Georg Fröschel: Lob des Spiels
An einem Ast im Tiergarten baumelte ein Erhängter. Als man die Leiche abgeschnitten hatte, fand man in den Taschen des Selbstmörders ein leeres Zigarettenetui aus Holz, ein Portefeuille mit einem Barbetrag von 17 Mark, ein reines, jedoch sehr zerschlissenes Taschentuch mit einer siebenzackigen Krone und einige beschriebene Blätter, die wir im folgenden wörtlich wiedergeben:
„Man tut dem Spiel unrecht. Es ist banal, das obligate Verdammungsurteil nachzuplappern. Von einem höheren Gesichtspunkte aus ist die Ansicht von der moralischen Verwerflichkeit des Spiels unhaltbar. Für den Bürger zum Beispiel ist das Spiel eigentlich die einzige Entschuldigung. Der Bürger lebt sonst dahin, an der Erde und am Geld klebend – schläft, ißt, arbeitet und zeugt Kinder. Er weiß nichts von den Dingen, die er nicht tasten kann, nie glüht er, nie wagt er sich über sich selbst hinaus. Nur wenn er spielt, tut er einen Blick in die andere Welt, in ihre unwürdigste und trübste Ecke vielleicht, aber doch in die Welt des Irrealen und Ungegenständlichen. Nur wenn er spielt, hat er eine Spur von Phantasie. Dann gibt es für ihn Dinge, die er sonst nicht kennt, Träume, Aufregungen, und Kämpfe, von denen sein plattes Leben sonst nichts weiß. Der Künstler, der spielt, tut unrecht, denn ihm ist die andere Welt auch ohne Karten und Würfel geöffnet, ihm winken bessere Göttinnen als Fortuna mit ihrem leeren Lächeln. Der Spießer aber, der spielt, ist doch reicher, als der Spießer, der die Karten verachtet. Er weiß mehr von sich und der Welt und sein enges Leben hat ein schmales Fenster ins Freie.
Auch der Staat als solcher dankt dem Spiel viel.
Das Spiel gab zum erstenmal die Regel, die über den Menschen steht, zwang sie, ihr Tun und Lassen einem höheren Prinzip unterzuordnen. Das Spiel schlug die erste Bresche in die Dispositionsfreiheit des Menschen und ist vielleicht deshalb die Keimzelle des Staates.
In den Urzeiten, da der Mensch noch ungesellschaftlich existierte und gleich dem Tier den Zusammenhang zwischen Zeugung und Geburt noch nicht begriffen hatte, lebte er ganz ohne Unterordnung unter fremden Willen, bloß eigenen Trieben und Wünschen folgend. Aber als der Urmensch zum erstenmal von der Jagd ermattet vor niedergehendem Gewitter in einer Höhle Schutz suchte und dort den anderen Menschen traf und sie dann, zu müde, um sich zu erschlagen, ihre Beute gemeinsam am Feuer breiten und der eine spielend den Hüftknochen des Elentieres in die Höhe warf, der mit der rauchgeschwärzten Seite nach oben liegen blieb und dann der andere dasselbe tat, und der Knochen die weiße Seite zeigte, und als dieses Tun allmählich zum bewussten Speil ward, und die fette Keule demjenigen als Preis ausgesetzt wurde, der das nächste Fallen des Knochens richtig voraussagte, da war nicht nur das Spiel, da war auch das Gesetz und mit ihm ein Wesentliches des Staates geschaffen.
Von einem außerhalb des menschlichen Willens sich ereignenden Geschehnis war menschliches Tun und Lassen abhängig geworden. Zum erstenmal duldete ein Mensch, der verlierende, etwas, wozu ihn nicht faktische Gewalt, sondern freiwillige Unterwerfung unter eine Konvention nötigte.
Bedeutsam ist es, daß diese sich dem Gesetz des Spieles Unterwerfen seinen stärksten Ausdruck bei den alten Germanen fand, die im Spiel auch die persönliche Freiheit einsetzten und auch diesen Preis, für den sie sonst bis zum letzten Blutstropfen kämpften, willig zahlten. Sie bewiesen schon damit ihre Sendung zur objektiven Staatsbildung und ihren Beruf zum Bürger, der dem über ihm schwebenden Gesetz willenlos untertan ist und über dem der Staat wie ein rocher de bronce, wie eine eherne und unerbittliche Gottheit errichtet werden sollte.
Der Staat schützt die Rechte des Spiels nicht durch die Gewalt seiner Exekutivorgane, aber das Spiel schützt sich selbst, indem es die Spielerehre schuf. Sie wird nicht hoch gewertet und doch ist sie die einzige Form der Ehre, die im Laufe der Menschheitsgeschichte keine Änderung erfahren hat.
Alle anderen Ehrbegriffe haben den Kreislauf von ehrlos zu ehrwürdig wiederholt durchlaufen. Die Geschlechtslehre hat sich in der Entwicklung der Jahrtausende ihrem Inhalt nach ebenso geändert wie die Standesehre, wie die Auffassung vom Eigentum und vom Staat. Nur die Spielerehre ist die gleiche geblieben. Einer materialistischen Auffassung der Ethik sollte dies ernstlich zu denken geben. Wenn die Skeptiker alle Argumente für sich haben, die sagen, daß der Mensch das Gute nur tue und das Schlechte nur unterlasse, wenn äußere Gewaltmittel ihn hindern oder abschrecken, seinen Trieben nachzugeben, wenn behauptet wird, daß die Moral im ganzen bloß der Ausdruck der bestehenden Machtverhältnisse sei, so bleibt dem Idealisten schließlich nichts als das verachtete Spiel zum Beweise der menschlichen Güte.
Im Spiel allein bewies und beweist der Mensch seine Achtung vor dem frei geschlossenen Übereinkommen, vor der Abmachung auf Treu und Glauben, die durch keinen Polizisten geschützt werden muß. Im Spiel allein beugt sich und opfert der Mensch freiwillig einem höheren Prinzip, ehrt den Vertrag und damit sich selbst.
Ich habe die Gesetze des Spieles bis zum Ende erfüllt.“
Der Polizei gelang es nach einiger Zeit, die Leiche des Selbstmörders zu identifizieren. Es war Tiburce Freiherr von Hollenbach-Verault, der das ungeheure Vermögen, das er von seinem Vater ererbt, völlig im Spiel verloren hatte. Seine Gattin, Marie Yvonne, geborene Gräfin Chaloniakowska, war bereits ein paar Jahre früher in öffentlicher Armenpflege gestorben, sein Sohn Horace hatte Dienste in der Fremdenlegion genommen, seine Tochter Eugenie galt als eine der reizvollen Kokotten in der internationalen Lebewelt.
In: Der Tag, 13.4.1923, S. 4.
Jakob Moreno Levy: An die Leser zum Aufstand gegen die Autoren (1919)
Jakob Moreno Levy: An die Leser zum Aufstand gegen die Autoren
Bruder Leser, was wird dir einfallen, wenn du irgend ein Buch zu Ende gelesen hast? Oder sonst jedes Buch aller Autoren? Du wirst wissen: es ist nicht zu Ende.
Es gibt Leser, die nach aufgehobener Tafel geistig satt sind, das sind eigentlich selbst Autoren, und es gibt andere, die darnach erst hungrig werden: wie die Kinder. Diese, die das Vollkommene wollen, werden bedenken: Du bist da, wenn du redest und alles, was auf Himmel und Erden ist, ist unserer Liebe gegenwärtig; nur der Autor ist abwesend, wenn seine Seele zu uns spricht.
Du mußt ihn mehr lieben, weil er dich zu wenig geliebt hat. Du wirst ausgehen müssen, seinen letzten Teil zu suchen wie die blaue Blume. O, du mußt es wohl! Du wirst auf dem Wege in Streit mit dir geraten: warum gerade ich? Warum soll ich Unruhe stiften in den Schläfrigen?
Bruder Leser, wenn einer in die Welt schreibt, muß er sich zu Ende offenbaren; aber nicht, indem er weiterschreibt, sondern die Narben von den Namen in seinem Antlitze zeigt, die er verkündet hat. //
Bruder Leser, ich spreche für alle, die bei ihnen waren und die wie ich gelitten. Wenn du sehen würdest, wie sie leben und das Heiligtum der Worte entweihen, derer sie sich einfach bemächtigt haben, würdest du verstehen, daß sie durch das Buch das vollkommene Leben in Vergessenheit bringen, daß die Mächtigen des Wortes gefährliches sind für Gott als sonst alle Gewaltigen der Erde, weil selbst der Mammon nur mit der Schöpfung schachert, während sie, wo sie stottern sollen, den Geist der Dinge dem Schein verschreiben, daß auch die Edlen unter ihnen, da sie im selben Rahmen wie die ganze Gilde schaffen, verwirkt sind und den höchsten Grad des Bösen möglich machen.
Die Autoren sind die neuen Heiden, heidnischer geworden noch durch Religion; darum können ihre Werke töten, aber nicht lebendig machen.
Wenn sie nur das Gefühl ihrer Sünde hätten; aber das sind nur Dichter und keine Kinder, das sind nur Weise und keine Kinder, das sind nur Päpste und keine Kinder. Eher kommt ein Reicher durch ein Nadelöhr als ein Autor in das Reich Gottes.
Ich habe die Aufgabe, einseitig und ohne Aufenthalt zu lallen: der vollkommene Weg des Buches ist die Einladung zu einer Begegnung, der vollkommene Weg des Wortes ist der Bericht.
Bruder Leser, ich gebe dir das Amt, stehe auf und schreite, bis du des Wortes angesichtig wirst, das du gelesen hast. Wenn der Autor nicht zu dir kommt, so gehe zu ihm. Opfere dich, gehe, ich meine wirklich und nicht im Gleichnis, gehe und bekehre sie zu sich, gehe und begegne ihnen schnell, wie ich ihnen begegnet bin und wir Gott, der Ewige, ihnen begegnen müßte, wäre er unsereiner.
Der Aufstand der Leser ist die Verfolgung der Autoren. Man wird euch aber aus dem Wege gehen, euch mißhandeln, euer spotten. So wird es geschehen, daß ihr, die ihr ausgegangen seid, die Autoren zu segnen, von ihnen verflucht werdet. Ihr aber sollt im Leiden frohlocken, daß ihr dem Unvollkommenen vollkommen, Auge vor Auge, begegnet seit, damit es einmal heiße: //
„Das ist der Kreuzzug der Leser gegen die Heerführer des Geistes, der Kinder gegen die Wort- und Erlebnishamsterer gewesen.“
Am Ende der Fahrt bist du sicher, im Unvollkommenen, – aber diesem vollkommen nahe, bist du sicher nicht im Himmel, aber doch an seiner Pforte. Nun kann der Geist Gottes erkannt werden und unter uns leben, denn das ist des Gottmenschen tiefster Widerspruch, daß er der Allerfernste werden muß durch das Allernächste.
In: Der Neue DaimonJakob Moreno Levy gründet 1918 die Zeitschrift Daimon und setzt damit als Herausgeber bereits bestehende Bestrebungen f..., H. 1-2/1919, S. 29-31.
Otto Koenig: Filmromane (1923)
Otto Koeniggeb. am 12.5.1881 in Wien – gest. am 15.9.1955 in Klosterneuburg; Redakteur, Kritiker, Volksbildner K. studierte Germ...: Filmromane
Man beginnt jetzt Romane und Novellen geradeaus in Hinblick auf die Verfilmung zu schreiben. Dadurch soll einerseits ein gewisses literarisches, künstlerisches Niveau gewahrt werden, das bei Herstellung bloßer Filmtexte nur zu leicht unversehens vernachlässigt wird; andererseits wird durch solche Filmdichtung jener gefährliche, zumeist mindestens recht holprige Umweg vermieden, auf dem das Dichtwerk zum Filmwerk übergeführt wird. Kurz gesagt: Erzählende Dichtungen werden geschaffen, die, als solche wirksam, zugleich der Technik, der Möglichkeit und den Wirkungen des Films gerecht werden und daher ohne organische Veränderungen: Zusätze, Auslassungen, in lebende Bilder umgesetzt, werden können. Es müssen also ernste seelische Entwicklungen und // Kämpfe vorhanden sein (nicht nur Rührseligkeiten und Sensationen), die ungezwungen, verständlich und spannend optisch dargestellt werden können.
Nicht übel und mit Wahrung einer anständigen literarischen und sittlichen Höhe hat diese Forderung Hugo Bettauergeb. als Hugo Maximilian Bettauer am 18.8.1872 in Baden – gest. am 26.3.1925 in Wien; Schriftsteller, Journalist, ... mit seinen zwei Erzählungen „Der Herr auf der Galgenleiter“ und „Das Blaue Mal“, beide erschienen im Gloriette-Verlag, Wien, erfüllt. Die erste Erzählung behandelt sehr abwechslungsreich und spannend einen Unglückstag aus dem Leben eines jungen Valutaschiebers. Plötzliche katastrophale Verarmung, die in ihrer Gänzlichkeit allerdings nicht völlig wahrscheinlich wird, treibt den Helden binnen wenigen Stunden die Galgenleiter des Verbrechens bis hart an meuchlerischen Raubmord hinan. Das Problem des Gedankenmordes, das psychologische und juridische Problem der Schuld tut sich für einen Augenblick ganz ernsthaft auf. Plötzlich, unerwartet, aber nicht unwahrscheinlich, ergibt sich Rettung, günstige Lösung, Reinigung!
Versöhnlichen Ausgang, wie ihn das Filmpublikum wünscht, bietet auch „Das blaue Mal“, die Lebensgeschichte eines Negermischlings erster Generation, der, in Europa erzogen, in seinem Mutterland Amerika, das er hoffnungsfroh und siegesgewiß betritt, plötzlich vor dem unausweichlichen und unbesiegbaren Rassenhaß des angelsächsischen Amerikaners gegen den Farbigen steht und sich an dieser brutalen Mauer den Kopf bis hart an Selbstvernichtung blutig stößt. Auch in dieser Geschichte bleibt der Autor nicht an der Oberfläche der Ereignisse haften. Völkerpsychologische Untergründe dieses Rassenhasses werden erhellt, Bezüge zum europäischen Antisemitismus aufgezeigt. Eine geschickte, würdige Verfilmung wäre diesen beiden Vertretern einer neuen Kunstgattung zu wünschen. Vielleicht mag auf diesem methodisch neuen Weg epischer Dichtung für den Film eine Besserung der Unterhaltungsprogramme der Lichtspielbühnen zu erzielen sein. Freilich bracht es dazu begabter, phantasievoller und technisch sehr geschickter Schriftsteller, die bei ihrer Arbeit sittliche Absicht weder „vorzeigen“, noch verleugnen.
In: Arbeiter-Zeitung, 12.7.1923, S. 6-7.
Stephan Großmann: Berliner Theaterbrief (Kokoschka-Skandal) (1919)
Stephan Großmann: Berliner Theaterbrief (Kokoschka-Skandal)
Berlin, 14. Juni.
Ja, ich habe ja noch nicht über den großen Kokoschka-Skandal im Deutschen Theater berichtet. Unerlaubte Pflichtvergessenheit! Das Übel sitzt noch tiefer, ich habe, von Saint Germain befangen, nicht einmal daran gedacht. Und doch war es gewiß der größte Theaterskandal, den Berlin seit Jahren erlebt hat. Seit wieviel Jahren? Ich glaube, der letzte ganz große Krach, der einzige, der mit dem Kokoschka-Skandal zu vergleichen wäre, fand bei der Erstaufführung des „Florian Geyer“ statt. In der Szene, in der dort die armen Bauern ausgepeitscht werden sollen, erhob sich das liberale Bürgertum im Parkett zum Schutze der längst verblichenen Agrarier und protestierte gegen das Auspeitschen, währen die sozialistisch gesinnte Jugend auf den Galerien unbedingt für die Auspeitschung auf der Szene eintrat. Daraus entstand der denkwürdigste Theaterradau, den Berlin bei einer Hauptmann-Premiere je gehabt hat. Das war im Winter 1895. Ich saß damals mit Gustav Landauer zusammen auf der dritten Galerie im Deutschen Theater und mühte mich im Schweiße meiner Hände das hausschlüsselpfeifende Parkett durch das Geknatter unseres Applauses zu übertönen […] Es hat in diesen vierundzwanzig Jahren, die seit jenem historisch gewordenen Radau verflossen sind, allerlei Pöbelunterhaltungen im Theater gegeben, aber einen Krach, wir den bei Kokoschka, konnten die Arrangeure trotz aufrichtiger Bemühungen nicht erreichen. Bedenkt man, daß die Vorstellung eine geschlossene war, vom Verein „Das junge Deutschland“ veranstaltet, der dazu da ist, kühn zu experimentieren, so kann man diesen Skandalnachmittag erst richtig würdigen. Ich habe dieselbe Vorstellung vor einem Jahr schon in Dresden gesehen. Auch dort wurde der „Brennende Dornbusch“ und der „Hiob“ gegeben. Die Sachsen haben beide Werke auch nicht verstanden, aber sie haben es nicht zu erkennen gegeben, sondern sich bemüht. Es gelang ihnen, Details zu entziffern, und bescheiden wartend, ist es ihnen allmählich auch gelungen, sich in der Stimmung der Werke näherzuarbeiten. Den Schaden bei all diesen Radauszenen hat ja nicht so sehr der Künstler, sondern vielmehr der allzuschnelle Zuschauer, der sich aufnahmsunfähig macht, indem er witzelt oder dazwischenruft. Der demütig Wartende handelt zuletzt auch vorteilhafter als der anmaßende Skandalmacher! Dabei möchte ich keineswegs behaupten, daß Kokoschkas Dramen gelungene Meisterwerke sind. Sie sind doch, wie sehr sich Kokoschka zur Wehr setzt, Phantasien eines Malers, es sind Pantomimen mit dazugesprochenen Text. Das Wertvolle und Originale an diesen Werken ist die bildhafte Halluzination, nicht das dazu gesprochene Wort. Als Wortkünstler ist Kokoschka hart, eckig, arm. In seiner dramatischen Erfindung steckt aber unzweifelhaft ein dichterisches Element und im „Hiob“ noch dazu ein phantastischer Humor. „Hiob“ ist die Tragikomödie eines alten Mannes, dem ein Weib den Kopf verdreht hat. Es ist charakteristisch für Kokoschkas bildhaftes Sehen, daß es diese Wendung „mir wurde der Kopf verdreht“ sogleich in eine szenische Bemerkung umsetzt, und daß der Darsteller des Hiob eine Zeitlang mit einer Gewandung auftritt, bei der Rock, Weste und Kragen hinten zugeknöpft sind und die Krawatte über den Rücken baumelt. So sitzt der verdrehte Kopf wirklich um 180 Grad verschoben auf dem Rumpf. Dieser „Hiob“ ist als Tragikomödie gedacht, Kokoschka will den gehörnten Ehemann nicht nur seriös betrachtet haben, deshalb spielt die tragischste Szene im Badezimmer, das nicht nur mit einer Wanne, sondern auch mit einem Klosett versehen ist. Nun vertragen intellektuelle Zuschauer alles, nur Tragikomödie nicht. Jede Masse will schnurgerade, schlichte Empfindungen; komplizierte Regungen, wie sie die Tragikomödie voraussetzt, müssen der Einsamkeit des einzelnen überlassen sein. Das gehört nun einmal zu den Grunderfahrungen des Theaters. Aber wenn man bedenkt, daß in diesem Verein „Das junge Deutschland“ eine Auslese des Berliner Publikums sitzt, von Liebermann und Rathenau bis zu Kurt Hiller und Rudolf Leonhard, so begreift man doch diesen wüsten Exzeß nicht. Kokoschka selbst schien an dem schrillen Toben seine stille Freude zu haben, er erschien ein paarmal auf der Bühne mit seinem sanften, freundlichen, die Leute erst recht zum Rasen bringenden Lächeln und dankte den Enthusiasten ebenso gelassen wie den Empörten. Ich glaube, daß ihm eine solche Schlacht lieber ist als die Dresdener achtungsvolle Stille. Er hat die Stücke selbst inszeniert und sich als ein Regisseur ersten Ranges erwiesen, und zwar nicht nur als ein malerischer Regisseur, als welchem ihm viele schöne Stellungen und Veränderungen des Körpers der Darsteller gelungen sind, sondern vor allem auch als ein Kapellmeister der Stimmen. Ich möchte sagen, seine phonetische Phantasie ist so reich wie seine Augenphantasie. Aber das wird sich im nächsten Jahr noch deutlicher erweisen, denn Kokoschka wird entweder bei Reinhardt oder in den Staatstheatern einige Vorstellungen inszenieren.
In: Neues Wiener Journal, 19.6.1919, S. 12.
N.N.: Die Wehen der neuen Zeit (1918)
N.N.: Die Wehen der neuen Zeit
Der werdende deutschösterreichische Staat steht vor ungeheuren, vor unlösbaren Problemen. Die schwersten von ihnen gehen aus der Auflösung der Armee hervor. Eine Armee von Millionen Menschen ist in Italien und Tirol gestanden. Diese Armee rasch nach Hause zu befördern, sie auf dem Transport in die Heimat zu verpflegen, die Verbreitung von Seuchen durch die heimkehrenden Krieger zu verhindern, den abrüstenden Soldaten Arbeit, Brot, Wohnungen zu // beschaffen, das wäre auch in ruhigen Zeiten, auch bei ordnungs- und planmäßiger Demobilisierung eine überaus schwere Aufgabe gewesen. Aber unter den jetzigen Umständen ist eine planmäßige Demobilisierung gar nicht möglich. Die Verbände haben sich aufgelöst, die einzelnen Truppenkörper fluten in wirrer Unordnung, in wilder Hast zurück. Sie wollen nach Hause, wollen nicht warten. Aber so schnell wie die Ungeduld der Soldaten es möchte, können sie nicht in die Heimat befördert werden; dazu gibt es bei weitem nicht genug Waggons und Lokomotiven. Daher stauen sich im Süden ungeheure Menschenmassen auf engem Raume. Aber für solche Massen gibt es nicht genug Verpflegung, nicht genug Quartiere, nicht genug Spitäler. Die Soldaten, hungernd, frierend, krank, erbittert, stürzen sich auf die Landbevölkerung, um sich nur Nahrung für den hungrigen Magen und ein schützendes Obdach zu beschaffen. Sie dringen, auf solche Weise „vom Land lebend“ immer weiter in den Norden. Es ist ein Bild ungeheuren Elends, furchtbarster Verwüstung. Da Abhilfe zu schaffen, so gut es eben geht, Eisenbahnwagen, Verpflegung und Heilmittel nach dem Süden schaffen, ist jetzt die dringende Aufgabe der neuen Regierungen.
Aber diese Aufgabe wird überaus erschwert dadurch, daß die Beziehungen zwischen den neuen Staaten noch ganz ungeregelt sind. So hat zum Beispiel der tschechische Staat nur die Ausfuhr, sondern auch die Durchfuhr vieler wichtiger Waren gesperrt. Daher fehlt es nicht nur an Lebensmitteln für die drängenden Soldatenmassen, sondern auch an Kohlen für die Eisenbahnen, die sie befördern sollen. Der ungarische Staat schickt Eisenbahngarnituren, die Soldaten nach Ungarn gebracht haben, nicht wieder zurück; dadurch wird der Mangel an Eisenbahnmaterial immer empfindlicher. Nur durch Verhandlungen und Vereinbarungen zwischen den neuen Nationalstaaten können solche Schwierigkeiten behoben werden; aber Verhandlungen werden wieder durch die Störungen des Eisenbahn-, Telegraphen- und Telephonverkehrs überaus erschwert.
Dieselben Ursachen erschweren aber auch die Versorgung des Hinterlandes mit Lebensmitteln. In dieser Beziehung ist Deutschösterreich am schlimmsten daran. Ohne ungarisches Getreide, böhmischen Zucker, galizische Kartoffeln kann es nicht leben, ohne Kohle, die über tschechisches Gebiet zugeführt werden muß, nicht arbeiten. In den letzten Tagen stockt die Milchzufuhr aus Mähren; aber wenn wir für Kinder, Kranke, stillende Mütter keine Milch mehr bekommen, gehen Tausende Menschen zugrunde. Da gilt es nun, mit den anderen Nationen zu verhandeln. Aber die anderen Nationen haben danach kein so starkes Bedürfnis wie wir. Sie haben im eigenen Lande mehr Lebensmittel als wir; brauchen also nicht unsere Hilfe. Aber auch sie sind keineswegs reichlich versorgt; sind daher nicht sehr begierig, uns zu helfen. So sind die Verhandlungen überaus schwer; und sie werden noch dadurch kompliziert und verzögert, daß die anderen Nationen nationale Grenzfragen und politische Streitfragen in die Verhandlungen hineinziehen.
Man muß diese Tatsachen kennen, um wenigstens eine Ahnung zu haben, welche geradezu unlösbare Aufgabe der neuen deutschösterreichischen Regierung gestellt ist. Diejenigen, denen der neue Staat nicht schnell genug wird und wirkt, haben wohl kaum eine Ahnung davon, welche endlosen Verhandlungen, welche Mühen und Anstrengungen es erfordert, um auch nur die notdürftige Vorsorge für den morgigen Tag, für den Abtransport wenigstens eines Teiles der im Süden angehäuften Soldatenmassen und für die Sicherung auch nur der dürftigsten Nahrung für das Volk im Hinterland zu treffen. Mit einer fliehenden Armee im Rücken und mit sich neubildenden, sich feindlich absperrenden Staaten vor sich einen ganz neuen Staat aufzubauen, eine ganz neue Verwaltung einzurichten, ist eben eine Aufgabe, wie sie wohl noch nie einem Lande gestellt war. Und dabei hängt an der Lösung dieser Aufgabe unsere ganze Zukunft. Denn wenn es nicht gelingt, die Überflutung unseres Landes durch die vom Süden her in chaotischer Unordnung heimwärts eilenden Soldaten zu verhindert, dem Volke im Hinterland sein tägliches Brot, den Fabriken die Zufuhr der Kohle und der Rohstoffe zu sichern, dann können wir Hungerrevolten und Verzweiflungsausbrüchen nicht entgehen. Aber Unruhen würden heute nicht die Revolution bedeuten, sondern die Okkupation. Die Entente hat sich im Waffenstillstandsvertrag das Recht gesichert, jede Stadt in ganz Österreich-Ungarn zu besetzen. Wenn wir die Ordnung im Lande nicht aufrecht erhalten können, dann wird sie von diesem Rechte Gebrauch machen. Und wenn die Entente unsere deutschen Länder in Österreich besetzt, dann ist es mit unserer jungen Freiheit vorbei. Die Befehlshaber der okkupierenden Armeen werden uns dann unsere staatliche Ordnung diktieren!
So wird der neue Staat unter unbeschreiblichen Schwierigkeiten und Gefahren. Aber er wird und wächst trotz alledem. Heute hat die neue Regierung ihre ersten Verordnungen erlassen. Unter den Verordnungen steht nicht der Name des Kaisers, nicht der Name eines vom Kaiser ernannten Ministers; der Staatsekretär für soziale Fürsorge, unser Genosse Hanusch, hat sie auf Grund einer Ermächtigung des von der Nationalversammlung gewählten Staatsrates erlassen. Es sind die ersten Verordnungen in Österreich, die ihren Ursprung allein und ausschließlich in der von der Volksvertretung eingesetzten Vollzugsgewalt haben. Und diese Verordnungen dienen dem Schutze der Arbeiter. Es handelt sich zunächst darum, den Arbeitern, die infolge der Einstellung der Kriegsindustrien arbeitslos werden, Arbeit zu schaffen. Zu diesem Zwecke werden besondere „Industrielle Bezirkskommissionen“ errichtet, die, paritätisch aus Arbeitern und Unternehmern zusammengesetzt, die Arbeitsbeschaffung für die entlassenen Arbeiter organisieren, die Arbeitslosen in die neuen Arbeitsorte befördern, ihre Verpflegung sicherstellen sollen; eine „Zentralausgleichsstelle für die Arbeitsvermittlung“ soll dafür sorgen, daß die Arbeiter planmäßig aus den absterbenden Kriegsindustrien in die neuzubelebenden Friedensindustrien geleitet werden. So wird eine ganz neue große Verwaltungsorganisation geschaffen, die die Hunderttausende Arbeiter, die bisher in den Kriegsindustrien beschäftigt waren, wieder der Friedensarbeit zuführen soll. Gleichzeitig werden aber in den einzelnen Bezirken auch Einigungsämter errichtet, die and die Stelle der Beschwerdekommissionen, welche jetzt mit dem Kriegsleistungsgesetz verschwinden, treten werden. An die Stelle der Offiziere, die die Beschwerdekommissionen geleitet haben, tritt jetzt in jedem Einigungsamt ein Richter und ein vom Staatssekretär für soziale Fürsorge ernannter Beamter. Die Tätigkeit der Einigungsämter wird sich auf alle Industrie-, Bergwerks- und Eisenbahnbetriebe, auch auf Staatsbetriebe erstrecken. Sie sollen zwischen Unternehmern und Arbeitern bei Streitigkeiten über das Arbeitsverhältnis vermitteln. So enthalten diese Verordnungen ein gutes Stück sozialpolitischer Arbeit. Weitere sozialpolitische Verordnungen werden folgen; so solche über die Unterstützung der Arbeitslosen aus Staatsmitteln und über die Wiederherstellung der zu Kriegsbeginn außer Wirksamkeit gesetzten Arbeiterschutzgesetze.
Kleinlich wird man bei dem weiteren Ausbau nicht sein dürfen. Die Demobilisierung wird Riesenmassen auf den Arbeitsmarkt werfen; sie schnell aufzunehmen wird die Industrie nicht imstande sein, denn an Rohstoff und Kohle werden wir noch lange Mangel haben und starke Investitionstätigkeit erschwert die politische Umwälzung. Daher werden in jedem Falle große Massen arbeitslos bleiben; ihnen hinreichende Unterstützung aus Staatsmitteln zu sichern ist unabweisbare Notwendigkeit.
Es ist ein ungeheuer schwerer und schmerzhafter Prozeß, diese Überleitung unseres Lebens aus dem Kriege in den Frieden und aus dem alten Zwangsstaat in die neuen Nationalstaaten. Aber so ungeheuer schwer die Probleme sind, so furchtbar groß die Schwierigkeiten und die Gefahren, so entsetzlich jenes Massenelend drunten im Süden, wo heute unsere Soldaten hungernd und frierend nach Hause streben, und so drohend die Massenarbeitslosigkeit, die die Demobilisierung der Armee und der Industrie erzeugen muß – all dieses Elend und all dieser Jammen sind doch nur die Wehen, in denen eine bessere Zeit geboren wird: die Zeit des Friedens und der Demokratie.
In: Arbeiter-Zeitung, 6.11.1918, S. 1-2.
Friedrich Austerlitz: Ungarn und wir (1919)
N.N. [Friedrich Austerlitz]: Ungarn und wir
Die proletarische Revolution in Ungarn hat ihre besonderen, ihre eigentümlichen Züge. Sie ist nicht so sehr eine Erhebung gegen die Bourgeoisie des eigenen Landes als ein Aufstand gegen die Ententebourgeoisie. Die Entente hat den größten Teil Ungarns an Tschechen, Rumänen und Südslaven verschenkt. Das ungarische Volk lehnt sich gegen die Zerstückelung seines Landes, gegen die Preisgabe magyarischer Städte an fremde Nationen auf. Es faßt den verzweifelten Entschluß, sich gegen die übermächtigen Sieger mit der Waffe in der Hand zur Wehr zu setzten. Aber werden die Arbeiter und die Bauern dem Rufe zu den Waffen folgen? Werden die kriegsmüden Soldaten todesbereit gegen Tschecho-Slovaken und Rumänen marschieren? Sie werden es nur dann, wenn Ungarn wirklich zu ihrem Vaterland wird; wenn der Staat ihr Eigentum wird, wenn die Fabriken und der Boden ihr Besitz werden. Die magyarische Bourgeoisie, deren wirtschaftliche Daseinsmöglichkeit die Zerstückelung des Landes zerstört, faßt den verzweifelten Entschluß, zeitweilig abzudanken, Arbeitern und Bauern kampflos die Staatsgewalt zu überlassen, weil sie darin das einzige Mittel erblickt, die Proletarier der Fabrik und der Scholle zu neuem Kampfe gegen den Landesfeind aufzubieten. So kann das Proletariat, ohne Widerstand zu finden, die Macht ergreifen. Die soziale Revolution dient hier der nationalen Verteidigung; der Übergang der Macht aus den Händen der Bourgeoisie in die Hände des Proletariats dient der Verteidigung des Landes gegen den äußeren Feind. Es ist nicht zum erstenmal so: 1792 hat das französische Volk die Jakobiner zur Macht erhoben, weil es sie allein für befähigt hielt, den nationalen Widerstand gegen die koalierten Fürsten ganz Europas zu entfesseln; 1871 ist die Pariser Commune aus der Bewegung der Patrioten hervorgegangen, die die Unterwerfung unter das Gebot des deutschen Siegers bekämpfen, den Krieg gegen Deutschland fortsetzen wollten.
Das ungarische Proletariat ruft die Proletarier der Nachbarländer, auch die Proletarier Deutschösterreichs auf, seinem Beispiel zu folgen. Und schon leuchtet hier manches Auge heller, schon schlägt hier lauter manches Herz! Ist nicht auch hier – in Deutschböhmen und im Sudetenland, in Südtirol, Kärnten und Untersteier – deutsches Land vom übermütigen Sieger bedroht, der über Völker verfügt, als ob es Herden wären? Ist nicht auch für uns die Stunde gekommen, die Bourgeoisie zu stürzen, die Macht an uns zu reißen, die Fabriken und Bergwerke, den Boden des Adels und der Kirche mit einem Schlag dem Volke zuzueignen?
Und doch sind wir in ganz anderer, viel schlimmerer Lage als die Brüder in Ungarn. Gewiß, die Bourgeoisie des eigenen Landes könnten wir so leicht und so schnell entthronen wie wie; das würden ein paar Bataillone Volkswehr besorgen. Aber von der Ententebourgeoisie sind wir ganz anders gefesselt als das magyarische Proletariat. Die Diktatur des Proletariats würde hier wie dort eine Herausforderung der Entente, eine Kriegserklärung an sie bedeuten. Die Ungarn ertragen es, wenn die Ententemissionen Budapest verlassen; sie haben immerhin noch Lebensmittel im eigenen Lande. Wir würden es nicht ertragen. Wir haben kein Mehl mehr als das, das die Entente uns schickt. Wenn die Entente die Lebensmittelzüge einstellt, hätten wir kein Brot mehr. Die Ungarn raten uns, uns von Paris zu trennen, um uns mit Moskau zu verbünden; aber Moskau ist weit, die Sowjetarmeen stehen noch mehr als tausend Kilometer von uns, Polen und die Ukraine sperren uns jede Verbindung mit ihnen; wir sind an Paris gefesselt, weil nur Paris uns Brot geben kann.
Was täten wir, wenn die Entente uns kein Getreide, kein Mehl mehr schickt? Bei den Reichen requirieren? In Wien gibt es ungefähr 500.000 Haushaltungen, unter ihnen etwa ein Zehntel, also etwa 50.000 reiche. Nehmen wir an, daß jede reiche Famile für zehn Tage Mehl vorrätig habe. Wir könnten dieses Mehl requirieren. 50.000 Familien brauche für zehn Tage so viel wie 500.000 für einen Tag. Wenn wir also die gehamsterten Vorräte der Reichen beschlagnahmen, so hätten wir gerade so viel Mehl, als das Wiener Volk für einen Tag braucht. Und dann?
Wir könnten bei den Bauern requirieren. Aber Deutschösterreich ist ein Gebirgsland; im größten Teil des Alpenlandes wächst kein Getreide. Wir haben auch im Frieden nie von deutschösterreichischem, sondern von ungarischem, galizischem, mährischem Getreide gelebt. Was heute bei den schärfsten Requisitionen aus den Bauernhöfen noch herauszuholen wäre, würde nicht einmal für einige Wochen, wahrscheinlich nicht für vierzehn Tage reichen. Und dann?
Ungarn kann uns nichts geben; seine getreidereichen Gebiete – die Bacsa, das Banat, die Slovakei – sind von fremden Truppen besetzt. Oder sollen wir darauf rechnen, daß die Revolution auch nach Böhmen überschlagen wird, daß die Tschechen uns dann helfen werden? Nun, die Tschechen könnten uns Kohlen liefern, sie könnten uns vielleicht für ein paar Tage mit Kartoffeln versorgen, aber Getreide für uns hätten auch sie nicht! Oder sollen wir darauf bauen, daß die Revolution auch die Ententeländer erfassen, ihr Proletariat uns dann Getreide schicken wird? Aber wann wird das geschehen? Vielleicht nach Monaten, vielleicht in einem Jahre! Und wir haben nicht für zwei Wochen Vorräte!
So ist Deutschösterreich ganz auf die Zuschübe der Entente angewiesen. Durch den Hunger sind wir der Entente wehrloser ausgeliefert, als wir es durch eine Besatzungsarmee wären. Der Versuch, hier eine Rätediktatur aufzurichten, würde damit enden, daß wir in ein paar Tagen ganz ohne Brot wären, binnen kurzem durch die Hungersnot zur Kapitulation gezwungen würden. Darum keine Illusionen! Mit der Bourgeoisie des eigenen Landes fertig zu werden, wäre leicht; aber die Ententebourgeoisie hält uns in Fesseln, die wir nicht zu sprengen vermögen, und sie hält schützend die Hand über der heimischen Bourgeoisie!
Aber so wehrlos wir heute sind, wir brauchen darum nicht zu verzweifeln. Die Rätedikatur in Ungarn beweist trotz alledem, daß unsere Sache marschiert. Unaufhaltsam wälzt sich die Welle der sozialen Revolution vom Osten nach dem Westen. Die Stunde wird kommen, in der auch die Arbeiterklasse Englands und Amerikas, Frankreichs und Italiens die Fesseln sprengen wird! Der Ententebourgeoisie wehrlos unterworfen, sind wir heute noch ohnmächtig; aber wenn sich das Proletariat der Ententeländer selbst gegen seien Bourgeoisie erhebt, dann werden im Bunde mit ihm auch wir alle Fesseln brechen.
In: Arbeiter-Zeitung, 23.3.1919, S. 1.
Georg Fröschel: Lob des Spiels (1923)
Georg Fröschel: Lob des Spiels
An einem Ast im Tiergarten baumelte ein Erhängter. Als man die Leiche abgeschnitten hatte, fand man in den Taschen des Selbstmörders ein leeres Zigarettenetui aus Holz, ein Portefeuille mit einem Barbetrag von 17 Mark, ein reines, jedoch sehr zerschlissenes Taschentuch mit einer siebenzackigen Krone und einige beschriebene Blätter, die wir im folgenden wörtlich wiedergeben:
„Man tut dem Spiel unrecht. Es ist banal, das obligate Verdammungsurteil nachzuplappern. Von einem höheren Gesichtspunkte aus ist die Ansicht von der moralischen Verwerflichkeit des Spiels unhaltbar. Für den Bürger zum Beispiel ist das Spiel eigentlich die einzige Entschuldigung. Der Bürger lebt sonst dahin, an der Erde und am Geld klebend – schläft, ißt, arbeitet und zeugt Kinder. Er weiß nichts von den Dingen, die er nicht tasten kann, nie glüht er, nie wagt er sich über sich selbst hinaus. Nur wenn er spielt, tut er einen Blick in die andere Welt, in ihre unwürdigste und trübste Ecke vielleicht, aber doch in die Welt des Irrealen und Ungegenständlichen. Nur wenn er spielt, hat er eine Spur von Phantasie. Dann gibt es für ihn Dinge, die er sonst nicht kennt, Träume, Aufregungen, und Kämpfe, von denen sein plattes Leben sonst nichts weiß. Der Künstler, der spielt, tut unrecht, denn ihm ist die andere Welt auch ohne Karten und Würfel geöffnet, ihm winken bessere Göttinnen als Fortuna mit ihrem leeren Lächeln. Der Spießer aber, der spielt, ist doch reicher, als der Spießer, der die Karten verachtet. Er weiß mehr von sich und der Welt und sein enges Leben hat ein schmales Fenster ins Freie.
Auch der Staat als solcher dankt dem Spiel viel.
Das Spiel gab zum erstenmal die Regel, die über den Menschen steht, zwang sie, ihr Tun und Lassen einem höheren Prinzip unterzuordnen. Das Spiel schlug die erste Bresche in die Dispositionsfreiheit des Menschen und ist vielleicht deshalb die Keimzelle des Staates.
In den Urzeiten, da der Mensch noch ungesellschaftlich existierte und gleich dem Tier den Zusammenhang zwischen Zeugung und Geburt noch nicht begriffen hatte, lebte er ganz ohne Unterordnung unter fremden Willen, bloß eigenen Trieben und Wünschen folgend. Aber als der Urmensch zum erstenmal von der Jagd ermattet vor niedergehendem Gewitter in einer Höhle Schutz suchte und dort den anderen Menschen traf und sie dann, zu müde, um sich zu erschlagen, ihre Beute gemeinsam am Feuer breiten und der eine spielend den Hüftknochen des Elentieres in die Höhe warf, der mit der rauchgeschwärzten Seite nach oben liegen blieb und dann der andere dasselbe tat, und der Knochen die weiße Seite zeigte, und als dieses Tun allmählich zum bewussten Speil ward, und die fette Keule demjenigen als Preis ausgesetzt wurde, der das nächste Fallen des Knochens richtig voraussagte, da war nicht nur das Spiel, da war auch das Gesetz und mit ihm ein Wesentliches des Staates geschaffen.
Von einem außerhalb des menschlichen Willens sich ereignenden Geschehnis war menschliches Tun und Lassen abhängig geworden. Zum erstenmal duldete ein Mensch, der verlierende, etwas, wozu ihn nicht faktische Gewalt, sondern freiwillige Unterwerfung unter eine Konvention nötigte.
Bedeutsam ist es, daß diese sich dem Gesetz des Spieles Unterwerfen seinen stärksten Ausdruck bei den alten Germanen fand, die im Spiel auch die persönliche Freiheit einsetzten und auch diesen Preis, für den sie sonst bis zum letzten Blutstropfen kämpften, willig zahlten. Sie bewiesen schon damit ihre Sendung zur objektiven Staatsbildung und ihren Beruf zum Bürger, der dem über ihm schwebenden Gesetz willenlos untertan ist und über dem der Staat wie ein rocher de bronce, wie eine eherne und unerbittliche Gottheit errichtet werden sollte.
Der Staat schützt die Rechte des Spiels nicht durch die Gewalt seiner Exekutivorgane, aber das Spiel schützt sich selbst, indem es die Spielerehre schuf. Sie wird nicht hoch gewertet und doch ist sie die einzige Form der Ehre, die im Laufe der Menschheitsgeschichte keine Änderung erfahren hat.
Alle anderen Ehrbegriffe haben den Kreislauf von ehrlos zu ehrwürdig wiederholt durchlaufen. Die Geschlechtslehre hat sich in der Entwicklung der Jahrtausende ihrem Inhalt nach ebenso geändert wie die Standesehre, wie die Auffassung vom Eigentum und vom Staat. Nur die Spielerehre ist die gleiche geblieben. Einer materialistischen Auffassung der Ethik sollte dies ernstlich zu denken geben. Wenn die Skeptiker alle Argumente für sich haben, die sagen, daß der Mensch das Gute nur tue und das Schlechte nur unterlasse, wenn äußere Gewaltmittel ihn hindern oder abschrecken, seinen Trieben nachzugeben, wenn behauptet wird, daß die Moral im ganzen bloß der Ausdruck der bestehenden Machtverhältnisse sei, so bleibt dem Idealisten schließlich nichts als das verachtete Spiel zum Beweise der menschlichen Güte.
Im Spiel allein bewies und beweist der Mensch seine Achtung vor dem frei geschlossenen Übereinkommen, vor der Abmachung auf Treu und Glauben, die durch keinen Polizisten geschützt werden muß. Im Spiel allein beugt sich und opfert der Mensch freiwillig einem höheren Prinzip, ehrt den Vertrag und damit sich selbst.
Ich habe die Gesetze des Spieles bis zum Ende erfüllt.“
Der Polizei gelang es nach einiger Zeit, die Leiche des Selbstmörders zu identifizieren. Es war Tiburce Freiherr von Hollenbach-Verault, der das ungeheure Vermögen, das er von seinem Vater ererbt, völlig im Spiel verloren hatte. Seine Gattin, Marie Yvonne, geborene Gräfin Chaloniakowska, war bereits ein paar Jahre früher in öffentlicher Armenpflege gestorben, sein Sohn Horace hatte Dienste in der Fremdenlegion genommen, seine Tochter Eugenie galt als eine der reizvollen Kokotten in der internationalen Lebewelt.
In: Der Tag, 13.4.1923, S. 4.
Hermann Bahr: Tagebuch: Dada-Almanach (1920)
Hermann Bahrgeb. am 19.7.1863 in Linz – gest. am 15.1.1934 in München; Schriftsteller, Kritiker, Redakteur Der Sohn eines No...: Tagebuch: Dada-Almanach
7. Oktober. „Dada-Almanach“, im Auftrag des Zentralamtes der deutschen Dada-Bewegung, herausgegeben von Richard Huelsenbeck (Erich Reiß Verlag Berlin). Darob so großes Entsetzen aller Seriösen, daß sogar dem Verleger selber bange wird und er eilends gelobt, es nicht wieder zu tun und bei diesem einen Anfall von DadaismusÜber den Dadaismus und seine Rezeption durch bzw. Bedeutung für den zeitgenössischen österreichischen Literatur- und... bewenden zu lassen. Warum der Lärm? Ich sehe nicht, weshalb der Dadaismus schlechter sein und weniger Rechte haben soll als irgendein anderer unserer zahllosen Ismen. Er ist nur konsequenter und hat den Mut, bis ans Ende zu gehen, ans Ende der autonomen Vernunft! Wenn Huelsenbeck in seiner Einleitung zu diesem Almanach Dada „die große Parallelerscheinung zu den relativistischen Philosophen dieser Zeit“ nennt und erklärt, Dada sei „kein Axiom, sondern ein Geisteszustand“, Dada sei „der direkteste und lebendigste Ausdruck seiner Zeit“, so spricht er damit ohne jede Renommage ganz einfach die WahrheitBereits 1895 vom Kantor der sephardischen Gemeinde in Wien, Jakob Bauer, vor dem Hintergrund des anwachsenden Antisemiti... aus. Mir ist ja verwehrt, Dadaist zu werden, weil ich, mich von dieser Zeit abwendend, ein Finsterling geworden bin, weil ich glaube. Wer aber nicht an ein ewiges, übermenschliches, übernatürliches Reich des Wahren, Guten, Schönen glaubt, wer nicht an den lebendigen Gott glaubt, sondern höchstens allenfalls an einen aus menschlicher Vernunft geschnitzten, wer nicht an Vater, Schöpfer Himmels und der Erde glaubt, sondern Himmel und Erde vom Menschengeist erschaffen sein läßt, der ist absurd, wenn er die Notwendigkeit, Dadaist zu werden, verkennt; denn der Dadaist erst hat das Jenseits von Gut und Böse völlig erreicht. „Dada“, fährt Huelsenbeck in seinen Proklamationen fort, „läßt sich nicht durch ein System rechtfertigen, das mit einem „Du sollst“ an die Menschen heranträte. Dada ruht in sich und handelt aus sich, so wie die Sonne handelt, wenn sie am Himmel aufsteigt, oder wie wenn ein Baum wächst. Der Baum wächst, ohne wachsen zu wollen. Dada schiebt seinen Handlungen keine Motive unter, die ein Ziel verfolgen… Dada hat das Reich der Erfindungen entdeckt, von dem Friedrich Nietzsche spricht, er hat sich zum Parodisten der Weltgeschichte und zum Hanswurst gemacht.
Das ist ja wirklich das einzige, was dem Menschen übrig bleibt, sobald er sich von allem Sollen frei, sobald er seine Vernunft souverän erkärt. „Der Dadaist“, sagt Huelsenbeck, „ist der freieste Mensch der Erde. Ideologe ist der Mensch, der auf den Schwindel hereinfällt, den ihm sein eigener Intellekt vormacht, eine Idee, also das Symbol einer augenblicksapperzipierten Wirklichkeit habe absolute Realität.“ Durch den Dadaisten ist also zum erstenmal das finstere Mittelalter wirklich überwunden, die Gegensätze stehen einander nun rein gegenüber, Aug in Aug und jedermann kann wählen, ob er Finsterling oder Dadaist sein will; die feigen Kompromisse sind unmöglich geworden. Wer A sagt, muß auch B sagen: wer autonome Vernunft sagt, muß auch Dada sagen. Die Finsternis des Mittelalters bestand ja nämlich darin, daß es die Vernunft nicht herrschen ließ, sondern dienen, der Wahrheit dienen. Indem sich die Vernunft allmählich diesem Dienst entzog, um einem Knecht der Wahrheit ihr Herr zu werden, anerkennend, sondern fortan nach eigener Willkür dekretierend, was wahr, was schön, was gut sein soll, war es schon eigentlich nur noch ein Atavismus, überhaupt noch eine für alle gültige, für alle verbindliche Wahrheit anzunehmen und bald schaffte sich auch jedermann seine private zum eigenen Hausgebrauch selber an. Aber auch darin blieb noch ein atavistischer Rest: es gibt nämlich durchaus keinen Grund, warum diese von mir nur für mich allen zum eigenen Gebrauch angelegte Wahrheit deshalb nun irgendwie mich selber binden soll: ich kann sie doch jeden Augenblick mit einer neuen nach Belieben vertauschen, was auch viel amüsanter ist. Wenn Weltanschauung nicht Anschauung einer von mir unabhängigen Welt, nicht der Reflex eines Objekts in meinem Subjekt, nicht meine Relation zum Absoluten ist, wenn ungewiß ist, ob es eine solche Welt an sich ohne mich überhaupt gibt, wenn die Welt nur ein Geschöpf meines Intellekts ist, warum soll mein schöpferischer Intellekt sich dann mit einem einzigen Schöpfungsakt begnügen? Warum so faul? Warum nur einmal schaffen? Wenn sie bloß von meinem Intellekt ausgeschwitzt wird, warum dann nur ein einziges Exsudat? Und Dada tut aber auch noch den letzten großen Schritt, indem es den Intellekt zur Selbstbesinnung bringt: der Intellekt fällt jetzt auf den Schwindel, den er sich vormacht, selber nicht mehr herein! Damit ist die höchste Leistung der souveränen Vernunft erreicht, das Ende. Die Denkmöglichkeiten sind erschöpft, aller Dunst ist weggeblasen, ganz rein liegen die beiden Pole bloß: Plato und Dada stehen einander gegenüber und jedermann mag wählen. Der Selbstbetrug, gottlos und zugleich aber auch, als ob vielleicht doch Gott oder etwas Gottähnliches wäre, zu leben, ist unmöglich geworden. Und den braven Leuten, die sich vor dem Dadaismus entsetzt bekreuzigen, bliebe nichts anderes übrig, als damit wirklich Ernst, wirklich das Kreuz zu machen. Vernunft, vom Kreuz befreit, landet bei Dada…
In: Neues Wiener Journal, 31. 10. 1920, S. 6.
Grete Urbanitzky: Berichte aus der Wirklichkeit (1927)
Grete Urbanitzkygeb. am 9.7.1891 in Linz – gest. am 4.11.1974 in Thonex (Schweiz); Schriftstellerin, Redakteurin, Literaturagentin Das...: Berichte aus der Wirklichkeit
Reportage, eine in Frankreich und Amerika längst anerkannte Kunstgattung, beginnt nun auch bei uns, besonders seit den Bemühungen von Egon Erwin Kisch, ernst genommen zu werden. Man lernt die schwindelhaft aufgemachten Sensationsberichte gewisser Blätter von den Berichten aus der Wirklichkeit zu unterscheiden, die die Erzeugnisse verantwortungsbewußter Journalisten und Schriftsteller sind und dem denkenden Zeitgenossen das wirkliche Leben der Gegenwart in packenden Bildern nahebringen. Darum ist das neue Unternehmen des Verlags „Die Schmiede“, Berlin, sehr zu begrüßen, eine Reihe unter dem Titel „Berichte aus der Wirklichkeit“ herauszubringen. Selbstverständlich ist Egon Erwin Kischgeb. am 29.4.1885 in Prag – gest. am 31.3.1948 in Prag; Journalist, Schriftsteller K., Sohn eines jüdischen Tuch... in dieser Sammlung vertreten, der in seinem „Kriminalistischen Reisebuch“ eine Schilderung der Verbrechen aller Zeiten und Länder gibt, die von ihrem Verfasser an ihren Schauplätzen aufgesucht und aufgeklärt wurden. Der Leser erhält durch dieses Buch unmittelbaren Einblick in die romantische und doch sachliche Arbeit des Reporters großen Stils.
Erschütternd wirkt die von Hans Siemsen herausgegebene Briefreihe „Verbotene Liebe“ – Briefe eines Homosexuellen. Das Wesentliche an diesem Buche, dem Hans Siemsen ein ausgezeichnetes Nachwort über das Problem an sich gibt, ist, daß es den Homosexuellen nicht als einen anderen Menschen zeichnet, sondern erkennen läßt, daß auch diese Liebe dieselben Verwicklungen, dieselbe Tragik und die gleiche Naivität kennt, wie die sogenannte normale. Wüßte man nicht, daß diese Briefe von einem Homosexuellen geschrieben sind, so könnte man das Schicksal dieses Knaben, der unter die Räder eines nur allzu gewöhnlichen Liebesschicksals gerät, als das eines jungen Mädchens ansehen. Leo Laniaeigentl. Hermann Lazar, geb. am 13.8.1896 in Charkow - gest. am 9.11. 1961 in München; Journalist, Schriftsteller ... schildert in „Indeta“ – Die Fabrik der Nachrichten“ ein großes Korrespondenzbureau. Obwohl sich hinter der Indeta keine bestimmte Telegraphenagentur verbirgt, wirft das Buch dennoch scharfe Schlaglichter auf das Wesen und die Organisation des modernen Nachrichtendienstes überhaupt.
Der französische Dichter Pierre Mac Orlan erzählt in dem Bändchen „Alkoholschmuggler“ von der großzügigen Organisation der Steuerhinterziehung um billigen, für Fabrikationszwecke freigegebenen Spiritus als teuren Alkohol in den Handel zu bringen. Das Buch gewährt einen Einblick in die sehr interessante Welt großzügiger Schiebungen. Als schwächstes Bändchen erscheint mir Eduard Trautners „Gott, Gegenwart und Kokain“, das eine Reihe von Menschen zeichnen will, die dem Giftgenuß verfallen sind und an ihm zugrundegehen. Die Darstellung dringt nicht zum Wesentlichen vor, sondern gibt lediglich Phantasien über das Thema. Wenn aber alle Bändchen der Reihe schwächer wären, so wäre die Berechtigung eines derartigen Versuches, Berichte aus der Wirklichkeit zu geben, allein durch eines aus der Sammlung erwiesen, durch das wundervolle Buch Joseph Roths „Juden auf Wanderschaft“. Wie der Verfasser ausdrücklich betont, wendet es sich nicht „an jene Westeuropäer, die aus der Tatsache, daß sie bei Lift und Wasserklosetts aufgewachsen sind, das Recht ableiten, über rumänische Läuse, galizische Wanzen, russische Flöhe schlechte Witze hervorbringen“. Der Verfasser wendet sich an jene Leser, „vor denen man die Ostjuden nicht zu verteidigen braucht; Leser, die Achtung haben vor Schmerz, menschlicher Größe und vor dem Schmutz, der überall das Leid begleitet: Westeuropäer, die auf ihre sauberen Matratzen nicht stolz sind, die fühlen, daß sie vom Osten viel zu empfangen hätten, und die vielleicht wissen, daß aus Galizien, Rußland, Litauen, Rumänien große Menschen und große Ideen kommen“. Der Westeuropäer pflegt über Bericht über die Wesenheit der Ostjuden mit einem Achselzucken hinwegzugehen, der Ostjude ist für ihn „entdeckt“, und ahnt nicht, welche geheimnisvolle Welt in seiner Nähe ihm noch völlig unerschlossen ist. Was Joseph Roth von der Sehnsucht des Ostjuden nach dem Westen erzählt, von den jüdischen, kleinen Städtchen, von dem Leben der Ostjuden in ihrer Heimat, von den Chassidims, den orthodoxen Juden, die die praktische Idee des Zionismus nicht verstehen können, das rührt tief an unser Herz und enthüllt uns eine fast unbekannte, geheimnisvolle Welt. Besonders interessant ist, was Joseph Roth über die westlichen Ghettos zu erzählen hat, über das Schicksal der Juden in Berlin, Paris, Amsterdam, Marseilles, in Amerika, in Sowjetrußland. Ein bitteres Wort steht in diesem Buche, das Wien nicht zur Ehre gereicht: „Es ist furchtbar schwer, ein Ostjude zu sein; es gibt kein schwereres Los als das eines fremden Ostjuden in Wien.“ Voll Hoffnung blickt der Verfasser nach Sowjetrußland, wo die Judenfrage gesetzlich gelöst wurde: „Jeder muß achtungsvoll zusehen, wie ein Volk befreit wird von der Schmach zu leiden, und ein anderes von der Schmach, zu mißhandeln“.
Es sei noch bemerkt, daß der Verlag „Die Schmiede“ die Pappbändchen seiner Serie mit dem billigen Preis von 1.80 Mark in den Buchhandel bringt.
In: Der Tag, 8.7. 1927, S. 10.
Egon Dietrichstein: Bei der Roten Garde (1918)
e.d. [Egon Dietrichstein]: Bei der Roten GardeDie R. G. war eine in Anlehnung an die bewaffneten bolschewistischen Arbeiterverbände der russischen Oktoberrevolution ...
In der Stiftskaserne.
Im Hofe der Stiftskaserne ist eine Grabschrift der altösterreichischen Tradition erhalten, eine Marmortafel, in die mit Goldlettern folgende Inschrift eingraviert ist: „Kriegs Pflanz Schul aus allerhöchsten Gnaden Ihrer kaiserlichen und königlichen Majestäten Francisci und Maria Theresiae für Adelige der Erblandesjugend Offizieren und Söhne zu den künftigen Kriegsdiensten unter der General-Oberdirektion Seiner Excellenz Herrn Feldmarschall Leopold Grafen von und zu Daun errichtet 1754.“ Es wird nichts übrig bleiben, als dies stolze Dokument der franciscischen Zeit zur ewigen Ruhe auf den Friedhof des Heeresmuseums zu überführen, wo der Herr Feldmarschall Graf von und zu Daunsich neben den Handschuhen und der Perücke seines Kriegskollegen Radetzky behaglich fühlen wird als gegenwärtig im Hof der Stiftskaserne. Denn vor der alten Erziehungsanstalt für Adelige der Erblandjugend stehen die roten Gardisten vergattert. Und keine Erinnerung ist hier unzeitgemäßer als jene an die Fürsorge der Kaiserin um einen standesgemäßen militärischen Nachwuchs. Denn die Rote Garde erkennt nicht einmal einen dienstführenden Feldwebel als Gott an, ein Hauptmann ist ihr nicht mehr als ein Zugführer und ein Zugführer so viel wie ein Rekrut. Sie hat die Autorität der Sterne, Abzeichen und Litzen, der goldenen und silbernen Auszeichnungen abgeschafft und der Herr Feldmarschall Graf Leopold von und zu Daun müßte seine Menageschale höchstpersönlich tragen…
Die Rote Garde ist gegenwärtig etwa 4000 Mann stark und man begreift, daß ihr freiheitliches Programm Zulauf hat. Der Werbetrommel folgen Männer jeden Alters, aller sozialen Kreise und Stände, Proletarier und selbst Adelige. Ein Graf Lamezan (alter österreichischer Beamtenadel) ist in ihre Reihen getreten. Die Lamezans, die in den Ministerien und Kanzleien als Hofräte rechtschaffen Akten verwalteten, wären, hätten sie den mißratenen Enkel geahnt, aus Gram und Kummer dreißig Jahre früher in Pension gegangen. Sogar ein leibhaftiger Fürst, dessen Rang der Gotha nachweist, wollte – hört, hört – Gardist werden und wurde abgelehnt, weil seine wenig demokratische Vergangenheit bekannt war. Man wußte, daß er, als er noch mit Durchlaucht angesprochen wurde, dieses Vorrecht zu Schikanen der Mannschaft mißbrauchte. So wird es den Adeligen der Erblandsjugend schwer gemacht, den Anschluß an die neue Zeit zu finden und sich von den traditionellen Geburtsfehlern zu befreien. Es wird doch nichts übrig bleiben, als die – Kriegs-Pflanz-Schul.
Das sind die roten Gardisten, ihr Hauptmann ist der romantische Oberleutnant Egon Erwin Kisch… Er ist nun mit derselben Begeisterung, mit demselben agilen Temperament, mit dem er seinen Roman und die Aufsätze für Zeitungen schrieb, bei der Führung der Roten Garde. Er hat das tintenklecksende Säkulum satt und will diese neue Zeit nicht nur als Zuschauer miterleben, sondern mitagieren. Und die ersten Taten des jungen Gardekommandanten und Werbeoffiziers der Volkswehr sind wirklich sehr vielversprechend: Er hat ein Lebensmittelmagazin in der Kaserne ausgehoben und dem Amt für Volksernährung zur Verfügung gestellt, Plünderungen auf dem Matzleinsdorfer Bahnhof verhütet, vier Bataillone formiert, die Akten des Kriegsarchivs vor brutalen Eingriffen bewahrt. Der Prager Dichter hat ein ganz unlyrisches Organisationstalent gezeigt und die Rote Garde, die so leicht in den Ruf einer Truppe von Desperados und Abenteurern geraten könnte, zu einem disziplinierten Körper ausgestaltet, der nicht vergessen hat, daß Ruhe und Ordnung die ersten Pflichten des Bürgers sind. Und die Pflichten der Roten Garde, sie zu erhalten… Oberleutnant Kisch wird in seinem anstrengenden Dienst von Herrn Rothziegel, dessen rote politische Überzeugungen öfter mit den Gesetzesparagraphen in Widerspruch gerieten, unterstützt.
Noch ein roter Soldat hat sich aus der Masse der Namenlosen erhoben: Korporal Haller, ein etwa 24jähriger Student aus Bielitz, sozialistisch-radikal, revolutionär, lockenköpfig. Bei der Versammlung im Dreher-Saal hat er zuerst das Wort von der „Roten Garde“ in die Masse gerufen, vor dem Deutschmeisterdenkmal und dem Parlament mitdemonstriert, dann ist er spurlos verschwunden. Unter etwas legendären Umständen: Man sagt, er sei in der Universität angehalten und um seine Legitimation befragt worden. Als er sich nicht ausweisen konnte, habe man ihn in ein Automobil gesetzt und zum Nordbahnhof expediert, von wo er nicht wiederkehrte. Dieses Ende einer kurzen Gardistenkarriere ist romantischer als ihre Figur…
Im Hofe der Stiftskaserne steht die neue Garde. In einer Zeit, in der sich die alten Garden, die nicht zum Kampfe, sondern zur Repräsentation berufen waren, dem neuen prunklosen Regime ergeben mußten, die einzigen Gardisten Österreichs. Sie bewachen keine aus Babenbergerzeit gesammelten Kostbarkeiten, sondern die idealen Güter, welche dieser junge Staat bereits geboren hat… Das sind die Roten Gardisten, ihr Hauptmann ist Oberleutnant Kisch… Wenn Teufel zu Gegnern sie hätten, ihr Herz fällt nicht in die Schuh.
In: Neues Wiener Journal, 12.11.1918, S. 5.
Richard Kralik: Unsere Kunststelle (1920)
Richard Kralikgeb. am 1.10.1852 in Eleonorenhain (Böhmerwald) - gest. am 4.2.1934 in Wien; Schriftsteller, Historiker, Publizist,&nbs...: Unsere Kunststelle
Es ist eine für das katholische Leben eminent wichtige Angelegenheit, die wir in ihrer vollen Bedeutsamkeit zu würdigen haben. Unter der Leitung von Hans Brecka, den unsere Leser als Kritiker, Dramaturgen und Dichter („Stiftegger“) sehr wohl kennen, wirkt seit März dieses Jahres die „Kunststelle für christliche Volksbildung“, hervorgegangen aus der bewährten Organisation des „Katholischen Volksbundes“, unterstützt von der Gemeinde Wien, im Zusammenhang mit unseren politischen und Berufsorganisationen, gefördert von so großen Vereinen wie dem herrlichen Sängerbund „Dreizehnlinden“ und von manchen begeisterungsvollen Mitarbeitern. In der kurzen Zeit der ihrer Wirksamkeit hat die „Kunststelle“ bereits Unglaubliches geleistet an Zahl und Gehalt der Aufführungen in größerem wie in kleinerem Rahmen. Klassische Dramen und Opern wurden in unseren ersten Theatern geboten, neuere Dichter kamen zur Geltung. Das katholische Kunstleben wurde so in einer bisher nicht gewöhnlichen Weise berücksichtigt, so bei den „Meisteraufführungen Wiener Musik“.
Das christliche Publikum hat damit die ihm gemäße Kunst dargeboten erhalten. Es zeigt sich auch dafür dankbar, es strömt zu den billigen Aufführungen hinzu. Es ist aber auch die Pflicht der christlichen Intelligenz, besonders der Politik, die große Bedeutung der Sache zu würdigen, sich dieser glücklichen Entwicklung dankbar bewußt zu werden und sie auf jede Weise zu fördern.
Es ist staunenswert, was da bereits geleistet wurde. Aus den Programmen von März bis Oktober, die 23 Veranstaltungen aufweisen, hebe ich hervor: Balladen und andere Rezitationen, Mozarts Requiem, Nestroys klassische Komödien, Kammermusik, Volkslieder zur Laute, Haydns „Schöpfung“, Orgelkonzert Springer, Kunstwanderung nach Klosterneuburg mit Orgelkonzert Goller, Veronika, „Die Kinderbergstadt“ von Rienößl, „Aus der Biedermeierzeit“, Beethovens „Fidelio“, „Aus Alt-Wien“, „Der Wafffenschmied“, „Das alte Spiel von Dr. Faust“, „Wilhelm Tell“, „Der Ackermann und der Tod“. Andere bedeutende Veranstaltungen sind für die Wintermonate vorbereitet.
Die Arbeitslast dieser großen Serie ist ungeheuer. Es ist schier unglaublich, daß ein einzelner Mann wie der bewährte Leiter der Kunststelle sie bewältigen kann. Denn nur der Eingeweihte in dies Kunstleben weiß, welche neuen Mühen bei jeder neuen Veranstaltung immer wieder erwachsen, vom Drucklegen der Programme und Karten an bis zur künstlerischen Vollendung. Aber nach meiner eigenen früheren Erfahrung in diesen Dingen ist derlei wirklich nur ausführbar, wenn sich ein Mann wie Brecka findet, der alles unter eigener Verantwortlichkeit beherrscht, der auf sich selber in allen Einzelfragen zählen kann, der die Kenntnisse, die allseitige Befähigung, die vielseitigen Beziehungen zu Künstlern, Vereinen, Instituten hat, der als erprobter Mann deren volles Vertrauen besitzt.
Man sagt so oft irrigerweise, daß wir keine Männer haben. Ich bin diesem Irrtum wiederholt auf jedem Gebiet entgegengetreten. Wir haben die Politiker, die wir brauchen, wir haben die Dichter, Künstler, Aesthetiker, Männer der Wissenschaft, wir haben die Organisatoren jeder Art. Wir müssen sie nur an ihrer richtigen Stelle einschätzen, uns dessen bewußt werden, was wir alles besitzen, um so unsere christliche Kultur zu jener Bedeutung in Gesellschaft und Staat zu bringen, die ihr von Rechts wegen gebührt.
In: Reichspost, 4.11.1920, S. 1.