glück auf Erden …“. Und da sind wir auch schon mitten drinnen im theoretischen Kommunismus, von dem Heine in seiner die Ideen geistreich personifizierenden Art fragt, daß er „inkognito, ein dürftiger Prätendent, im Erdgeschoß der offiziellen Gesellschaft residiere“. Der Kommunismus, meint er weiter, sei der düstere Held, dem „eine große, wenn auch vorübergehende Rolle beschieden ist in der modernen Tragödie“, von der Heine vorausahnt, daß sie, im dritten Akt, meint einer kirchlichen Restauration und mit der Wiederaufrichtung der „alten absoluten Tradition“ enden könnte, wenn auch nicht enden muß. Einstweilen aber hält dieses Schreckgespenst die reaktionären wie die revolutionären Gemüter in Bann und hilft – im Paris von 1840 – dem braven Bürgerkönig Ludwig Philipp, die etwas wacklig gewordene Königskrone über seinem feisten Haupte zu befestigen. Und um diesen psychologischen Prozeß, der einigermaßen an den Umschwung der Geister bei unseren östlichen Nachbarn erinnert, anschaulich zu machen, erzählt Heine seinen Lesern die Geschichte vom gipsernen Elefanten. Erlauben Sie mir, daß ich sie ihm hier nacherzähle. Ohnehin dürfen Sie in Ihrer Vendée nicht so leicht mit einem kompletten Heine zusammenkommen. Und in einem anderen als in einem kompletten find Sie diese überaus lehrreiche Geschichte nicht.

Im Juli 1842, also in einer gleichfalls sehr hitzigen Zeit, beschäftigte den Gemeinderat von Paris eine sehr wichtige Frage, eine jener Fragen von scheinbar engster lokaler Bedeutung, die aber unter Umständen die Größe eines Symbols annehmen können. Es handelt sich um die Forträumig eines kolossalen Gipsmodells, das, einen Elefanten darstellend, als ein Ueberbleibsel aus der Kaiserzeit auf dem Pariser Bastillenplatz stand. Eine Zeitlang hatte man daran gedacht, es für ein Denkmal zu verwenden, das der Julirevolution geweiht sein sollte. Später kam man davon ab und errichtete die Juliussäule; und nun war jener alte Elefant aus Gips vollkommen überflüssig geworden, ein Verkehrshindernis, nichts weiter. Man hätte das nicht sehr kostbare, altersschwache Werk einfach zerschlagen und die Trümmer vom Kärrner fortschaffen lassen können, wenn nicht ein im Volk umgehender Aberglaube das Gipsmodell schließlich doch vor diesem pietätlosen Verfahren behütet hätte. Das Gerücht behauptet nämlich, daß sich im Bauch des gipsernen Freiheitsriesen im Laufe der Jahre eine ungeheure Zahl von Ratten angesiedelt hätte, die, durch den Zusammenbruch befreit, die angrenzenden Bezirke überschwemmen würden. „Alle Unterröcke zitterten bei dem Gedanken an solche Gefahr, und sogar die Männer ergriff eine unheimliche Furcht vor der Invasion jener langgeschwänzten Gäste.“ Kurz, der Gemeinderat beschloß, aus Furcht vor den Ratten, die „Gipsbestie“ nicht niederzureißen, sondern in Bronze ausgießen zu lassen und das daraus hervorgehende Monument am Eingang der „Barrière du Trône“ aufzustellen. Die Anwendung auf den Kommunismus und die daraus hervorgehende Stärkung der reaktionären Gewalt ist klar…

Mit dieser klugen Geschichte drückte Heine dem Sommer 1842 die Signatur der Epoche auf. Und dieser Sommer, der unsrige ? Ich glaube, es verhält sich bei uns nicht viel anders, obwohl wir in Wien keinen Bastillenplatz, keinen gipsernen Elefanten und vor allem auch kein Geld haben, ihn in Bronze auszugießen. Besonders das Geld fehlt uns und wird uns nach Besiegelung des unglücklichen Friedensvertrages in noch höherem Maße fehlen. Freilich unter Umständen hat jeder Geld, auch wenn er nicht, wie dies unter dem Diktaturschwert Bela Kuns üblich war, völlig ausgeraubt und von allen entblößt aus Ungarn nach Wien geflohen ist. Diese Ungarn, deren Einfluß es zum Teil zuzuschreiben ist, daß Wien zurzeit war nicht der schönste, wie Humoristen in früherer Zeit gern unter Beweis stellten, wohl aber der teuerste Sommeraufenthalt ist, zahlen, wie ich höre alle Preise und verderben dadurch unsere Geschäftsleute, an denen in dieser Beziehung ohnehin nicht mehr viel zu verderben ist. Sie machen es, aus der Schule des Kommunismus kommend, wie Madame Olympe de Gouges zur Zeit der großen Revolution, die, als sie ein Pariser Sansculotte auf der Straße abfing und, ihren Kopf wie ein gefangenes Huhn unter den Arm pressend, lachend ausrief : „Wer gibt mir fünfzehn Sous für den Kopf dieser Frau ?“, unter dem Arm schlagfertig-kläglich hervorwimmerte : „Lieber, lieber Freund, ich gebe dreißig.“ Uebrigens sind wir in diesem Falle, wie unsere Preisbildung in den letzten Monaten beweist, alle zu Ueberzahlungen bereit, und was die Ungarn betrifft, die sich bei uns restaurieren, so bezahlen sie die in Wien genossene Gastfreundschaft nicht nur mit einem im Verhältnis zu ihrem weißen „guten“ blauen Gelde, sondern unter Umständen auch mit harschen Worten, die hinter dem französischen um nichts zurückstehen. So soll unlängst einer beim Ueberschreiten unserer Grenze aus tiefstem Herzen humoristisch ausgeseufzt haben: „Mein Bedarf an Weltgeschichte ist jetzt für längere Zeit gedeckt.“ Das Wort, in dem einer ausspricht, was wir unausgesprochen jetzt alle empfinden, verdiente Flügel zu bekommen uns Sie sollten ihm welche machen, denn ich wüßte nichts, worin sie lesbarer und lapidarer enthalten wäre, wonach Sie mich fragen: Die Signatur der Epoche.

In: Neue Freie Presse, 15.8.1919, S. 1-3.

Hermann Bahr: Katholische Romantik.

Auf der religiös-wissenschaftlichen Tagung des Verbandes der Vereine katholischer Akademiker in Heidelberg erstattete Hermann Bahr ein Referat, das wir hier in seinen wesentlichsten Ausführungen wiedergeben.

Romantisch nennen wir ein Stück Natur, das auf uns wirkt, wie wir das sonst nur von Werten der Kunst gewohnt sind. Romantisch ist, was, um ideal zu wirken, um seiner Idee zu genügen, fast keiner Nachhilfe, weder durch Kunst, noch durch unsere Phantasie bedarf. Erfahrung bleibt ja fast immer hinter ihrer Idee zurück, sie decken sich fast nie.

            Das Gefühl dieser Insuffizienz ist es recht eigentlich, dass den Künstler hervorruft und produktiv macht. Je weniger nun ein Stück der Natur, um sich mit der Idee zu decken, erst einer Beihilfe des Künstlers braucht, je mehr ein Naturstück sich selber schon dem Kunstwerk nähert, desto „romantischer“ wirkt es.

            Das ist der Sinn, mit dem das Wort vor etwa zweihundert Jahren im Sprachgebrauch auftaucht. Und leise klingt in dieses Wort auch noch die Mahnung hinein, wenn wir eine höhere Wirklichkeit, als uns das bürgerliche Leben gibt, finden wollen, sie am besten beim Volke zu suchen. Damit haben wir nun das Wort Romantisch mit seinem vollen Gehalt und haben damit aber auch schon den gesamten Sinn der Romantik in allen seinen Schwingungen. Die Romantik holt sich aus dem Wort Romantisch ihr Programm. Mit ihr erscheint eine Jugend, die jenes Gefühl der Insuffizienz aller Erfahrung, wenn man sie an der Idee mißt, so stark erlebt, daß ihr die Gegenwart unerträglich wird: sehnsüchtig blickt sie von dieser schalen, leeren, unzureichenden Wirklichkeit, in die sie sich eingezwängt sieht, weg auf das höfische Zeitalter zurück, das ihr von einer selber schon zu Poesie so gesteigerten und erhöhten Wirklichkeit scheint, daß der Poesie daran nichts mehr zu tun übrig blieb, als sie einfach abzuspiegeln. Keineswegs Flucht aus der Wirklichkeit will die Romantik also, sondern Flucht aus der Unwirklichkeit des Daseins, von dem sie sich umgeben sieht, in Wirklichkeit, in eine volle, ja exaltierte Wirklichkeit, die der Poesie. Auf das Erleben von Poesie kommt’s dem Romantiker an, sein eigenes Dichten ist nur ein Griff nach der Poesie des Lebens, und wenn uns heute noch der bloße Namen der Romantik bezaubert, dankt sie das nur ihrer Erscheinung, aber keinem ihrer Werke. Nur eins ist von ihr lebendig geblieben, bis auf den heutigen Tag: ihr innerlich tiefes, reines gewaltiges Lebensgefühl.

            Schon im ersten Manifest der Romantik, in Friedrich Schlegels berühmten Aufsatz über den Wilhelm Meister, wird gefordert, „Inhalt und Form des Werks aus dem eigenen Leben zu nehmen“, auf erlebte Form wird gedrungen, jede nachempfundene, gar aber eine der Antike nachempfundene zurückgewiesen.

            Die Romantik selber wußte nicht, daß eine solche verwegene Lossage von der Antike schon einmal versucht worden war, schon an den Toren der deutschen Renaissance: von der Spätscholastik nämlich, die uns erst durch Duben und den Marburger Philosophen H. Heimsoeth verständlich geworden ist. Aber dieser Versuch der Spätscholastik, die christlichen Wahrheiten aus ihrer Gebundenheit an die strengen festen Denkformen der antiken Ueberlieferung zu schälen, hat ein ganz unerwartetes Ergebnis: kaum sind die Bindungen der antiken Denkformen gelockert, entweicht die Wahrheit und schon drängt Irrtum an Irrtum vor, Willkür bricht ein. Gesetz wird vergessen. Es sieht fast aus, als könnte der Mensch des Abendlands, um in der Wahrheit festzustehen, des Stabs der antiken Denkform nicht entbehren.

            Wie jene Denker der Spätscholastik, so glauben sich nun auch die Dichter der Romantik einer eigenen Form mächtig und bedürftig der Antike. Das Erlebnis der französischen Revolution, von der sich nach dem Strohfeuer der ersten Begeisterung Deutschland mit Entsetzen abwendet, bestärkt sie darin und durch die höchste Gestalt der Revolution, Napoleon diesen leibhaftigen Revenant der Antike, fühlt sie sich berechtigt ja fast sittlich verpflichtet dazu. Der Augenblick, einen eigensinnigen Ausdruck deutschen Wesens zu wagen, scheint da. Jeder Form, auch der reinsten, droht Erstarrung. So können wir den romantischen Trotz gegen die Antike verstehen. Er wurde der ganzen deutschen Ueberlieferung gefährlich, erst dadurch, daß der einen der romantischen Gruppen von vornherein ein Haß aller Form im Blut lag. Durch J. Nadler kennen wir die zwei Lager der Romantik und ihren Doppelsinn, daß sie nämlich den Altstämmen etwas ganz anderes bedeutet als den Neustämmen. Jenen, Rheinfranken und Alemannen vor allem, geht es ihr um Restauration ihres schon durch die „Aufklärung“ geschwächten, nun auch noch durch die französische Revolution bedrohten geistigen Erbes, während den Neustämmen, den Kolonisten des Ostens, überhaupt erst Gelegenheit gegeben ist, das Erbe des Mutterlandes anzutreten. Ein altes Volk sieht den Sinn seiner ganzen inneren Existenz gefährdet und, um sich wiederzufinden, um sich wiederherzustellen, beschwört es das Bild seiner Vergangenheit zur Hilfe herauf: das ist die Romantik der alten Stämme. Auswanderer, die eine neue Heimat gefunden haben, suchen wieder eine Verbindung mit der alten und dazu müssen sie sich rasch aneignen, was dort, seit sie fort sind, inzwischen geistig geschehen ist: das meint die Romantik des Ostens. Dieselben Worte haben darum im Mund eines jeden von beiden einen ganz anderen Sinn. Jene im Westen wollen, von verwegen neuem Geist bedroht, sich auf ihr altes Wesen besinnen. Diese im Osten müssen, um an diesem alten Wesen teilzunehmen, selber erst etwas ihnen ganz Neues werden. Ja sie müssen dazu noch erst einen geheimen Widerspruch im eigenen Blut überwinden: „unserer Nation ist mit der sarmatischen amalgamiert“, hat Zacharias Werner einmal gesagt: „Die Kolonisten sind nicht unvermischt geblieben und eben aus einer geheimen Furcht vor diesen fremden Wallungen im eigenen Blut wenden sie sich ins alte Vaterland.“ Die Altstämme haben sich nur wieder recht auf sich zu besinnen, die Neustämme müssen erst werden, was jene sind: jenen gehts um Restauration, diesen um Regeneration, sie müssen selber erst zu vollen Deutschen wiedergeboren werden. Daher können jene sichs leicht erlauben, gegen die Antike zu rebellieren: Sie sind ja fortwährend immer wieder antikisiert worden, durch den Romanismus der karolingischen Renaissance, den Romanismus der Hochscholastik, den Romanismus der deutschen Renaissance und ganz zuletzt noch eben jetzt wieder den Romanismus Weimars. Aber für die Neustämme hat jene Lossage von der Antike ganz einen anderen Sinn, hier gerät durch sie der Wille der ganzen Bewegung in Gefahr, der Wille, heimzukehren ins alte Vaterland, das Erbe der deutschen Vergangenheit anzutreten, einer doch von der Antike ganz durchwachsenen Vergangenheit, die zerrissen würde und auseinander fällt ohne die Antike!

            Ja noch mehr: Die Neustämme hätten sich, wäre dieser dumpfe Drang nach Lösung von der Antike durchgedrungen, damit ausgesperrt vom Abendland und in den gestaltlosen Osten verbannt. Denn das Abendland kann, um sich Form zu geben, die Hilfe der Antike nicht entbehren.

            Wir berühren hier ein Geheimnis der abendländischen Völker, das ihnen selber unbegreiflich ist und immer wieder zu Zeiten unerträglich wird. Alle großen Epochen dieser Völker beginnen mit einer Revolte gegen den Zwang zur Form der Antike, um immer wieder mit einer neuen Eingebung in diesen Zwang zu enden. Denken wir die Form der Antike!

            In „Begreifen“ ruht die Leistung der griechischen Wissenschaft, wie der griechischen Kunst. Im Bilde, im Begriffe hält der Grieche die fortstürzenden Erscheinungen an, er glaubt, sie zum Stehen zu bringen, das Werden zu sistieren, ein beruhigtes Sein gewonnen zu haben. Ja noch mehr: An diesem Sein, in das er das Werden bildend bannt, glaubt er ahnungsvoll zugleich auch schon ein Abbild jenes anderen, des großen, hinter allem entrinnenden Schein des Werdens verborgen ruhenden Sinns zu berühren, das vor allem Werden immer schon war und auch wenn einst alles entworden ist, immer noch sein wird: „aute he usia“! Grieche sein heißt, im Schein des Werdens schon ein Jenseits davon ahnen: ein Sein, und sich nun Zeichen dieser Ahnungen machen, das Zeug zu solchen Zeichen des Seins sich freilich wieder aus dem Schein des Werdens holend, die darum niemals das Sein erreichen können; sie deuten nur hinüber, aber sie bringen ihn nicht hinüber, er kommt nicht zur Wahrheit, er kommt nur bis zum Mythos. Wir aber, wir abendländischen Christen, sind wirklich das Gegenteil des Griechen, wir können uns keine Mythen mehr bilden, weil wir keine Mythen mehr brauchen können, denn uns trennt vom Griechen ein ungeheures Erlebnis: das Sein selber ist unter uns erschienen, die Wahrheit hat in Person unter uns gewohnt, das Wort ist Fleische geworden und ist im allerheiligsten Sakrament unter uns geblieben, so daß wir jetzt mitten im Werden schon unmittelbar teilnehmen können am Sein. Der Grieche rette sich ins Bild, wir retten uns ins Sakrament; er wandelt im Bilde, wir wandern in der Gegenwart Gottes!

            Aber dadurch ist das Bild doch keineswegs entwertet: sein Wert hat nur fortan einen anderen Akzent. Dem Griechen ist das Bild ein Zeichen seiner Ahnung eines verborgenen Seins, uns ist es ein Abzeichen unserer Gewißheit des uns offenbarten Seins. Auch wir, wenn auch der Beruhigung des Ewigen teilhaft, müssen ja dann doch immer wieder in die Zeit zurück, an unser irdisches Werk herab: Hier können wir uns über das Himmlische nicht unmittelbar, sondern nur durch eine Zeichensprache verständigen. So haben denn die jungen Völker des christlichen Zeitalters, sobald sie das Bedürfnis nach Zeichen ihres neuen Denkens, ihres neuen Fühlens, ihres neuen Daseins empfanden, einfach die griechischen übernommen und diese durch den neuen Gehalt unablässig von Jahrhundert zu Jahrhundert christianisiert. Was wir heute griechische Form nennen, sei es im Denken, sei es im Bilden, ist griechischer Abstammung zwar, aber es ist längst nicht mehr ein reines Griechisch, es ist ein getauftes Griechisch. Das Christentum hat seine Kraft am schönsten durch die schonende Geduld gezeigt, mit der es von den alten Völkern jede keimende Wahrheit zart in Obhut und Pflege nahm. Nicht zerstörend, sondern erfüllend kommt das Christentum zu den Völkern, und wo nur immer Erkenntnis glimmt, facht es den Funken an. Aber eben indem das Christentum die geistige Mitgift der Völker in seine Hut nimmt, schafft es sie wesentlich um, es verwächst mit ihr, und so völlig, daß man sie nun nicht mehr wieder von ihm ablösen kann, ohne damit auch es selber zu verletzen. Jeder Versuch, sei es der christlichen Wissenschaft, sei es der christlichen Kunst, von den antiken Bindungen loszukommen, hat bisher immer nur wieder Irrtum und Formlosigkeit ergeben: Die Romantik, die trotz reinsten Willens, rechter Einsichten, klarer Absichten, mit ihrem erstaunlichen Reichtum an Begabung nichts zu wirken vermag und ein Chaos zurückläßt, aus den bisher noch keine der abendländischen Nationen wieder zur Form zurückgefunden hat, ist das letzte warnende Beispiel.

            Unsere Zeit erinnert an die der Romantik so sehr, daß sie fast eine grobe, sinnlos übertriebene Karikatur von ihr scheint. Alles um uns und in uns wankt, Ungesetz, Willkür und Frevel walten frei und wieder sehen wir die Ratlosigkeit einer aufgescheuchten Menschheit, ausgenützt von Abenteurern und Betrügern, überall wird mit Magie hausiert, der Sinn fürs Heilige wird durch alberne Fälschungen gefoppt, und wieder ist es jener alte Hang kimmerischer Schwärmer zum Trüben, Ungestalten, in dem die Gier falscher Propheten und windiger Religionsgründer, Religionsschieber am liebsten fischt. So hätten auch wir jetzt wieder eine tiefe Selbstbesinnung not: eine Romantik, aber eine, die nicht, wie jene damals, in der bloßen Forderung des Romantischen stecken, nicht Fragment, nicht ein bloßes Spiel mit frommen Wünschen bleibt, sondern die Kraft hätte, das Romantische zu verwirklichen durch eine Lebensform, in der Erfahrung sich der Idee so nähert, daß sie sie fast erreicht, daß wir hier im strömenden Werden uns schon des ewigen Seins vergewissern, daß wir im täglichen Leben auf Schritt und Tritt Zeugnis geben von der währenden Gegenwart Gottes mitten unter uns, Zeugnis davon geben durch unsere Tat; den Aktivismus einer katholischen Romantik hätten wir not.

            Jene Lebensform war im Abendland bis ans Ende des Barock wirksam.

            Unsere Literatur hat von ihr einen klassischen Ausdruck aufbewahrt: in der Makarie der Wanderjahre. Diese geheimnisvolle Gestalt ist hier auf Erden schon des Jenseits ganz unmittelbar, ja sie glaubt, an ihm zuweilen teilzunehmen, sie wechselt zwischen hier und dort hin und her: „Bald gibt sie bei frisch aufleuchtendem Inneren sich der seligsten Ruhe hin“, bald wieder, wenn ihr der Blick hinüber entzogen und sie in unseren trüben Zustand zurückgesenkt wird, benützt sie, „bei gedämpftem inneren Licht“ die Pause zu wohltätiger Wirksamkeit unter den Menschen. Goethe hat hier nach dem Leben gezeichnet: es ist die Lebensform des heiligen Ignatius, der heiligen Therese, des heiligen Philippus Neri, die Lebensform des Eucharisten. Wer das allerheiligste Sakrament empfängt, berührt das ewige Sein. Das allerheiligste Sakrament bringt uns in die Wahrheit hinüber. Und kehren wir dann aus ihr in den Schein, aus der Ewigkeit in die Zeit, aus dem Sein wieder ins Werden zurück, wir bleiben doch in der Gegenwart Gottes und können sie bezeugen durch unsere Tat. Der Grieche konnte sich dem „Prototypon“ nur durch Abbilder seiner Ahnungen davon, durch Wunschbilder nähern: wir, des Urbildes selber unmittelbar gewiß, trachten es in unserem irdischen Tun, jeder durch sein Tagewerk, nachzubilden. Unser ganzes irdisches Dasein, ob wir wachen oder schlafen, denken und dichten aber handeln und herrschen, frohlocken oder wehklagen, ganz einzustellen in den Flammenhauch der Eucharistie, das wäre katholische Romantik der Erfüllung.

In: Reichspost, 21.9.1922, S. 1-3.