Stefan Zweig: Bilanz des Jahres (1920)

(Ein Brief an Henri Barbusse)

Stefan Zweig, der in Salzburg als deutscher Botschafter Romain Rollands wirkt, erzählt in dieser höchst melancholischen Rückschau, wie viele Blütenträume der „Revolution, der Intellek­tuellen“ nicht gereift sind. Ach, wo sind sie alle hin, die Räte der geistigen Arbeiter, die deutschen Gruppen der Clarté, und wie alle diese schnell wieder zerstobenen Tribunale aufgeregter Geister hießen? Niemals hat der deutsche Intellektuelle seine politische Impotenz ungehemmter nachweisen können als seit dem November 1918… Ich wage nicht zu beurteilen, inwieweit auch die fran­zösische Clarté-Bewegung durch literarische Inzucht zur Volks­fremdheit verdammt ist— die pädagogisch-moralischen Neigungen von Barbusse und Rolland geben der Bewegung doch immerhin ethische Volkstümlichkeit — in Deutschland fehlt dem Intellek­tuellen das natürlichste Gemeinschaftsgefühl. Er sitzt immer auf dem Isoliersessel, er wagt nicht ins Wasser einer jungen, starken Bewegung zu springen, er bleibt ewig kritisierender Ideologe, im Innersten, nämlich in der Willenszone, steril, d. h. unschöpferisch. Clarté, ach, das heißt in deutscher Übersetzung vorläufig: Impotenz.

Sie haben, Henri Barbusse, vor einem Jahre das Wort „Clarté“ „Klarheit“ vor ein Buch, vor einen Willen, vor eine Tat gestellt. Und wenn wir auch nicht alle Ihrem Willen restlos eines geworden sind — manche unter uns vermeinen, soziale Neuformung der Welt könne nicht die wesentliche Natur unserer Menschheit wie unserer Zeit verändern —, so sind wir doch Gefährten in dem Willen zur Wahrheit, zur „Klarheit“. Und die Stunde, heute nach einem Jahr, scheint mir die rechte, um in Klarheit von dem zu sprechen, was wir erhofften und was wir erreichten, wir, denen dies Zeichen eine Bot­schaft über dem Dunkel der Zeit gewesen ist.

Wir wollen klar sprechen, wir wollen wahr sprechen. Und so müssen wir vor allem sagen: wir haben viel erhofft, wir haben wenig erreicht. So viel wie nichts ist geschehen in der Welt von dem, was wir verwirklichen wollten. Der internationale Gedanke, den wir wieder erwecken wollten in den Menschen, in den Nationen (deren Hände noch blutig waren vom Krieg, deren Seelen verkrustet in Haß), ist ohne Macht geblieben, die Grenzen starren härter als je zwischen den Völkern, das Mißtrauen — gedüngt von dem Kot einer erbärmlichen Presse — wuchert noch zu beiden Seiten des Abgrunds. Wir haben nicht einmal uns die Hände reichen können heute nach einem Jahr, nur in geschriebenem Wort unsere Erbitterung, unsern Zorn uns übermitteln.

Ein weiteres Eingeständnis — wir wollen ja in Klarheit reden —: Wir sind heute nicht mehr, wir sind weniger als vor einem Jahr. In der ersten Leidenschaft strömten manche zu, das Wort der Welt-// Verbrüderung wogte über ihr unklares Gefühl: sie meinten, hier sei ein leichtes Werk, ein billiger Erfolg, eine schöne Reklame und vor allem: ein Schleier, den sie über ihr törichtes Verhalten im Kriege werfen könnten. Dann kam das Unvermeidliche: die Unerträglich­keit der einzelnen, die eine Idee nur so lange lieben, als sie ihnen zum Argument ihrer eigenen Existenz dient, kam die Trägheit der Gesinnung, die nicht atmen kann ohne Antwort, ohne Erfolg. Es wäre töricht, es zu leugnen: wir, die wir von je und die wir von heute noch die Einheit Europas, die Verbrüderung der Völker wollten, sind weniger als vor einem Jahre. Denn die Welt ist müde. Der einzelne ist müde, er will nicht in die Ideale, die Wirklichkeiten erst für eine nächste Generation sind, er will Ruhe, er will sein eigenes Werk, sein eigenes Leben. Wir leben in einer ermatteten Gene­ration, die fühlt, daß sie an Phantome der Zukunft schon zuviel in den fünf Kriegsjahren vergeudet hat und die jetzt sich selbst empfin­den will. Verhöhnen wir sie darum nicht: in jedem von uns selbst sind solche Stunden des Ekels und der Müdigkeit nicht selten, und wir bedürfen unserer ganzen Kraft, um die Enttäuschungen nicht Macht gewinnen zu lassen über unsere Seele.

Nie war aber — dies müssen wir nun fühlen! — unsere Be­mühung darum notwendiger als jetzt, wo sie fast aussichtslos ge­worden ist. Wir sind weniger, darum müssen wir leidenschaftlicher, müssen wir stärker sein. Vielleicht ist es gut, daß unsere Pläne einer Zusammenkunft, einer Parade, nicht zu früh sich erfüllten: zu viele Arrivisten, zu viele Spaziergänger auf allen Straßen der Oeffentlichkeit hätten sich zugedrängt. Wenige, wie wir jetzt sind, kennen wir einer den andern, wissen wir um unsern Willen und Wert. Wir brauchen nicht eine trügerische Fülle von Menschen vor unsere Idee hinzustellen — eine Idee lebt, wenn sie von hundert Millionen auch nur ein Dutzend Menschen, ja wenn sie nur ein einziger Mensch mit seinem ganzen Wesen darstellt. Sprechen wir darum klar vor der Welt: wir sind wenige geblieben, wie wir immer wenige waren. Wir haben keine Mittel, unsere Idee andern zu ver­breiten als durch Werk und Wesen, wir sind arm, wir sind zerstreut, wir sind ohne jede Macht in dem politischen Europa von heute. Wir können keine Torheit verhindern, wir können keine wirklichen Taten tun— wir können nur die Idee lebendig erhalten, den Keim aller wahren Taten, die wahrste Wirklichkeit der Welt.

Dies scheint mir notwendig zu sagen am Ende des ersten Jahres der „Clarte“: daß wir wenige sind und wenig erreichten, aber da die Zahl nicht entscheidet, sondern die Kraft, die eine Idee bewegt. Je weniger wir sind, um so mehr müssen wir uns, einer den andern bestärken, und in diesem Sinne grüße ich Sie heute, Henri Barbusse!

In: Das Tage-Buch, H. 50, Dez. 1920, S. 1581-1582.

N.N. [M. Benedikt]: Anschluß oder Zollvereinigung. Präsident Seitz in einem Gespräche. (1918)

Präsident Seitz ist nach der deutschösterreichischen Verfassung für die Politik des Landes nicht verantwortlich. Die Staatssekretäre haben für sie einzustehen. Die politischen Aussprüche eines Präsidenten haben nur die Bedeutung, die seiner Würde zukommt. Die Präsidenten vertreten den Staatsrat nach außen und gegenüber anderen Ländern und Nationen. Wer diese Pflicht hat, darf besonders in Ge­sprächen mit Angehörigen von Völkern, mit denen wir formell noch im Kriege sind, wichtige Fragen nicht agitatorisch aufputzen und nicht von ihrem sachlichen Unter­grunde losreißen. Diese Art, über Politik zu reden, sollte, wenn es schon nicht anders sein kann, ortsüblich bleiben, aber nicht auch für die Ausfuhr hergerichtet, nicht auch vor den Feinden angewendet werden. Warum soll eine so wichtige Angelegenheit wie die künftigen wirtschaftlichen Beziehungen zu den Völkern der ehemaligen Monarchie nicht ruhig und vernünftig erörtert werden können, ohne daß die Gegengründe statt durch ihr eigenes Gewicht zu wirken, agitatorisch aufgebauscht und mit allerlei Würzen gebeizt werden? Der Vertreter des Bureau Reuter wird den Präsidenten Seitz auch schwerlich verstanden haben, als dieser sagte, der Plan einer wirtschaftlichen Vereinigung mit den Staaten des früheren Österreich werde von der kapitalistischen Klasse unterstützt. Jeder Engländer weiß, daß die Spannweite der Verkehrsgebiete, die innere Freizügigkeit für Waren und die Zollpolitik auf zwei wirtschaftliche Kategorien naturgemäß den höchsten Einfluß haben: Auf Kapital und auf Arbeit. In der ernsten Zeit, die wir jetzt durchzumachen haben, in der Krise, die uns zu bewältigen droht, sind Arbeitsgelegenheit und Arbeitsanerbieten so eng miteinander verbunden, daß eines, von dem anderen nicht getrennt werden kann. Wenn jedoch unter Kapital, auf das Präsident Seitz hingewiesen hat, Industrielle zu verstehen sind, kann wahrheitsgemäß fest­gestellt werden, daß die Erörterung dieser Frage schon lange aus der freien öffentlichen Meinung hervorgegangen ist. Selbständig, aus eigenem Nachdenken und Antrieb, ohne Zusammenhänge, nur von der Sorge geleitet, daß eine wirtschaftliche Krise vermieden werde, wenn der Beschluß, der aus Deutschösterreich einen Bestandteil der deutschen Republik gemacht hat, durch den Widerstand der Entente, besonders von Frankreich, undurchführbar werden sollte.

Die Novemberverfassung erklärt, Deutschösterreich sei ein Bestandteil der deutschen Republik. Die besonderen Gesetze, welche die Teilnahme Deutschösterreichs an der Gesetzgebung und Verwaltung der deutschen Republik sowie die Aus­dehnung des Geltungsbereiches von Gesetzen und Ein­richtungen der deutschen Republik auf Deutschösterreich regeln sollen, wurden bisher nicht beschlossen. Die Vereinigung ist daher völkerrechtlich noch nicht vollzogen. Die deutsche Nationalversammlung ist noch nicht gewählt und ob auch sie einen Vereinigungsbeschluß fassen werde, kann jetzt niemand sagen, da die Entscheidung vielleicht eher in Versailles getroffen werden wird als in Berlin. Das deutsche Wahl­gesetz stellt eine gewisse Verbindung her, da unter der Voraussetzung, daß die künftige Nationalversammlung sich auch in Berlin für die Vereinigung aussprechen sollte, bereits die Teilnahme von Deutschösterreich an der großdeutschen Konstituante zugelassen und näher bestimmt worden ist. Die Novemberverfassung hat sich mit einem allgemeinen Satze begnügt, dem noch das Knochengerüst fehlt und der nicht mitteilt, wie sich die Zusammengehörigkeit gestalten werde. Alles ist schwebend, alles unsicher, und für das Fragezeichen, das sich vor dem Schlosse in Versailles aufpflanzt, wurde bisher die Antwort nicht gefunden. Wenn Angehörige des­selben Volkes sich zusammenschließen wollen, kann es niemand bleibend hindern. Aber die Gefahren der wirtschaft­lichen Krise in Österreich sind groß. Jeder Mensch, der am öffentlichen Leben teilnimmt und keine bloße Mandatspolitik treibt, hat die Pflicht, anzuerkennen, daß es notwendig sei, sich mit der Schwierigkeit für Deutschösterreich, das auch nach der Ansicht des Präsidenten Seitz allein nicht bestehen könnte, zu befassen, wenn der Anschluß in den Friedensbedingungen verweigert werden sollte.

Da ist es nun ein Fehler, die Vereinigung mit Deutsch­land und ein verkehrsfreies Gebiet in dem früheren Österreich in einen Gegensatz zu bringen. Wir haben jetzt eine solche Wahl gar nicht zu treffen, weil das verkehrsfreie Gebiet auf Grund des Ausgleiches mit Ungarn für alle früheren Staaten der Monarchie noch besteht. Die Beschränkungen und Quälereien sind mannigfach. Die Ab­sperrung durch Zollschranken hat jedoch bisher nicht statt­gefunden. Dieses Verhältnis braucht nur zur formellen Anerkennung gebracht zu werden und wir gewinnen ein ganzes Jahr zum Übergang und zur Überlegung. Kann es einen vernünftigen Sinn haben, diesen Vorteil zu ver­schmähen und die Menschen, die ihn wollen, mit agitatori­schen Gemeinplätzen, die für einen Präsidenten unserer Republik unpassend sind, zu bekämpfen? Das ist schon deshalb ein Mißgriff, weil die gewöhnliche Staatsklugheit verbietet, daß eine Regierung sich in den von ihrem Willen nicht allein abhängigen Beziehungen zu anderen Völkern festlege und die Freiheit der Bewegung verliere. Ein voraussichtiger Staatsmann muß schon jetzt an die Verlegen­heit denken, die er seinem Lande bereiten würde, wenn es nach dem Frieden von Versailles gezwungen wäre, nicht mehr aus freiem Willen, sondern unter Druck über eine Zolleinigung oder auch nur über Zollverträge mit den Staaten des früheren Österreich zu verhandeln. Das würde nach einer solchen Vernachlässigung kostspielig werden.

Präsident Seitz hat gemeint, daß eine Zollvereinigung ein gemeinsames Parlament voraussetze. Auch das ist ein Irrtum. Die Ausfassung, daß Deutschösterreich keine wie immer geartete politische Gemeinschaft mit den Staaten des früheren Österreich haben dürfe, ist so richtig, daß wenig­stens in diesem Punkte die Meinungen übereinstimmen und keiner den Wunsch hat, dem alten Elend wieder zu verfallen. Das ist tot und begraben. Die Geschichte des deutschen Zollvereines ist ein schlagendes Beispiel, daß eine Vereinigung, die schon wegen ihrer zahlreichen Teilnehmer schwierig war, mehrere Jahrzehnte ohne gemeinsame Ein­richtungen für parlamentarische Gesetze sich bewähren konnte. Das Zollparlament wurde erst nach dem Prager Frieden ge­schaffen und vorher arbeiteten Generalkonferenzen, deren Ergebnis je nach den Verfassungsbestimmungen den schon damals vorhandenen Einzelparlamenten unterbreitet worden sind. Wir hätten nur sechs Teilnehmer, Deutschland hatte ohne Österreich über dreißig. Dennoch war es ein blühendes, aufsteigendes Land und viel glücklicher als heute. Erinnern wir uns, wie Delbrück die Widerspenstigkeit von Hannover durch einen geschickten handelspolitischen Schachzug im alten Zollverein zu beugen wußte. Könnte nicht Ähnliches durch einen plötzlichen Vertragsabschluß zwischen Czechen und Magyaren, zwischen Czechen und Polen geschehen und meint nicht Präsident Seitz, daß wir in die Hinterhand kämen, während Deutschösterreich jetzt viel zu bieten hat, was Böhmen braucht? Sorgen wir für Arbeit und reden wir uns nicht in einen Gegensatz hinein zwischen dem künftigen Anschluß und der jetzt noch bestehenden, wenn auch vielfach geschädigten Verkehrsfreiheit. Wenn der Präsident Seitz in den feindlichen Ländern mitteilen läßt, daß er Deutsch­österreich mit Deutschland vereinigen wolle, aber eine kapitalistische Anleihe von der Entente fordere, so wird dieser eigentümliche Plan den Staatssekretär Dr. Steinwender schwerlich von den Sorgen entlasten. Die Entente würde dem künftigen Bestandteil der deutschen Republik kaum Geld borgen, aber vielleicht eine Rechnung vorlegen. Fragen der heikelsten internationalen Politik dürfen nicht zum agitatori­schen Kleingeld ausgemünzt werden.

In: Neue Freie Presse, 31.12.1918, S. 1.

N.N.: Der Dadaismus (1918)

            „Eine neue literarische Schule, verkündet von Tristan Tzara, macht in Zürich viel Lärm. Auf einen ‚künstlerischen Abend‘, den das Oberhaupt der neuen Schule veranstaltete, erfuhr man, daß der Dadaismus im Jahre 1916 geschaffen wurde und daß sein Ziel im Literarischen und Künstlerischen die reine Abstraktion sei. Die Dadaisten folgen den Spuren der Kubisten und Futuristen und wollen ‚l’ordre et la clarté‘ in der Kunst. Zu diesem Zweck fordern sie die Abschaffung der von der von einer schaffungsunfähigen Bourgeoisie erfundenen Logik und Moral, welch letztere nur zur Erniedrigung der Geister führe. Der Aufruf des Herrn Tristan Tzara ist demzufolge ein Dokument der Anarchie und des Wirrwarrs. Seine Dichtungen sind formloser Unsinn, durchaus beherrscht von der Sucht nach Originalität und dem Streben, die französischen Sprache zu barbarisieren, ihren Rhythmus und ihre Melodie zu zerstören. Frisch erfundene Worte und Laut-Zusammenstellungen, die an Ungar-Idiome erinnern, werden eingeführt, obzwar Herr Tzara dies als ein Gebot des ‚inneren Rhythmus‘ erklärt, zweifeln wir doch, daß Zusammenhanglosigkeit, schlechter Geschmack und ein sinnloses Wort-Nebeneinander Poesie seien. Nicht ohne ein Gefühl der Trauer und Niedergeschlagenheit sieht man in der Schicksalsstunde, in der alle freien geistigen Kräfte dem Krieg gegen den Krieg gewidmet sein müßten, die literarische Jugend ihre Pflichten gegen die Menschheit vergessen und damit beschäftigt, die Welt durch ‚neue Schulen‘ zum Narren zu halten. Der Dadaismus ist nichtsnutziges Zeug.“ (La feuille, Genf vom 3.8. 1918)

[Anm. d. Red.]: Aber er scheint immerhin in der Linie der neueren Kunst-Methoden zu liegen und nur einen extremen Punkt von deren folgerichtiger Höhen-Entwicklung vorauszunehmen.

In: Der Friede, Nr. 31, 23. 8. 1918, S. 120

N.N. [Austerlitz]: Das Fest der ewig Gestrigen. (1925)

Festgottesdienste, Festversammlungen, Festzüge, Glockengeläute und Paradeaufmärsche, mit Gelehr­samkeit aufgeputzte Jesuitenvorträge und die Reden der unvermeidlichen Kardinal Piffl, Fürstbischof Hefter und des Altkanzlers Seipel, der, seit er uns nicht mehr regiert, täglich in Reden niederplätschert, unerbittlicher und wasserhältiger als unser ver­regneter Juni — kurz Wien hat wieder einmal seinen Katholikentag. Kreuz ist Trumpf: vorn schwankt es an der Spitze betender Züge, hinten lugt es verschämt hervor im Geschäftsteil Katholikentagsannoncenernte haltender frommer Blätter. Was werden wir wieder alles zu hören bekommen? Aber wir müssen es nicht erst abwarten. Wir wissen es im voraus haar­genau. Wir kennen den Text und kennen die Herren Verfasser. Bis auf den Tonfall der Stimme und die eingelernt-gerundete Priestergebärde, ist es immerdar, ist es alle Jahr tödlich-gleichmäßig dasselbe.

Sanierung, Rettung Österreichs durch den gottüberlegenen Ignaz, die Schulreform, dieser Greuel an heiliger Stätte, die Dispensehe und zuvor und danach ein nicht enden wollendes Kulturgeschmuse! Jeder rühmt sich, wenn sein Festtag kommt. Doch vor der Ruhmposaune der Katholikentage verstummt ver­schüchtert der Ausruferlärm der Großstadtstraße und der gerissenste Reklamechef erkennt ehrfürchtig seine Meister. Denn diese Herren Klerikalen, sie haben nicht nur den Alleinvertrieb des echten und unverfälschten Christentums — vor Lutherischer und Calvinischer Nachahmung wird gewarnt —, sie haben auch sonst in ihrem Kramladen alles, was gut ist und teuer. Das deutsche Volk liegt mit zerfetztem Leib und gebrochenen Gliedern ohnmächtig am Boden, todwund geschlagen in dem Kriege, den die Wiener Römlinge mit Hoch und Halleluja eingeläutet. Tut nichts! Rom klebt, kleistert, leimt alles. Wenn nur die vierzig Millionen deutscher Protestanten, die jetzt in der Finsternis der Ketzerei oder in der Sünde des Unglaubens wandeln, in den Schoß der Alleinselig­machenden zurückkehren, so erhebt sich alsbald aus der Einheit des Glaubens die Herrlichkeit des heiligen römischen Reiches deutscher Nation in er­neuertem Glänze, womöglich mit der kostenlosen Zu­gabe des glaubenstreuen Erzhauses und seiner „Barockkultur“.

Doch was Barock! Weiter geht die Rückfahrt heimwärts in die Dämmer und Schauer der alten Dome. Vor hundert Jahren war es die geistreiche Paradoxie kulturmüder Ästheten, heute ist’s die stroherne Tagesration unermüdlicher Wiederkäuer der katholischen Kulturphilosophie. Und der hundertjährige Ladenhüter— Protestanten mußten sich „bekehren“, um den Römlingen diese eine Idee zu schenken — wird nun je nach dem Zeitbedarf umgemodelt. Alles ist jetzt „sozial“. Also heißt der romantische Schnickschnack neu­zeitlich aufgestützt: Die Kirche allein kann die soziale Frage lösen, die sie doch schon im Mittelalter in der vollkommensten Weise gelöst habe. Doch selbst dieser schlechte Witz kommt aus zweiter Hand, aus der Hand der Protestanten Haller und Adam Müller. Schließlich, weshalb sollte die Kirche nicht schon vor sechs­hundert Jahren den gesellschaftlichen Vollkommenheits­zustand erreicht haben, wenn sie gleichzeitig durch die Philosophia perennis, durch die ewig gültige Philo­sophie des Thomas von Aquino, an die sich nach päpstlicher Vorschrift jeder rechte Katholik halten muß, den Menschen alles weitere Forschen und Sinnen über Weltanschauungsfragen erspart hat? Wir waren schon im Schlaraffenland, ein halb Jahrtausend und mehr könnte die Menschheit in sorglos-fröhlicher Muße auf dem Bauche liegen, hätte Luther den süßen Schlummer nicht gestört, Luther, der — man sagt es uns ja täg­lich — auch an der Revolution des katholischen Frankreich und an dem Weltkrieg des Wiener Hofes die letzte und eigentliche Schuld trägt. Hoffe keiner ironisierend übertreiben zu können, wo doch die selbstversöhnende Torheit klerikalen Großmaultums im trockensten Ernste weit Groteskeres bietet. Schon vor mehr als fünfzig Jahren vernahm man auf einem deutschen Katholikentag die Rede Holzwarths: „In Demut hat die Wissenschaft vor dem Glauben ihr Haupt zu beugen, das ist ihre Aufgabe; nicht daß sie die Kirche korrigiere, // sie selbst muß sich korrigieren.“ Und wieder auf einem Katholikentag (1906) rief Professor Einig: „Wir Katholiken sind im Besitz der Wahrheit.“ Und ein Jahr später, es war im Jahre der Modernistenenzyklika, verkündete der Präsident des Würzburger Katholiken­tages: „Ist die Forschung Sache der Wissenschaft, so ist die Entscheidung Sache des kirchlichen Lehramts.“ Was wäre darauf zu erwidern? In den  seltenen Augenblicken der Selbsterkenntnis haben Klerikale selbst die Antwort gegeben, indem sie von der „Rückständigkeit der katholischen Wissenschaft“, von „Wissen­schaft aus zweiter Hand“ redeten. Indes nicht bloß die Wissenschaft, alles, was der Klerikalismus seit Jahr­hunderten tut und vornimmt, sein ganzes geistiges Sein, sein soziales und politisches Handeln ist aus zweiter Hand. Man bewundert so oft die Dauerhastigkeit, die Anpassungsfähigkeit des Klerikalismus. Doch Bewunderung an den menschlichen Dingen verdient nur, was dies eine hat: „Das Stirb und Werde“, verehrungswürdig ist nur das ewig sich Wandelnde, des Heilig-Neuen sterblicher, doch schöpferischer Mutterschoß.

Humanismus, Renaissance, Aufklärung, sie waren und sind nicht mehr. Aber als sie kamen, waren sie ein nie gesehenes Himmelslicht und Schöpferwort, ein seelenentfesselnder Zauber und haben eine andre Menschheit zurückgelassen, als sie sie empfangen. Die Kirche hat sich „erneuert“, zum Beispiel in Trient, als sie in Gefahr stand, alle Deutschen an den Protestantismus zu verlieren, und nun notgedrungen den mittelalterlichen Augiasstall ein wenig auszufegen begann. Der Klerikalismus hat sich „angepaßt“, zum Beispiel im Jahre 1848, als er im „Völkerfrühling“ plötzlich demokratische Gebärden annahm, von „Frei­heit“ zu reden begann, Vereine gründete und den Katholikentag — auf den Trümmern des Absolutis­mus, dem er sich vordem als „sicherste Stütze des Thrones“, als „geistliche Gendarmerie“ geschäfts­kundig angeboten hatte. Und kaum hatte der Säbel der Gegenrevolution gesiegt, schon wieder standen die alten „Stützen des Thrones“ in der Reichweite der schenkenden Hand der Dynastien. Auch „sozial“ wurden die Ketteler, die Leo in dem Augenblick, da der Sozialismus die städtischen Arbeiter zu ergreifen begann.

Aus zweiter Hand alles, von der Schlauheit eingegeben, niemals von selbstlos dienender Liebe zur Sache! Nachahmung und gestümpert, wie alles bloß Nachgeahmte! Das ist des Klerikalismus Wesen und Tun. Er dauert schwer lastend wie das unbewegliche Dunkel in den Köpfen der ihm ergebenen Massen. Er ist stark wie das ewig Gestrige. Aber keine noch so oft erneute Schminke verwandelt sein welkes, unfrucht­bares Alter in blühende, zeugungskräftige Jugend.

In: Arbeiter-Zeitung, 28.6.1925, S. 1-2.

N.N.[Leitartikel]: Die Anschlußkundgebung in der Sängerhalle. (1928)

Ansprache des Obmanns des Deutschen Sängerbundes.

Bei der gestrigen Anschlußkundgebung in der Sängerhalle hielt der Präsident des Deutschen Sängerbundes Rechtsanwalt Friedrich List (Berlin) die nachstehende Rede:

„Deutsche Sänger, die ihr gekommen seid nach den Worten des deutschen Liedes:

„Von der Maas bis an die Memel,
Von der Etsch bis an den Belt,“

ja darüber hinaus von jenseits des großen Wassers, der Deutsche Sängerbund grüßt euch als seine Kinder und heißt euch durch mich herzlichst willkommen im Einheitszeichen des deutschen Liedes, in der von allem Zauber der Natur und Kunst verklärten Stadt Wien, in der deutschen Ostmark, in der jeder Stein von deutschen Großtaten in Krieg und Frieden redet. Das Land, durch das einst die Nibelungen zogen, das als letztes Bollwerk deutschen Boden  und deutsche Kultur vor dem gewaltigen Ansturm der Türken rettete, das die Großmeister deutscher Kunst, vor allem deutscher Musik, beherbergte, das einen Franz Schubert gebar — dieses Land, es ist mit tausend Ketten an uns ge­bunden, es ist ein Teil von uns selbst, und unwillkürlich tritt auf unsre Lippen der Schwur: Du öster­reichisch Land, du herrliche Stadt Wien, so wie ihr deutsch w a r e t und deutsch seid, so werdet ihr deutsch bleiben, solange

es ein deutsches Volk, eine deutsche Volksverbundenheit gibt. Diese Volksverbundenheit war in dem gewaltigen Weltkrieg zur Schicksalsverbundenheit geworden, zu einer Waffenbrüderschaft, in deren Reihen mit den andern Volksgenossen auch die deutschen Sänger kämpften und starben. In tiefster Wehmut und nie erlöschender, heißester Dankbarkeit gedenken wir der gefallenen Brüder, die ihr Leben opferten, damit wir leben. Unsre Gedanken wandern zu all den treuen Kameraden, die nicht mehr in unsre Sangesgemeinschaft zurückkehren durften, ihr Gedächt­nis brennt in unsern Herzen, ihrer Erinnerung sei ein stilles Gedenken geweiht.

Die Schicksalsgemeinschaft des Weltkrieges hatte verwirklicht, was der Sängerbund seit seiner Gründung auf seine Fahne geschrieben hatte, eine allgemein­deutsche  Volksverbundenheit ohne Rücksicht auf politische Grenzen zu schaffen, das Gefühl der Zusammengehörigkeit der deutschen Stämme zu erhalten und zu stärken und sie durch das Lied zu einen. Der Deutsche Sänger­bund hat damit seine Arbeit in den Dienst des großen Ganzen, in den Dienst von Volk und Vaterland ge­stellt und die heilige Glut der Begeisterung für deutsches Wesen und deutsches Vaterland bei seinen Festen immer wieder aufs neue zur Flamme entfacht. Welch tiefe Wurzeln der Gedanke, die Liedgemeinschaft zur Volksgemeinschaft zu erheben, in den Herzen der deutschen Sänger geschlagen hat, dafür ist der beste Beweis die unerhörte Anziehungskraft dieses Festes, das mehr denn hunderttausend deutsche Sänger in Wien ver­einigt sieht.

In unser aller Adern, ihr deutschen Sanges­brüder aus Ost und West, aus Nord und Süd, der politisch noch getrennten Bruderländer, fließt deutsches Blut, unser Herz schlägt deutsch, unsre Gedanken kreisen nur um deutsches Wohl und Wehe, in deutschem Sinne empfinden wir die Arbeit an Volk und Vaterland als sittliche Pflicht, ein einziger gewaltiger Strom vater­ländischer Begeisterung, ein einziges großes Gelöbnis der Treue zum deutschen Wesen durchpulst uns alle, die wir Sangesbrüder im Einheitszeichen des deutschen Liedes hier vereinigt sind. Wie sollte es da anders sein, als daß der heiße Wunsch in uns aufsteigt, um das deutsche Volk auch das äußere Band der Einheit zu schlingen, das geistige Groß-Deutschland, das wir mit geschaffen haben, auch nach außen als ein einiges Groß-Deutschland erstehen zu lassen! Wir wissen wohl, daß tausend Bedenken der Verwirklichung dieses Gedankens entgegenstehen, aber wir deutschen Sänger fühlen es zu tiefst, daß es nationale Pflichten gibt, die über allen Bedenken stehen, die ein Volk nicht aufgeben darf, ohne sich selbst aufzugeben und wider den Geist seiner Geschichte und seiner Bestimmung zu handeln.

Unsre Seele dürstet nach diesem Groß-Deutschland, aber unser Verstand sagt uns, daß wir es nicht erzwingen, daß wir nur Vorbereitungsarbeit leisten können. Dieser Arbeit wollen wir uns unterziehen mit der Kraft und Begeisterung, die aus dem deutschen Liede fließt: ringen wollen wir um die Seele des deutschen Volkes, hineinsingen wollen wir in die Herzen aller Deutschen den Gedanken von dem einigen, großen deutschen Vaterland, eine Aufgabe wollen wir uns damit stellen, würdig des die Herzen meisternden deutschen Liedes und seines Künders, des Deutschen Sängerbundes.

Aus den Flammen der Begeisterung des heutigen Tages möge die Liebe zum großen deutschen Vater­lands, befreit von allen Schlacken und Vorurteilen, er­stehen, damit die Welt sieht und erkennt, daß der Deutsche Sängerbund und jeder einzelne seiner Sänger nur das eine Ziel im Auge hat, durch die Pflege des deutschen Liedes dem deutschen Gedanken in der Welt zu dienen für Alldeutschlands Einigkeit und Größe.

Wir grüßen dich, du großes deutsches Vaterland, aus überströmendem Herzen mit brausendem Heilruf, wir erneuern das Bekenntnis zu dir in den machtvoll dahinströmenden Klängen des Deutschlandliedes, das in seiner Verbindung der Worte des norddeutschen Dichters mit den von einem österreichischen Meister ge­schaffenen Tönen das Sinnbild deutscher Verbrüderung, unlöslicher deutscher Schicksalsverbundenheit ist.

In heiliger Begeisterung, als ein einzig Volk von Brüdern vereinigen wir unsre Stimmen in dem Rufe:

Das große deutsche Vaterland, das wir ersehnen und erstreben, und sein Wegbereiter, das deutsche Lied,

Heil! Heil! Heil!

In: Neues Wiener Tagblatt, 22.7.1928, S. 1.

M[ax] M[ilrath]: Tanz (1924)

Die Hochflut an Tänzerinnen, die die letzten Jahre heraufbeschworen haben, schwillt noch immer an. Kaum ein Abend, an dem nicht in irgendeinem Konzertsaal getanzt wird. Aber man muß nicht unwillig, nicht ungeduldig werden, ob dieser Massenerzeugung an Gliederverrenkungen, an Grimassen und an Fingerspitzenscherzen. Sie werden schon wieder verschwinden und bleiben wird, was Wert hat: die Wiesenthal, die Kieselhausen, die Altmann, die Impekoven, die Ellen Tels. Und Gertrud Bodenwieser. Sie hat schon vor Jahren durch ihre Grotesktänze die Auf­merksamkeit auf sich gelenkt. Seither ist sie nicht nur als Künstlerin, sondern auch als Lehrerin außerordentlich hoch gestiegen. Ihre Tanzkunst kommt von innen her und das ist das Maßgebende, das ist das, was man nach den ersten Takten überzeugungsvoll empfindet. Das strenge Abstreifen jeder Gebärde, jeder Bewegung, die rein äußerlich ist, hat Gertrud Bodenwieser so weit geführt, daß sie und ihre Schule bis zur Verkörperung von Begriffen und Gedanken vorgedrungen sind. Und noch etwas gehörte dazu, was jeder Künstler besitzen muß: der Großes, auf welchem Gebiete immer, vollbringen will, eine hohe Sittlichkeit, eine auf reine Menschlichkeit eingestellte, gerade herausgesagt: soziale Lebensauffassung. Die Technik der Bewegung an sich wird dann erst das, was sie zu sein hat: Mittel zum Zweck. Genau so wie der große Pianist, der große Geiger seine Fertigkeit dem Ausdruck dienen läßt. So können Tanzabende auch den­jenigen, der dieser Kunst fernesteht, zu ihr bekehren.

Gertrud Bodenwieser und ihre Schule — nicht mehr als sechs ausgewählte Vertreterinnen ihrer Lehre — tanzten im Großen Konzerthaussaal. Es gab kaum ein Zugeständnis an die seichten Wünsche jener, die vom Tanz immer wieder nur erotische Reize erwarten. Den künstlerischen Höhepunkt der Darbietung bildeten fünf erschütternd verkörperte Be­griffe, darunter am packendsten Dämon Maschine. Man sah die Gewalt des Ungeheuers leibhaftig vor sich: die Turbinen, den Motor, die Hebel, die Kolben, die Ventile, die Transmissionen… ein Zusammenwirken von sechs Leibern in wirklich dämonischer Einheit; eine Übersetzung der unheimlichen Gewalt leblosen Metalls in die Sprache der Gliederknechtschaft; ein Sinnbild unerlösten Sklaventums. Dann der Tanz um das goldene Kalb: unheimlich thronender Götze in gespenstischem Licht, vierarmig, starr und unbesiegbar, teuflischen Triumphes Volk; zu ihm empor jagt kämpfend, hassend die geldgierige Menschheit; Bewegung, die in ihrer Lautlosigkeit durchdringend schreit. Zuletzt Erlösung durch Güte, eine Gruppe, die an poetischer Kraft, an Lyrik der Körpergebärde das Eindrucksvollste war, das man je auf einer Tanzbühne zu sehen bekam.

Ich übergehe die anderen Leistungen des Abends, nicht etwa, weil sie schwächer waren… Ich wollte nur, so­ weit es Worte auszudrücken vermögen, zeigen, in welchem Maße sich die Tanzkunst menschlicher Fragen zu bemächtigen vermag, bis zu welchem Grade sie ungesprochenes Drama werden kann. Hier ist ein Weg beschritten, der zu bisher nur geahnten Ausdrucksmöglichkeiten des Körpers führt, weit hinaus über das, was man bisher landläufig als mimische und physische Darstellung zu bezeichnen pflegte.

In: Der Abend, 8.2.1924, S. 4.

N.N.[E. Kläger]: Das Tanzdrama. Aus einem Gespräch mit Gertrud Bodenwieser (1924)

Originalbericht des NWJ, 30.1.1924, S. 7

Wort und Gebärde — die beiden Ausdrucksmöglichkeiten des Menschen. Sie ergänzen sich, aber wenn die Gebärde des Wortes entraten muß, wirkte sie bisher nicht restlos. Der Stumme, der sich notgedrungen der Zeichensprache bedient, erweckt, weil man ihn schwer versteht, schmerzliche Peinlichkeit und bei so mancher Pantomime auf der Bühne, deren Vorgänge unklar bleiben, fragte man sich, warum die Erklärung der Handlung nicht einfach durch die Sprache erfolgt. Doch gibt es Dinge, zu zart, um in Worte gekleidet zu werden, die ihren duftigen Schmelz kaum noch behalten, wenn eine sparsame Gebärde darauf hinweist. Sie sind dem Ausdruck durch die Pantomime vorbehalten und zu ihnen gesellt sich neuestens alles, dessen Gegenständlichkeit sich durch die Geste darstellen läßt. Gertrud Bodenwieser, die junge Professorin an der Musikakademie und eine der ersten in der kleinen internationalen Gemeinde der denkenden Tänzerinnen, will nun ein neues Tanzdrama gestalten, ausschließlich mit Vor­gängen, für die das Wort nicht die richtige Ausdrucksmöglichkeit gibt. Schon ist ihr erstes Werk dieser Art entstanden und am 4. Februar will sie vor der Öffentlichkeit mit ihren Schülerinnen Herold ihrer neuen Ideen sein.

Gewalten des Lebens heißt das Tanzdrama, das zeigt, was sich nicht aussprechen läßt, und es zerfällt in vier Teile. Ein Wesen ist der erste Abschnitt betitelt, den ein Mann und eine Frau darstellen. In harmonischer Form, zur Musik von Debussy, entrollt sich dem Zuschauer das urewige Bild vom Kampf der Geschlechter, das Sichanziehen und Sichmeiden derer, die von Anbeginn zusammengehören und doch immer wieder voneinanderstreben. Nie finden sie das erlösende, befreiende Wort; das Gefühl, das Minenspiel verraten allein, was sie bewegt.  Im ganz scharfen Gegensatz zu dem uralten Thema dieses ersten Teiles steht das ultramoderne des zweiten. Dämon Maschine heißt er und soll die schreckliche Schönheit

dieses langsam die menschliche Kraft verdrängenden Ersatzes bis zur Umwandlung des Menschen zum Maschinen­bestandteil zeigen. Hier erschließt Frau Bodenwieser der mimischen Kunst tatsächlich ein ganz neues Gebiet. Ihre Phantasie erfand eine Darstellung für Kette, Schraube, Hebel, sie baut den Maschinendämon aus Menschenleibern, denen ihre Vision jede eigene Gedankenfunktion nimmt und sie dazu verdammt, Teile eines Ganzen mit immer sich gleich bleibender Tätigkeit zu sein. Die in ihrem ewigen Einerlei furchtbare Arbeit der menschlichen Hilfskraft bei einer Maschine ist hier phantastisch bis zur Umwandlung des Menschen in einen Maschinenbestandteil durchgeführt. Keine bekannte Melodie sang das Lied des klopfenden, stampfenden, Menschen fesselnden und bezwingenden Dämons; diese Musik mußte neu geschaffen werden.— Lisa Maria Mayer bemühte sich um die Lösung dieser Aufgabe — und Katharina Barjansky entwarf dazu wie auch für die beiden nächsten Bilder die Kostüme. (Ein Wesen, verkörpert durch Mann und Weib, bekleidet Franz Bayros.)

Die Gestaltung des Dämon Maschine dürfte durch die Originalität des Gedankens wohl den Höhepunkt des neuen Tanzdramas bilden. Was darauf folgt, ist so alt wie der Kampf der Geschlechter — dem Tanz ums goldene Kalb gehört der dritte Teil. Hier geht nur die Ausdrucksform neue Wege. Das brutale Drängen und Verdrängen, das Überstürmen des einen durch den anderen, der wüste, von Geldgier geleitete Menschen­knäuel, gebildet von Charaktertänzerinnen, wird hier schrecklich zu neuer Musik von Felix Petyrek zu schauen sein.

Zuletzt folgt die Erlösung durch Güte. Bedarf sie des Wortes, um Menschen aus den gräßlichen Gewalten ihrer Urtriebe zu befreien? Gewiß nicht. Sie kommt und mit ihr der aus tiefster Seele quellende, tief in die Seele dringende Friede. Güte löst den Kampf der Geschlechter in Liebe auf, Güte befreit von der Fron, die Dämon Maschine gebieterisch in ununterbrochener Qual der ihm Hörigen von ihnen verlangt, Güte endlich überstrahlt den Glanz des goldenen Kalbes, daß es seinen grauenhaften Zauber verliert. Und seltsam, diese Güte, die sich in Wirklichkeit bisher nie einstellte, obwohl sie in der Gestalt des Messias seit Jahrtausenden erwartet wird, findet ihre Begleitmusik in einem Tonstück von Mussorgsky und selbst ihr Kleid ist nicht im neuesten Kunststil, sondern in den edlen Linien der Frührenaissance geschaffen. Unbewußt drückt die Schöpferin des neuen Tanzdramas damit etwas aus, woran sie eigentlich gar nicht dachte. Sie, die auf eine der Zukunft vorbehaltene Erlösung hindeutet, zeigt in Wirklichkeit, daß der Friede immer nur der Vergangenheit gehört. Ausgelöscht muß die Erinnerung an alles Böse und Häßliche sein, Güte ist erst die Begleiterin des Vergessens. Das alles auszudrücken, beabsichtigt Gertrud Bodenwieser jedoch gar nicht, ihre Güte schreitet durch die aufgeregte Welt mit ausgebreiteten Armen, mit segnender, beruhigender Gebärde. Wortlos, als Trägerin des Friedensgedankens.

Jeder einzelne der vier Teile des Tanzdramas hat eine Handlung, die mit dem Wort nichts anzufangen wüßte. Souverän herrscht die Bewegung, das Spiel der Mienen und der Muskeln. Eigentlich ist das die einzig richtige, fast möchte man sagen, die einzig mögliche Form der modernen Pantomime. Pierrot und Kolombine sind tot, es leben Dämon Maschine und seine Epigonen.                                                                                                        — r.

Aus: Neues Wiener Journal, 30.1.1924, S. 7

Heinrich Mann: Auf einem Scheiterhaufen (1927)

Diesen Artikel, den insbesondere die Richter lesen sollten,
veröffentlicht der berühmte Schriftsteller im Berliner Tage-Buch.

Was sagen zu dem Brand des Wiener Justiz­palastes die Juristen? Einige Rechtsgelehrte Wiens sind vielleicht stutzig geworden, aber ihre Fachgenossen in andern Städten und Ländern, auch deutschen? Welche Schlüsse ziehen sie? Daß man in Wien hätte ausgiebiger schießen sollen? Dann wäre es zu dem Tatbestand der Brandlegung nicht erst gekommen? … Gewiß nicht. Nirgends kann es dazu kommen, nur gerade in Wien. Aber was beweist dies, wenn die Hindernisse ausschließlich technischer, also überwindbarer Art sind? Anderswo hat der Staat mehr Macht­mittel, das Volk muß mehr hinnehmen, es ist ge­bändigt. Fragt sich nur, wie viele andre JustizpaIäste in der Einbildung und in den Wünschen von MilIionen mitgebrannt haben, als in Wien einer brannte — und wie viele, wenn es zu machen wäre, wirklich brennen würden.

Warum das? Warum überhaupt der Justiz­palast? Den Juristen, nicht nur Österreichs, muß doch auffallen, daß von allen öffentlichen Gebäuden, die zur Wahl standen, gerade das ihre getroffen wurde. Augenscheinlich war es das verhaßteste. Früher hätte es so heftige Gefühle nie erregt. Hier äußert sich mit höchster Sichtbarkeit jene „Vertrauenskrise“, ein offenbar zu mattes Wort für Dinge, die sich so äußern.

Haben die Juristen — nicht die Richter nur, die Mehrzahl aller ihrer Fachgenossen, haben sie eigentlich nötig gehabt, es so weit kommen zu lassen?  Von ganzen Volksklassen, so großen, daß niemand weiß, wo sie enden, gehaßt zu werden, ist doch kein Spaß. Es gibt kaum Beispiele, daß es gut geendet hätte. Wer stellt sich leichtfertig hinaus für Interessen- die eigent­lich gar nicht die seinen sind? Die bei weitem meisten Juristen sind arm, sie leben außerhalb der Gesellschaft der Reichen oder sind an ihrem Tisch nur geduldet. Trotzdem begegnen sie nicht allein der Auflehnung der Armen, die schon längst keine Hand mehr erheben, nein, ihren Ansprüchen und selbst ihrer Sehnsucht mit einer Schroffheit, daß wahrscheinlich sogar die Reichen sich wundern.

Alles, was es an Opposition in dieser demütig gewordenen Welt noch gibt, soll gleich „Kommunis­mus“ sein, wenn die Organe der Reichen es be­haupten, ein Richter, ein Beamter oder Professor braucht es deshalb noch nicht glauben. Die Wiener Arbeiter, die den Justizpalast anzündeten, dachten dabei nicht an Kommunismus. Sie waren einfach schon zu lange gepeinigt und erbittert worden durch die ewige grundsätzliche Parteinahme des gesamten Justizbetriebes gegen sie, sogar, wenn ihre Gegner sie umbringen. Diese Gegner, ob sie sich völkisch oder anders nennen, mögen dabei die helden­haftesten Vorstellungen haben; im Reich der Tatsachen sind sie natürlich nichts weiter als Wachtposten vor allzu reich gedeckten Tischen. Wenn sie etwas ent­schuldigt, ist es ihre Unwissenheit. Aber die Juristen?

Die Juristen. Müssen doch sehen, daß in der Gesellschaft, wie sie jetzt abläuft, etwas nicht stimmt. Für soviel Armut tat sich der Reichtum etwas zu großartig; für soviel Arbeitslosigkeit handeln die herrschenden Parteien etwas zu arbeiterfeindlich; für so große besitzlose Volksmassen wirkt alles, was geschieht, zu wenig volkstümlich. Zweifellos läßt sich

jeder Zustand aufrechterhalten, wenn man immer den einen Teil der Besitzlosen gegen den andern ausspielt — aber doch nur eine Zeitlang. Juristen sollten immerhin wissen, daß auch die soziale Reaktion wie jede andre ihre Zeit hat. Eines Tages ist sie verbraucht.

Dann kommt nicht der Kommunismus, der könnte höchstens zu einer Stunde geworden und da sein, wenn schon niemand mehr von ihm spräche. Für Westeuropa ist er nur ein vorläufiges Kennwort gründlicher Unzufriedenheit. Aber dann beginnt ein Zeitalter der Umkehr und der Reformen. Das erwartet uns so sicher, wie heute der Mißbrauch ungerechter Vorteile herrscht. Haben die Juristen ein begründetes Interesse, den Anschein zu erwecken, als seien sie die zuverlässigsten Freunde sämtlicher Mißbräuche? Wenn sie wenigstens auch selbst die Vorteile hätten! Aber nur den Haß einzukassieren bei sonst leeren Kassen? Sie machen wirklich den Eindruck Hineingefallener. Gehen durch dick und dünn mit Nutznießern, zu denen sie selbst nicht gehören. Aber zuletzt werden sie bezahlen müssen, hauptsächlich sie.

Die noch rauchenden Trümmer eines Hauses, das ihres war, warnen sie.

In: Arbeiter-Zeitung, 26.7.1927, S. 3.

Paul Keri: Die revolutionäre Literatur Ungarns (1926)

Nirgends in der Welt, wo eine Revolution den Krieg ablöste, spielte die Literatur eine so tiefe, be­deutsame Rolle in der Bewegung, war die Revolution so stark mit der Literatur verwebt wie in Ungarn. Das ist leicht erklärlich. In Ungarn schlug man sich mit einem halbmittelalterlichen Feudalismus, der heute wieder, zäher denn je, auf dem ungarischen Trümmerfeld festsitzt. In dem Kampfe, der Jahrzehnte vor dem Kriege anfing, mußte der linke Flügel der Bourgeoisie, meistens Intellektuelle, mit der Arbeiterschaft in einer Front gegen die Machthaber stehen, denn die Bürgerlichen waren kaum weniger rechtlos und unterdrückt als die Arbeiter. In Ungarn war und ist noch ein sehr großer Teil der bürgerlichen Revolution auszukämpfen übrig. Diesen revolutionären Kampf führten die Intellektuellen, und überall, wo die intellektuelle Bourgeoisie in Aufruhr steht, spielen Kunst und Literatur eine besondere Rolle im Kampfe.

In Ungarn wühlte eine latente Revolution schon lange vor dem Kriege. Der Dichter und geistige Führer dieser Bewegung, Andreas Ady, schrieb in einem seiner Gedichte, unmittelbar nach dem Umsturz, schon nach dem Tode Tiszas, an diese Zeiten mahnend: „In Revolution lebte er — der Ungar —, da brachten über ihn den Krieg, das Ungeheuer, selbst in ihren Gräbern tief verfluchte Schurken!“ … Diese revolutionäre Bewegung, an der die unzufriedene Bourgeoisie teilnahm, führte eine Blütezeit der ungarischen Literatur herbei, die ihrer klassischen — übrigens ja auch revolutionären — Periode in nichts nachsteht.

Diese neue ungarische Literatur ist vor allem künstlerisch revolutionär. Außer Ady, an dessen Instrument auch die Saite des Umstürzlers hell klang, ist diese Literatur gar nicht politisch. Und doch ist sie revolutionär in jedem Hauche, aufwühlend im Gebiet der Sprachkunst. Diese Literatur hat die ungarische Sprache umgeformt und sich wiederum von den wunder­baren Möglichkeiten der ungarischen Sprache befruchten lassen.

Die bezeichnende Note der russischen Literatur ist eine visionär vertiefte Psychologie. Die bezeichnende Note dieser neuen ungarischen Literatur ist eine sprachlich-musikalische. Das liegt wohl im Wesen der ungarischen Sprache. In ihrem Urzustand aus türkisch-tatarischen und finnisch-mongoloiden Elementen bestehend, stark mit Slawischem, Ottomanisch-Türkischem, selbst mit Persi­schem durchsetzt, rauschte der ganze Orient in ihr. Ihre Grammatik kennt keine Beugung, ihr Satzbau steht in scharfem Gegensatz zu den indogermanischen Sprachen. Eine barbarische Sprache, aber eine von höchster Kultur! … Die neue literarische Bewegung hat die leisesten und verborgensten Regungen des heutigen Kulturmenschen aus dieser Sprache herausgeholt, und trotzdem ist diese Sprache urwüchsig, formbar geblieben. Die ungarische Sprache wird — das liegt in ihrem Wesen — nie zu fertigen Formen gefrieren wie die großen westlichen: ein jeder Dichter und Schriftsteller, der da kommt, wird zuerst zur Arbeit an der Sprache gedrängt und findet dadurch ganz neue Töne und Nuancen der Zeitgedanken.

Das hätte dann aber zur Folge, daß diese neuere, revolutionäre Literatur kaum übersetzbar ist. Wir konnten dem Ausland nicht einmal eine ungefähre Ahnung davon geben, was unser großer Dichter Ady eigentlich bedeutet. Die Übersetzungen, die erschienen sind, erscheinen fahl.[1] Einen Widerschein des Adyschen Wesens geben noch am ehesten Ludwig Hatvanys Übertragungen in rhythmischer Prosa, in seinem sonst sehr rhapsodischen, kulturpolitischen Buche Das ver­wundete Land.[2] Was Ady aber für Ausländer bedeutet, die ihn lesen können, das zeigt die neuere serbische und rumänische Literatur, die von dem Dichter der ungarischen Revolution stark befruchtet wurden.

Andre, die noch mehr im Sprachlichen wurzeln, wie Michael Babits[3], eine Zeitlang der Rivale Adys, der gelehrte Poet dieser Bewegung, lassen sich noch schwerer in fremde Sprachen übertragen. Gewisse feine Blüten dieser stolzen Zeit, wie der unbewußte Expressionist Desider Szomory und der die Sprache der Volkslieder und Volksmärchen in lebendigen Geistesblitzen sammelnde Ernst Szep, sind wieder gerade sprachlich so kühn und originell, daß nur sie selbst sich übersetzen könnten… Am ehesten ist noch der Erzähler dieser Richtung, der wuchtige Bauernschilderer Siegmund Moricz,[4] wiederzugeben.

Was war da für eine Kämpferschar um die Zeit­schrift Nyugat („Der Westen“) gesammelt! Ihr führender Publizist und Kritiker, selbst ein Dichter und Gestalter der neuen Sprache und des neuen Gedankens, war der jetzt in Wien in Verbannung lebende „Ignotus“.

Man fürchtete die Macht der Revolution im Schrift­tum so sehr, daß zuletzt, unmittelbar vor dem Kriege, Tisza eine Zeitschrift zur Bekämpfung dieser Richtung gründete und die Leitung persönlich übernahm… Zwanzig Jahre entwickelte sich, aus verlachten Anfängen, diese neue ungarische Literatur, unaufhaltsam, reich, mannigfaltig, bis zum Kriege. Das ganze Geistesleben, Zeitungswesen, der Buchverlag, das Theater nahmen einen Aufschwung, der fast unbegreiflich war bei einer zahlenmäßig so kleinen Nation. Das ist nun alles eine wehmütige Erinnerung… „Schwebe sacht und singe lange mir, sterbender Schwan, du, schöne Rückerinnerung“, sagt Petöfi.

Wenn man sich heute über den höllentiefen Unglücksschacht Ungarn beugt: Totenstille! Die Literatur ist mit anderem „revolutionären Schutt“ beseitigt worden. Kaum daß einige noch mit den alten Flügeln zu schlagen versuchen und wagen. Aber die alten Töne klingen nun anders, falsch… Die Ma-Richtung, Versuche einer kosmischen Erfassung der Welt, in der Technik des freien Verses, Nachahmung der dadaistischen Bestrebungen, der der Proletarierdichter Bela Revesz[5] schon lange vor­gearbeitet hat, hält sich in der Verbannung unter der Führung Ludwig Kassaks[6] hat aber kaum ein Hinterland. In der Muschel tönt das Meer nach! Die Literatur der Revolution gemahnt daran, daß eine Bewegung, die einmal einen solchen Überbau gehabt hat, nicht niederzukämpfen, daß sie eine eherne Notwendig­keit ist.

In: Arbeiter-Zeitung, 20.9.1926, S. 6.


[1] [Orig. FN]: Auf neuen Gewässern, deutsch von Franyo und Gerald (E. P. Tal-Verlag, Wien). Von der Ex zum Ozean, deutsch von H. Mahner (Moritz-Perles-Verlag, Wien).

[2] [Orig. FN]: E. P. Tal-Verlag

[3] [Orig.FN]: Der Storch-Kalif, deutsch von St. I. Klein. (S Fischer. Berlin).  

[4] [Orig.FN]: Gold im Kot (Ernst Rowo[h]lt-Berlag, Berlin).

[5] [Orig.FN]: Ringende Dörfer; Deutsch von St. J. Klein.

[6] [Orig.FN]: Ludwig Kassak: Ma-Buch, deutsch von Andreas Gaspar, mit einem Vorwort vom Übersetzer (Sturm-Verlag Berlin)

Eugen Hoeflich: Literatur (1918)

            Als ich sah, daß aus diesem Kriege doch nicht das das Schreiben hindernde Schamgefühl, das dem letzten Erkennen der eigenen Relativität entfließt, geboren wurde, zog ich mich gerne und leichten Herzens von den Kreisen der „Talentierten“ vollends zurück, ging weg, und nahm mir vor, nichts zu lesen und das Theater zu meiden. Ich versuchte zu übersehen, was ich nicht mit mir in Verbindung bringen wollte. Diese neuen Monate, die ich fern aller Literatur und ihrer Mache an der Grenze der Wüste verbracht habe, gaben meinem Entschlusse Recht, denn ich erkannte, dem Leben näher als je, daß nichts berechtigt ist, zu sein, das seine Existenz auf künstliche Affekte stellt, denen nie und nimmer Taten entbluten können. – Vielleicht bin ich zu unliterarisch, daß mir im Anfang nicht das Wort, sondern die Tat war, daß ich als Kind den Mond wollte oder den Tod des Hundes, der mich anbellte und mich weigerte, Surrogate für Mond und Tod entgegen zu nehmen. So kann ich es auch nicht über mich bringen das Hantieren mit Unsicherheiten, Gefühlchen und unklarer Sehnsucht als Literatur zu werten, wo verschlagene Erotik oder aller Grandiosität bare Ruhmsucht Hintergrund ist. Ich sah, daß die der Dichtung notwendige Ekstase nichts anderes ist als Hysterie im ekstatischen Gewande, Assimilationsfähigkeit und Werten der Konjunktur. Nun erkenne ich die ungeheure Distanz, die die Literatur dieser Tage von Kunst einnimmt, von dem gewissen Gesetzen unterworfenen Ausdrucke eines formenden Willens.

            Literatur darf nicht außerhalb des Lebens stehen, sie muß ein ehrliches inneres Parteinehmen sein, subjektiv bis ins Letzte – Objektivität ist ja unmenschlich –; Literatur muß Forderung sein, Wille, Ekstase und Weg.

            Als ich unten in der Wüste den Entschluß faßte, mich gegen die Götter meines Volkes zu stellen, um dem alten Gott der Wüste, dem Gott der Tat, den Tempel wieder zu bereiten, glomm in mir die Erkenntnis des Lebens auf und ich erfaßte was mir europäische Kultur zu erfassen verwehrt hatte: die Unbedingtheit des Lebens und aller seiner Äußerungen, die Bahn und die Forderung, das Ziel und die Tiefe, den Weg der lodernden Inbrunst, aktives Fordern im Wunsche der Tat, die aus dem Herzen quillt; der Konzentration der Gefühle zum heischenden Wunsche entschwand sich mir das Erkennen der steten Bewegung nach einem Ziele, die feind ist der Trägheit des Herzens und des Gehirns, und ich glaube nun, daß das nur lebenswert ist, was Fließen ist, aktives Fließen, aktiver Wille, Forderung, die zwingt und durch Innerliches erzwungen wird.

            Wenn ich mich auch nicht als Europäer fühle, sicher meines asiatischen Blutes, dem der große Geist Asiens stets Ziel des Suchens war, trotzdem ich auf dem Wege meines Volkes mein Absolutes gefunden habe, auf dem Wege, dem die endgültige Richtung nach dem Asien der Propheten und Juda makabis, dem Asien der wirklichen Liebe und des ehrlichen Hasses, der großen und konsequenten Gefühle zu geben mir Pflicht ist, trotzdem bin ich der deutschen Literatur zu dankbar, um es nicht als unerträglich zu empfinden, daß sie, trotz vieler Mätzchen im Hafen der stillen bürgerlichen Herzensträgheit vermodert. Mein Wunsch für sie ist: Schreie, Toben, menschliche Frohheit, die den Tod mit dem Leben überwindet, Entschlüsse, Leben, Leben und weniger Proklamationen des Wortes. Solche Dichter wünsche ich Deutschland.

            Dazu aber glaub ich müssen erst Menschen kommen, die nicht Begeisterung mit Ekstase und nicht Wünschen mit Wollen verwechseln.

In: Das Flugblatt. Hg. von Oskar M. Fontana und Alfons Wallis, H. 3/März 1918, S. 12