Stefan Großmann: Sprung nach Wien
Nachdem man einen Tag im Eisenbahnwagen verbracht hat, wird man in Passau aus dem Kupee getrieben, die ganze Herde der Reisenden muß auf der Treppe der Überquerung des Bahnhofs eine Stunde lang, mit Koffern und Taschen, frierend hocken. Oben wird der Stall durch eine Kette abgesperrt, die ein Schutzmann von Zeit zu Zeit öffnet. Dann darf eine kleine Bande hurtig ins Zimmer der Zollbeamten laufen, um sich abtasten zu lassen. Es ist die kläglichste Mißhandlung durch den Staat, die man sich denken kann. Täglich lassen sich dreihundert Leute diese Malträtierung gefallen. Es ist nicht angenehm, von der bayrischen Seite den Anschluß an die österreichische zu finden, es ist die menschenunwürdigste Art des Anschlusses, die man sich vorstellen kann. Aber was läßt sich der Deutsche nicht alles vom Staate gefallen? Nur wird im stillen ein theoretisches Aufblitzen von Staatsfreudigkeit durch so rohe Methoden des Herdenbesitzers Staat zerstört.
Aber am Nachmittag ist man in Wien und alle Schmach ist vergessen.
Billardspieler.
Sonntag vormittags bummelte ich durch sie Alserstraße. Regnerischer Tag. Die Kaffeehäuser schon jetzt vor dem Mittagessen überfüllt. Und in jeder größeren Straße zehn, zwölf Kaffeehäuser. Überall Leute, die Zeit haben, zu lesen, zu rauchen, Bilder anzusehen, zu plauschen. Hier wird noch Billard gespielt. In Berlin gibt es nur mehr ein einziges Café, in dem Billards stehen, Kerkau in der Friedrichstraße, aber das Billardspiel artet dort gleich in ein Turnier aus. Hier ist in jedem Café ein Billardsaal und erwachsene Menschen vertreiben sich viele Stunden damit, einen langen Stab in der Hand zu halten, ihn mit bläulicher Kreide an der Spitze einzusalben, sich über das Spielbrett zu beugen, auf ein paar weiße und rote Kugeln zu zielen und endlich loszustoßen. Wie viel Rast und Ruhe der Seele gehört zu diesem Spielgleichmut. Das ist ein Spiel ohne aufregenden Gewinn, ein Spiel ohne sportliche Leidenschaft, ein Spiel ohne nagende Berechnung, mit einem Wort: Nichts als ein Spiel. Nur sehr gelassene, nicht von Zwecken gehetzte Menschen sind solcher gleichmütigen Betätigung fähig. Man sollte auch in Berlin Billard spielen. Es wäre besessenen Menschen Medizin. Aber um es einzuführen, müßte die Polizei Billardzwang einführen, oder Ullstein müßte ein Sechstage-Billardspiel arrangieren. Daß erwachsene Menschen freiwillig stundenlang mit einem Stab dastehen, ihn einsalben, Kugel zu Kugel stoßen, dem Partner aufmerksam zusehen, über jeden Stoß Aufzeichnungen an der schwarzen Tafel machen, den Stab wieder bekreiden, wieder zu zielen, stoßen… eine besessene Berliner Betriebsseele wäre dazu nicht imstande.
Breitbartspiel.
Die Erwachsenen in Wien haben sich seit Monaten nur mehr mit Breitbart beschäftigt. Das ist ein junger galizischer Schlosser von ungeheurer Kraft. Er zerdrückt schwerste Eisenketten mit den Zähnen, zerdrückt Hufeisen in der Hand, trägt auf dem eisernen Brustkasten ein Auto mit Menschen.
Ich komme zu Freunden. Im Kinderzimmer heilige Stille. Was ist denn los? Warum schreien die Bälger nicht? Besorgt treten wir ein. Da liegt die fünfjährige Erica auf dem Boden. Auf ihrer Brust das Reißbrett des großen Bruders. Und auf dem Reißbrett stehen, eng beieinander, das achtjährige Brüderchen, der neunjährige Freund des Bruders und die dreijährige Schwester. Im ersten Augenblick fahre ich entsetzt zurück, aber mein Freund, der Vater der Bande, lächelt: „Es sieht nur bedrohlich aus. Die Kinder haben das oft erprobt. Erica spielt Breitbart.“
Aussichten.
In einer Zeitung veröffentlicht der frühere Bundeskanzler Schober, der jetzt Polizeipräsident von Wien ist, eine Erklärung, worin er die Nachricht, daß er Bankpräsident werden soll, entschieden berichtigt. „Wenn ich einmal zurücktrete, so gedenke ich mich wissenschaftlichen Arbeiten zuzuwenden. Ich werde, da ich kein Vermögen besitze und – mein Ruhegehalt zum Lebensunterhalt nicht ausreicht, wahrscheinlich auch schriftstellerisch tätig sein.“ Wie spartanisch, wie edel in der Armut. Krieger, die invalid wurden, betätigen sich als Werkelmänner. Ministerpräsidenten, die in Pension gehen, werden Schriftsteller. Dazu langt’s immer noch.
Auslagefenster.
Von allen Auslagenfenstern die schönsten sind immer die der Blumenläden. Ich stehe vor einem Geschäft in der ….gasse. Rosen, Flieder, Alpenschneeglöckchen, Zyklamen, blühende Weidenäste. An den Wänden hängen kleine Holzschnitte und Photographien sehr schöner Frauen. Ich weiß nicht, ob es wirklich so viel mehr schöne Frauen in Wien gibt als anderswo, jedenfalls gibt es hier sehr viel mehr schöne Photographien sehr schöner Frauen. Und es ist reizend, diese Bilder unter den blühenden Zweigen aufzuhängen. Unter dem Holzschnitt ist mit einem Reißnagel ein kleiner Zettel befestigt: „Verkäuflich.“ Er ist ein bißchen unordentlich angebracht. Unzweifelhaft gilt der Zettel nur dem Holzschnitt. Aber die Hälfte des Zettels reicht zum Damenporträt hinüber. Nun, es ist jedenfalls ein verlockendes Auslagenfenster.
Hofapotheke.
Sonntag nachmittag. Ausgestorbene Straße in der Inneren Stadt. Alle Läden geschlossen. Ich wollte doch abends meinen Freunden ein paar Flaschen Wein mitbringen. Zum Glück ist die Hofapotheke, gleich neben der alten Burg, offen. Ich trete in die hochgewölbten Hallen des alten Gebäudes. Sauberkeit, Geordnetheit, Spiegelblankheit der idealen Apotheke. Eine reizende, ebenfalls blinkende Dame fragt mich nach meinem Begehr. Ich verlangte drei Flaschen Muskateller. Ein Blick fliegt zu dem großen Glaskasten, in welchem der herrlichste alte Tokayer, wunderbarer alter Cognac, die reifsten ungarischen Weine ausgestellt sind: „Wählen Sie.“
Während die Flaschen aus dem Keller gebracht werden, kann ich mich nicht enthalten, zu sagen: „Wie schön, daß Sie auch diese Heilmittel führen.“
Die junge Dame erwiderte: „Man kuriert sich nicht nur mit Medizinen.“ Dazu ein sehr taktvolle, sehr liebenswürdiges, halbernstes Blick-Lächeln. Ich bin versucht zu sagen: „Auch ein freundlicher Blick kann heilen“, aber ich verschluck es. Man soll nicht alles zu Wort machen.
Hofschauspielerin a. G.
Nachts beim „Wiesenthal“. Das ist eine Art Heuriger für die Leopoldstadt. Nicht in Grinzig, sondern in der Nothgasse. Nicht unter freiem Himmel, sondern unter der Erde, ein Kellertheater. Es wird gesungen, Klavier gespielt. Lozzelachs werden erzählt. Der Chef ist Herr Wiesenthal, der mit der berühmten Grete keine Ähnlichkeit hat. Er ist etwas beleibter als Grete Wiesenthal, will aber auch nicht durch pagenhafte Schlankheit verführen. Er stammt nicht aus der Tänzerfamilie, eher aus der Familie Pallenberg, von dem er den aggressiven, deutlich höhnenden, den Hohn parodierenden Befehlston hat: He, Bürger! Wer hat vor Pallenberg gewagt He! zu krähen? Nun, Herr Wiesenthal ist ein wohlbeleibter Mann, der die Zuschauer beschmust. Vor und nach jeder Nummer erscheint er und wickelt die Zuschauer durch Anekdoten, Kalauer, vertrauliche Anreden ein. Er redet urwienerisch mit einem drolligen Einschlag jüdischen Jargons. Ein Fiaker, der seinen Standpunkt in der Tempelgasse hat. Es ist nur in der Ordnung, daß sein Lokal an der Grenze des Judenviertels steht, dort, wo der Leopoldstädter sich wienerisch zu assimilieren beginnt.
In diesem unterirdischen Lokal tritt die berühmte Hofschauspielerin auf. Ich habe sie vor x-zig Jahren gesehen, damals kam sie gerade mit Kainz von einer russischen Reise zurück, die Hermann Bahrgeb. am 19.7.1863 in Linz – gest. am 15.1.1934 in München; Schriftsteller, Kritiker, Redakteur Der Sohn eines No... brillant beschrieben hat. Kaum zu schildern, wie jung und sprühend und schlank sie damals war. Jetzt tritt sie, von ehrfürchtigem Beifall umrauscht, um ein halb ein Uhr nachts auf die Pawlatschen, in schwarzem Spitzenkleid, heroischen Schrittes, das Haupt gen Himmel gerichtet, als müßte sie das Rauchtheaterpublikum übersehen, die Bewegungen der Arme tragisch-medeenhaft und die Stimme, diese sorgsam silbenrettende, langsam akzentuierende Stimme trägt ein vaterländisches Gedicht vor: Eine Palme wächst zu hoch. Die Palme ist Deutschland. Der Gärtner ist Gott. Es ist reinstes BurgtheaterMaterialien und Quellen: Johannes Sachslehner: Ein Mythos wird angeschlossen. Zur Machtübernahme der Nazis im Burgtheat... von heute. Die Verse Franz Nissels würdig, die Sprachkunst edelster Höbling, die Gesinnung würdigster Bodenstedt. Und das Publikum, das eben noch Wiesenthals Anekdoten belacht hat, klatscht begeistert in die Hände. Ja, das ist unser schönes altes Burgtheater. Dann singt die Hofschauspielerin zwei Niggerlieder. Ihre blanken Zähne glitzern, die dunklen Augen funkeln, die medeenhaften Armbewegungen verschwinden. Einen Moment muß ich an die sprühende schlanke Dame denken, die vor x-zig Jahren aus Rußland zurückgekommen ist. Es gibt ein Feuer, das nie erlischt. Vorausgesetzt, daß es einmal da war.
In: Der Tag, 22.3.1923, S. 3.
W [Victor Wittner?]: Valuta und Prostitution
W [Victor Wittner? ]: Valuta und Prostitution. (1920)
Wer mit Sorge in die Zukunft unseres Vaterlandes blickt, den mag die wirtschaftliche Not, die auf uns lastet, fast noch weniger beängstigen als der sittliche Niedergang der Wiener Gesellschaft, der sich mit trauriger Offenkundigkeit vollzieht. Die Angehörigen der Wiener Mittelschichten wissen insgesamt, daß sie nicht leben können – und sie leben dennoch. Sie wissen, dass sie selbst und ihre Nachbarn und ihr ganzer Bekanntenkreis von dem bürgerlichen Einkommen, das sie haben, schlechterdings nicht die notwendigsten Bedürfnisse bestreiten können und dennoch geht man gleichmütig aneinander vorbei, begrüßt sich, seufzt ein wenig über die schlechte Zeit, ist aber noch leidlich anständig gekleidet und ist, statt nach allen Gesetzen der Logik zu verhungern, bisher auf rätselhafte Weise am Leben geblieben. Jeder ist für seinen Nachbarn ein Rätsel: Wie existiert der Mensch mit seiner Familie? Und jeder betrügt den Nachbar und umgekehrt. Sie betrügen einander mit geputzten, frisch aufgebügelten, gewendeten Kleidern, mit übermäßig gebürsteten Hüten, mit Stiefeln, die so geflickt und gewichst sind, daß „man es nicht merkt“. Es soll der Eindruck erweckt werden, daß man’s noch aushält, daß man noch Reserven hat. Ein namhafter Teil des Wiener Bürgertums – und nicht der schlechteste – sucht auf diese Weise mit äußerster Kraftanstrengung zu verbergen, daß er bereits proletarisiert ist. Ein anderer Teil freilich hat nichts zu verbergen, sondern zeigt ganz offen, daß es ihm gut geht. Das sind die Leute, die in ihren Geschäften betrügen und daraus die Mittel ziehen, in ihrem gesellschaftlichen Auftreten ungeniert zu protzen, während die anderen in ihrem Berufsleben rechtschaffen bleiben und daher als arme Teufel genötigt sind, zur Wahrung des sozialen Scheins mit umgedrehten Hemdkragen und ängstlich konservierten Bügelfalten zu hochstapeln. Diese verhältnismäßig unschuldigste Betrugsform wird von anderen Formen im privaten wie im geschäftlichen Leben hundertfach überboten.
Im Wiener Handel, besonders im Kleinhandel, haben wohl seit jeher ein wenig orientalische Usancen geherrscht. Aber eine so schamlose Willkür der Preisbestimmung, eine so souveräne Verachtung aller Gesetze einer soliden kaufmännischen Kalkulation, eine so brutale Vergewaltigung der wehrlosen Kundschaft, ist noch niemals dagewesen. Waren schon während des Krieges die herkömmlichen Bezugswege und Preisberechnungsmethoden außer Gebrauch gekommen, so hat der Kurssturz der Krone im letzten Jahre die kaufmännischen Traditionen vollends begraben. Nun gibt es keinen Halt mehr. Das Offert von gestern stimmt morgen nicht mehr – wozu also überhaupt kalkulieren? Man bezieht die Waren, man weiß nicht woher, man verkauft sie, man weiß nicht wohin, die Herkunfts- und Absatzbeziehungen sind verändert und ändern sich mit jedem neuen Tag, und so wird der Handel zum Glückspiel, in dem sich der Händler die Gewinste selber zumißt. Jeder Geschäftsabschluß ist eine Trefferziehung. Kann man sich über die Ausschreitungen der Börsenspekulation wundern, da der sogenannte solide Handel täglich die gleichen Ausschreitungen begeht? Jeder Warenpreis ist gegenwärtig ebenso willkürlich und aus der Luft geholt, wie die Börsenkurse. Man kann mit Tuch, Messing, Holz oder Zucker geradeso „spielen“, wie mit Skoda oder Alpinen.
Die Börse ist nur der für alle Welt offene Markt, während man bei den anderen Warenmärkten doch irgendwie Anrainer sein muß. Freilich genügt auch eine sehr entfernte Anrainerschaft. Es gibt Spezereiwarenhändler, die mit Telegraphendraht und Optiker, die die mit Stiefelsohlen Handel treiben. Keiner bleibt auf dem geraden Wege seines Berufes. Vor den obersten bis in die untersten Schichten hinab sucht jeder eine Nebenbeschäftigung, die möglichst mühelosen Gewinn abwirft und wird der ruhigen Übung und hergebrachten Ehrbarkeit seines eigentlichen Berufes entfremdet. Die Korruption ist tief in das öffentliche Beamtentum, noch viel tiefer in gewisse Kreise des Privatbeamtentums eingedrungen. Mann verkauft die Machtbefugnisse oder die vertraulichen Kenntnisse des Amtes. Aus allen Finanzinstituten heraus wird ein schwunghafter Handel mit Börsentipps getrieben. Die „Wissenden“ florieren. Kleine Bankbeamte geben ihre Gehälter als Trinkgelder an die Bureaudienerschaft ab, weil ihnen das Börsenspiel gestattet, auf größtem Fuß zu leben. Auf den Gängen der Bankgebäude treiben sich Schleichhändler herum, die hier für die erlesenste Ware leichten Absatz finden. Wie dieses Treiben auf die zahlreich weibliche Angestelltenschaft der Bank und der Kaufmannshäuser wirkt, braucht nicht gesagt zu werden. Die Sitten der Wiener Weiblichkeit von heute sind ein Kapitel für sich, wohl das schmerzlichste von allen. Wenn man die Preise auch nur der mittleren, der durchschnittlichen Konfektionsware in Rechnung zieht und auf der Straße die Kleider und Schuhe der jüngeren und reiferen Damenwelt mustert, so weiß man genug. Und wer unsere zahllosen, täglich sich mehrenden und täglich überfüllten Bars und Konzertcafés kennt und dort Beobachtungen und statistische Berechnungen anstellt, wird zu Schätzungen der Wiener Prostitution aller Gattungen kommen, deren nüchterne Ziffern man lieber für grauenvolle Phantasie halten möchte. Nie und nirgends hat es Verhältnisse gegeben, in denen der bestimmende Einfluß des wirtschaftlichen Unterbaues der Gesellschaft auf ihren sittlichen Überbau so augenfällig geworden ist, wie in dem Wien unserer Tage. Wenn man in Springers österreichischer Geschichte nachliest, wie da die demoralisierenden Wirkungen des Staatsbankerotts der napoleonischen Kriegszeit geschildert werden, findet man eine schlagende Übereistimmung zwischen einst und jetzt. Nur daß die engen Verhältnisse des Wien von damals, der von Festungswällen eingeschnürten, in idyllische Dörfer hinausquellenden Weltstadt, jetzt ins riesenhafte vergrößert sind – vergrößert der Umfang des Schauplatzes, vergrößert die düstere Intensität des Sittenbildes. Mit dem Schwanken und Sinken des Geldwertes schwanken und sinken die Grundlagen, auf denen eine scheinbar selbstherrliche Kultur sich in Generationen aufgebaut hat. Die Zusammenhänge zwischen Valuta und Preiswucher, zwischen Valuta und Sittenverderbnis, zwischen Valuta und Prostitution liegen für jeden, der sehen will, klar zutage.
Auch der Verwalter unser[er] Staatsfinanzen müßte dafür ein offenes Auge haben. Jeder Schritt, den er täte, um unseren Geldwert zu festigen, brächte uns auch der sittlichen Gesundung näher: jeder Schritt, den er unterläßt, bedeutet ein tieferes Hineintauchen in den Sumpf der Verkommenheit. Niemals hat ein österreichischer Ressortminister eine schwerere materielle und moralische Verantwortung getragen.
In: Der Morgen. 19.1.1920, S. 5.
Gisela Berger: Die Schicksallosen (1920)
Gisela Berger: Die Schicksallosen.
Zu den vielen Tausenden wandeln sie heute umher, die Peter Schlemihle im weltpsychologischen Sinn, die gleichsam keinen Schatten des Schicksals werfen. Ein ganzer generationaler Typus der letzten Neuzeit ist dies, der durch das Leben hinirrt, hingaukelt, sinnlos, planlos, grundlos, glücklos, leidlos, charakterlos – und schicksallos. Eine Art von Larven- und Lemurengeschlecht, dem das rote Blut des Lebens abhanden kam.
In der Tat ist es eine sonderbare psychologische Wahrnehmung, die bei näherem Hinblick rings sich aufdrängt. Es gab niemals so wenig Schicksal in der Welt wie heute. Oder eigentlich nie so wenige Menschen, die ein Schicksal haben. Oder – um mit einer paradoxen Antithese das Unverständliche verständlich zu machen: Es gab nie so viele Menschen, die – ihr eigenes Schicksal nicht haben. Die ihr eigenes Erleben nicht erleben. Und ihr eigenes Lebensresultat nicht repräsentieren.
Das Schicksal ist die Reibung der Persönlichkeit mit der Welt. Die heutige Zeit aber ist eine Zeit des Debakels der Persönlichkeit. Eine Zeit, die im Zeichen der Feindschaft der Persönlichkeit steht, deren Einflüsse und Strebungen die Persönlichkeit zersetzen, zerstümmeln und negieren, und die selbst dort, wo sie anscheinend die Persönlichkeit sucht und ersehnt, sie in unbewußt elementarer Abneigung verwirft, sobald sie sie findet. Denn alle Prinzipien und Charaktere der heutigen Zeit laufen jener festumschlossenen und eigenrichtigen Erscheinung zuwider, die man Persönlichkeit heißt. Wie durch den großen sozialen Makrokosmos der Welt, so geht parallel durch den inneren Mikrokosmos des Menschen jene tiefe, allgemeine Umsturztendenz, die alles eigenstehende Kunstwerk des Daseins aufheben, egalisieren und auflösen will und alle große Dominante des Lebens in Vielheit zerreißt. So wird auch hier das Königtum jener inneren Wesensprägung, die man Persönlichkeit nennt, als eine überlebte, unmoderne und unzweckmäßige Institution von ihrem Piedestall herabgestürzt, um einer gleichberechtigten Demokratie der Triebe, Sinne und Neigungen Platz zu machen, die bloß von der Vernunft, Zwecknutzen und weitmaschigstem bürgerlichen Ehrbegriffe nachsichtig und schlaff geleitet wird.
Konjunktur, wie dieser, gleich einer handschweißferttigen Banknote von allen schmutzigen Fingern abgegriffenen Terminus technicus heiß, der heute, über sein zu Recht ihm gehörendes Gebiet des Geschäftslebens weit hinausreichend, schamlos den gemeinsten Betrachtungsgesichtspunkt für alle größten und kleinsten Dinge des Lebens bestimmt – Konjunktur ist heute die Parole der ganzen Welt geworden bis in ihr tiefstes sittliches Wesen hinein. Man stirbt nicht mehr für eine Sache. Man folgt ihr bis zum Höchstkurs empor, schlägt sie los mit Tausendgewinn und dient einer andern. Heute schwindet aller unbedingter Wert in der Welt. Konjunktur ist alles, und die heimliche Kursziffer steht auf der händlerisch gewordenen Menschheit heiligsten Güter. Zweidimensional ist der Mensch von heute geworden. Das Stereoskopische fehlt ihm, das er durch das Tiefmaß der Ethik allein erhält. Ein Flachbild ist er, eine Silhouettengestalt, nach Höhe und Breite nur ausgedehnt, und eine Lüge, eine Illusion, ein Nichts in die Tiefenausdehnung hinein. Charakterlos darum und schicksallos. Denn Schicksal ist dort wo Unbedingtheit ist. Der ganze Mensch ist der Mensch von heut‘, der sich selbst verlacht, aber ohne Genialität. Nicht, weil er über sich selbst steht, sondern weil er nicht einmal zu sich selbst hinanreicht und darum nur Seinsmöglichkeiten in jener inhaltslosen Selbstbezweiflung findet, die das Ingrediens der phantasielos skeptischen Weltanschauung der heutigen Tage ist.
Aus dem Echtmenschen ist ein Imitationsmensch geworden, eine Art von künstlichem Fälschungsexemplar, ein Homunkulus, der nur die Geste des Lebens tappt. Der anstatt der Tat nur die Gebärde hat, anstatt der Gesinnung das Wort, anstatt des Herzens die Gier der Eitelkeit und anstatt des Blutes das Geld. Ein Popanz, eine Puppe ist dieser allgemein gütige und in Umlauf befindliche Mensch, der keine Schicksalslinie in der Hand trägt, der schicksallos ist, weil ihm die tiefere Identifizierung mit der Welt und mit sich selber abgeht.
In: Wiener Zeitung, 25.8.1920, S. 3.
Paul Szende: Der Schieber als Sinnbild der heutigen Wirtschaftsordnung (1922)
Paul Szende: Der Schieber als Sinnbild der heutigen Wirtschaftsordnung.
Der Schieber ist ein Kriegsprodukt und verdankt sein Dasein der Warenknappheit. Er überdauerte den Zusammenbruch, die Revolution und Gegenrevolution, trug zuletzt einen glänzenden Sieg über die bolschewikische Theorie in Rußland davon. Er behauptet sich trotz Verachtung, Schlagworten und Gesetzen überall. Was sind die geistigen Fähigkeiten dieser Menschengattung? Worin besteht ihre Überlegenheit? Versuchen wir dies festzustellen.
1. Schnelle Anpassungsfähigkeit.
Der Schieber war und ist der Registrierapparat der Konjunktur, der alle Bewegungen des wirtschaftlichen Körpers genauest aufzeichnete und augenblicklich verwertete. Er ist in jeder Branche zu Hause, keine Ware entgeht seiner Aufmerksamkeit. Ebenso blitzartig ist seine politische Anpassungsfähigkeit. Obzwar er für die alte Ordnung schwärmt, das Schwinden der hergebrachten Autorität und Disziplin beklagt, findet er sich in alle politischen Systeme hinein; ob Monarchie oder Republik, Reaktion oder Demokratie, er ist in allen Sätteln gerecht, er liefert ebenso gern für Horthy wie für die russische Sowjetrepublik.
2. Rücksichtslosigkeit und Grausamkeit.
Doch gleicht diese Anpassungsfähigkeit mehr der des Aasgeiers, der in der höhe schwebend den Kadaver mit Scharfblick erforscht und sich in blitzschnellem Sturzflug auf ihn wirft. Der Schieber war im Kriege der Frontkämpfer des Hinterlandes, und er führt den Stellungskrieg gegen die konsumierende Bevölkerung ohne die Gefahren des Frontdienstes noch immer fort.
3. Intuitive Erfassung der Eigenart der neuen Wirtschaftsordnung.
Der Schieber hat sofort nach dem Kriegsausbruch erkannt, daß die Zurückhaltung der Waren – im Frieden nicht nur ein gegen das öffentliche Wohl verstoßendes, sondern zugleich privatwirtschaftlich unökonomisches Verhalten – die ausgiebigste Quelle großer Gewinne sein kann. Die Störung des Gleichgewichtes zwischen Produktion und Verbrauch, zwischen Einfuhr und Ausfuhr dauert noch heute in den besiegten Ländern unvermindert an. Ebenso intuitiv hat er erschaut, daß seit dem Kriege die Epoche des risikolosen Geschäftsganges hereingebrochen ist; derjenige, der von seinen Skrupeln getrübt ist, kann sein Geschäft ohne Wagnis führen. Das ist eben der springende Punkt, denn das geschäftsmäßige Risiko liebt der Schieber ebensowenig wie der Teufel den Weihrauch.
4. gründliche Kenntnis der staatlichen Machtverteilung und des politischen Getriebes.
Die Schieber wurden sich sofort dessen bewußt, daß in dem bestehenden Klassenstaat das System der Zentralisation, der Höchstpreise und der Rationierungen naturnotwendig zur Korruption führen wird. Sie wußten, daß alle diese Gesetze und Verordnungen auf dem Papier bleiben müssen, da ihre ehrliche und rücksichtslose Durchführung in erster Linie die Interessen derjenigen mächtigen Faktoren schädigen müßte, die in jedem Staat über die Gesetzgebung oder die Verwaltung verfügen. Sie legten daher ein sorgfältig durchdachtes, sogar geniales Kanalnetz der Korruption an, in welches von allen Seiten die Waren hineinströmten.
5. Gefühl der Sicherheit.
Dieses Gefühl stammt von der Feststellung, daß alle führenden Schichten an der Kriegskonjunktur in vollstem Maße teilgenommen haben. Die Schieber hätten niemals ihr Werk verrichten können, wenn nicht die „legitimen“ Agrarier, Industriellen und Kaufleute ihnen die Waren zugeschoben, zur Verfügung gestellt hätten. In dieser Gesellschaft hatten sie nichts zu befürchten.
6. Gefühl der Unentbehrlichkeit
Ohne den Schieber wären diese vornehmen Klassen nicht imstande gewesen, die Kriegs- und Nachkriegskonjunktur gehörig auszunützen. Ihre Tätigkeit ist mehr kontrollierbar, die öffentliche Aufmerksamkeit ist zu sehr auf sie gelenkt. Das Schiebertum ward in ihren Händen zu einem willkommenen Instrument, das sie den Heiligenschein wahren ließ und doch die Teilnahme an der Konjunktur gewährte.
8. Der Schieber ist ein überlegener Lebensphilosoph.
Er durchschaut das ganze wirtschaftlich-politische Gewebe, ihm sind alle Geheimnisse erschlossen. Er nützt die Heuchelei und Doppelmoral der herrschenden Klassen zum eigenen Nutzen aus. Den Vornehmen gegenüber, welche dasselbe Geschäft, nur verschämt, betreiben, empfindet er einen gewissen Stolz. Er weiß, daß diese von ihm durchaus nicht entzückt sind, denn das unverhüllte Treiben des Schiebertums bringt dem Publikum zu sehr vor die Augen, wie die großen Vermögen entstehen, wie unbeschränkt die Ausplünderungen der Wehrlosen vor sich gehen kann. Er lächelt verständnisvoll und duldet, daß er als Sündenbock hingestellt wird, doch läßt er sich dafür hohe Entschädigungsprämien zahlen, selbstverständlich nicht von seinen Dienstgebern, sondern von der konsumierenden Bevölkerung.
In: Arbeiter-Zeitung, 9.5.1922, S. 5.
Stefan Großmann: Sprung nach Wien (1923)
Stefan Großmann: Sprung nach Wien
Nachdem man einen Tag im Eisenbahnwagen verbracht hat, wird man in Passau aus dem Kupee getrieben, die ganze Herde der Reisenden muß auf der Treppe der Überquerung des Bahnhofs eine Stunde lang, mit Koffern und Taschen, frierend hocken. Oben wird der Stall durch eine Kette abgesperrt, die ein Schutzmann von Zeit zu Zeit öffnet. Dann darf eine kleine Bande hurtig ins Zimmer der Zollbeamten laufen, um sich abtasten zu lassen. Es ist die kläglichste Mißhandlung durch den Staat, die man sich denken kann. Täglich lassen sich dreihundert Leute diese Malträtierung gefallen. Es ist nicht angenehm, von der bayrischen Seite den Anschluß an die österreichische zu finden, es ist die menschenunwürdigste Art des Anschlusses, die man sich vorstellen kann. Aber was läßt sich der Deutsche nicht alles vom Staate gefallen? Nur wird im stillen ein theoretisches Aufblitzen von Staatsfreudigkeit durch so rohe Methoden des Herdenbesitzers Staat zerstört.
Aber am Nachmittag ist man in Wien und alle Schmach ist vergessen.
Billardspieler.
Sonntag vormittags bummelte ich durch sie Alserstraße. Regnerischer Tag. Die Kaffeehäuser schon jetzt vor dem Mittagessen überfüllt. Und in jeder größeren Straße zehn, zwölf Kaffeehäuser. Überall Leute, die Zeit haben, zu lesen, zu rauchen, Bilder anzusehen, zu plauschen. Hier wird noch Billard gespielt. In Berlin gibt es nur mehr ein einziges Café, in dem Billards stehen, Kerkau in der Friedrichstraße, aber das Billardspiel artet dort gleich in ein Turnier aus. Hier ist in jedem Café ein Billardsaal und erwachsene Menschen vertreiben sich viele Stunden damit, einen langen Stab in der Hand zu halten, ihn mit bläulicher Kreide an der Spitze einzusalben, sich über das Spielbrett zu beugen, auf ein paar weiße und rote Kugeln zu zielen und endlich loszustoßen. Wie viel Rast und Ruhe der Seele gehört zu diesem Spielgleichmut. Das ist ein Spiel ohne aufregenden Gewinn, ein Spiel ohne sportliche Leidenschaft, ein Spiel ohne nagende Berechnung, mit einem Wort: Nichts als ein Spiel. Nur sehr gelassene, nicht von Zwecken gehetzte Menschen sind solcher gleichmütigen Betätigung fähig. Man sollte auch in Berlin Billard spielen. Es wäre besessenen Menschen Medizin. Aber um es einzuführen, müßte die Polizei Billardzwang einführen, oder Ullstein müßte ein Sechstage-Billardspiel arrangieren. Daß erwachsene Menschen freiwillig stundenlang mit einem Stab dastehen, ihn einsalben, Kugel zu Kugel stoßen, dem Partner aufmerksam zusehen, über jeden Stoß Aufzeichnungen an der schwarzen Tafel machen, den Stab wieder bekreiden, wieder zu zielen, stoßen… eine besessene Berliner Betriebsseele wäre dazu nicht imstande.
Breitbartspiel.
Die Erwachsenen in Wien haben sich seit Monaten nur mehr mit Breitbart beschäftigt. Das ist ein junger galizischer Schlosser von ungeheurer Kraft. Er zerdrückt schwerste Eisenketten mit den Zähnen, zerdrückt Hufeisen in der Hand, trägt auf dem eisernen Brustkasten ein Auto mit Menschen.
Ich komme zu Freunden. Im Kinderzimmer heilige Stille. Was ist denn los? Warum schreien die Bälger nicht? Besorgt treten wir ein. Da liegt die fünfjährige Erica auf dem Boden. Auf ihrer Brust das Reißbrett des großen Bruders. Und auf dem Reißbrett stehen, eng beieinander, das achtjährige Brüderchen, der neunjährige Freund des Bruders und die dreijährige Schwester. Im ersten Augenblick fahre ich entsetzt zurück, aber mein Freund, der Vater der Bande, lächelt: „Es sieht nur bedrohlich aus. Die Kinder haben das oft erprobt. Erica spielt Breitbart.“
Aussichten.
In einer Zeitung veröffentlicht der frühere Bundeskanzler Schober, der jetzt Polizeipräsident von Wien ist, eine Erklärung, worin er die Nachricht, daß er Bankpräsident werden soll, entschieden berichtigt. „Wenn ich einmal zurücktrete, so gedenke ich mich wissenschaftlichen Arbeiten zuzuwenden. Ich werde, da ich kein Vermögen besitze und – mein Ruhegehalt zum Lebensunterhalt nicht ausreicht, wahrscheinlich auch schriftstellerisch tätig sein.“ Wie spartanisch, wie edel in der Armut. Krieger, die invalid wurden, betätigen sich als Werkelmänner. Ministerpräsidenten, die in Pension gehen, werden Schriftsteller. Dazu langt’s immer noch.
Auslagefenster.
Von allen Auslagenfenstern die schönsten sind immer die der Blumenläden. Ich stehe vor einem Geschäft in der ….gasse. Rosen, Flieder, Alpenschneeglöckchen, Zyklamen, blühende Weidenäste. An den Wänden hängen kleine Holzschnitte und Photographien sehr schöner Frauen. Ich weiß nicht, ob es wirklich so viel mehr schöne Frauen in Wien gibt als anderswo, jedenfalls gibt es hier sehr viel mehr schöne Photographien sehr schöner Frauen. Und es ist reizend, diese Bilder unter den blühenden Zweigen aufzuhängen. Unter dem Holzschnitt ist mit einem Reißnagel ein kleiner Zettel befestigt: „Verkäuflich.“ Er ist ein bißchen unordentlich angebracht. Unzweifelhaft gilt der Zettel nur dem Holzschnitt. Aber die Hälfte des Zettels reicht zum Damenporträt hinüber. Nun, es ist jedenfalls ein verlockendes Auslagenfenster.
Hofapotheke.
Sonntag nachmittag. Ausgestorbene Straße in der Inneren Stadt. Alle Läden geschlossen. Ich wollte doch abends meinen Freunden ein paar Flaschen Wein mitbringen. Zum Glück ist die Hofapotheke, gleich neben der alten Burg, offen. Ich trete in die hochgewölbten Hallen des alten Gebäudes. Sauberkeit, Geordnetheit, Spiegelblankheit der idealen Apotheke. Eine reizende, ebenfalls blinkende Dame fragt mich nach meinem Begehr. Ich verlangte drei Flaschen Muskateller. Ein Blick fliegt zu dem großen Glaskasten, in welchem der herrlichste alte Tokayer, wunderbarer alter Cognac, die reifsten ungarischen Weine ausgestellt sind: „Wählen Sie.“
Während die Flaschen aus dem Keller gebracht werden, kann ich mich nicht enthalten, zu sagen: „Wie schön, daß Sie auch diese Heilmittel führen.“
Die junge Dame erwiderte: „Man kuriert sich nicht nur mit Medizinen.“ Dazu ein sehr taktvolle, sehr liebenswürdiges, halbernstes Blick-Lächeln. Ich bin versucht zu sagen: „Auch ein freundlicher Blick kann heilen“, aber ich verschluck es. Man soll nicht alles zu Wort machen.
Hofschauspielerin a. G.
Nachts beim „Wiesenthal“. Das ist eine Art Heuriger für die Leopoldstadt. Nicht in Grinzig, sondern in der Nothgasse. Nicht unter freiem Himmel, sondern unter der Erde, ein Kellertheater. Es wird gesungen, Klavier gespielt. Lozzelachs werden erzählt. Der Chef ist Herr Wiesenthal, der mit der berühmten Grete keine Ähnlichkeit hat. Er ist etwas beleibter als Grete Wiesenthal, will aber auch nicht durch pagenhafte Schlankheit verführen. Er stammt nicht aus der Tänzerfamilie, eher aus der Familie Pallenberg, von dem er den aggressiven, deutlich höhnenden, den Hohn parodierenden Befehlston hat: He, Bürger! Wer hat vor Pallenberg gewagt He! zu krähen? Nun, Herr Wiesenthal ist ein wohlbeleibter Mann, der die Zuschauer beschmust. Vor und nach jeder Nummer erscheint er und wickelt die Zuschauer durch Anekdoten, Kalauer, vertrauliche Anreden ein. Er redet urwienerisch mit einem drolligen Einschlag jüdischen Jargons. Ein Fiaker, der seinen Standpunkt in der Tempelgasse hat. Es ist nur in der Ordnung, daß sein Lokal an der Grenze des Judenviertels steht, dort, wo der Leopoldstädter sich wienerisch zu assimilieren beginnt.
In diesem unterirdischen Lokal tritt die berühmte Hofschauspielerin auf. Ich habe sie vor x-zig Jahren gesehen, damals kam sie gerade mit Kainz von einer russischen Reise zurück, die Hermann Bahrgeb. am 19.7.1863 in Linz – gest. am 15.1.1934 in München; Schriftsteller, Kritiker, Redakteur Der Sohn eines No... brillant beschrieben hat. Kaum zu schildern, wie jung und sprühend und schlank sie damals war. Jetzt tritt sie, von ehrfürchtigem Beifall umrauscht, um ein halb ein Uhr nachts auf die Pawlatschen, in schwarzem Spitzenkleid, heroischen Schrittes, das Haupt gen Himmel gerichtet, als müßte sie das Rauchtheaterpublikum übersehen, die Bewegungen der Arme tragisch-medeenhaft und die Stimme, diese sorgsam silbenrettende, langsam akzentuierende Stimme trägt ein vaterländisches Gedicht vor: Eine Palme wächst zu hoch. Die Palme ist Deutschland. Der Gärtner ist Gott. Es ist reinstes BurgtheaterMaterialien und Quellen: Johannes Sachslehner: Ein Mythos wird angeschlossen. Zur Machtübernahme der Nazis im Burgtheat... von heute. Die Verse Franz Nissels würdig, die Sprachkunst edelster Höbling, die Gesinnung würdigster Bodenstedt. Und das Publikum, das eben noch Wiesenthals Anekdoten belacht hat, klatscht begeistert in die Hände. Ja, das ist unser schönes altes Burgtheater. Dann singt die Hofschauspielerin zwei Niggerlieder. Ihre blanken Zähne glitzern, die dunklen Augen funkeln, die medeenhaften Armbewegungen verschwinden. Einen Moment muß ich an die sprühende schlanke Dame denken, die vor x-zig Jahren aus Rußland zurückgekommen ist. Es gibt ein Feuer, das nie erlischt. Vorausgesetzt, daß es einmal da war.
In: Der Tag, 22.3.1923, S. 3.
Walther Rode: Alte Reiche, neue Reiche (1923)
Walther Rode: Alte Reiche, neue Reiche.
Da erscheint, niemand weiß woher, in einer fremden Stadt ein Mann, der sich eine Herrschaftswohnung mietet, ein glänzendes Bureau in einer Hauptstraße. Um ihn herum entsteht sofort Rummel und Geschäft; er verdient viel und gibt noch viel mehr aus. Eines Tages aber verschwindet der Mann ebenso plötzlich wie er gekommen ist, dem Schlittenfahrer vergleichbar, der in finsterer Nacht unter Geklingel, Pferdeschnauben und Scheinwerfern heranbraust und schon wieder vom Dunkel verschlungen ward. Ein Kobold kurzer Frist, der Menschen und Dinge durcheinander bringt, um dann spurlos unterzugehen.
Seiner Unternehmung gebricht es an der Dauer, an jenem Willen zur Dauer, durch den allein erst den Existenzen des bürgerlichen Lebens Greifbarkeit, Echtheit, Persönlichkeit zukommt. Das Auftreten des Schlittenfahrers ist die Kontrasterscheinung zu den Gründungen für die ganz lange, Generationen umfassende Dauer. Der Schlittenfahrer kommt und geht, der gediegene Reiche ist tief verwurzelt. Namentlich bei schwerer See, in Zeiten des Krieges, des politischen Umsturzes, der allgemeinen Revolution muß seine Gründung die Überlebenskraft ihrer Anlage erweisen. Der Chef angesammelten Gutes, der auf zähes Leben gestellten Vermögensindividualität, ein Kapitän langer Fahrt, muß im Sturm eine Technik der Verteidigung anwenden, deren Eintagsvermögen, meistens selbst Kinder des Sturms, keineswegs bedürfen. Die der Person dienende Habe wird vom trauernden Reichtum auf Halbmast gesetzt, damit sie weniger lustig wimple im Äther des Klassenneides; eingezogen werden die Insignien überragender Größer: Dienerschaften, Rösser, Spielplätze. Ein emsiges Verstecken, Verschieben, Vertauschen hebt an, die kinetische Energie des Reichtums in geeigneten Kraftstationen der einstiger Wiederentfaltung zu reservieren.
Heute kriechen sie wieder aus ihren Verstecken hervor, die soliden, auf Dauer berechneten Reichtümer. Bene vivebit, qui bene latuit. Der Sturm der empörten Volksseele scheint sich gelegt zu haben, die Geldleute sind wieder frech geworden. Wieder benützen sie den Schlafwagen, geben sich Rendezvous in Palermo, haben sie ihre Spazierritte im Prater aufgenommen. Nicht länger müssen sie dem lauten Genuß des Reichtums entsagen.
Was sich in den ersten Jahren nach dem Umsturz breit gemacht hat, war die Totenparade der Schlittenfahrer. Sie hat dem zeitlichen Verschwinden des wirklichen Reichtums die Mauer gemacht. Während die harten Gulden irgendwo, entmaterialisiert, der Goldwerdung harrten, die reichen Leute von echtem Schrot und Korn nirgends zu sehen waren, zerstob unter Lärm und Gestank die Hauptsumme dessen, was der Schleichhandel mit Salvarsan oder mit Romanowrubeln eingebracht. Was aber in dieser Zeit für längere Dauer errafft wurde, für Generationen: der Raub des Ahnherrn, ist unter Vernichtung des Tatbestandes in die Erscheinung getreten, hat also schon bei seinem ersten Entkeimen die Verleugnungstaktik in schwerer Zeit eingeschlagen. Der Ahnherr hat in seinem Koffer holländische Gulden verstaut; den Weg aus seinem Kabinett in der Novarragasse ins Trocadero jedoch niemals gefunden.
Als das erwachte Proletariat über seine Verhältnisse lebte, das geängstigte Bürgertum unter seinen Verhältnissen, der Reichtum in eine Art Winterschlaf versunken war, da gab nur frische, nur kurzlebige Beute den Mut, sich zur Schau zu stellen. Ja, in der Exhibition allein war ihr Leben. Bewaffnet mit dem guten Gewissen des Raubtieres rasten Kriegs- und Umsturzgewinner herum in ihren Kraftwagen und ersteigerten kreischend und vor aller Welt Paläste und Kunstwerke. Ihres baldigen Hingangs gewiß, mußten diese Lemuren ihre Umlaufsgeschwindigkeit, ihre Allgegenwart ins Unerträgliche steigern, so daß sie mit der Drehkrankheit behaftet schienen. Ihr Auftreten hat so fatal, so aufdringlich gewirkt, weil ihre Wirklichkeit im umgekehrten Verhältnis zu eben jener Aufdringlichkeit stand, in der allein sich ihr Eintagsdasein ausleben konnte. Die Pilotenfische, die Begleitfische des Haifisches, die sich in der Sekunde einverleiben, was der Haifisch nicht in seine Klappe hineinzwingen kann, wußten im innersten, daß ihnen ihr Raub nicht streitig gemacht werden konnte. Sie brauchten daher die Empfindlichkeiten der Zuschauer nicht zu schonen. Zu ihrem Bild gehörte der Konsum, der sofortige Konsum, der Konsum unter den exekutiven Blicken der Ausgeschlossenen.
Wer waren sie, die den Schwarm der plötzlichen Reichen von gestern und vorgestern gebildet haben, die den bösartigsten Klassenhaß trotzten, wo sind sie heute? Der Spuk hat sich verzogen wie ein Fiebertraum. Das Hexengold aus Luftgeschäften, Diebstählen und Differenzgewinnen ist im Rachen von Cagnotte und Prostitution verschwunden. Wer mit Betrug beginnt, muß durch Betrug umkommen. Hier verfuhr der Kehrbesen der historischen Vergeltung nach dem Grundsatz: Contre galicien, galicien et demi.
In: Die Stunde, 25.4.1923, S. 3.
Alfred Polgar: Wiener Sommer (1924)
Die Börse ist lustlos und die Menschen sind es mit ihr. Sie vermissen nicht nur ihren Besitz, sondern auch den Nervenreiz, den sie auf der schwingenden Schaukel der Kurse empfanden. Und leiden schon die Armen sehr darunter, kein Geld zu haben, so ist das den Reichen ganz unerträglich. Also geht jetzt eine Welle von Verdrossenheit und Lebensfeindschaft durch die Stadt, niemand lacht, niemand freut sich, und in der Oper wird „Schlagobers“ gespielt, von Richard Strauß. Held des Ballets ist ein Knabe, der in der Konditorei zuviel Süßigkeiten ißt, worauf ihm übel wird. Solches läßt sich verstehen. Mir war schon als Kind kein Märchen zuwiderer, als das vom Schlaraffenland: die Vorstellung, sich durch einen Berg von Mus durchzufressen, über alle Maßen peinlich, und Bäume, an denen statt Blättern und Blüten Würste wachsen, schienen mir keine Verzauberung, sondern eine unappetitlichste Entzauberung der Natur. Diese ist sommerlich erwacht. Im Mai war lange Zeit April, dann kam gleich August; Jahreszeiten und Monate gehen, wie Knöpfe und Knopflöcher einer falsch zugeknöpften Weste, nicht recht zusammen, und zu Sylvester wird gewiß was fehlen oder überzählig sein. Einen Lenz gab es heuer nicht, er wurde zwischen Winter und Sommer totgedrückt wie die Mittelparteien in der Politik. Überall siegt der Radikalismus. Nur eine leichte Klang-Modulation unterscheidet ihn von der ridiculus mus, dem bekannten Kind kreißender Berge. Wegen des Auftretens der Bisamratte aber sind die Bäder im Donaustrom noch gesperrt. Leider, denn die Hitze hat Dimensionen angenommen und der Asphalt ist weich und gibt nach wie das Herz des unerbittlichen Vaters im siebenten Akt vieler Kinostücke. Die Kinos machen jetzt auch keine guten Geschäfte, aber immer noch bessere als die Theater, die von den Menschen gemieden werden, als ob in ihnen nicht die Orska oder Frau Werbezirk aufträte, sondern die Bisamratte. Dem Kino kommen im Sommer die besseren Beziehungen zur Natur zugute und das schummrige Dunkel in seinen Hallen, was es, wie vieles andere auch noch, mit der Kirche gemein hat, deren Macht-Erbe es allmählich anzutreten scheint. Wie die Kirche umspannt das Kino die Welt (nebst Himmel und Hölle), sendet seine Missionare in die entlegensten Zonen bewohnter Erde, braucht ein gewisses Quantum Finsternis um zu wirken, gibt den Künsten zu tun, beschäftigt, unter Musik-Begleitung, Gemüt und Phantasie seiner Gemeinde, wirkt Wunder, lehrt, wie die Tugend belohnt und das Laster zu schanden wird, bereichert die Pfaffen, die ihm dienen, spricht in Zeichen und Symbolen, die Menschen jeglichen Idioms verständlich sind, und hat auch schon seinen Evangelisten, den heiligen Balazs Bela, der in dem scharfsinnigen und glänzenden Buch „der sichtbare Mensch“ jene, die guten Willens sind, zum Glauben an die beglückendsten und erlösenden Zauber des Kinos verführt. Es tagte jetzt auch ein Concil zwecks Reform des Films in Wien, bei welcher Gelegenheit der Nibelungen-Film vorgeführt wurde, ein feierlich gedrehtes Hohelied auf körperliche Kraft und den Mangel an Wehleidigkeit und auf den Gott, der Eisen wachsen ließ (allerdings auch dafür sorgte, daß, wie die Geschichte des letzten Jahrzehnts erweist, das Eisen nicht in den Himmel wächst), und auf die altgermanische Sitte, um der Treue willen Untreu zu begehen. Treue im balladesk schönen Sinn des Worts bewährte kürzlich der Wiener Motorführer, der, das ihn der Schlag traf, noch mit letzter Kraft die Handbremse zig und seinen Train zum Stehen brachte. Diesem Braven ward kein Denkmal errichtet, außer im Herzen unseres beliebten Publizisten Bettauer, das als öffentliche Anlage gelten kann. Bettauer ist der Verfasser spannender Zeitungsromane, höchst aktueller Erzählungen, in deren raschen, durch eine Journalspalte gezwängten Fluß alle andern Rubriken der Zeitung sozusagen sich ergießen. Seine Methode, Geschehnisse und Personen des Tages noch warm in den Roman zu übernehmen, ist so neu wie wirkungsvoll, und Bettauer kann auch gar nicht genug des literarischen Garns spinnen, in das ihm das Leben läuft. Fromm und tugendhaft ist er nicht, und wenig Freude hätte an ihm Herr Erich Schlaikjer, ein deutscher Mann, der mich in der „Deutschen Zeitung“ (wegen einer Glosse über das furchtbare Urteil gegen die Kadivec) des Satanismus und der Teilnahme an einer jüdischen Verschwörung zur Vernichtung des deutschen Volkes bezichtigt. Bei Kadermann im Prater, à propos, wird täglich ein ganzer Ochs am Spieß gebraten, für München was Altes, für Wien eine Neuheit. Zur Premiere waren die Vertreter der Presse (kein Druckfehler für: Fresse) geladen, und in den Zeitungen erschienen dann auch, nebst Berichten von bratensaftigster Anschaulichkeit, Bilder, darstellend den Ochsen am Spieß und unter ihm, gleichsam als zarte, abschließende Randleiste, ein anderer Spieß mit Hühnchen, aufgereiht wie Kugeln einer Gebetsschnur. Mich erinnert das Bild des Ochsen, wie er da am Spieß steckt – geköpft, entklaut und ausgeweidet zwar, aber im großen ganzen doch in der Form belassen, die er hatte, da er’s Licht noch sah –, an primitive Darstellungen der Hölle, auf denen zu sehen, wie arme Sünder über loderndem Feuer am Spieß sich drehen. Kein Zweifel: die Erde ist das Tier-Inferno. Da werden sie für Übles, das sie dereinst auf ihrer Tier-Erde getan, bestraft. Wie der Mensch zu den Tieren steht, dafür ist bezeichnend, daß seine Imagination von der Hölle, die auf ihn wartet, in der entsetzlichen Vorstellung gipfelt, er würde dort so behandelt werden, wie er in seiner Welt das Tier behandelt. Jedoch weder bildliche Darstellungen der Hölle noch die Legenden von ihr geben irgendwelchen Grund zur Annahme, daß die Teufel, wenn sie uns am Spieß braten, hiezu die Presse einladen.
In: Das Tage-Buch, H. 22/1924, S. 739-740.
Arnold Höllriegel: Metaphysik der Roulette (1924)
Arnold Höllriegel: Metaphysik der Roulette.
Das feine Klirren gemünzten Goldes ist in meinen Erinnerungsträumen nicht zu trennen vom Bilde Monte Carlos. In den gedämpften Glanz dieser fast feierlichen und erhabenen Säle eintretend, hörte man sonst, durch das ganz leise Raumen der Menge hindurch, über dem Pianissimo geflüsterter Leidenschaft dieses Klingling der Schwarzen Messe, diesen goldenen Oberton. Er sickerte durch die marmorne Vorhalle, hinein in den unfaßbar prunkvollen Raum der Oper, vermischte sich mit den Furiosen Verdis oder den Gralsglocken des Parzival; rann, ein goldener Wasserfall, über die Parkwege der unvergleichlichen Palmenterrassen, klingelte noch in den teppichbelegten Korridoren des davoneilenden Luxuszugs.
Um nichts hat sich der äußere Glanz Monte Carlos vermindert seit jenem unvergeßlichen letzten Rivierawinter vor dem Krieg und der Trübsal, aber diese seine goldene Begleitmusik ist fort, und ein Klappern von Bein und Blech geht durch die Säle. Man spielt nicht mehr mit goldenen Louisdoren, mit Sovereigns, mit den riesigen opulenten Plaques, nur noch mit weißen, roten und blechernen Spielmarken. Man kann, glaubt es, auch so sein Geld verlieren, aber von dem Reiz und Zauber ist etwas dahin. Früher sah man das Gold, das man nicht gewann.
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Monte Carlo, in Zeiten da alle Welt an der Börse spielt, hat ohne Zweifel etwas von seinem romantischen Reiz verloren. Früher leget man auf den Trente-et-Quarante-Tisch goldene Napoleons, heute rote Beinknöpfe, die zwanzig Papierfranken bedeuten, und entschieden weniger davon. Wer große Summen einzusetzen hat, weiß sich bessere Spiele. Noch hat das blecherne Zeitalter die luxuriöse Schönheit des Milieus nicht geschädigt; das Bild dieser domgleichen Prunkgebäude, dieser Gärten, dieser schätzereichen Geschäfte ist berauschend, ist überwältigend wie zuvor. Der Kasinoplatz, von den Tischen des Café de Paris aus gesehen, mit seinen wie aus der Wunderlampe gezauberten Wohnpalästen, mit der faszinierenden Buntheit der eleganten Menge, der Schönheit der Frauen, dem Glanz der Toiletten, das alles ist, wie es war: Kingsors Zaubergarten, von gefährlichen Blumen voll, Satans irdisches Paradies – – Innen im Spielsaal sieht man Unterschiede. Irre ich mich, oder fehlen sie wirklich ganz, die jungen und energischen Abenteurer, die desperaten, bösen und charaktervollen Goldgräber des Spielsaals, spielen sie anderswo, in den nüchternen Börsen, fern von der Verlockung des Weibes, in den großen winterlichen Städten ohne Sonne? Um die großen grünen Tische von Monte Carlo sehe ich in diesem beginnenden Jahr 1924 alternde Menschen sitzen, die nicht mehr ganz in diese Zeit passen; gewiß ein paar schöne Kokotten auch, und junge Leute, die vor dem Shimmy-Tanzen aus Spaß ein wenig setzen. Aber, kein Zweifel, nicht die goldenen Träume der Jugend herrschen hier mehr vor, ihre pittoresken Laster, ihre stürmischen Wonnen und tragischen Verzweiflungen. Monte Carlo, so wie ich es heute sehe, scheint mir ein Ort des törichten und des weisen Alters, der großen Brillen, der gelichteten Scheitel. Unglaublich, wie viele dekorative Großmütter um den Roulettetisch sitzen, auf dem es klappert wie von Totengebein!
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Vielleicht gebührt ihnen der Ort von Rechts wegen, den Alternden. Weswegen spielt man in Monte Carlo? Um Geld zu gewinnen? Welcher Irrwahn, tausendmal entlarvt! Man spielt aus Religiosität. Die Roulette ist keine finanzielle, sie ist eine metaphysische Angelegenheit. Wohl steht das den Alternden an.
Wenn ich eine Opfergabe auf diesen schwarzen und roten Altar lege, der der Altar Satans wäre, wäre Satan nicht eine bloße Maske Gottes – will ich etwas anderes, als der frömmste Beter in der heiligsten Kathedrale, Erhörung meines Flehens, vervielfältigten Segen für mein in Andacht Dargebrachtes? Ich nehme mein Scherflein, mein Ganzopfer, lege es unter den vorgeschriebenen Riten auf Rot oder à cheval zwischen die Nummern neunzehn und zwanzig – weswegen? Weil ich, fromm in meine Seele hineinhorchend, eine innere Stimme zu hören glaubte, die mir sagt: rot! Ich zweifle nicht, und niemand, der in Monte Carlo war, zweifelt daran, daß diese Stimme in jedem Spieler spricht, und daß sie die WahrheitBereits 1895 vom Kantor der sephardischen Gemeinde in Wien, Jakob Bauer, vor dem Hintergrund des anwachsenden Antisemiti... sagt, nur, daß leider niemand imstande ist, diese Stimme von zehn anderen Stimmen zu unterscheiden, Stimmen der Eitelkeiten, die zugleich zu schreien beginnen. Ein heiliger Büßer, der es gelernt hätte, seinen Nabel anzustarren und sich auf seine Innerlichkeit zu konzentrieren, ein abgeklärter Philosoph, der sich selbst kennte, sie müßten, mir ist das gewiß, in Monte Carlo jede Nummer erraten, bevor sie für immer zersprungen wäre.
Aber kommen denn solche Leute nach Monte Carlo spielen?
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Ich sage das, weil ich die Welt des Scheins längst als eine Roulettescheibe erkannt habe, auf der die Erdkugel rotiert. Was ist das, diese Zukunft, in der entweder Schwarz oder Rot kommen wird? Ist sie nicht schon gegenwärtig in unserer Seele, nur daß wir nicht gut und weise genug sind, es zu wissen?
Oft und oft weiß ich, welche Nummer kommen wird. Es ist keine Einbildung, kein Schwindel. Leider tritt das Phänomen nur immer dann ein, wenn ich nicht gesetzt habe.
Ich glaube, im Grunde mögen die Spieler in Monte Carlo gar nicht Franken gewinnen. Sie schämen sich zu sagen, daß sie eigentlich die Stimmen ihres Inneren bestätigt finden möchten. Wie hätte ich sonst hier einmal Viktor Adler gefunden, und gestern John Meynard Keynes?
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Die brutalen Geldverdiener sind dar nicht einmal mehr in Monte. Weise Mütter und ernste Väter sehe ich das Orakel befragen. Übrigens auch unernste Väter und törichte Mütter. Seht sie, wenn sie abgekämpft und müde sind, im pururverhangenen Lesesaal die tödlich seriöse Revuesiehe: Ausstattungs-Revue bzw. Politisches Kabarett des deux Mondes lesen!
Die Zeit ist nahe, da dieses frivole Monte Carlo an der Philosophie zugrunde geht. Eine Versammlung von Ödipussen, die alle Rätsel der Roulette erraten, wird die Bank des Monsieur Blanc sprengen. Der Herr Professor Einstein, wenn er einmal Zeit für Monte findet, wird die Relativität der rotierenden Scheibe enträtseln und den Fürsten von Monako um seine schöne Rente bringen. Schon hört man in den Sälen nicht das frivole Geld des Trugs rieseln, man hört es klappern, das trockene Gebein.
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Nur weil es unter so vielen Philosophen doch auch einige Narren gibt, steigen vorläufig die Aktien der Spielbankgesellschaft noch ein wenig.
In: Der Tag, 10.1.1924, S. 3.
Johannes Urzidil: Freiheit (Wien bei Nacht) (1924)
Johannes Urzidilgeb. am 3.2.1896 in Prag – gest. am 2.11.1970 in Rom; Schriftsteller, Kritiker, Übersetzer, Kulturhistoriker, Exilant...: Freiheit (Wien bei Nacht)
Viele junge Männer gehen am Abend durch die Straßen der Stadt, mit einer Banknote in der Tasche, nicht so groß, daß man mir ihr übermütig werden könnte, aber ausreichend, um zwischen mannigfachen Genüssen die Wahl zu lassen. Vielleicht genügt sie, ein Abendessen in einem mittleren Restaurant zu bestreiten, oder sie überläßt es dem Einsamen, sich für eine Flasche erträglichen Weines oder ein Theaterbillett zu entscheiden. Man könnte auch darauf verfallen, sich bei einem der vielen Mädchen, die jetzt an den Straßenbahnstationen warten, vorsichtig mit weichem Blick einzuschleichen und nach einer stummen Unterredung der Augen ein paar Ecken weit oder noch weiter mit ihr zu fahren. Einige sind da mit dünn durfenden Batistblusen, durch welche die Transparenzen der Haut leise schimmern, leicht Vorgeneigte mit beweglichem Spielbein und geistesabwesendem Blick, einige mit resoluten Schritten, fest in ihre Form gefügt und ganz bei sich selbst gegenwärtig. Wie schön ist es, so vor der gleichgewichtigen WageEine Wiener Wochenschrift. (1898-1925), Begr. u. Hg. von Rudolf Lothar (1898-1902, urspr. R. Spitzer), ferner von Ernst ... der Entscheidung zu stehen, das eine winzige, fast gewichtslose, aber alles entscheidende Körnchen des Entschlusses zwischen den Fingern zu halten, es in die eine oder die andre Wagschale werfen und sei tief hinabsenken zu können. Vielleicht so tief, daß sie niemals wieder in das schwebende Gleichmaß zurückkehrt und dieses eine, unmerkliche, aber das Leben selbst bedeutende Körnchen für ewig unerreichbar bleibt.
Der junge Mann bummelt durch die Straßen, an den glänzend erleuchteten Nachauslagen vorbei, er bleibt da und dort stehen und betrachtet die verschiedenen ausgestellten Waren. Er freut sich im stillen, daß die Läden geschlossen sind, daß er alles genießen kann, ohne die Mühe der Entscheidung. Er besitzt ohne die Last des Besitzes und ohne den Mangel, den jeder greifbare Besitz in sich birgt. Er verschwendet das Hundertfache dessen, was er hat, er lebt ohne Gefahr weit über seine Verhältnisse. Er ist wahrhaft reich.
Schließlich aber, wenn er die Banknote nicht mehr ertragen kann, tut er mit ihr, was jeder mit ihr tun würde, bei dem Geld nicht übernachtet. Die Theater sind schon geschlossen, in den Restaurants ist nichts Rechtes mehr zu haben, die Mädchen sind nach Hause gefahren. Dier junge Mann setzt sich ein wenig in die Straßenbahn, kauft dann irgendwo eine Zeitung, wirft einem Bettler mehr als Brauch ist, in den Hut, ißt an einem Büfett überflüssige Dinge, raucht eine Zigarre und, nachdem er alles in kleinen Hingaben ohne Bedeutung vertrödelt hat, geht er heim, seufzt auf dem Treppenabsatz still vor sich hin, und mit einem Gefühl grenzenlosen Hungers und einer Leere zwischen seinen Fingerspitzen legt er sich, ohne die Lampe erst anzuzünden, in das dunkle Bett.
In: Neues 8-Uhr-Blatt, 23.10.1924, S. 8.
Rudolf Kalmar: Unter dem Doppelgeier… Von der Börse, den Börsianern und allem was dazugehört (1925)
Es ist ein frommer Brauch, den Hut zu ziehen, wenn man an der Börse vorübergeht, denn es liegt dort manches Liebe begraben: der Winter in Nizza, der Sommer auf Helgoland, das Badezimmer mit dreizehn Finessen und ein Sechszylinder mit Wasserspülung. Man träumte von diesen Dingen solange, bis die Kollegen vom volkswirtschaftlichen Teil anfingen, ihren täglichen Nachruf mit „andauernd flau“ zu überschreiben. Da wurden die Zeiten finster und bitter. Als sich die schmutzige Phantasie der Ökonomisten erst gar mit 1873 zu beschäftigen begann – in historisch-kritischen Betrachtungen und weil ihre Träger nichts besseres zu tun hatten – konnte das Ende nicht mehr fern sein.
Gott hat es anders gewollt: die Börse steht noch immer.
In schlichter Einfachheit lädt sie den Wanderer zu architektonischen Betrachtungen und zeigt ihm schamhaft die nackten Männlein am Dachrand. Es heißt, daß auch sie vor zwei Jahren noch eine wallende Toga besessen hätten. Wer weiß es?
*
Ein Denkmal wiedergeborener Antike am Ringstraßenrand. Vom Boden an liegt eine Schicht lichter und lichter werdenden Schmutzes an dem marmorprotzenden Bau. Tritonen stechen mit goldenen Gabeln gegen die stürmende Pleite. Durch steinerne Wogen steuern Schifflein mit (wahrscheinlich) unsicherem Kurs und ein engmaschiges Drahtnetz, vor die Bogen des Atriums gespannt, hindert die Spatzen, das zu tun, was viele Börsianer schon lange getan haben.
Just dort zwischen den dickwüstigen Säulen hat vor gut zwei Jahren ein Mann seine Höllenmaschine placiert: Konservenbüchsen mit Zündschnurzipfeln. Sie pflutschten am Abend auf, ohne Schaden zu stiften, fetter Ruß besudelte ein paar Marmorblöcke, Börsenräte kamen zum Lokalaugenschein, das Polizeipräsidium amtierte die halbe Nacht, rasende Reporter schnüffelten tagelang nach dem Attentäter und fanden ihn nicht. Er war entweder ein ganz kleiner, ein ganz ungeschickter Gauner, oder ein großer Witzbold. Noch heute sieht man einem Dachträger die Spuren von seiner Mordmaschine.
So wenig hat sich an der Börse verändert. Nicht nur das: sogar noch weniger.
Noch immer sitzen die Kibitze drüben im Café Wögerer, dem Fegefeuer vor dem Börsenhimmel und mimen volkswirtschaftliches Interesse.
Man betritt die Börse (wie denn nicht) durch ein Hintertürchen und kommt zunächst nach einigem Hin und Her in einen Wartesaal dritter Klasse der österreichischen Bundesbahnen. St. Pölten, beispielsweise, doppelt genommen und frisch ausgekehrt. An graubraunen Wänden stehen biedere Bänke und langweilen sich in stiller Feierlichkeit. Wie die guten alten Ledermöbel im Rauchzimmer daneben, die im Verein mit großen Zeitungsständen das Angesicht: bürgerliches Kaffeehaus kopieren.
Man ist prosaisch gestimmt und spricht daher von Kunst, von Musik, von Tingl-Tangl. Liest ein Feuilleton über Fritz von Unruh und wärmt alte Tratschgeschichten von irgend einer Frau Generaldirektor auf. Oder man schläft. Je nachdem. Was tuts?
Keine Zahl schrillt auf aus dem wohlig warmen Zigarrenrauch. Nicht einmal das Erinnern an ein Bezugsrecht oder das Interesse für eine neue Emission. Egal… Man hat geruhsame Dinge im Kopf wie zur Urlaubszeit und kratzt nur manchmal unmerklich hinter dem Ohr ein wenig die Sorgen.
Während im Saal drinnen dickflüssig und träge die österreichische Volkswirtschaft brodelt.
*
Die Sensale im Schranken hocken melancholisch über ihren Büchern und kommen sich sehr überflüssig vor. Die Aufträge sind selten geworden. Man erledigt sie mit genießerischem Bedacht und malt zwischen dem ersten und dem zweiten Gähnen kunstvoll geschnörkelte Ziffern ins Register. Hie und da nur steigt – ritsche, ratsche – die Avisotafel mit einer Notiz hoch, ohne daß sich jemand darum kümmert. Hie und da putzt einer zum x-ten Maile seine Brillengläser.
Und die Kulisse sieht zu. Man lehnt an der Mauer, lümmelt an einem Schreibtischrand, räkelt sich auf einem massiven Stockerl und stellt sich mit einem Bekannten nach dem anderen zu einer kleinen Plauderei.
Abgerissene Redefetzen treffen das Ohr im Vorübergehen.
„Hören sie zu: Sagt der alte Blau zur seinem Prokuristen…“
„…die Schlanke, mit dem schreigelben Wuschelkopf…“
„…und er bildet sich doch ein, daß das Kind…“
„Nebbich!“
Der Verkehrsturm in der Salgo-Kulisse ist mit Papierstreifen abgeblendet.
Es interessiert sich kein Mensch für das ganze Brimborium.
*
Endlich nach einer halben Stunde ruft irgendwo ein Kommissionär zum Geschäft. Mit gellender Stimme schreit er:
„Ich kauf‘ zu viere… Ich kauf‘ zu viere… Ich kauf‘ zu viere…“
Bei jedem Satz fliegt sein Arm mit scharfem Wurf durch die Luft. Trifft mit der Fingerspitze bald de, bald den. Tödliches Schweigen.
Er kauft zu viere. Keiner rührt sich.
Wieder platzt der Kommissionär los und geifert seinen Satz in das Gemurmel, bis ihm die Stirnadern schwellen und die Stimme kiekst.
„Ich kauf‘ zu viere… Ich kauf‘ zu viere… Ich kauf‘ zu viere…“
Eine aufgeregte Hand peitscht die Luft. Die andere krabbelt nervös im Notizbuch.
Endlich meldet sich einer: „Ich geb‘ um fünef…“
„Ich kauf‘ um viere…“
„Ich geb‘ um fünef…“
„Ich kauf‘ um viere…“
Auge im Auge stehen die beiden Kämpfer // und drücken einander ihr Angebot zu. Die anderen lachen.
„Ich geb‘ um fünef…“
„Ich kauf um viere…“
Da zieht der Verkäufer die Schultern hoch und dreht sich gemächlich um. Es ist wieder einmal nichts gewesen.
Schon spricht er mit einem Freund über Weihnachten am Semmering, da kreischt nach ein paar Minuten neuerlich die Stimme des Kommissärs: „Ich kauf‘ um viere…“
Der andre schleicht langsam zu der Gruppe und lauert harmlos im Hintergrund.
Auf einmal fährt er los, schleudert mit beiden Händen seinem Partner die Worte ins Gesicht: „Ich geb‘ um viereinhalb…“
„Ich kauf um viere…“
„Ich geb um viereinhalb…“
„Gemacht… Dreimal…“
Jeder kritzelt eine Klaue auf seinen Block. Dann verzieht man sich wieder zu den beschaulichen Gruppen.
Schon im Abendblatt steht dann etwas von „andauernd flau, bloß kleinere Schlüsse getätigt“.
*
Punkt 1 Uhr läutet eine Mistbauerglocke die Börse aus. Man notiert die Schlußkurse, telephoniert an sein Bureau um Orders und fragt zu Hause an, was es zu Mittag gibt. Sonst ändert sich nichts.
Man kauft an der Nachbörse so wenig wie zwischen elf und eins.
Und wenn man den vergessenen Doppeladler, der, aus alten Zeiten überkommen, noch immer einen Nebenraum schmückt, mit halbgeschlossenen Lidern anblinzelt, sieht man, wie sein Hals sich streckt, wie sein Schnabel wächst und die Augen zurücktreten.
Jede Seite würgt einen gierigen Brocken: So wird ein altes Emblem zum Börsenzeichen: Doppelgeier.
In: Der Tag, 25.12.1925, S. 3-4.
Robert Neumann: Tollwut an der Börse. (Auszug aus: Sintflut) (1929)
{glossary-ignore]Robert Neumann[/glossary-ignore]: Tollwut an der Börse. (Auszug aus: Sintflut)
Die Riesenkrache an der New-Yorker und der Londoner Börse erinnern an eine Börsenszene aus Robert Neumanns erstem Werk, dem Inflationsroman „Sintflut“. Diese Szene, die ein packendes Bild des verrückten Börsenfiebers gibt, bringen wir nachstehend mit Erlaubnis des Verlages J. Engelhorns Nachf. zum Abdruck.
Ein Diener ging durch den Saal und schnarrte: „Bauch! Karl Bauch! Karl Bauch, Telephon! Herr Bauch! Bauch! Herr Bauch!“ Die Sensale sperrten ihre Bogen und Bücher ein und kamen in die Kulisse herüber, Schlußkurse ermitteln, kaufen, geben für eigene Rechnung. Niemand dachte daran, den Saal zu verlassen. Die Nachbörse tendierte weiter nach oben. Was Klein anlangt, so stand er neben mir mit schiefer Schulter und hängenden Armen, blaß, matt. Wir zogen uns nach der Exotenkulisse. Pollak stand dort noch immer mit fünf, sechs anderen und handelte Abel. Sie waren auf 480 zu 520. Klein gab tausend Stück zu 510. Namen weniger bekannter Papiere schwirrten da durcheinander; kein Tag verging, daß nicht ein paar neuen aufgetaucht wären. Ein magerer, ärmlicher Mensch mit Bartstoppeln sagte: „Schweizer Glas. Ich gebe Schweizer Glas mit 210. Mit 210. Ich geb‘ mit 210.“ Niemand beachtete ihn. Er sagte: „Ich geb‘ Schweizer Glas mit 200.“ Klein horchte auf. „Ein Schweizer Papier?“ fragte er nah meinem Ohre. Ich hatte den Namen nie gehört. Er sagte: „Kaufen Sie.“ Ich bekam sie zu 195, hundert Stück. Klein sagte laut: „Ich nehme Schweizer Glas mit 230!“ Aus einem Winkel kam Ware. „240!“ Der Unrasierte brachte noch 200 Stück. Klein schrie: „Schweizer Glas! Ich nehm‘ mit 250! Mit 250! Mit 280!“ Ein Fetter, Haarloser sagte: „Mit 320 ist bei mir Ware.“ „Wieviel?“ „Tausend Stück.“ Klein warf die Hand hoch, schrie: „Tausend Schweizer Glas an mich mit 320!“ Das Geschäft in Hochdorfern war eingeschlafen. Um uns standen zehn, fünfzehn Menschen. Einer schrillte: „Geld auf Schweizer Glas 330! 340!“ Bei 360 kam Ware, fünfhundert Stück von einem kleinen Bankier. Weitere zweitausend nahmen die Käufer auf, die uns nachspielten. Klein ward die Hand hoch, gellte: „400! 400! 400!“ Er bekam zweitausend Stück. Um uns standen dreißig Menschen und schrien. Man kaufte zu 450 und zu 480. Die gaben, waren Agenten, kleine Bankiers. Dann schob Fischer seinen breiten Bau in eine Bresche, der Kontermineur stand da, tat den Mund nicht auf. Klein schmiß die Hand hoch, gellte: „480!“ Neben mir sprachen zwei. Einer fragte: „Was ist Schweizer Glas?“ Der andere sagte: „Klein weiß, was er tut. Man kann mitgehen.“ Einer kaufte mit Gebrüll bis 530. Klein hob sein Gesicht zu mir, sagte blaß: „Man jagt den Kurs hoch. Drüben steht Fischer und wartet. Wir müssen stabilisieren. Lassen Sie kaufen.“ „Wieviel?“ Er warf mir einen schrägen Blick zu und sagte knapp: „Soviel Sie bekommen werden.“ Ich fing mir Fenichel bei den Alpinen, gab Auftrag. Er stieß ins Gelände vor, mit kraftlosen Ellenbogen, warf Finger hoch, kreischte greisenhaft: „540! 540! Geld 540!“ Klein brüllte sehr vernehmlich: „Ich geb!“ Fenichel stand verblüfft und übernahm hundert Stück. „540!“ rief er noch einmal. Klein brüllte: „Ich geb!“ Fenichel notierte unruhig, offenen Mundes, und warf mir einen hilflosen Blick zu. „Ich geb!“ rief Klein. Viele lachten, Einer sagte sehr vernehmlich: „Ein Schwindler!“ Klein stand fleckigen Gesichtes. Die Hausse war gebremst. Die zwanzig, die uns noch umstanden, fanden sich nicht zurecht und warteten. Einer legte kleinlaut noch einmal Geld. Klein brüllte: „Ich geb‘ mit 540! Mit 530! Mit 520!“ Man lachte. Einer sagte: „Mahlzeit, ich geh‘.“ Da tat Fischer drüben den Froschmund auf und quarrte: „Ich geb‘ mit 500, – Ich geb‘ mit 480. – Ich geb‘ mit 460!“ Klein hob sein Gesicht zu mir: „Er konterminiert. Wo stehen wir?“ Ich addierte. „Wir haben siebzehntausendzweihundert Stück gekauft.“ Klein, mit zuckendem Mund: „Dann muß ich den Kurs halten.“ Fischer trompete drüben: „Ich geb mit 400.“ Klein kreischte: „An mich!“ Man merkte auf.
Nun wurde es ernst. Fischer gab zu tausend und tausend Stück. Klein nahm alles. Fischer gab zehntausend zu 380. Klein übernahm und legte Geld bei 410. Fischer gab zehntausend und bot zwanzigtausend zu 370. Klein übernahm. Dreißig, vierzig Leute umstanden uns, gaben leer ab, spielten Fischer nach bis 340, 330, 300. 295 kam neue Ware. Klein, heißer, weißen Gesichtes, die Krawatte aus der Weste gerissen, Schweiß auf der Stirn – Klein übernahm. Es half nichts. Der Kurs glitt auf 220, 200. Fischer trompete: „180!“ Klein keuchte mir ins Ohr: „Die Rechnung!“ Um Gottes willen – die Rechnung!“ Ich addierte dann leise: „Wir haben zweihundertvierundzwanzigtausendachthundert Stück Schweizer Glas gekauft. Durchschnittlich zu 385.“ Fischer trompete: „175! 170 ist bei mir Ware!“ Klein wankte leicht. Er lehnte sich an mich und flüsterte: „Zu Ende. Wir werden nicht zahlen können.“ Und laut// kreischend, losgelassen: „Ich kaufe! Ich kaufe zu 175! Zu 180!“
Da kamen hinten zwei von den Telephonen, drei, vier. Einer rannte vorüber, schrie: „Der Londoner Schlußkurs! Die Krone 36.400!“ Einer rief, ein Fetter: „Von gestern auf heute die Hälfte!“ Vogel von Vogel junior zog die Brieftasche, nahm Geld in die Finger, schrie: „Dreck ist das! Dreck! Leeres Schreibpapier ist mehr wert!“ Einer lachte. „Leeres Klosettpapier!“ Groß von Bock in Budapest schrie: „Geld auf Rima!“ Er rannte. Einer mit einem Geierkopf schnarrte: „Man muß kaufen, was man bekommt.“ Da warf Samuel Klein beide Hände hoch und kreischte: „Ich nehm Schweizer Glas zu 200! Zu 250!“ Fischer blieb stumm. Einer schrie: „Ich kauf zu 280! 280! 280!“ Leute kamen herüber, drängten sich, Klein kreischte: „300 Geld!“ Man bekam keine Ware. Ein paar Schlüsse standen 320. Drüben tat Fischer das Froschmaul auf und sagte: „Ich seid alle verrückt.“ Einer kreischte ihm Unverständliches ins Gesicht. Ein Ziegenbart meckerte: „Er hat ihm nachgespielt.“ Man kaufte zu 350, 380. Einer drohte Fischer mit beiden Fäusten und schrillte: „Nicht ein Stück hat er! Er hat leer abgegeben!“ Fischer legte mit blassen Lippen 400 Geld. Man schrie, schmiß Hände hoch. Bei 520 wurde Fischer von seinem Schwiegersohn forgeführt. Der Ziegenbart kaufte noch bei 580. Hände flackerten. Eine Dogge bellte 600. Bei 610 gab Klein die ersten zehntausend Stück. Die Dogge brüllte 630. Klein gab. Der Geier hackte herüber und kaufte zwölftausend zu 610. Andere kreischten, Ibisse, Iltisse, Marder. Klein gab. Schweiß troff, ein Hemdkragen lag auf dem Boden, einer kletterte an einem anderen hoch und schrie. Der Geier krächzte 710, die Dogge geiferte 770. Klein gab. Eine Glocke bimmelte. Ein Diener schnarrte: „Bauch! Herr Bauch, Telephon!“ Einer stolperte mit Gebrüll. Einer faßte einen an der Schulter und spie ihm Ziffern, Ziffern, Ziffern aus dem aufgerissenen Mail um die Stirn. Eine Wasserleiche spreizte Finger und griff. Ich addierte. Wir hatten glattgestellt, mit wahnsinnigem Nutzen. Ich ergriff Klein am Arm und riß und schleppte ihn durch die Balgenden nach der Tür.
Im Rauchsalon sank er um. Ich bettete ihn auf das Plüschsofa und gab ihm Schnaps. Der Reporter einer Börsenzeitung schoß herein und griff nach uns. „Was wissen Sie über Schweizer Glas?“ keuchte er. „Welche Informationen haben Sie über Schweizer Glas?“ keuchte er. „Es ist doch richtig,“ keuchte er, „daß das die Braxer Strickwarenfabrik Schweizer & Glas ist? Aber das Unternehmen steht doch, hör ich, vor dem Konkurs?“ Klein lachte schrill und lachte noch, als ich ihn ins Automobil hob.
In: Arbeiterwille, 1.12.1929, S. 7-8.