Politisches Kabarett

Die Entwicklung des Politischen Kabaretts (PK) ist einerseits im breiteren Kontext der österreichischen Kabarett-Kleinkunst seit der Jahrhundertwende, andererseits, und hier besonders, im Umfeld der Theater- und Kulturpolitik des Roten Wien seit Mitte der 1920er zu sehen. Im Unterschied zu Deutschland, wo nach dem Modell des sowjetischen Proletkult sich ein politisch engagiertes Theater sowohl im KPD- als auch im SDP-Umfeld seit 1920, so J. Doll, etabliert hatte, datieren erste Versuche in Österreich erst in die Zeit ab 1925. Zum einen ist dabei an die Sprechchor-Debatte und die frühen Sprechchoraufführungen zu denken, z.B. an E. Fischers Der ewige Rebell anlässl. der Republikfeier im Nov. 1925 im Grazer Opernhaus oder an J.L. Sterns Die neue Stadt (anlässl. der Eröffnung des Engels-Hofes (ebf. 1925), zum anderen an die Aktivitäten des Verbandes Sozialistischer Mittelschüler (VSM) im Rahmen von Ferienkolonien, aus denen 1926 die Sozialistische Veranstaltungsgruppe hervorging, welche wiederum die Roten Spielleute organisierten. Die maßgeblichen Initiatoren waren Paul Lazarsfeld, Marie Jahoda, Ludwig Wagner und Hans Zeisel, die z.T. von Ideen der deutschen Jugendbewegung, insbes. von Gustav Wyneken, z.T. von Schul- und Laientheaterprojekten der Reformpädagogik von Eugenie Schwarzwald nebst ihren Erfahrungen im VSM geprägt waren.

Seit 1926 fanden regelmäßig Schulungen und Treffen statt, auf denen auch theoretische Aspekte der Verbindung von Theater und Parteiarbeit diskutiert wurden. Nach einer ersten Revue über den Bauernkrieg ging die Truppe 1926 mit einer zweiten unter dem Titel Achtzig Jahre Märzrevolution auf Tournee durch mehrere  Bundesländer u. erzielte dabei in etlichen sozialdemokr. verwalteten (Klein)Städten der Steiermark, Ober- und Niederösterreichs sowie Kärntens einigen Erfolg. 1927 verlagerte sich die Tätigkeit des PK (unter Robert Ehrenzweig und Viktor Grünbaum) vorwiegend nach Wien u. wurde Teil des auch von der Kunststelle betreuten Kulturprogramms der SDAP in verschiedenen Parteilokalen, Hotels u. Veranstaltungsräumen, u.a. dem Palastkino oder den Künstlerspielen. Bereits am 8.4. 1927 berichtete die AZ von der 25. Aufführung des PK, am 3.12. 1927 von der 50. Aufführung, viele davon mit dem Vermerk ‚ausverkauft‘ versehen. Im Mai 1927 wurde ein neues Programm unter dem Titel Ruck nach rechts angekündigt. Als entscheidenden Schritt Richtung modernes Theater erachtet Doll die Abkehr von der ursprünglichen Form des historischen Bilderbogens hin zu einer produktiven Integration zeitaktueller Formen des Unterhaltungstheaters wie der Revue, dem Kabarett oder des Varieté. R. Ehrenzweig bestimmte diesen Paradigmenwechsel wesentlich mit u. setzte sich auch theoret. damit auseinander, z.B. in seinem Artikel Agitationstheater (1929). Grundlegend ging es darum, das PK in den Dienst der (Partei)Propaganda zu stellen, quasi ein Agitprop-Modelle, sowie Aufklärung u. Propaganda durch Satire und kritisches Lachen zu befördern bzw. zu erzielen. Den Programmen bis 1928 lag daher auch eine Varieté-Struktur zugrunde, die Platz für Improvisation ließ, auch für formale Experimente zwischen Sprechchor, Tanz oder Travestien, sich aber auch z.T. an K. Kraus, z.T. an sowjetischen Vorbildern orientierte. Einen weiteren Wendepunkt markierte einerseits Ehrenzweigs Berlin-Aufenthalt 1928, wo er mit dem Piscator-Kollektiv in Kontakt kam, andererseits der Eintritt von Jura Soyfer in das PK. Mit letzterem verstärkte sich z.B. der Rückbezug auf die Tradition des Wiener Volkstheaters mit Anleihen bei Nestroy und Raimund, z.B. in der Revue Hallo, hier Klassenharmonie! (1929) oder Denken verboten! (1931), aber auch bei Hanswurstiaden wie z.B. in der Revue Hirnschal macht Weltgeschichte (1930). Anl. der 100. Auff. am 24.2. 1929 beschrieb V. Leon in der AZ die Arbeit u. die Absichten des PK. Im Juli 1929 wirkte das PK im Zuge des Internat. Jugendtreffens in Wien mit und trat mit einer ersten programmat. Broschüre an die Öffentlichkeit, zu der u.a. E. Fischer u. J. Hannak Beiträge lieferten, im Okt. 1929 trat im Zuge einer Festveranst. anl. des 20jährigen Bestehens der Arbeiterjugend in Wiener Neustadt im Rahmen des PK auch die Tänzerin G. Geert auf. Im Wahlkampf 1930 trat auch das PK aktiv u. verstärkt in Erscheinung u. wurde als eine neue, notwendige Form der Mobilisierung der Massen, so ein Beitr. in der Zs. Die Bildungsarbeit, angesehen. 1929-30 entstanden eigenständige PK-Gruppen auch in der Steiermark u. Oberösterreich, wie Veranstaltungsanzeigen aus dem Arbeiterwillen bzw. dem Tagblatt bezeugen.

Zwischen März und Dezember 1931 lief mit großem Erfolg die medienkritische Revue Denken verboten!, ab 17.12. folgte dann der ‚politische Bilderbogen‘ Warum?, darum!. Im Wiener Gemeinderat-Wahlkampf von 1932 traten sowohl das PK unterstützend auf als auch die ebf. 1932 gegr. Rote-Spieler Gruppen. Begleitend dazu wurde im Febr. 1932 auch die Zeitschr. Die Politische Bühne gegr., die von R. Ehrenzweig, K. Sobel u. J. Soyfer redigiert wurde u. theoretische wie anwendungsorientierte Artikel zur Verbindung von Agitation und Feierkultur brachte. Dies sollte einer Politisierung der trad. sozialdemokrat. Feierkultur den Weg bereiten und die Revue-Konzeption entspr. aufwerten. Neben Ehrenzweig trat dabei auch der einzige Arbeiterschriftsteller dieser Gruppe, Willy Miksch, mit eigenständigen Revuen hervor wie z.B. mit Der Funkturm der Welt (1932) oder Das Bauvolk der Erde (1933). Auch an den letzten großen Massenveranstaltungen des Roten Wien wie z.B. an der Arbeiterolympiade 1931 oder am Festzug des neuen Wien im April 1932 wirkten, meist unter Regie von R. Ehrenzweig oder des M. Reinhart-Assistenten St. Hock, das PK oder Gruppen der Roten Spieler mit. Nach der Ausschaltung des Parlaments u. der Einschränkungen der Presse- u. Versammlungsfreiheit gerieten diese Einrichtungen ins Visier des Dollfuß-Regimes, das die Roten Spieler im Nov. 1933 auch verbot. Die letzte Revue MM1 oder der Triumph der Technik wurde zwischen Februar und Mai mehrmals, meist ausverkauft, gespielt; in ihrem Rahmen kam es am 25.4.1933 zur 400. Auff. Programms des PK. Trotz der massiven Beeinträchtigungen u. des Zwanges, sich ab 1934 den Verhältnissen (subversiv) anzupassen u. zu stellen, gelang es Ehrenzweig wie Soyfer, in ihrer Theater- und Kabarettarbeit sowie in den satirischen Rundfunk-Features nach 1934 an diese früheren Erfahrungen anzuknüpfen und diese in der Kleinkunstszene bzw. im Exil produktiv weiterzuentwickeln (z.B. in den Hirnschal-Briefen).


Quellen und Dokumente

Viktor Neon: Hinter den Kulissen des Politischen Kabaretts. In: Arbeiter-Zeitung, 24.2.1929, S. 9, Leopold Thaller: Bildungsmittel und Propaganda im Wahlkampf. In: Bildungsarbeit XVII (1930), Nr. 10, S. 109f.;Cover von Der Kuckuck, 22.3.1931, S.1.

Literatur

R. Ehrenzweig: Vierhundertmal Politisches Kabinett. In: Die Politische Bühne; 2/1932, 29; G. Scheit: Der Gewinn des konkreten Humanismus zwischen Agitprop und Avantgarde-Bewegung. Zur Entwicklung der Dramatik von Jura Soyfer. In: ders.: Theater und revolutionärer Humanismus. Eine Studie zu J. Soyfer. Wien 1988, 13-39; J. Doll: Theater im Roten Wien. Vom sozialdemokratischen Agitprop zum dialektischen Theater Jura Soyfers. Wien u.a. 1997; Ders.: Sozialdemokratisches Theater im Wien der Zwischenkriegszeit. Vom Sprechchorwerk zu den Roten-Spieler-Szenen. In: P.-H. Kucher: Verdrängte Moderne – vergessene Avantgarde (2016), 79-94; F. Scheu: Humor als Waffe. Wien u.a. 1977; I. Reisner: Kabarett als Werkstatt des Theaters. Literarische Kleinkunst in Wien vor dem Zweiten Weltkrieg. Wien 2014; O. Panagl, R. Kriechbaum (Hgg.): Stachel wider den Zeitgeist. Politisches Kabarett, Flüsterwitz und subversive Textsorten. Wien u.a. 2004; B. Nowotny: Theater im Souterrain. Das politische Wiener Theater der 1. Republik. Dipl.Arb. Wien 2010 (Online verfügbar); M. Huber: „Sendung nicht angekommen“ – Die Wiener Kleinkunstbühne ABC (1934 –1938) (2018) (Online verfügbar).

(PHK)