Sprechchor, proletarischer

Unter dem Eindruck der Aufführung des Requiem der erschossenen Brüder im Rahmen der Republikfeier 1923 in Linz sowie des Sprechchors Tag des Proletariats, beide von Ernst Toller, anlässl. der 1. Mai-Feiern 1924 in Wien, begannen sich sozialdemokr. Bildungseinrichtungen intensiver mit diesem Genre zu befassen, wobei die ersten Impulse zunächst aus den Beiträgen der Rubrik ›Festkultur‹ der Zs. Bildungsarbeit kamen (1919-20 verantwortet von O.M. Fontana) und einem Unbehagen über eine offenbar weitverbreitete kleinbürgerliche Unterhaltungskultur (BA,3/4/1920, 62) entsprangen.

Auch die KPÖ setzte im Rahmen ihrer ›proletarischen Kunstabende‹ ab 1922 verstärkt auf Sprechchor-Beiträge, erstmals am 29.7.1922 in der Lokalorg. Favoriten, wie die Rote Fahne berichtete, an der auch Hugo Sonnenschein in Form von Rezitationen teilnahm und gelegentlich als deren Leiter benannt wird. Neben Programmvorschlägen für Mai- und Republikfeiern nahmen revolutionäre Chorwerke (meist auf Gedichten basierend) in Gedenkfeiern, z.B. im Programm für eine Marxfeier (BA, 1/1923,11), einen immer wichtigeren Stellenwert ein. Im Zuge des Rechenschaftsberichts über die „proletarische Kunstbewegung“ 1923 kündigte D. J. Bach an, die Sprechchorbewegung der Arbeiterjugend durch professionellen Schauspielunterricht weiterzuentwickeln (AZ, 15.12.1923. 9) und am 26.1.1924 kündigte die Kunststelle die Einrichtung eines eigenen Sprechchors unter der Leitung von Elise Karau an.

In: Bildungsarbeit, XIII 1926, Nr. 1, S. 11

1925-26 entspann sich eine theoretische Debatte, an der v.a. Ernst Fischer, Fritz Rosenfeld, Elisa Karau, die spätere Sprechchorleiterin der Kunststelle, ferner die Regisseurin und Schauspielerin Maria Gutmann sowie – als kritische Stimme von ‚außen‘ – Béla Balázs teilnahmen. Den Auftakt machte Fischers Beitr. Sprechchor und Drama in der Grazer Ztg. Arbeiterwille am 18.11.1925, in dem E.F. vor dem Hintergrund der von ihm konstatierten Krise des bürgerl. Theaters/Dramas den Sprechchor nicht nur als Schöpfung der Arbeiterjugend begrüßt sondern in ihm die „Urform eines neuen Dramas, wie einst der griechische Chor“ erblickt. Dem folgten die ersten eigenständigen Sprechchorwerke Der Kerker von F. Rosenfeld und Der ewige Rebell von E. Fischer, die im Rahmen der Republikfeiern 1925 in Wien bzw. Graz aufgeführt wurden. E. Karau definiert in der Bildungsarbeit den Sprechchor als eine „der stärksten Ausdrucksformen proletarischen Kunstwillens“ (BA 1/1926,11), F. Rosenfeld im Kampf als „Kunst der Masse […] Kampfkunst, ist revolutionär, ist proletarische Bekenntniskunst“, was ihn vom Gesangschor unterscheide und die Perspektive hin auf „das ersehnte Kollektivdrama“ richte. Sein Beitrag im Kampf ist gewiss der differenzierteste unter den frühen Sprechchor-Überlegungen, befasst sich auch mit E. Toller, der Frage der Musik, des Verhältnisses zum Weihespiel bei Arbeiterfesten und jenem zum Radio und dessen Möglichkeiten.  Auch D.J. Bach schätzte anlässlich der Schlussfeier des Kunststelle-Sprechchors 1926 letzteren als „Kulturnotwendigkeit“ ein. (AZ, 7.7.1926,14). 1926 breitete sich die Sprechchor-Bewegung quer durch Österreich aus, die sozialdem. Presse berichtet von Aufführungen in Dornbirn (Die Fabrik, Karl Bröger), in Klagenfurt (Die Republik, Jürgen Brand), aber auch anlässl. der Popper-Lynkeus-Feier in der Österr. Nationalbibliothek  am 21.2.1926 sowie von verschiedenen Kooperationen, so z.B. mit dem Ensemble Freies Theater anl. der österr. Erstaufführung von E. Tollers Masse Mensch am 2.12.1926. Weitere Anleihen wurden dem Leitfaden für Sprechchöre (1927) von Adolf Johannesson (1851-1933) entnommen.

Auch in den bürgerl. Kunstbetrieb fand der Sprechchor Eingang; so kooperierte der Sprechchor des Dt. Volkstheaters (Leitung: Karl Forest) mit der Tanzkünstlerin Gertrud Bodenwieser für die Auff. von Kokoschkas Der brennende Dornbusch (NFP, 21.2.1926,16). 1927 folgte Fischers zweiter Sprechchor, das Rotes Requiem, aufgeführt bei den Republikfeiern, das den Fall der in den USA hingerichteten Anarchisten Sacco und Vanzetti behandelt u. dabei auch nicht mit Kritik zurückhält, sowie J. L. Sterns am Sozialist. Jugendtag aufgeführte Klagenfurter Fackelspiel. Seine durch P.A. Pisk vertonte Kantate Die neue Stadt wurde zuvor  bei den Maifeiern in Graz aufgeführt. 1928 legte Rosenfeld schließlich Die Stunde der Verbrüderung vor, die jedoch keine Aufführung erlebte. Zunehmend begrenzten sich die Sprechchöre auf die Rezitation von Gedichten und lyrischen Zyklen, oft auch mit Musikbegleitung; erfolgreich war dabei die Zusammenarb. von Stern mit dem Komponisten Viktor Korda, insbes. im Zuge des Chorwerks Die Stunde der Befreiung, das bei den Maifeiern in Linz bzw. bei der Republikfeier in Wien und Graz aufgeführt wurde. 1929 gastierte am Internat. Jugendtreffen auch der Hamburger Sprechchor unter Johannesson in Wien und im Raimundtheater wurde Bruno Schönlanks Frühlingsmysterium gegeben, das aber als „neuromantisch“ auf Kritik durch O. Koenig stieß (AZ, 12.7.1929,6). Der Verband demokratischer Zionisten führte ebf. Sprechchöre in seiner Herzl-Feier im Programm (NFP, 23.7.1929,9) und selbst auf dem Christlichen Gewerkschaftskongress wurde im Rahmenprogramm ein Sprechchor dargeboten (RP, 29.6.1929,5). Der Jahresbericht der Kunststelle für 1929 verweist auf 111 versch. Feier-Veranstaltungen, in denen meist Sprechchöre mitwirkten sowie darauf, dass der Sprechchor sich zunehmend „zu einem dramatischen Chor entwickelt“. In der Praxis fand dies jedoch kaum mehr statt; die Sprechchöre reduzierten sich eher auf Rezitationschöre; ferner wurden sie zunehmend in die politische Tageskonfrontation integriert u. von allen polit. Gruppierungen besetzt. So verf. auch Robert Hohlbaum einen Sprechchor für eine deutschnat. Kundgebung am Wiener Heldenplatz am 12.10.1930 (RP, 13.10.1930,2). Bei den Maifeiern 1930 der Sozialdemokratie stand dagegen erstmals eine Revue (Von gestern bis heute) im Zusammenwirken vom Singverein (Dir.: Anton Webern) u. Sprechchor der Kunststelle unter der Regie von Maria Gutmann am Programm (AZ, 29.4.1930, 3). Parteiintern zeichneten sich also seit 1927-30 parallele bzw. neue Entwicklungen ab, die v.a. mit der Gründung des  Politischen Kabarett eine Verbindung aus Sprechchor, Agitprop- und Varietè-Ansätzen unter Federführung von Robert Ehrenzweig  anstrebten und die Sprechchor-Konzepte von Fischer und Rosenfeld in den Hintergrund drängten bzw. überholten.


Quellen und Dokumente

Programm des proletarischen Kunstabends. In: Die Rote Fahne, 27.7.1922, S.  8, Proletarischer Kunstabend. In: Die Rote Fahne, 1.8.1922, S. 3, Republikfeier der Linzer Arbeiterjugend. In: Tagblatt, 15.11.1923, S. 3, Mitteilungen der Kunststelle. In: Arbeiter-Zeitung, 26.1.1924, S. 7, Béla Balázs: Sprechchor. In: Der Tag, 15.11. 1925, S. 5; Elisa Karau: Was ist Sprechchor? In: Bildungsarbeit XIII (1926), Nr. 1, S. 11, j. m.: Auf dem Wege zur sozialistischen Kunst. Das Schlußfest des Sprechchors der Kunststelle. In: Arbeiter-Zeitung, 7.7.1926, S. 14, Adolf Johannesson: Die Idee des Sprechchors. In: Bildungsarbeit XV (1928), Nr. 1, S. 8-11, Elisa Karau: Was trägt der Sprechchor vor? In: Bildungsarbeit XV (1928), Nr. 5, S. 98, Die Stunde der Verbrüderung. In: Salzburger Wacht, 28.8.1928, S. 6, Material für Märzfeiern. Gedichte. In: Bildungsarbeit XVII, Nr. 1/2, S. 35, Edmund Wengraf: Sprechchor! Die Partei der Menschendressur. In: Neues Wiener Journal, 19.2.1933, S. 1f.

Literatur

Béla Rásky: Arbeiterfesttage. Die Fest- und Feierkultur der sozialdemokratischen Bewegung in der Ersten Republik Österreich 1918-1934 (1992); Jürgen Doll: Theater im Roten Wien. Vom sozialdemokratischen Agitprop zum dialektischen Theater Jura Soyfers (1997); Pia Janke: Politische Massenfestspiele in Österreich zwischen 1918 und 1938 (2010)

(PHK)