Kun, Belá

geb. am 20.2.1886 in Szilágycseh (dt.: Böhmischdorf, ehem. Transylvan. Siebenbürgen) als Béla Kohn – gest. am 29.8.1938 in Moskau; Politiker, Revolutionär, Flüchtling

Ps.: Emmerich Schwarz, Imre Schwarz

Kun entstammte einer einfachen jüd. Familie, wuchs deutsch- und ungarischsprachig auf, besuchte das Calvinistische Kollegium in Lelei (Lellen), wo er sich intensiv mit ungarischer Literatur befasste, magyarisierte seinen Namen im Zuge des Studiums der Rechtswissenschaften an der Univ. Klausenburg (Cluj) um 1906, wo er einerseits mit sozialistischen Ideen in Kontakt kam und andererseits mit Endre Ady, herausragenden Vertr. der ungar. Moderne, Freundschaft schloss, der ihn in die Intellektuellen- und Schriftstellerkreise in Budapest einführte. In den Klausenburger Jahren bis 1914 arbeitete K. an sozialdemokr. Zeitungen mit und war bei der Arbeiterkrankenkasse angestellt. 1914 einberufen nahm er an den Kämpfen am österr.-russischen Kriegsschauplatz teil. Nach der Gefangennahme 1916 und der Internierung im Ural näherte er sich 1917 der kommunistisch-bolschewistischen Bewegung. Schon im März 1918 war K. Mitbegründer einer Vorläuferorganisation der ungarischen KP in Moskau. Kurz darauf lernte er in St. Petersburg/Petrograd W. I. Lenin kennen, nahm am Bürgerkrieg teil und positionierte sich im Umfeld des linken Flügels, d.h. in Gefolgschaft von Grigori Zinoview und Karl Radek. Nach der Kapitulation Österreich-Ungarns kehrte K. am 4.11.1918 nach Budapest zurück, gründete dort nochmals die Kommunistische Partei und ging auf Konfrontation mit der von den Sozialdemokraten unterstützten Regierung des Grafen Mihály Károly. Obwohl im Feb. 1919 in Haft, gelang es ihm am 21.3.1919 die ungarische Räterepublik auszurufen und die Reg. zu stürzen. Binnen kurzer Zeit kam es zu Nationalisierung u. Kollektivierungen nach sowjet. Vorbild. In Wien reagierte die Neue Freie Presse mit der Schlagzeile Der Bolschewismus vor den Türen der Stadt Wien und machte auch die Pariser Friedensverhandlungen dafür mitverantwortlich. Die österr. Sozialdemokratie geriet in große Verlegenheit, der Aufforderung K.s. zu folgen, sich dem revolut. Beispiel anzuschließen. Austerlitz wies dies mit dem Argument der völligen Abhängigkeit von Entente-Getreidelieferungen zurück und vertröstete die Ungarn auf die „Stunde, in der auch die Arbeiterklasse Englands und Amerikas, Frankreichs und Italiens die Fesseln sprengen“ werden und Friedrich Adler sandte namens der Arbeiterräte eine Solidaritätsadresse An das Proletariat Ungarns!, in der er ebf. Bedauern ausdrückte, dem ungar. Beispiel leider nicht folgen zu können, aber den Ausbau der Räteorganisationen vorantreiben zu wollen, eine Haltung, die im Zentralorgan der KPÖ, Die soziale Revolution, scharf kritisiert wurde. Otto Bauer stand, wenngleich gegen diese Form revolut. Umgestaltung, anfangs mit K. in briefl. Kontakt bzw. durch Emissäre in Verbindung. Auch literar. Zeitgenossen wie Karl Kraus, Robert Müller und Robert Musil verfolgten die Ereignisse aufmerksam u. kommentierten sie in Glossen, Essays oder Tagebuchnotizen. Nach einem gescheiterten antikommunist. Aufstandsversuch im Juni 1919 griff K. zu drastischen Gegenmaßnahmen über eine rasch organis. Geheimpolizei, weshalb diese Phase als Roter Terror bekannt wurde. Da zur selben Zeit Ungarn in militär. Konflikte mit der Tschechoslowakei und v.a. mit Rumänien verwickelt war, suchte K. einerseits mit sowjet. Unterstützung eine schlagkräftigere Armee aufzubauen, andererseits über verschiedene Vermittler mit dem insbes. von Frankreich auch militär. unterstützten Rumänien zu verhandeln, Initiativen, die jedoch scheiterten. K. riskierte daher im Juli 1919 eine militär. Offensive, die jedoch scheiterte und das Ende der Räterepublik herbeiführte. Erst dann trat der ehem. k.k. Admiral Miklós Horthy von Szeged aus auf den Plan, übernahm die Macht und führte eine ebf. auf Terror gegründete präfaschistische Diktatur ein. K. floh nach Wien, wo er interniert, aber im Juli 1920 im Austausch gegen österr. Kriegsgefangene frei gelassen und des Landes verwiesen wurde, worauf er in die Sowjetunion ging. Dort wurde er zum Vorsitzenden des Revolutionskomitees auf der Krim ernannt und unterdrückte den letzten Widerstand der weißrussischen Truppen unter General Wrangel. Dabei soll brutale Gewalt gegen die Gefangenen wie gegen die Zivilbevölkerung zum Einsatz gekommen sein bis hin zu Massenexekutionen. Dieser Erfolg verhalf K. zu einem weiteren Karrieresprung in der Komintern.

1921 hielt sich K. in Deutschland auf, um die KPD zu unterstützen und ihre Märzstreiks in Mitteldeutschland (Halle, Leuna, Merseburg) 1921 in revolutionäre Aktionen (sog. Märzaktion) zu verwandeln. Nach der blutigen Niederwerfung dieser Arbeiteraufstände, die Berta Lask in ihrem Drama Leuna 1921 (1927) anhand von dokumentar. Material literar. gestaltet hat, wurde auch K. von Lenin zur Rechenschaft gezogen, verlor aber (noch) nicht seine Funktionen. Er konnte auch in den Folgejahren weiterhin in Undercover-Missionen in Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei tätig werden. Im Zuge einer dieser Missionen wurde er am 26.4.1928 in Wien verhaftet, in einem Prozess zu drei Monaten Haft verurteilt u. neuerlich ausgewiesen. Die Folgezeit verbrachte K. in der Sowjetunion, wo er sich z.T. mitschuldig machte am entstehenden stalinistischen Denunziations- und Terrorsystem, 1934 nochmals eine führende Rolle im Zuge der Debatten über die Sozialfaschismus-These einnahm sowie, vergeblich, die am 7. Kongress der Komintern beschlossene Richtungsänderung hin zur Volksfront-Politik beeinspruchte, bevor er selbst, unter Trotzkismus-Verdacht am 28.6.1937 verhaftet wurde und im Zuge der Haft 1938 (manche Quellen sprechen von 1939) verstarb.


Quellen und Dokumente

Bela Kun, Tibor Szamuely: Alarm. Ausgewählte Reden und Aufsätze (1959)

Zur Machtübernahme: Der Bolschewismus vor den Türen der Stadt Wien. Die ungarische Räterepublik im Kriegszustande mit der Entente und verbündet mit Rußland. In: Neue Freie Presse, 23.3.1919, S. 1, Und wir? In: Die soziale Revolution, 26.3.1919, S. 1, B. K. gefallen. In: Arbeiter-Zeitung, 2.8.1919, S. 1f., Sturz der ungarischen Sowjetmacht. In: Die Rote Fahne, 5.8.1919, S. 1, B. K. in Wien verhaftet. In: Arbeiter-Zeitung, 28.4.1928, S. 1, Genosse B. K. im Landesgericht. In: Die Rote Fahne, 29.4.1928, S. 1f., Bela Illes: B. K. in der Kaserne. In: Die Rote Fahne, 27.5.1928, S. 5, Der Prozeß gegen B. K. In: Arbeiter-Zeitung, 27.6.1928, S. 4, Hugo Eberlein: Mit B. K. durch Deutschland. In: Die Rote Fahne, 1.8.1928, S. 3, Franz Koritschoner: Aus der Zeit der ungarischen Rätemacht. In: Die Rote Fahne, 23.3.1928, S. 5, Gen. B. K. über “Generalprobe”. Ein Brief an den Autor, Bela Illes. In: Die Rote Fahne, 13.12.1929, S. 3.

Literatur

M. Szinai: Zur Geschichte der Beziehungen zwischen der ungarischen Räterepublik und Österreich: Otto Bauers Brief an Béla Kun. In: Acta Hirstorica Accademia Hungaricae, Nr. 3-4/1972, 293-318; György Borsányi: The life of a Communist Revolutionary. Bela Kun. Transl. by Mario Fenyo. New York 1993; Amalia Kerekes, Zoltan Peter: Die Wiener ungarischsprachige sozialdemokratische Presse in der Anfangsphase der Ersten Republik. In: Kakanien revisited (2007) (Online verfügbar).

(PHK)