Richard v. Schaukal: Studentenrecht und Judenfrage. Tatsachen und Grundsätzliches

In Österreich geht gegenwärtig ein Kampf um das Studentenrecht, welches durch das Bedürfnis studentischer Selbstverwaltung notwendig gemacht wird. Dabei wird eine Gliederung auf volksbürgerlicher Grundlage angestrebt, da nur homogene Gruppen arbeitsfähig erscheinen; da andererseits die Studentenschaft in Österreich insoferne recht vielgestaltig ist, als an einzelnen Hochschulen beinahe zwei Drittel der Studentenschaft Nichtösterreicher sind und an allen Hochschulen die Zahl der Nichtdeutschen verhältnismäßig sehr groß ist. Gegen solche Gliederung der Studenten nach volksbürgerlichen Gesichtspunkten läuft nun das Judentum Sturm, weil seine Studentenkreise sich in einer eigenen Gruppe zu organisieren hätten, wobei die übermäßig starke Position des Judentums im Vergleich zu seinem Zahlenanteil an der Bevölkerungsziffer allzu sichtbar in Erscheinung treten würde. Das zum Verständnis der folgenden Darlegungen. Wir geben sie wieder als das beachtenswerte Bekenntnis einer berühmten Schriftstellerpersönlichkeit, ohne die dabei gebotene Behandlung der Judenfrage als erschöpfend zu betrachten.

                                                                               Die Schriftleitung.

Der Sturmlauf der jüdischen Presse gegen das durch ein Gesetz zu erneuernde Studentenrecht hat begonnen. „Zweierlei Volk in Österreich“ überschreibt die „Neue Freie Presse“ einen Leitartikelsatz, der sich nicht entblödet, von „einer künstlichen Scheidewand“ zu verkünden, die zwischen Angehörigen des deutschen Volkes 1 aufgerichtet werden solle, und zu erwägen, daß „sich die ganze Aktion gegen die jüdischen Angehörigen des deutschen Volkes richtet, jedenfalls gegen jenen Teil, der sich durch Erziehung, Erlebnis und Schicksal mit der deutschen Nation untrennbar verbunden fühlt“. (Der andere Teil sind offenbar die Zionisten, also die Juden, die so ehrlich sind, sich als Juden, als Angehörige des jüdischen Volkes zu bekennen.) Die „Wiener Sonn- und Montagszeitung“ bringt gar einen – von der „Neuen Freien Presse“ alsbald übernommenen – Aufruf, der mit Riesenbuchstaben „Ein Hitler-Gesetz in Österreich“ in drohende Aussicht stellt und gegen den „schmachvollen Entwurf des neuen Studentenrechtes“ in bunter Reihe Sozialdemokraten und Landbund, den Kardinalfürsterzbischof von Wien, die „tonangebenden“ Christlichsozialen, den Altbundeskanzler Dr. Seipel, Minister Dr. Dollfuß als „den Führer der katholischen Studentenschaft“, „das freiheitliche Bürgertum“, Kanzler und Vizekanzler und endlich gar die Mütter, ja den Friedensvertrag von Saint-Germain nebst den Staatsgrundgesetzen und der Moral  zu Hilfe ruft gegen „freche Hakenkreuzbuben“.

„Wir sind unter keiner Bedingung geneigt, von unserer Forderung“ – „daß diese Studentenordnung …endgültig verschwinden muß“ – „abzugehen, und wir werden, auch wenn das Haus in Trümmern gehen sollte, niemals zulassen, daß dieser Entwurf zum Gesetz erhoben wird.“ Ein „Kupon“ ist angeschlossen, der um Unterschriften zum „Protest gegen ein auf dem Rassenprinzip aufgebautes Studentenrecht“ wirbt.

Die Juden fühlen sich, wie man aus diesen Drohungen ersieht, trotz ihren Jammer- und Hilferufen sehr stark und rechnen mit der leisetreterischen Feigheit, die sie uns so hat über den Kopf wachsen lassen. Wer den Dreyfushandel in der aktenmäßigen Darstellung von Henri Dutrait-Crozon („Précis de l’Affaire Dreyfus“, Edition définitive. Paris, Nouvelle Librairie Nationale 1924) gelesen hat, wer sich an Hilsner und Halsmann erinnert, wer die Schnitzler-Apotheose und eben erst die lächerliche Stephan Zweig-Huldigung über sich hat ergehen lassen, ja wer nur einen Blick ins tägliche „führende“ Blatt wirft, um dort Finanz- und Kunstwelt, Geschäft und Vergnügen, Bildung und Erziehung von Juden beherrscht, verwaltet und nach ihrem Bild erstellt zu sehen, der kann sich nicht mehr darüber wundern, daß man im Lager der Weltüberwinder diese herausfordernde Sprache führt. Worum handelt es sich? Daß die „Deutsche Studentenschaft“, richtiger und deutlicher gesagt, die nach Abstammung und überlieferter Kultur dem deutschen Volk zuzuzählende Studentenschaft, ihre Volkszugehörigkeit zu bewußtem Volkstum zu erbilden, dieses ihr Volkstum in gemeinsamer Arbeit zu pflegen und zu stärken, befugt und in der Lage sei. Dasselbe Recht soll allen anderen Volksgemeinschaften auf akademischen Boden zustehen. „Reinliche Scheidung“, jawohl: klare, aller Vermischung und Verwischung sich widersetzende Gestalt ist das sittlich-ernste und notwendige Ziel des „Studentenrechts“. Sittlich-ernst, denn es geht um die Selbsterhaltung des dem Menschen bestimmenden leiblich-seelischen Erbes; notwendig, denn dieses// Erbe ist bedroht. Von wem bedroht? Von den „jüdischen Angehörigen“ nicht des „deutschen Volkes“ – das ist ein Widersinn und eine bewußte Falschmeldung – sondern der „Nation“, das ist der durch Bekenntnis zu deutschen Sprache und Staatsbürgertum in einem der zwei deutschen Staaten, dem deutschen Reich und dem österreichischen Bundesstaat als „Staatsvolk“, richtiger als Staatsbevölkerung festgestellten „Einheimischen“. Die Überflutung der Hochschule druch den stetigen Zustrom nicht so sehr von „Ausländern“ wie von einheimischen Juden ist eine nicht zu bestreitende Tatsache. Ich habe seit dem Kriege durch viele Jahre an der philosophischen  Fakultät der Wiener Universität als Hörer verschiedener Fächer, insbesondere der alten und der neueren Sprachen, den Vormittag verbracht, zwei meiner Kinder haben innerhalb dieser Zeit ihre akademischen Studien, in Jus und Philosophie, vollendet. Ich spreche also aus Erfahrung, nicht vom Hörensagen. Es gibt zumal auf dem Gebiete der Literaturgeschichte, Vorlesungen, in denen die jüdischen Besucher, in auffallender Weise die jüdische Weiblichkeit, überwiegen. Ähnlich ist es in der Rechtswissenschaft bestellt, und daß die medizinische Fakultät  schon seit geraumer Zeit ein ausgesprochen jüdisches Gepräge zeigt, ist bekannt. Wer die Gegend der Hochschule für Welthandel betritt, erhält schon auf der Gasse denselben, man darf wohl sagen, „befremdenden“ Eindruck. Ja, es ist nicht zu leugnen, daß das massenhafte Auftreten von Juden – wie auf akademischen Boden so an allen Stätten der Erholung und der Unterhaltung, Badeanstalten und Badeorten, Theatern, Konzertsälen, Tanzräumen, Kaffeehäusern, Hotels – auf den Nichtjuden, der sich zwischen seinen Wänden in eine fremdartige und nicht eben einnehmende Welt verschlagen dünkt, mehr als peinlich, daß es bedrohlich wirkt. Mag er Erwägungen darüber anstellen, daß diese bereits als Verjudung zu bezeichnende Inanspruchnahme eines großen, ja des im Bereiche städtischen Daseins größeren Teils des Verkehrslebens, der öffentlichen  Geselligkeit vor fünfzig, ja noch vor dreißig Jahren nicht als möglich gegolten hätte, daß das Emporkommen der Juden aus einer bescheidenen Teilnahme am allgemeinen Zustand zu solcher den Anblick dieses Zustands verwandelnden Ausbreitung einem Wohlwollen, einer Nachsicht, einer Duldung zu Lasten geschrieben werden müsse, die es sich nicht verhehlen können,  ausgenützt, mißbraucht worden zu sein; mag er, nachdenklich, dem Geist einer empfindsamen und verwaschenen „Menschlichkeit“ , wie sie seit den bürgerlichen Revolutionen allenthalben eben die Juden im Munde führen, die Schuld beimessen an einer nachgerade unausstehlichen Vorherrschaft freisinnig-aufklärerischer Wendungen, denen sich, eingeschüchtert, die Kenntnis- und Urteilslosigkeit der Halbgebildeten allzu leichtgläubig unterworfen hatte; mag er sich, ohne solche Betrachtungen anzustellen, nur dem Eindruck hingeben einer ebenso aufdringlichen wie abstoßenden Menge, wie sie ihm allüberall als der zu Erwerb und Genuß durch Anlage, Trieb und Gelegenheit bevorrechtete Stock seiner Mitmenschen entgegenwogt; er fühlt sich an den Rand unbefangenen Gehabens geschoben, ja aus seinen vertrauten Grenzen gedrängt, um die Heimat betrogen durch eine rücksichtslos ihrer Begehrlichkeit fröhnende Schar, die er, unwillig über die Unbilde solcher Behelligung, grollend über seine Wehrlosigkeit gegenüber der geschlossen vorstoßenden, zähen und geschmeidigen Körperlichkeit der Eindringlinge, unwillkürlich als seinen Feind empfindet.2

Das ist die Lage, die die „Judenfrage“ geschaffen hat, eine der wichtigsten, vielleicht die wichtigste Frage unserer Zeit, der Welt des 20. Jahrhunderts. Der Jude hat die Herrschaft über die europäische Gesellschaft angetreten, der jüdische Geist – der Inbegriff des wühlenden Intellektualismus, der zersetzenden Kritik, zugleich der hemmungslosen Sinnlichkeit und Stofflichkeit – verseucht das schlecht verteidigte, diesem Geist in vielen Vorwerken bereits ausgelieferte Abendland. Es gilt, ihm, dem unersättlichen, zerstörungslustigen, Einhalt zu tun, wo man ihm noch aus ungetrübter Besinnung Widerstand zu leisten fähig ist. Das ist vor allem dort der Fall, wo ungebrochene Jugendlichkeit, wahrhaftiges Selbstbewußtsein des zu sich selbst Wachsenden gedeihen: in der Studentenschaft. Man lasse sie nicht durch übelangebrachte Bedenken wehleidiger „Gerechtigkeit“ – die  Juden berufen sie immer nur für ihre Zwecke –, gar durch die von haßerfüllten Schreiern heuchlerisch beschworenen „Grundsätze der Religion“, der „Moral“ am klar erkannten Ziel irre machen. Es handelt sich hier nicht um Religion und „Konfession“, nicht um Nachbarlichkeit, Gastrecht und wie die Schlagworte sonst lauten mögen, es handelt sich nicht – eine freche, kniffige Bezichtigung – um einen Verstoß gegen die sogenannten Friedensverträge: es handelt sich um die eigene Haut, um die eigene Seele, um das unzweifelhafte Recht, auf eigenem Boden zu stehen, in ihm wurzeln zu dürfen, sich ihn nicht unter den eigenen Füßen wegziehen zu lassen, es handelt sich darum, die Zukunft, die düstere Zukunft auszuharren, zu retten, was noch zu retten ist an erbeigentümlicher Art, an volks- und stammestreuer Geistigkeit, kurz an dem, was einen Staat, soll er nicht eine Karawanserei vorstellen, ausmacht: ein sich aus sich selbst erneuerndes, in Boden, Blut und hergebrachter – bei uns also der christlichen – Kultur dauerndes  Staatsvolk.

In: Schönere Zukunft, Nr. 13, 27.12.1931, S. 303-304.


Vgl. dazu den Originalartikel, der hier von Schaukal tendenziös zusammengefasst und kommentiert wird: Neue Freie Presse, 13.12.1931, S. 1.


  1. Alle kursiv gesetzten Textstellen sind im Original gesperrt gedruckt und somit eigens hervorgehoben.
  2. Jeder, der jüdische Freunde hat – ich bekenne mich gern, treu und dankbar für ihre Anhänglichkeit, zu einer Reihe bewährter jüdischer  Jugendgenossen, ebenso wie  ich mich gern, treu und dankbar bekenne zu einer Reihe jüdischer und ‚halbjüdischer‘ Schöpfer, Denker und Künstler, Montaigne, Proust, Bizet, Marées, Offenbach, Felix Mendelssohn-Bartholdy, Cézanne, Altenberg, Kraus – , jeder, der jüdische Freunde und schätzbare Bekannte hat, weiß, unterscheidend zwischen dem einzelnen und der Gesamtheit, zwischen den eben als einzelne in der Gemeinschaft von Erziehung, Gepflogenheit, Erinnerung aufgegangenen alteingesessenen Angehörigen dieses von uns grundverschiedenen Volkes und dem als Ganzes seine Verschiedenheit, seine Gegensätzlichkeit nur um so stärker betonende Volke selbst, daß es sich bei der unvermeidlichen, der aufgenötigten Auseinandersetzung mit dem Judentum als Fremdkörper um Ideen, Grundgefühle und Grundsätze, um Weltanschauungs- und Machtfragen, nicht aber darum handelt, ob einem im besonderen Fall etwa ein Jude oder ‚Judenstämmling‘ – was bei der Beharrlichkeit des jüdischen Blutes dasselbe deutet – aus triftigen Gründen und ehrlichen Empfindungen angenehmer, lieber sei als so mancher sei es rasseloser oder rassereiner ‚Arier‘. Auch wird kein Unbefangener leugnen, daß dem jüdischen Volke neben unleidlichen in hohem Grade Eigenschaften zumal der Vernunft zugutekommen, die es vor anderen auszeichnet. Was wir als jüdisch erachten und bekämpfen, ist ein Verhalten und  Zusammenhalten, das sich, auch in scheinbarer Anlehnung, immer wieder auf unverkennbare Weise gegen uns und unsere Selbstbestimmung kehrt. – Man lese, was die „Neue Freie Presse“ im Leitaufsatze vom 13.12.31 gegen die „widerwärtige Sophistik“ der Verteidiger des Studentenrechtes auf volksbürgerlicher Grundlage ins Treffen führt bei „Bestrebungen, die auf eine Monopolisierung des Deutschtums hinausläuft (sic, statt = „laufen“) in den Händen der Rassenjünglinge…“ Es sollen nach der N.F.P. alle „Mißliebigen“ aus der (deutschen) „Studentennation“ ausgeschlossen werden, „auch wenn sie sich aus vollem Herzen und nach ihrer ganzen Gemütsverfassung zum Deutschtum bekennen“. Unter den Beispielen, welche Bekenner, lebten sie heute, von dieser Gewalttat betroffen würden, marschiert an erster Stelle „der Dichter der Loreley“ auf, „der Schöpfer des neuen Stils der deutschen Sprache (!), Heinrich Heine…Wann wäre wohl das Wort Sophistik besser angebracht als  bei der Beschwörung dieses Kronzeugen für deutsche „Gemütsverfassung“!

A.F.S [Adalbert F. Seligmann]: Die Frau als Künstlerin.  

(Zur Ausstellung im Hagenbund.).

Der Weltkongreß der Frauen, der in diesen Tagen wohl an tausend seiner Mitglieder und Gäste in unserer Stadt versammelt, hat wie ein warmer Frühlingsregen auch auf dem bei uns sonst nicht allzu ergiebigen Boden der bildenden Kunst – ergiebig im materiellen Sinn! – ganze Pflanzungen aufsprießen lassen. Da ist zunächst eine Ausstellung in den Terrassensälen der Neuen Hofburg, von der Gruppe „Wiener Frauenkunst“ veranstaltet – der Bericht darüber ist eben erschienen -, die das Ewig-Weibliche in seinen radikal modernen Spielarten vorführt; dann die von der Vereinigung bildender Künstlerinnen Oesterreichs in den Räumen des Hagenbund (1. Zedlitzgasse 6) unter dem Titel „Zwei Jahrhunderte Kunst der Frau in Oesterreich“ kürzlich eröffnete, die auch höchst interessante Blicke in die Vergangenheit tun läßt. Bald soll auch im Theseustempel (Volksgarten) eine Nachlaßausstellung der Bildhauerin Anna Margarethe Schindler eröffnet werden, auf die man gespannt sein darf, denn die kürzlich in jungen Jahren Verstorbene war ohne Zweifel eine der stärksten Begabungen, die in letzter Zeit hervorgetreten sind. Auch auf eine bescheidene, rasch improvisierte Schulausstellung der „Wiener Frauenakademie“ (1. Bäckerstraße 1) darf hingewiesen werden, weil aus dieser vor einem Menschenalter gegründeten Anstalt zahlreiche namhafte Künstlerinnen hervorgegangen sind, die wir in den beiden eben genannten Ausstellungen vertreten finden. Schließlich mag man auch die prächtige Maria-Theresia-Ausstellung in Schönbrunn damit in einen gewissen Zusammenhang bringen, da in ihr das Wirken einer der genialsten Frauen, die jemals gelebt haben, auf imposante Weise vor Augen geführt wird.

            Naturgemäß drängt sich hier die Frage auf: Haben die in den erwähnten Kunstausstellungen gezeigten Werke etwas Gemeinsames, das man als das spezifisch Weibliche in der Kunst bezeichnen könnte? In dieser Hinsicht sind die Antworten lehrreich, die auf eine, von den Veranstalterinnen der „Wiener Frauenkunst – Ausstellung“ an zahlreiche Persönlichkeiten gerichtete Rundfrage: „Wie sieht die Frau?“ eingelaufen, im Katalog dieser Ausstellung abgedruckt erscheinen. Während hier sonderbarerweise die Aueßerungen einiger Kunstgelehrten nur ganz vage und allgemeine, zum Teil ins Abstrakt – Nebelhafte sich verlierende Ansichten wiedergeben, sind es zwei Frauen, Marianne Hainisch und Rosa Mayreder, die sich am präzisesten fassen und meines Erachtens in der Hauptsache den Nagel auf den Kopf treffen. Beide sagen kurz und bündig, daß die künstlerisch veranlagte Frau nicht als Geschlechtswesen, sondern als Individuum ficht. „Je höher die Begabung, desto weniger machen sich die spezifischen Geschlechtseigenschaften geltend. Ich könnte nicht sagen,“ fährt Rosa Mayreder fort, „inwiefern die Werke der Rosa Bonheur, der Tina Blau, der Käthe Kollwitz, der Feodorowna Ries“ – wir zitieren nur einige der von ihr angeführten Namen – „spezifisch weiblich gesehen sind. Früher einmal hat man das spezifisch Weibliche in der Neigung zur minutiösen Durchbildung, zum Miniaturhaften, in der Vorliebe für das Detail erkennen wollen – aber da müßte man die meisten Zeitgenossen Waldmüllers“ – und diesem selbst, fügen wir hinzu! – „die Männlichkeit aberkennen … Die größte Verherrlichung der Mutterschaft in der Malerei, die Darstellung der Madonna, stammt nicht von Frauen“, usw. Auch Maler A.D. Goltz und der Schreiber dieser Zeilen haben in ihren Antworten Aehnliches, wenn auch nicht so scharf formuliert, gesagt. Es ist ja auch einleuchtend genug! Begegnen wir doch im Leben nur zu oft Männern, die eigentlich alte Weiber sind und Frauen, die die Hosen anhaben; in der Kunst sogar solchen, von denen das letztere auch im wörtlichen Sinne gegolten hat, wie etwa von Rosa Bonheur, von George Sand und auch von einer gelegentlich dieser Ausstellung für die weitere Oeffentlichkeit neuentdeckten Wiener Künstlerin, Hermine Gartner, die in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gelebt hat. Da in den sechziger Jahren den Frauen das Kopieren in der Akademie nicht gestattet war, zog sie Männerkleidung an und behielt diese auch später bei. Im Katalog der „Zwei-Jahrhundert-Ausstellung“ wird ihr abenteuerlicher Lebenslauf und ihr tragisches Ende kurz geschildert. Ihr ausgestelltes Selbstporträt ist eine vortreffliche Arbeit, die aber keineswegs besonders „männlich“ anmutet.

            So viel scheint sicher – von einem gewissen Qualitätsniveau an spielt das „Weibliche“ oder „Männliche“ keine Rolle mehr. Wenn man sich im Mittelsaal der Ausstellung im Hagenbund umsieht, wird man vielleicht an den Werken aus dem achtzehnten und der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, also an den Porträts der Carriera, der Angelika Kauffmann (5, 6), der Vigee-Lebrun (9), an den Blumenstücken der Pauline Koudelka-Schmerling (11), den Miniaturen der Henriette v. Brevillier (29)  – wir haben gleich die besten Stücke mit ihren Nummern bezeichnet – das Glatte, Gefällige, dem Auge Schmeichelnde als „weiblich“ bezeichnen wollen; doch darf man nicht vergessen, daß zu jener Zeit die Bilder der Grassi und Lampi, der F. X. Petter und anderer Blumenmaler, die Aquarellporträts von Johann Ender usw. auf das heute keineswegs „männlicher“ wirken. Das lag eben in der Zeit. Vor einem Gemälde, wie es die wundervolle Praterlandschaft der Tina Blau (36) ist, denkt man überhaupt nicht daran, ob es ein Mann oder eine Frau geschaffen hat. Das Bild ist nahezu fünfzig Jahre alt, zur selben Zeit entstanden, wie die große Praterlandschaft, die im Belvedere hängt, und wirkt in seiner unglaublichen, mit den einfachsten und ehrlichsten Mitteln erzielten Lichtfülle als sei es eben von der Staffelei gekommen. Seinerzeit wurde diese Malerei nur von wenigen ganz nach Verdienst gewürdigt, und ich glaube, die bescheidene Künstlerin selbst war sich nicht klar darüber, was sie da eigentlich geleistet hatte. Als das erwähnte große Praterbild – es dürfte im Jahre 1881 gewesen sein – zur Ausstellung im Künstlerhaus eingereicht wurde, wäre es bei einem Haar zurückgewiesen worden. Es war so rücksichtslos hell und farbig, daß es zu den anderen Bildern absolut nicht passen wollte und überall ein „Loch in die Wand“ riß. Damals legte sich Makart ins Mittel und erklärte der Jury, dies sei das beste Bild der ganzen Ausstellung; so erhielt es schließlich sogar einen besonders guten Platz und schon im folgenden Jahr im Pariser Salon die mention honorable.

            Denkt man, wie gesagt, vor den Bildern der Blau gar nicht daran, ob ihr Schöpfer ein Mann oder eine Frau gewesen, so möchte vor denen ihrer bedeutendsten Rivalin, Olga Wisinger-Florian (es sind drei Werke von ihr im ersten Seitenraum linkt ausgestellt), jeder, der ihre Signatur nicht kennt, darauf wetten, daß ein Mann sie gemalt habe. Sie sind mit einer so draufgängerischen Verwegenheit hingespachtelt, daß niemand eine zarte Frauenhand darin erkennen würde. Schade, daß nichts aus ihrer früheren Zeit hier zu sehen ist, keines von den reizenden, ganz dünn und delikat gemalten Feldblumenstücken mit Schmetterlingen und dunklem Grund! Der Katalog tut ihr ein wenig unrecht, wenn er sie nur „als Blumenmalerin geschätzt“ sein läßt, und wenn die Selige wüßte, daß besagter Katalog von ihren Auszeichnungen nur zwei anführt und verschweigt, daß sie Officier de l’Academie gewesen, so würde sie sich im Grab umdrehen, denn sie hielt etwas auf solche Dinge! Die unheimlich groß gewachsene, fabelhaft häßliche, aber höchst geistreiche, amüsante und redegewandte Frau war als Künstlerin vielseitiger, beweglicher, virtuoser als Tina Blau (wenn mir die letztere gleichwohl als die bedeutendere Individualität erscheint), auch stand sie beständig im Mittelpunkt eines regen geselligen Großstadtlebens, während Tina Blau – zum Teil auch ihrer Schwerhörigkeit halber – nur ungern unter Menschen ging, besonders seitdem sie nach einer siebenjährigen, aber überaus glücklichen Ehe Witwe geworden war. Im Menschlichen wie im Künstlerischen zwei Gegensätze, wie man sie ausgeprägter wohl selten antreffen wird.

            Die enorme technische Bravour der späteren Wisingerschen Malerei erregte vor fünfundzwanzig, dreißig Jahren das größte Aufsehen, gelegentlich sogar Widerspruch! Heute haben sich die Maßstäbe verändert. Man sieht in dieser Ausstellung eine große Zahl von Arbeiten, die gerade in dieser Hinsicht sehr weit gehen und dabei – was ja die Hauptsache ist – auch qualitativ vortrefflich sind. So etwa – wir gehen in der vom Katalog angezeigten Richtung durch die Säle – das breit hingestrichene Männerporträt von Friederike v. Koch (98), die „lettische Bäuerin“ (107) von Therese Mór, ein Bild das in eine öffentliche Galerie gehört, den alle Zufälligkeiten virtuoser Aquarelltechnik ausnützenden „Spaniel“ von Vilma Friedrich (109), die koloristisch brillanten Blumenstücke von Marie Magyar (151, 153), die meisterhaften Hundebilder von Norbertine Breßlern-Roth (164, 166, 167), einer der stärksten Individualitäten unter den lebenden österreichischen Malerinnen (die sich nur davor hüten muß, in Manier zu verfallen!), das wuchtige Vernis-Mou-Blatt von Pepi Weixlgärtner (200), die geradezu ungestüm hingeworfenen Schneebilder der hochbegabten Katharina Wallner (220, 222), die freilich in ihrer exzessiven Art schon an die äußerste Grenze gehen und denen ich darum manche frühere Arbeiten der Künstlerin vorziehen möchte; die monumental gesehenen Figurenstudien und das großzügig einfache Pastellporträt von Johanna Kampmann-Freund; unter den Plastiken die imposante Halbfigur des Grafen Wilczek von Feodorowna Ries (Saal II), ein Werk, das hier durch die zerstreute Beleuchtung und das Material (getönter Gips) nicht so zur Geltung kommt wie in Bronze an seinem Standort vor dem Haus der Rettungsgesellschaft; die wundervolle „Schreitende“ von Anna M. Schindler (Saal V), und die leider etwas zu tief placierte Marmorfigur der verstorbenen Nora Exner, an herbe italienische Renaissanceplastiken gemahnend. Alle die genannten und noch manche andere in dieser Ausstellung gezeigten Werke, die zu erwähnen uns hier der Raum fehlt, enthalten auch nicht die Spur irgendwelcher Süßlichkeit, Glätte oder gefälligen Oberflächlichkeit. Auch dies ist ein Zeichen der Zeit. Für die künstlerisch schaffende Frau von heute fallen zahllose psychische – und sogar physische! – Hemmungen weg, die noch vor dreißig Jahren wirksam waren. Ja, in extrem modernen Ausstellungen von Frauenkunst finden wir den Ausdruck dieses Freiheitsgefühles oft zur forcierten und innerlich hohlen Kraftmeierei ausgeartet.

            Es wäre darum ganz falsch, anzunehmen, daß eine losgeherische oder brutale Skizzenhaftigkeit an sich schon etwas „männliches“ an sich habe. Wir brauchen da nur an Jan van Eyck, Memling, Dürer, Holbein, Terboch, Ingres zu denken, um uns klar darüber zu werden, daß auch die subtilste Durchbildung, die feinste Detailmalerei nicht den Eindruck des Weiblichen oder sagen wir noch bezeichnender, des Frauenzimmerhaften zu machen braucht. Es kommt eben auch hier wieder nur auf die Qualität an! Erreicht diese eine besonders hohe Stufe, so denkt niemand mehr an solche Unterscheidungen. Auch dafür bringt die hier besprochene Ausstellung einige charakteristische Beispiele: im Mittelsaale das Obststilleben der Rosalie Amon (13), so gut wie ein Waldmüller, im Seitenraum I, links das winzige Stilleben von Camilla Friedländer (67), das in Komposition und Haltung freier, daher sozusagen „männlicher“ wirkt als die ähnlichen noch heute gut bezahlten Bildchen von Max Schödl; ferner die geradezu mikroskopisch durch-geführten Tierstudien von Hilde Gräfin Vitzthum gebornen Goldschmidt (IV, 112 bis 114), die nicht nur als technische Leistungen stupend sind, sondern ein Einfühlen in die Natur verraten, wie es in dieser Intensität nur ganz selten zu finden ist. Auch der mit der Feder gezeichnete Männerkopf von Martha E. Fössel (123) oder die Pflanzenstudien von Mila v. Luttich (121) wären etwa noch auszuführen und nochmals auf das schon erwähnte Blumenbild der Baronin Koudelka (Mittelsaal, Nr. 11) aufmerksam zu machen, eine Arbeit, die kurzweg als Meisterstück bezeichnet werden muß. Hier sei auch noch auf das Mädchenbildnis (VII, 206) von Luise Fränkel-Hahn hingewiesen, ein Kniestück, das, obwohl lebensgroß, mit einer an die Quattrocentisten erinnernden Subtilität aller Details durchgeführt, doch nichts an Lebendigkeit und Bewegung verloren hat.

            Werke dieser Art müssen besonders hervorgehoben werden, weil sie gerade bei vielen sogenannten „Fachleuten“ heute auf vollkommenes Unverständnis stoßen, ein Unverständnis, das erstaunlich wäre, wüßte man nicht, daß diese Sorte von Kennern Bilder nicht mit dem Sehorgan, sondern mit dem Literaturorgan betrachtet und dort wo sie ihr reichlicher Fremdwörtervorrat im Stiche läßt, nichts mit dem Kunstwerk – und mit sich – anzufangen weiß.

(Ein Schlußartikel folgt.)

In: Neue Freie Presse (Morgenblatt.), 30.5.1930, S. 1-3.

Felix Salten: Motordefekt

            Neulich fuhr jemand, den ich kenne, in einer Autodroschke nach Hause und hatte dann mit dem Chauffeur ein kurzes, aber bezeichnendes Gespräch. Eigentlich darf sich dieser Jemand das Autofahren ja nicht erlauben. Allein er kann dem Leichtsinn nun einmal nicht lassen, er denkt zu oft: was soll das schlechte Leben nützen? er wohnt außerdem in einer entlegenen Gegend, und so erlaubt er sich trotzdem immer wieder, was ihm die ernste Ueberlegung, die er nicht hat, und die Einnahmen, die er gleichfalls nicht hat, verbieten müßten. Es war Nacht. Der Wagen vollführte seltsame Hopser, geriet etliche Male, wenn er um die Ecke biegen wollte, mit den Rädern auf den Bürgersteig, drohte jeden Augenblick stehen zu bleiben, ruckte und stieß wieder vorwärts; kurz, es war alles, was man will, nur kein Vergnügen.

            Am Ziel erkundigte sich mein Jemand, ob der Motor defekt sei. „Oh nein,“ kam die Antwort, „dem Motor fehlt einstweilen noch gar nichts. Defekt bin bloß ich. Wir werden ja sehen, wie lange der Motor mich aushält..“ Das klang anders als der hemdärmelige Dialekt, den man sonst bei solchen Gelegenheiten hört. Es war die Sprache eines gebildeten Menschen. Der Fahrgast stand verwirrt und sagte: „Komisch.“ Doch er wurde belehrt. „Was wollen Sie, mein Herr,“ sprach der Autolenker resigniert, „das ganze Leben ist komisch. Ich bin erst drei Wochen Chauffeur. Und diesen Wagen da habe ich heute nacht zum erstenmal. Da weiß ich noch nicht recht Bescheid damit. Tja,“ setzte er hinzu und hatte offenbar das Bedürfnis, sich mitzuteilen, „ich fahr‘ immer in der Nacht. Bei Tag schähm‘ ich mich. Denn ich bin akademischer Maler!“

            Was muß dieser Mann für Entbehrungen durchgemacht, wie viel Kummer, welche Fehlschläge mag er gehabt, wie viel teure Illusionen mag er bestattet haben, ehe er den tapferen Entschluß faßte, Chauffeur zu werden, um das tägliche Brot zu verdienen. Nicht alle Künstler sind so resolut, wie dieser Mann, der es vorzieht, sich des Nachts mit einem Motor herumzuschlagen, statt Leinwand um Leinwand zu bepinseln, die keiner kauft. Nicht alle Künstler, die hungern, geben so entschieden einen Beruf auf, den sie einst hoffnungsvoll, schaffensfreudig, begeistert und opfermutig erwählten. Nicht alle können das. Viele sind zu alt, viele sind zu zart, viele glauben zu fest an sich und ihre Erdensendung. Und viele sagen sich, daß die Konkurrenz in allen anderen Erwerbszweigen, die ihnen außerdem fremd sein müßten, ohnehin schwer auszuhalten wäre; daß die allgemeine Arbeitslosigkeit es aussichtslos scheinen lasse, irgendein Plätzchen, und sei es das bescheidenste, zu erobern. Aber allen Künstlern geht es furchtbar. Den berühmten wird es hart genug, sich zu halten. Die Namenlosen hungern. Sie hungern ohne Unterschied des Talents. Die Fähigen genau so wie die Nichtskönner. Die Hypermodernen ebenso wie die zu Kompromissen Erbötigen. Die Maler, die Zeichner, die Bildhauer, besonders die Bildhauer hungern. Es ist ein Jammer.

            Manchmal schreibt einer von ihnen dem Unterrichtsminister einen offenen Brief. Dann richtet ein anderer wieder ein offenes Sendschreiben an den Finanzminister. Dann wenden sie sich an die Stadt Wien. Oder sie erlassen einen Aufruf. Lauter Notschreie, lauter Hilferufe. Sie verhallen auch nicht ungehört. Jeder ist erschüttert. Aber die Not besteht fort, weil die Hilfe ungenügend ist. Sie kann wohl auch kaum ausreichen, diese Hilfe. Denn der österreichische Staat ist klein und arm. Außerdem wird es niemals ganz gelingen, Künstlern zu helfen, denen geholfen werden soll.

            Als während des Krieges die Kunstfürsorge gegründet wurde, flüsterten erfahrene Männer einander zu, dieses gutgemeinte Unternehmen werde mehr Schaden anrichten, als Nutzen schaffen. Flüsterten. Denn damals konnte man Wahrheiten nicht laut aussprechen. Auch heute noch ist es, wie übrigens immer, eine riskante Sache um solche Wahrheiten. Die Meinung, die damals im Flüstertone umging, war, man werde Unterstützung niemandem verweigern können, auch jenen nicht, die schon in Friedenstagen durch ihre Talentlosigkeit zum Darben verurteilt blieben. Die Unterstützung jedoch hindere die Unfähigen an der Selbsterkenntnis, halte sie auf immer fest in dem Künstlerberuf, der für sie doch verfehlt sei, legitimiere sie fälschlich darin. Zeitlebens würden sich diese Unzulänglichen als Vollwertige fühlen, würden sich und anderen zeitlebens beweisen, daß sie echte Künstler sind, denn sie haben ja doch den Beistand der Kunstfürsorge gefunden. Der beste, der unwiederbringlich geeignete Moment, so hieß es, eine Zwangsauslese unter den viel zu vielen Malern und Bildhauern herbeizuführen und den Beruf von hoffnungslosen Mitläufern zu entlasten, dieser erziehlich kostbare Moment werde durch die Kunstfürsorge versäumt und vereitelt. Mag sein, daß es mit diesen Bedenken soweit seine Richtigkeit hat. Möglicherweise hätte der oder jener den Pinsel, ein anderer das Modellierholz weggelegt, um zum eigenen Heil ein nützliches Gewerbe zu ergreifen. Ich glaube nicht daran.

            Diese Wahrheit existiert im Grunde doch nur als eine theoretische. In die Praxis wäre sie kaum umzusetzen gewesen. Nur vereinzelte Fälle, wenn sie sich ereigneten, könnten uns als Ausnahmen gelten, durch welche die Regel bestätigt wird. Denn niemand glaubt so fest, so eigensinnig, so unbelehrbar an sein Talent, wie der Talentlose. Kein Meister hat die ruhige Selbstsicherheit, die dem Dilettanten verliehen ist. Weit eher lässt sich ein Kaukasier einreden, er sei ein Kongoneger, als ein Nichtskönner zu überzeugen wäre, daß er nichts kann. Es ist leicht, ein Genie in seinem Selbstvertrauen zu erschüttern, ihm sein Schaffen zu verleiden, aber es bleibt ganz unmöglich einen Stümper in der Freude am eigenen Ich zu stören, ihm die Arbeitslust auch nur für eine Stunde zu trüben. Diese Euphorie hat die Natur ihren Stiefkindern des Geistes nun einmal geschenkt und man muß sich damit abfinden. Es handelt sich auch gar nicht um diese armen Teufel, so peinlich es sein mag, daß auch sie sich an die Schüssel drängen und mitzuessen begehren. Das Traurige, das Wichtige an diesen traurigen Zuständen: die Schüssel ist leer. Leer selbst für die Besten.

            Nicht bloß den heutigen Künstlern geht es schlecht. Der Kunst selber ergeht es heute so übel wie niemals vorher. Daß die Künstler jetzt so hart um das bißchen Dasein ringen müssen, liegt nur zum geringen Teil an den flauen wirtschaftlichen Verhältnissen. Niemand hat Geld. Das stimmt freilich. Aber es ist, andererseits und zum Donnerwetter, doch wieder nicht so ganz richtig. Die Leute haben Geld für alles, was sie erheitert, was sie aufregt, was ihnen gespanntes Interesse abgewinnt, was sie überrascht, verblüfft oder sie als ein Wunder erhebt. Die wirtschaftlichen Zustände sind niederträchtig. Die Geschäfte gehen erbärmlich. Die Verarmung steigt. Wahr! wahr! Dennoch bleibt es ebenso wahr, daß die Theater nie dagewesene Serienerfolge hatten, wenn sie nur das rechte Stück aufführten. Die Kinos werden gestürmt, wenn ein guter Film zu sehen ist. Ein Fußballmatch bringt an einem einzigen Nachmittag mehr Einnahmen als ein täglich ausverkauftes Theater in einer Woche. Und beim Derby gibt es am Totalisateur einen Milliardenumsatz. In dieser angeblich ruinierten Stadt wächst die Anzahl der Automobile binnen zwei kurzen Jahren um zehntausend, gar nicht zu reden von den fahrenden Kochtöpfen, den Motorrädern, die sich wie die Feldmäuse vermehren. Die Kunst aber geht vergebens nach Brot! Sie schreit, sie bittet, sie jammert nach Brot. Und niemand findet sich, der ihr ein Stückchen darreicht.

            So wenig Sinn für die Kunst wie heute scheint es noch nie zuvor gegeben zu haben. Es ist ja schon nicht viel Sinn für die Dichtung vorhanden und nicht übermäßig viel für Musik. Was der Dichtung an Aufmerksamkeit gewidmet war, haben die Sketches, die Revuen weggenommen. Und die Filme. Was der Musik geblieben ist, haben die Jazzorchester verschlungen. Selbst der Film muß sich zur Wehr setzen. Schon früher hat sich im Kino kein Mensch um den Autor eines Films gekümmert. Nur um die Filmstars, um die weiblichen und männlichen, ging der Wettlauf aller Huldigungen. Jetzt aber beginnen Filme zu erscheinen, in denen die Einzelpersönlichkeit ausgelöscht ist, wie der „Panzerkreuzer Potemkin“, und sie zeigen Meisterleistungen von einer neuen, atemraubenden Art. Es kommen Filme, in denen überhaupt kein Mensch mehr auftritt. Nur Tiere sieht man und ist hingerissen. „Das Blumenwunder“, das in der „Urania“ gezeigt wird, bringt nur Blumen, kein einziges Tier. Und die Menschen, die ab und zu darin auftauchen, stören bloß, gehören nicht dazu, verderben den ungeheueren Eindruck, indem sie ihn banalisieren und in Kitsch verwandeln. Eine neue, ungeahnte, an ergreifenden, spannenden, erhabenen Momenten überreichte Welt öffnet sich da unseren Blicken. Eine Welt, die ganz unverbraucht ist. Geheimnisse, die wir nur ahnten, bieten sich entschleiert dar. Wie mächtig ist die Wirkung, die ein Tier ausübt. Jeder Schmetterling, der aus der Puppe bricht und seine Flügel breitet, jede kleine Schlange, die aus dem Ei schlüpft, spielt Jannings und Henny Porten und Douglas Fairbanks und Charlie Chaplin an die Wand. Mächtiger noch sind die Blumen, die wir nun blühen, ist das Gras, das wir jetzt wachsen sehen. Eine Schlingpflanze, die in der Luft nach Halt tastet, Fliederdolden, die sich prangend erschließen, Zyklamen, die ihre Knospen öffnen und ihre Blütenblätter zurückschlagen, Kakteen, die ihre blühenden Triebe emporjagen und welkend niedersinken lassen, Sonnenblumen, die sich strahlend auftun, dazu das rhythmische Atmen der Blätter, der Sträucher und Gräser,.. keine Tragödie kann diese Kraft des Eindrucks erreichen, kein Bildwerk dies Entzücken und diese Nachdenklichkeit geben. Der Photographie, der es ja schon gelungen ist, Hunderte von Aufnahmen in der Sekunde zu machen und die rasend schnellsten Begebnisse des Daseins in beschauliche Sichtbarkeit zu zerlegen, der Photographie glückte es hier, die Bewegung von vier, von acht Stunden in eine Sekunde der ### zu pressen. Damit hat sie das Leben, das Wachsen, das Werden, beinahe könnte man sagen, das Bewußtsein der ganzen Pflanzenwelt für unser Auge sichtbar, für unsere Seele begreiflich werden lassen.

            Die photographische Technik ist den bildenden Künsten nicht hold. Der Kampf begann, da vor mehr als dreißig Jahren die Kodak-Kamera über die ganze Welt verbreitet wurde. Damals mußten in den illustrierten Blättern die Spezialzeichner der Momentaufnahme weichen und sehr viele, sehr begabte Künstler wurden brotlos. Der Projektionsapparat wird manchen Maler aus den Theatern vertreiben. Und die neuen Errungenschaften der Photographie scheinen eine Epoche einzuleiten, in der die Malerei noch weniger Boden haben wird als bisher. Aber es ist ja nicht die Photographie allein, von der die bildenden Künstler verdrängt werden.

            Alle Kunst ist seit zehn Jahren durch die Wirklichkeit übertroffen, überholt, übertrumpft. Alle Kunst ist seit zehn Jahren von der Wirklichkeit glatt an die Wand gespielt worden. Die Wirklichkeit hat Ereignisse gebracht, Tragödien, Grotesken, Dramen zum Schluchzen und Lustspiele zum Wälzen,.. kein Künstler mag bessere ersinnen. Die Wirklichkeit hat Gestalten erschaffen, Helden und Dulder, Hanswurste und Schurken, wie sie niemals die Phantasie eines Dichters, Malers oder Bildhauers gebar. Während dieses selben Dezenniums hat die Technik Märchen in reales Leben verwandelt, hat nie Geträumtes plötzlich fertig vor die überwältigte Menschheit hingepflanzt. Was man vor drei Tagen noch nicht zu denken wagte, was man ehegestern für unmöglich hielt, gestern noch verlachte, ist heute wirklich und wahrhaft geworden und gehört morgen schon zum selbstverständlichen Alltag. Der Rekord ist das Zeichen und die Parole dieser Gegenwart. Die Höchstleistung allein gilt im orkanartigen Vorwärtsstürzen dieser Welt. Wenn in den Zeiten so vieler Wunder der Ereignisse, der Technik, der Wissenschaft die bildende Kunst zurückstehen muß, ist das eine natürliche Folge und kann nicht wundernehmen.

            Die bildenden Künste sind nicht bloß an die Wand gespielt wie die Dichtung und die Musik, sie sind nicht bloß zurückgedrängt wie alle Kunst überhaupt, vom Sturm der Ereignisse und vom Sturmschritt der Technik. Wie jede höchste Betätigung der menschlichen Seele, sind die bildenden Künste, inmitten dieser zertrümmerten, dieser jung erstehenden Welt zertrümmert und werden langsam wie die junge Welt neu entstehen. Keine Kunst, also auch keine bildende, hat die Geschehnisse der letzten Dezenniums bewältigt, verarbeitet, gemeistert und ein Werk geschaffen, das etwas Endgültiges, etwas Gipfelhaftes bedeuten und darin diese Fülle an Geschehen über sich selbst hinaus erhoben würde.

            Doch die Künstler wollen leben. Und es ist wichtig, daß sie leben, daß sie arbeiten, daß sie hoffen können, streben, wirken. Es ist eine Schande, daß sie hungern! Und es ist ein furchtbarer Schaden. Nicht nur für sie, für die unmittelbar Betroffenen. Für die ganze ethische und kulturelle Verfassung eines Volkes. Man kann unmöglich mit allen Organen des Volkes, mit allen Berufen, die es gibt, in der Gegenwart und in der Zukunft leben, indessen gerade diejenigen, die das Herz er Nation darstellen, die Künstler, verelenden, verhungern und absterben. Eines Tages wird man verstehen und erkennen, daß man nur Fußballer hat, die ein Jahr lang berühmt waren, nur Schnelläufer, Skifahrer oder Wettschwimmer, denen die Popularität einer Saison zuteil wurde, daß man aber ganz arm, bettelarm an geistiger Leistung geworden ist. Unsere Bauten von heute verlangen nicht mehr den Schmuck gemeißelter oder in Bronze gegossenen Figuren. Aber Parks und Plätze, Gärten und Zimmer können Brunnen gebrauchen, Denksäulen, Statuen und Büsten. Man könnte die Freskomalerei wieder beleben, nicht in fürstlicher Großartigkeit, doch in bescheidenen, erschwinglichen Dimensionen. Geschäftsbilder wären zu malen, Sportplatzbilder. Unendlich viel ließe sich tun. Man soll wenigstens etwas beginnen, ehe die zahlreichen Talente, die in unserer Mitte leben, kaput gehen. Vielleicht könnte die Regierung so etwas wie die Initiative ergreifen. Sie hat neben manchen weniger begabten noch viele tüchtige Beamte. Sie kann Künstlerhilfstage veranstalten. Es ist keine Schande, wenn an einem Tag im Jahr in allen Städten, auf allen Straßen für die Kunst gesammelt wird. Schlimmer, wenn jeden Tag die Künstler Hunger leiden. Sie kann die Fußballer veranlassen, ein Match im Jahr für die Künstler zu spielen. Das wäre eine ausgiebige Hilfe. Alles muß geschehen, um zu verhüten, daß die Zukunft eines als Anklägerin dieser Gegenwart sich erhebt.

In: Neue Freie Presse, 13.6.1926, S. 1-3.

Kurt Sonnenfeld: Russische Gegenwartskunst

„Die Kunst der Zeit“, sagt Fritz Karpfen in seinem soeben erschienenen geistvollen Buch über die russische Gegenwartskunst (Verlag Literaria Wien), „ist Emporstreben, Sturm, Aufschrei, Empörung, Umsturz, Revolution.“ Nun, das war echte Kunst wohl immer, und darum ist auch jeder wahre Künstler, weil er, über den konventionellen Bindungen stehend, nur den Gesetzen seines innersten Wesens gehorcht, ein Revolutionär.

Der Expressionismus, die gegenstandslose Ausdruckskunst, hält sich für besonders radikal, weil ihre Kunstwerke nicht Wiedergabe des Geschauten, sondern Wiedergabe des gefühlsmäßig, traumhaft Erlebten sind. Ein Schulbeispiel für den Expressionismus in seinen letzten Konsequenzen ist der russische Maler Wassili Kandinski. Er ist der Erfinder des Abstrakten in der Malerei. Er fand und schuf das Ungegenständliche, um das Gegenständliche künstlerisch lebendig darzustellen. Die Farben allein sind sein Ausdrucksgebiet, mit ihnen, nur mit ihnen drückt er das aus, was er sagen will. Er malt alle Empfindungen, Geschehnisse, Modelle nur in der Farbe, ohne gegenständliche Form. Freilich darf sich nur ein großer Künstler diesen Superlativ der Eigenwilligkeit gestatten. Was bei Kandinski eigenartig wirkt, das wirkt bei seinen Nachäffern, die einfach Farbenkleckse auf die Leinwand patzen und diese Pinselei als den Ausdruck ihrer seelischen Erlebnisse bezeichnen, als frecher, geistloser Schwindel.

Es ist überaus erfreulich, dass Fritz Karpfen, der in seiner Gesinnung den radikalsten Strömungen nahe steht, von allen Entartungserscheinungen des künstlerischen Radikalismus so deutlich abrückt. Seine harten Worte über den Dadaismus (der in Sowjetrußland, wo man sich für alle gewagten Experimente und Verstiegenheiten interessiert, besonders üppig gedeiht) kann jeder unterschreiben.

Rußland ist heute das Land der „Ismen“. Nun wäre es aber durchaus unangebracht, über diese geistige Zerklüftung zu spotten, da eben diese Sektiererei, dieser Partikularismus Zeichen der Kraft und Aktivität sind. Aber diese künstlerischen Sekten entwickeln sich nicht durch, sondern gegen den Bolschewismus, da dieser bekanntlich für Vielfältigkeit kein Verständnis aufbringt und alles in seine Uniform zwängen will. Auch auf künstlerischem Gebiet erweist sich das rote Zarat als ebenso engherzig wie das weiße Zarat.

Mit Recht wendet sich Karpfen auch gegen den falsch angewendeten russischen „Proletkult“. Ein so herrliches Ziel es auch ist, die Kunst zum Gemeingut des Volkes zu machen und die Genialität, die im Volke schlummert, zum Leben zu erwecken – die Wege, auf denen der Bolschewismus dieses Ziel anstrebt, führen in die Irre. Es wurde der ungeheuerliche Fehler begangen, Menschen zu Künstlern handwerksmäßig erziehen zu wollen. Statt aus der Masse der Arbeiter die Begnadeten auszusuchen und diesen, nur diesen, den Weg zu ihrem Künstlertum zu ermöglichen, will man in Schulen ganz einfach alle, die sich melden, zu Künstlern herandrillen. Es ist Bedingung, daß nur Industriearbeiter in den Proletkult Aufnahme finden. So will man eine neue Kunstepoche schaffen, die aus den Herzen der neuen Zeit, den Fabriken, entsteht. Ödester Dilettantismus ist die Folge. Aber schon strebt diese Richtung aus gesundem Instinkt nach ganz anderen Zielen. Das Kunstgewerbe meldet sich in dieser Gruppe und hier mag wohl das Erreichbare sein. Denn die russische Volkskunst, die Bauernkunst insbesondere, hat köstliche Kleinodien als ursprüngliche Nationalkunst hervorgebracht.

Eine wichtige Rolle spielt in Rußland gegenwärtig die Maschinenkunst, die Richtung Wladimir Tatlins, der Tatlinismus, bei dem, wie Umansky sagt, das Bild als solches tot ist; dem Dreidimensionalen ist es zu eng auf der Bildfläche, neue Probleme fordern zu ihrer Lösung reichere technische Mittel. Die Kunst der Maschine mit ihrer Konstruktion und Logik, ihrem Rhythmus, ihren Bestandteilen, ihrem Material, ihrem metaphysischen Geist findet keine Art von Material der Kunst unwürdig. Holz, Glas, Papier, Blech, Eisen, Schrauben, Nägel, elektrische Armatur, gläserne Splitter – alles das wird zu rechtmäßigen der neuen Kunstsprache erklärt und deren neue Grammatik und Aesthetik fordert vom Künstler weitere handwerksmäßige technische Ausbildung und einen engeren Bund mit der Maschine… Das ist der Tatlinismus, der Snobs und Nichtkönnern Gelegenheit zu Stümpereien, aber Künstler wie Archipenko Gelegenheit zu bleibenden Kunstwerden geboten hat. Es kommt eben durchaus nicht auf die Kunstrichtung, sondern immer nur auf den Künstler an.

Der leidenschaftliche Kampf, der in Rußland, wo die Hungersnot herrscht, um neue künstlerische Ausdrucksformen gekämpft wird, wirkt rührend. Jedenfalls ist der Russe ein ungleich geistigerer Mensch als etwa der Wiener; denn während es in Wien immer nur die gleichen, leider völlig sinnlosen Gesprächsthemen über die Teuerung und über die Schieber gibt, vermag man sich in Rußland, wo die Not ungleich ärger ist als bei uns, über künstlerische Fragen glühend zu erregen. Die russische Geistigkeit konnte weder durch das Zarentum, noch durch den Bolschewismus zerstört werden.

Fritz Karpfen verdient aufrichtigen Dank für sein ungemein geistvolles und mit prächtigen Abbildungen geschmücktes Buch, dem er eine Reihe weiterer Bücher über die Gegenwartskunst der anderen Länder folgen lassen wird.

In: Neues Wiener Journal, 23.1.1922, S. 8.S

Felix Salten: „Der Zauberberg.“

Roman von Thomas Mann. – S. Fischer Verlag, Berlin.

Das ist nun allerdings ein ganz ungewöhnliches Werk.

Einmal, weil es Thomas Mann zum Verfasser hat, der heute als der Erste unter den deutschen Erzählern gilt. Ferner, weil dieser Roman zwölfhundert Buchseiten füllt, was eine starke Leistung für den Autor ebenso wie für den Leser bedeutet. Besonders aber, weil alle Geschehnisse sich da zwischen Lungenkranken zutragen, abseits von der Welt der Gesunden, in einem Sanatorium zu Davos.

Dieser Schweizer Höhenort ist der „Zauberberg“. Ein junger Mann erklimmt ihn eines Sommertages, nur für drei Wochen, nur um seinen Vetter zu besuchen, der schon monatelang hier oben weilt und sich kuriert. Aber der junge Mann bleibt nun gleichfalls auf dem Zauberberg, nicht bloß drei Wochen, sondern an die sieben Jahre. Erst als der Krieg ausbricht, im August 1914, eilt er zu Tal, kehrt heim in die Welt der Gesunden, die nun so schwer erkrankt ist und in Fieberparoxysmen erbebt.

Wahrscheinlich ist er heute tot, der brave Hans Castorp, entweder gefallen oder den Strapazen erlegen. Thomas Mann gibt über Leben oder Sterben dieses jungen Mannes keinen Bescheid, aber er läßt nur wenig Hoffnung. Hans Castorp stammt aus einer Hamburger Senatorenfamilie, ebenso wie sein Vetter Joachim Ziemßen. Er ist ein netter, inwendig reiner, sympathischer Durchschnittsmensch, lernbegierig, duldsam, angenehm gesellig, wenn auch gehalten und maßvoll. Joachim Ziemßen, der Offizier werden will, wenn er geheilt ist, stellt die Ergänzung von Hans Castorps Wesen vor. Er hat noch viel mehr „innere Zucht“, noch viel mehr Schweigsamkeit und birgt unter straffer Haltung zartes, schamvolles Empfinden. Es ist wahrscheinlich die Absicht Thomas Manns, an diesen beiden jungen Leuten den Typus des deutschen Bürgers zu schildern, geteilt in zwei Spalten, in eine zivilistische und eine militärische, im ganzen jedoch von einheitlicher Art: anständig, unpolitisch, naiv und, wenngleich nicht hervorragend, so doch hinlänglich geistig. Merkwürdig bleibt, daß Joachim Ziemßen, der sich’s so aus ganzer Seele gewünscht hat, Offizier zu werden, noch im Frieden auf dem Zauberberg stirbt, indessen Hans Castorp, der immer friedlich gedacht hat, diesem Zwölfhundert-Seiten-Roman als bewaffneter Krieger entschreitet, um in den Kampf zu ziehen.

Man wird nun fragen, was in den sieben Jahren Sanatorium an Ereignissen eigentlich vorgehe, daß zwei exemplarisch umfangreiche Bände damit gefüllt werden. Die Matrosen in den Romanen des Kapitän Marryat, in diesen schnurrigen Romanen, die vor drei, vier Generationen das Entzücken aller Knaben waren, der jungen wie der erwachsenen, die Matrosen also forderten darum einen Kameraden zum Erzählen seiner Abenteuer regelmäßig mit den Worten auf: „Nun, so spinne dein Garn.“ Und der also Herausgeforderte fing seine Geschichte regelmäßig mit den Worten an: „Ach was … es ist eine lange Gasse, die keine Wendung hat.“ Diese Erinnerung aus fernen Jugendtagen kommt mir jetzt wieder in den Sinn. Thomas Mann hier sein Garn gesponnen, gelassen, ausführlicher noch und reifer, selbstverständlich, als in seinem Erstlingsroman „Die Buddenbrooks“. Und es ist richtig eine lange Gasse geworden, die keine Wendung hat. Was in den sieben Jahren, die Hans Castorp auf dem Zauberberg verbringt, vorgeht, ist Menschentum. Auch in all der Zeit, die vor diesen sieben Jahren liegt, wie in der Zeit, die nachher abrollen wird, geht immer Menschentum vor. Nicht mehr und nicht weniger, nicht gewöhnlicher und nicht außerordentlicher als es in diesen beiden Bänden verzeichnet steht. Damit rückt jedoch die Kunst des Erzählers ganz dicht an die Wirklichkeit, fügt sich ihr vollkommen ein und überragt sie trotzdem. Es ist ein Stück poetisch durchleuchteten Menschtums, das ein helles Glänzen sanft um sich her verbreitet.

Die Ereignisse zu wiederholen, bleibt eigentlich überflüssig und wird beinahe unmöglich. Hans Castorp sieht viele junge Menschen sterben, qualvoll die einen, in Euphorie und schmerzlos die anderen. Auch Joachim Ziemßen, sein Vetter, stirbt sanft, nach einem kurzen Aufenthalt in der Heimat, während dessen es ihm gelingt, Leutnant zu werden und sich total zu ruinieren. Viele Menschen lernt Hans Castorp kennen und sie sind alle durch ihre Krankheit, durch die beständige Todesnähe gelöster, freier, menschlicher als die Normalen. Da ist Settembrini, der eine Art letzten Ritter der bürgerlichen Revolution vorstellt. Dann Elia Naphta, ein Vorkämpfer der Protestantischen Revolution, der sich in einem seltsamen Duell, das er mit Settembrini hat, selber tötet. Da ist Clawdia Chauchat, die reizvolle Russin, die Hans Castorp lange schwärmerisch liebt und die ein einziges Mal sein eigen wird. Da ist Peeperkorn, der königliche Holländer, der so viel Macht über den Willen der anderen besitzt, der die schöne Clawdia als Geliebte besitzt und der Selbstmord verübt, da er seine Manneskraft schwinden fühlt. Die Aerzte sind da, Hofrat Behrens mit seiner massiven Sachlichkeit; sein Assistent, Dr. Korowski [recte: Krokowski], der Vorträge über die Liebe hält und offenbar von Freuds Lehre beeindruckt ist, bis er endlich mit Medien und Séancen ganz auf die Seite von Schrenk-Notzing fällt. Ein Schwarm von Schicksalen und Gestalten zieht langsam vorüber. Alle von einer unerhörten Plastik, alle von einer fabelhaften Lebendigkeit, einprägsam und vorstellbar. Denn wie bei Homer jede Figur immer mit ihren malenden, merkzeichnenden Attributen genannt wird, so daß sie sich der Phantasie einstempelt, wie da Odysseus immer der Listenreiche heißt, Hektor beständig der Helmbuschumflatterte, Juno die Anhängige usw., so gibt Thomas Mann die gleichen bezeichnenden Merkmale, mit denen er sie bei ihrem ersten Erscheinen geschildert hat, jedesmal wieder, so oft sie erscheint.

Es ist nicht zu leugnen, daß er seine Geschöpfe alle, ohne Ausnahme, ein wenig von oben herab behandelt; ungemein sorgfältig, meisterhaft im formenden Zugreifen, aber doch von oben herab, wie ein Souverän, oder wie ein Großmeister der Arzneikunde, was ja die Dichtkunst auf ihre Art auch ist. Er hat, wie ja ein großer Arzt auch, so viele Menschen dem Dunkeln entrissen, hat so viele Menschen ins Dunkle stürzen gesehen, daß er kein Aufhebens mehr davon macht. Sein Ton ist ruhig, harmonisch kühl, ohne jede Sentimentalität, und von einer pikanten ironischen Untermalung fast immer durchschimmert. Spricht er, was oft geschieht, persönlich, oder redet er, ganz im Stil der großen alten Erzähler, den Leser geradezu an, dann wird seine reine Objektivität fast schmerzhaft deutlich und ein Distanzhalten wird erkennbar, das ebenfalls beinahe schmerzhaft wirkt. Manchmal, sehr selten, dringt Wärme in seinen Ton. Der Reiz, den er dadurch gewinnt, ist unbeschreiblich stark, und an der Intensität solcher Stellen fühlt man, was es mit seiner Objektivität und mit seinem Distanzhalten für eine Bewandtnis hat.

Gespräche breiten sich in diesem Roman so ausführlich, so gelassen hinströmend, daß man die nur mit den ruhig fließenden Dialogen im „Stechlin“ vergleichen kann, wie ja Thomas Mann so manche Wesensähnlichkeit mit Theodor Fontane besitzt, als dessen Fortsetzer und Vollstrecker man ihn ansprechen darf. Was diese Zeit bewegt und beschäftigt, wird in den Gesprächen erörtert, die man auf dem Zauberberg führt. Demokratie und Monarchismus, Probleme des Liebeslebens, Sternkunde, Sozialwissenschaft und sehr viel Tuberkulose. Es ist zu sagen, daß diese gründliche Beschäftigung mit den Zuständen tuberkulöser Erkrankungen, mit Fieberkurven, Sputum, Bazillentabletten, Injektionen, chirurgischen Eingriffen, Todeskämpfen und Sterbestunden, daß alle diese fabelhaft eindringlichen und wunderbar plastischen Schilderungen im Anfang Grauen, ja Entsetzen erregen. Das Empfinden, das man von der hinfälligen Gebrechlichkeit den menschlichen Körpers erhält, das Bewußtsein der vielen Gefahren, das in einem wachgerüttelt wird, ist so alarmierend, daß ich mich während der Lektüre des ersten Bandes hypochondrischer Anfälle nur mühsam erwehren konnte. Und es bleibt bis zum Schluß des Romanes im Leser ein fortdauerndes, leises Erstaunen, daß es überhaupt noch gesunde Menschen auf der Welt gibt.

In den Jahren, in denen er sich dem Fünfziger nähert, den er binnen wenigen Monaten erreichen wird, in diesen entscheidenden Jahren hat Thomas Mann das Werk gearbeitet, das für sein ganzes Schaffen entscheidend und charakteristisch bleibt. Er hat im Brennspiegel des abgesonderten und engen Krankendaseins die Fülle der Menschlichkeit eingefangen, hat am Rand des Todes den großen Reichtum des Lebens entstehen lassen. Man kann diesen Roman, der gar kein Tempo der Handlung, dafür aber einen starken Pulsschlag der Gedanken und ein großes Tempo an Lebensweisheit hat, nicht so rasch durchfliegen wie irgendein Unterhaltungsbuch. Aber man wird den „Zauberberg“ in vielen stillen Stunde mit Ergriffenheit, mit Zustimmung und Widerständen lesen und wird ihn, aufgewühlt und erregt, wie man ihn schließlich aus der Hand legt, mit allen Einwänden und mit aller Bewunderung, die man ihm entgegenbringt, niemals wieder vergessen können.

In: Neue Freie Presse, 7.12.1924, S. 1-3.

Stein E. K.: Ein Gespenst geht durch Europa…

Ich habe an die Kommunistische Partei Deutschösterreichs folgendes Schreiben gerichtet:

„Angesichts der sonderbaren Haltung gewisser ‚linksradikaler Sozialdemokraten‘ zu den Ereignissen des blutigen Sonntags drängt es mich, Ihnen das Bekenntnis abzulegen:

Das größere Unglück dieses Sonntags war es, daß die Räteregierung nicht ausgerufen werden konnte; für dieses Unglück sind vor der Weltgeschichte jene Führer des Proletariats verantwortlich, welche die Massen Ihrem Unternehmen fernhielten. *)

Vor der Geschichte werden Sie und jene wahrhaft kommunistischen Sozialdemokraten, die mit mir in der Ablehnung der augenblicklichen Ausrufung der Räterepublik eine ungeheure Verfehlung der sozialdemokratischen Führer erblicken, als die besseren, einsichtigeren Vertreter der proletarischen Interessen gelten.

                                                                                                                                                                                 Mit proletarischem Gruß

                                               E.K. Stein


*) Aus dem Aufruf des Kreisarbeiterrats vom 15. Juni: „Die Wiener Arbeiterschaft in ihrer überwältigenden Majorität…wird daher heute den kommunistischen Veranstaltungen fernbleiben. … Bleibt den gewissenlosen Veranstaltungen (sic!) der Kommunisten fern!“

In: Die Wage. Eine Wiener Wochenschrift. Nr. 26, 27.6.1919, S. 609.

Hans Suschny: Manifest

Ich spreche vor allem zu allen jungen produktiven Menschen meines engeren Werkkreises Österreich. Ich spreche zu all jenen, die bereit oder auf dem Wege sind, in ihr Hirn einzugreifen und ihre Gehirnzellen umzuschichten.

Wir müssen vor allem den Kampf gegen unsere eigene Natur aufnehmen.

Wir müssen als geschichts- und weltbewußte Individuen den Selbstmord unserer Passivität begehen.

Als solche müssen wir uns auch gegen die äußere Natur, gegen die Elemente, die diese unsere Passivität bedingen, auflehnen.

Ich spreche zu all jenen, die sich befähigt fühlen, auf welchem Lebensgebiete immer, dem heute bestehenden Chaos gegenüberzutreten und es mit festen Händen und zähen Nerven in seine Teile aufzulösen oder seine Elemente neu zu organisieren.

Wir sind zum Großteile in versteinerte Formen eingeschlossen und in Pyramidengräbern erstickt.

Wenn unser Hirn gleichfalls verkalkt ist, lebt es sich ein, oder besser, stirbt es hinein in dieses Steinmassiv.

Wenn wir aber freier leben, gelangen wir zur Wahrnehmung der in Vermischung vegetierenden Elemente und zur Erkenntnis der Organisationsfähigkeit dieser sei es in unserem Hirne dialektisch oder in der äußeren Welt freigewordenen Elemente.

Wir leben, wenn wir jede auftauchende Frage in unseren Gedankenorganismus einbeziehen, unsere Sinne neuen Fragen eröffnen und Lösungen versuchen.

Wir werden zu produktiven Menschen, wir schaffen, wenn wir diese Frage lösen.

Jedes Kunstwerk sei ein gelöstes Problem, und je mehr es dieser Forderung entspricht, umsomehr befriedigt es den Aufnehmer.

Wer aber in der Versteinerung althergebrachter Formen eingeschlossen ist, welche Formen insgesamt gelöste Probleme bedeuten, für den sind eben alle Probleme gelöst, für ihn ist kurzhin alles gelöst, er fühlt kein Bedürfnis nach neuen Lösungen, denn er sieht keine neuen Probleme.

Ihm fehlt aber auch die Aufnahmsfähigkeit neuer Lösungen, das heißt auch neuer Kunstwerke, er steht ihnen fern, fremd und blind gegenüber, sie sind ihm vor allem zu einfach, – welche Eigenschaft ihnen auch wirklich zukommt, da sie eben Lösungen sind -.

Er liebt jedoch die Widerkäue längst gelöster Fragen, er liebt sie in leicht zu hebende ‚zarte‘ Schleier gehüllt, er liebt sie in Symbolen ausgedrückt, in welchen er mühelos den Sinn zu entdecken vermag, seine Langweile ‚sehnt‘ sich nach Komplikationen und er verstrickt sich und zerbröselt immer mehr ihm Chaos.

Wer aber in der Gegenwart die Fragen der Gegenwart erschaut und auffühlt, wer sie zu lösen versucht und wem die Lösung gelingt, der ist ein einfaches, unkompliziertes Individuum einer einfachen, zum Teile noch ihrer Kollektivität unbewußten Gemeinschaft, das darum nur wieder einfache oder nach Einfachheit verlangende Menschen anspricht.

Wir hassen die Problematik und Symbolik im Kunstwerk.

Wir lieben den reinen Stoff, der uns Mittel zur Lösung ist.  

Wir lieben jene Mitmenschen, die von uns Lösungen erwarten, und hassen jene, deren Nerven vom Künstler gekitzelt werden wollen. Hierin liegt auch der Sinn und die Erklärung für unser Verbundensein mit dem Proletariat einerseits und der Technik andererseits.

Der Kampf des Proletariats ist das Ringen nach Problemlösung.

Jedes Werk der Technik ist Problemlösung und daher selbst unproblematisch wie die reife Frucht, wie jeder in sich geschlossene einheitliche Organismus.

Unsere Werke sind ebensolche Organismen.

Sind die in eine neue, vollkommene, reale Einheit gebrachten und nach dieser Einheit verlangenden Elemente des Chaos.

Die verschiedenen Kunstrichtungen unserer Epoche haben sich vergeblich bemüht, eine neue Schaffensbasis zu finden. Was ihnen zum Teile gelang, war die Sprengung der inaktuellen Formen, die Befreiung der Elemente und Elementarformen, aber den neuen Schaffensgrund konnten sie nicht finden. Als Beispiel erhoben sie Malerei und Dichtung im Banne der Musik zur musikalischen Komposition. Erst dem Konstruktivismus gelang es, malerische Formen in ihrem Eigenwerte zu erkennen, die dichterischen Begriffe in ihrem Vollwerte zu denken und daraus neue Organismen zu bauen, zu konstruieren.

Wir schufen den Grundriß und fanden den Spitzbogen [gesperrt gedr. im Orig.]

Damit ist das Werk des Konstruktivismus beendet. Damit begräbt sich der letzte

–Ismus. Wir treten in eine neue Epoche, in die –ismenlose des universellen Schaffens, begeben uns auf die Suche nach einer neuen Hirneinheit. Auf Grundriß und Spitzbogen – den Bau! [gesperrt gedr.]

Österreicher! In den Ländern um euch zerbrechen die Kalkmauern. In den Hirnen ringsum platzen die klassischen Vorurteile. Nur in Wien werden noch immer die Häuserwände mit ‚lieblichen‘// Stukkaturen beklebt, die Zimmer mit violetten Akten und blühenden Landschaften verunstaltet, die Plakatwände mit Pornographien, sentimentalen Liebespaaren und ‚ästhetischen‘, stilisierten, weichfarbigen Reklamen beschmutzt.

In den Konzert- und Theatersälen wird in ätherischen und Trancezuständen traumgeschwitzt.

In den Schulen umklammern Polypenarme die Hirne der Jugend und sie erstickt oder entwindet sich resigniert.

Wer aber seine Muskeln spürt, kommt mit uns.

Wer freiere Luft atmen möchte, geht mit uns.

Ich grüße Ludwig Kassák als den Arm, der mir aus dem Sumpfe half.

Ich grüße Ludwig Kassák als den Kopf und die Füße unserer Bewegung und in seinem Namen all jene, die bereit sind, sich der Erfüllung unserer großen Aufgabe anzuschließen.

Unter den Ventilatoren technischer Ökonomie und wissenschaftlicher Dialektik, unter den Scheinwerfern elementarer Gestaltung und proletarischer Einfachheit.

                                                                                   [Hans Suschny]

In: MA 10 (1925), H. 2, S. 6-7.S

E. K. Stein: Ansprache an sozialistische Künstler

(Gehalten am 28. d. M. in der gründenden Versammlung der Fachgruppe der Künstler, Schriftsteller der „Soz. Vereinigung geistiger Arbeiter“.)

            So wie der Zusammenschluß der „Geistigen Arbeiter“ zu einer besonderen Organisation innerhalb der Sozialdemokratie keine Scheidung, aus Überhebung etwa, vom Handarbeiter darstellen sollte; vielmehr diese Sonderorganisation eben als wirksamstes Mittel gewählt wurde, um der Sozialdemokratie aus der Gesamtheit der „geistigen Arbeiter“ möglichst großen Zuwachs zu sichern; so führte auch die Künstler nicht Dünkel und Überhebung zur gesonderten Organisierung innerhalb der „geistigen Arbeiter“. Auch wir sehen in solchem engeren Zusammenschluß zunächst nur das geeignetste Werkzeug, auch den Teil der Künstlerschaft, der heute noch dem Sozialismus fernsteht, in unser Lager zu ziehen.

            Als Arbeiter bekennen wir uns alle: das Band, das uns alle eint, ist das Lob der Arbeit; wie es uns scheidet von den Anderen, die den Segen der Arbeit nur in seiner fluchwürdigen Verwandlung, dem goldgemünzten Schweiß und Blut der Arbeiter preisen mögen.

            In zwei große Lager scheint sich so die Menschheit zu scheiden: Die Arbeiter und die Arbeitsscheuen. Da ich zu Künstlern spreche, die so gerne – mit mehr oder weniger Wohlwollen – von ihren „Gönnern“ als das „arbeitsscheue Gesindel“ hingestellt werden, muß ich kaum ausführlicher dartun, daß gerade der Künstler, der – im Geiste – immer Rege, bis zur Besessenheit Rege ist; er wahrhaftig kann die Arbeit nicht scheuen, nicht fliehen, da sie mit ihm verwachsen ist. So ist sein Platz im Lager der Arbeiter, der Regen.

            Diesem feindlich, tut sich drüben das andre Lager, das der Trägen, auf; wollen sie doch von der Regsamkeit der Anderen leben; müssen sie doch darum sich die Herrschaft über die Regen erzwingen und sichern; feindlich darum.

            Wie aber konnte es kommen, daß Trägheit über Regsamkeit die Herrschaft gewann? Die überlegene Masse, wir Alle kennen sie: das Kapital. Denn nicht Arbeit und Schaffen verleiht Herrschaft oder auch nur Freiheit; nicht dem Arbeitenden und Schaffenden selbst dienen diese: immer nur dem Kapital; der Burg der Trägheit; Bürger heißen sie darum, denen unsere Regsamkeit die Sicherheit ihrer Trägheit verbürgt.

            Der Bürger wurde vom Künstler zu allen Zeiten verhöhnt und verulkt; dennoch blieb dieser der geistige Sklave, bestenfalls der Hofnarr des Bourgeois. Und als die Armee der Millionen Arbeitssklaven sich endlich zum Widerstande auflehnte, da blieb der Künstler abseits stehen: seine Abhängigkeit vom Kapital war so endgiltig geworden, daß er allein unter all den Sklaven zitterte, seine Nahrung, sein Lebensunterhalt könne mit dem Untergang der Bourgeoisie und des Kapitals, von deren Brosamen er bisher gelebt, verschwinden.

            Wie aber konnte es dahin kommen, daß der Künstler so allen Zusammenhang mit dem Volke verloren hatte, aus dem allein seine Kunst, sein Schaffen die geistige Nahrung ziehen durften, daß er daran verzweifelte, bei ihm die leibliche Nahrung zu finden?

            Die Kunst hatte immer mehr die Fratze ihrer Brotgeber aufgedrückt erhalten; sie war volksfremd ins Innerste geworden. Der Geist, den Elend und Verfolgung nicht in Banden schlagen konnten, er war der Lockung des Goldes, der Trägheit erlegen. Der Geist, des Blut und Atem Freiheit ist, er hatte sie verkauft; das himmlische Recht der Erstgeburt des Geistes, es war ihm feil, wenn der Kapitalismus ihm den Fraßtrog rüstete.

            Der Kapitalismus hatte den Geist gekauft: oft, um sich damit zu schmücken; dosiert auch, um die Trägheit seiner Verdauung anzuregen; immer aber, um die Regsamkeit in die Fesseln der „gut bürgerlichen Ordnung“ zu schlagen: wehe, wenn sie losgelassen! das war der Bürgerschreck!

            So kam die Weltkatastrophe: der Weltkrieg. Der verratende und gefesselte Geist versagte; die Künstler aller Völker, die berufenen Priester der Menschheit, auch sie segneten wie die Pfaffen die mörderischen Waffen; fast ausnahmslos. Der Stolz dieser Stadt wird es bleiben, daß unter den ganz Wenigen, die dem Geiste treu geblieben waren, der Name eines Wieners, Karl Kraus, steht.

            Aus dem fürchterlichsten Debakel der Menschheit soll die neue Zeit erstehen, der neue Geist sich gebären. Fünfzig Monate bestialischen Mordens sollen vom Frieden abgelöst werden. Was ist Friede? Kann es jener Zustand sein, dem „unser“ Krieg entwuchs, entwachsen mußte? Ist darum Friede auf Erden, weil an die Stelle der 42er Mörser jetzt wieder – im sozialen Kampf, nennts die bourgeoise Phraseologie – die „friedlichen“ Waffen, die Milliarden-Trusts treten? Weil die kriegerische „Hungerblockade“ nun abgelöst wird durch Hungerlöhne?

            Wie die Arbeit das Element des Regsamen ist, so ist der Krieg, der ja immer auf Unterjochung abzielt, der soziale wie militärische, das Element des Arbeitsscheuen. Wir wollen schaffen und arbeiten in Frieden und Freiheit. Deshalb scharen wir uns um die Zeichen des Sozialismus, die Frieden und Freiheit verheißen.

            „Der Geist marschiert!“ tönt uns da höhnend ein Schlagwort entgegen; der Künstler, der Geist könne sich nicht organisieren; das widerstreite seinem innersten Wesen.

            Nun: es scheint mir immerhin einer weitreichenden Abrüstung nahe zu kommen, wenn der „Geist“, der widerspruchslos, wenn nicht antreibend, sich in Reih und Glied der Kriegshorden fügte, oder ärger noch, vom sicheren Pfühl sie zum Marschieren aneiferte: wenn er zunächst einmal, um den Schießprügel in Trümmer zu hauen, eine Vereinigung der Kräfte sucht; wenn er – jetzt ohne Schießprügel – „marschiert“, um sich und seinem Volke den Frieden zu sichern und seiner Arbeit Früchte.

            Wir wollen nichts von Kriegskunst wissen, nichts auch von jener Kunst, die auf den Blutäckern des sozialen Krieges blüht. Wir wollen den Völkerfrieden, aber auch den sozialen, den Menschheitsfrieden; in diesem Tale des Friedens allein kann die wahre Kunst gedeihen; dort erst kann der Geist schaffen und walten; dort wartet des Geistes seine wahre Bestimmung: in friedlichem Wettstreit die Individualität zu pflegen, Führer und Priester seinem Volke zu sein!

In: Die Wage. Eine Wiener Wochenschrift, Nr. 5, 31.1.1919, S. 97-99.

Felix Salten: Nervenprobe

Wie gern würde nun jedermann seine Gedanken zu anderen Dingen senden und sie dort festhalten.  Oder sie sorglos durch den Raum schweifen lassen. Von einer entzückenden Gegend in der Sommersonne zu einem geliebten oder verehrten Menschen; von einem bahnbrechenden Buch zu einem beglückenden Kunstwerk, oder zu einem Musikstück, daraus Seligkeit und Aufschwung strömt. Wie eifrig müht man sich, das Gespräch in andere, weit weg führende Gebiete zu lenken, wo sich weite Ausblicke öffnen, irgendwohin, gleichviel wo. Es wäre wohltätige Beruhigung, wäre notwendiges Labsal. Aber noch geht das nicht. Noch nicht. Die eben erst durchlebten Tage lasten zu schwer auf den Nerven. Was immer man auch versucht, es bleibt unmöglich, etwas anderes zu denken, von etwas anderem zu reden, als von dem Ereignis dieser Tage. Deshalb soll man die vergebliche Mühe auch gar nicht aufwenden. Sich ruhig aussprechen, so ruhig wie eben zulässig, ist doch die einzig wirksame Entspannung. Entspannung aber brauchen wir, weiß Gott, alle miteinander.

            Ein starker Eindruck war es, ein stärkender Eindruck zugleich, wie jede Arbeit trotz des heftigen Kampfes ihren ungestörten Fortgang nahm. Alle waren an ihren Stellen. Die Arbeiter in ihren Fabriken und Werkstätten, die Beamten in den Bureaux. Die Lieferung der Lebensmittel wurde nicht gestört. Und – ein Beweis großen Vertrauens – zahlreiche Kaufladen hatten offen, als sei nichts passiert und als könne nichts passieren. Während Anno achtzehn der Novemberumsturz über unser zermürbtes, zerstörtes Vaterland hinfegte, wurde hier an dieser Stelle gesagt: „Partei, das ist die Unfähigkeit, eine rein menschliche Angelegenheit rein und menschlich zu betrachten.“ Die musterhafte Art, in der sich das Volk von Wien jetzt verhalten hat, ist eine rein menschliche Angelegenheit. Angesichts einer hoffentlich bald überwundenen Gegenwart, die sogar die Schulkinder politisieren wollte, so daß sie eine Besinnung und ein Urteil sich zumuteten, bevor sie das Leben überhaupt kannten, angesichts dieser, wie gesagt, hoffentlich bald überwundenen Gegenwart darf man das rein menschliche Verhalten der Wiener wohl einmal rein menschlich würdigen.

            Mag auch behauptet werden, die Leute seien alle nur deshalb bei ihrer Arbeit und Pflicht geblieben, weil jeder sich sagte, daß der kleinste Platz, der frei wird, Hunderte von stellungslosen Bewerbern findet, die Anerkennung, die solch einem Ausharren gebührt, kann dadurch nicht gemindert sein. Nerven gehören zu solchem Ausharren. Geduld, sehr viele, sehr gutmütige Geduld muß man haben. Und neben der angenehmen, neben der sympathischen Dosis Leichtsinn doch kluge Einsicht und im Grund verantwortungsbewußten Daseinsernst.

            Man erwäge, was die Wiener seit zwanzig Jahren durchgemacht haben. Erwäge ferner, daß Tausende von ihnen vor zwanzig Jahren Kinder waren, Tausende Halbwuchs, daß weitere Tausende vor zwei Dezennien erst zur Welt kamen. Man rechne die Zahl derjenigen dazu, die vor zwanzig Jahren als reife Menschen behaglich ihre Tage genossen haben und seither vom härtesten Existenzkampf ausgehöhlt sind. Dann wird man begreifen, wie unendlich viel diese glänzend überstandene Nervenprobe bedeutet. Das Wiener Volk ist während des ganzen, ungeheuer langen Krieges vom Donner des Krieges verschont geblieben. Die paar Gewehrsalven in der Umsturzzeit erregten heftigste Bestürzung und das Schießen nach dem Brand des Justizpalastes weckte starres Entsetzen.

Was ist das heute, gegen die Vorgänge der letzten Tage? Beinahe gar nichts. Die Ansätze zu Feuergefechten in der sogenannten Revolution sind Ansätze geblieben, mußten Ansätze bleiben, weil die Wiener, zu sanft, zu liebenswürdig, zu mildherzig, keine Neigung für das Tragische zeigen und weil sie damals zu müde, zu verzweifelt waren, um in wildem Jähzorn aufzuschäumen. Der staatsrechtliche Umsturz vollzog sich in Wahrheit, ohne daß es notwendig gewesen wäre, daß die Gewehre knallten. Dieser Umsturz geschah durch Zwang von außen her, durch die Konjunktur, die ihnen gegeben und die von der tiefen Entmutigung der bis dahin Regierenden gefördert wurde. Der Brand des Justizpalastes mit seinen Todesopfern stellt sich schon längst als das ebenso dilettantische wie nichtswürdige Unternehmen von ortsfremden Hetzern dar.

            Jetzt aber das dumpfe Dröhnen der Geschütze. Mitten in volkreichen Bezirken. Das tödliche Schwätzen der Maschinengewehre. Oesterreicher gegen Oesterreicher. Keiner von den heute Lebenden vermag sich zu erinnern, er habe Kanonenfeuer in Wien gehört. Diesmal brüllte die furchtbare Stimme der Artillerie durch Tage und Nächte. Die Fenster klirrten, die Häuser bebten von dem Luftdruck. Und im drückenden Bangen um das nächste Geschehen, um das gestern und heute Geschehene bebten die Nerven, bebten die Gemüter der Menschen. Eine ungeheure Fassung, ein frommes Sichfügen braucht es, da die Tagesarbeit zu verrichten und des Nachts nicht völlig zu verzagen. Dann der Gedanke an alle die Toten, an die blutigen Opfer, Oesterreicher alle zusammen; der Gedanke an die zahllosen vernichteten Existenzen, an junge Leute, die verwirrt und mit der Inbrunst der Jugend ihr Leben einsetzten, an unschuldige Kinder, die nicht ahnen, wieso und warum plötzlich die Hölle über sie hereinbricht. Der Gedanke an die Männer der exekutiven Gewalt, die hingebend und heroisch ihre Pflicht erfüllen, die das Aeußerste in ihrer Unerschrockenheit, in ihrer mutigen Bravour wagen. Begreiflich, daß zu solcher Zeit das Verbreiten von Gerüchten unter Strafe gestellt wird.

Aber ebenso begreiflich, daß dennoch Gerüchte von Mund zu Mund fliegen. Jeder will etwas wissen und jeder will etwas gehört haben oder etwas hören. Aber selbst da zeigten sich die Wiener geradezu musterhaft. Als hätten sie mit feinem Taktgefühl verstanden, daß diese Tage zu ernst, zu schwer, zu entscheidend waren, um Sensationsmache und Wichtigtuerei zu gestatten, ließ sich kaum ein Gerücht in die Runde tragen. Und das Telephon war doch frei. Wenn die Leute trotz des Gewittersturmes, der sie umtobte, treu bei ihrer Arbeit blieben, wenn sie trotz allem, was sie wußten, und mehr noch, trotz allem, was sie erfahren konnten, ihre Nerven behielten, so trat damit ihre Abkehr von der Politik auf das deutlichste in Erscheinung, die Abkehr von der kannegießenden, phrasendreschenden, professionellen Politik. Die Menschen wollen in Wirklichkeit Ruhe haben. Sie wollen Frieden und eine gesicherte Existenz. Der weitaus überwältigenden Mehrheit sind das die wichtigsten, die höchsten und heiligsten Güter. „Sicherheit und Ruhe, Ordnung und Freiheit“, läßt Goethe den Chorus des Volkes im Egmont-Drama sprechen. Goethe ist es, der in seiner „Italienischen Reife“ einmal sagt, der Mensch sei doch „eine gutmütige und geduldige Bestie“. Geduldiger als sich diesmal das arbeitende Wien benommen hat und gutmütiger wird man so leicht in der Welt keine zweite Stadt finden. Das arbeitende, das ums tägliche Brot sorgende, das unpolitische Wien.

            Die Fremden, die in Wien sind, brauchen nicht abreisen. Die Aengstlichen, die abgereist sind, können getrost zurückkommen. Und wer im Ausland den Plan hegte, nach Wien zu fahren, soll ihn nicht aufgeben. Eine Großstadt, die derartige Erschütterung so unerschüttert überdauert hat, ist schon deshalb einen Besucht wert. Von anderen Köstlichkeiten für heute ganz zu schweigen. Man hat seit zwanzig Jahren sehr viel in Wien erduldet. Sehen wir zu, was ja keiner leugnet, dieses jüngste Ereignis ist das ärgste gewesen. Allein, was gleichfalls nicht geleugnet werden kann, überall in allen Teilen dieser schönen Erde hat der Mensch seit zwanzig Jahren Ungeheures erdulden müssen. Und da war es hier, an der Donau immer noch am besten, am wohnlichsten, am geschütztesten. Eine wahnsinnig gewordene Zeit. Vielleicht. Schwer, in dieser Zeit zu leben und aufrecht zu bleiben. Aber eine unerhört interessante, eine fabelhaft spannende, eine hochdramatische Zeit.

            Wir können heute noch an nichts anderes denken, können von nichts anderem reden, als von dem Ereignis des blutigen Wiener, des österreichischen Faschings, der am Aschermittwoch sein trübseliges, sein gutes Ende nahm. Noch beschäftigt alle die Sorge, wie die Wunden, die geschlagen wurden, die geschlagen werden mußten, zu heilen sind. Noch spähen wir bang in die dunklen Wetterwolken, ob nicht ein erster Schimmer der Gnadensonne hervordringt. Er wird kommen. Gewiß. Wir wären nicht in Wien, nicht in Oesterreich, wenn dieser Schimmer ausbliebe. Wenn wieder Milde und Versöhnlichkeit waltet, woran kein Zweifel besteht, wenn jetzt gescheiterte Existenzen wieder aufgerichtet und der Gemeinschaft wieder neu gewonnen werden, wenn wir die Witwen und Waisen vor Not beschützt wissen – dann beginnt ein schüchternes, ein befreites Aufatmen. Immer tiefer wird dieses Atemholen werden, immer leichter und befreiter. Dann wird es wieder möglich sein, an andere, angenehme Dinge zu denken, wieder möglich, von anderen, wichtigen und schönen Dingen zu reden.

            Eines Tages, der hoffentlich nahe ist, mag sich dann das so heiß ersehnte Gefühl der Sicherheit wieder einstellen, das so lang entbehrte Empfinden der Beruhigung. Der Preis den wir alle dafür schon bezahlt haben, ist hoch genug. Nicht bloß die Politiker und die parteimäßig Gerichteten. Wir alle ohne Ausnahme. Denn das harmloseste, abseitigste Einzelschicksal ist mit hineingerissen in den Wirbelsturm der Gegenwart. Gefühl der Sicherheit jedoch bildet die Grundlage für jegliches Blühen der Wirtschaft. Empfinden der Beruhigung bildet den Boden, auf dem das Gedeihen erst möglich wird. Und nichts anderes, bei Gott!, wirklich nichts anderes hat Oesterreich so dringend nötig, wie das Gedeihen seiner Wirtschaft.

In: Neue Freie Presse, 18.2.1934, S. 2-3.

Lutz Weltmann: Alexander Tairoffs theatralische Sendung

Zum bevorstehenden Wiener Gastspiel des Moskauer Kammertheaters.

Alexander Tairoff, der Direktor und Regisseur des Moskauer Kammertheaters, ist der Max Reinhardt Rußlands. Das klingt paradox. Auf den ersten Blick erscheint er eher als ein Gleichstrebender Jeßners, der Mary Wigman, Charlie Chaplins. Aber schon diese Zusammenstellung zeigt, daß diese Verwandtschaft nichts unbedingt Persönliches, vielmehr Ausdruck eines gemeinsamen Zeitstiles ist. Gliederung des Bühnenbildes, organische Anpassung der Kostüme und der Bewegung der Darsteller dazu – das schlägt alles in die gleiche Kerbe wie eine Jeßnersche Inszenierung. Seiner Mentalität nach und als theatergeschichtliche Erscheinung ist Tairoff der Erbe Reinhardts. (Tairoff verhält sich zu Stanislawsky wie Reinhardt zu Otto Brahm.)

            Reinhardt wie Tairoff lösten das Theater aus den Fesseln der Literatur, proklamierten das théâtre pour le théâtre. Beide zu einer Zeit, als die dramatische Produktion zu stagnieren begann. Shakespeare, Lenz, Büchner, Tolstoj, Beer-Hofmann dienten Reinhardt als Vorwand zur Entfaltung zauberischer Theaterkünste. Aber Ballett, Pantomime und Operette taten es auch. Und programmatisch genug eröffnete er seine beiden letzten Theatergründungen, das Josefstädter Theater in Wien und die Komödie in Berlin, mit Goldonis comedia dell’ arte „Der Diener zweier Herren“. Und was der Berührungspunkte mehr sind. Tairoff verficht im Grunde genommen die gleichen Ideen. (Und scheint im Begriffe, Max Reinhardts europäische Geltung zu erwerben.) Tairoffs Stoßkraft ist stärker. Er ist Programmatiker. Begründet seine Ideen theoretisch und historisch. Und seine Situation ist geklärter, umrissener, als zu den Zeiten von Reinhardts Hervortreten. Zwischen Stanislawsky und Tairoff liegt die russische Revolution. Deren Umwälzung auf literarischem Gebiete nicht minder groß war als auf politischem. Mit der bolschewistischen Idee riß die Verbindung mit der bürgerlichen Tradition ab. Die Gestalten des russischen Dramas hatten ihre Symbolkraft für die Mitglieder der Sowjetrepublik verloren. Den Russen fehlte das Reservoir der Klassiker, aus dem (wie lange noch?) die deutschen Bühnenleiter schöpfen. Der dramatische Nachwuchs ist noch spärlicher als bei uns: Jevreinoff mit seiner pirandellesken „Quintessenz“, Leo Lunz mit seiner – wohl eigens für Tairoffs Bühne erdachten – Regiepartitur „Vogelfrei“ marschieren an der Spitze.

            Nun macht der Theoretiker Tairoff aus der Not eine Tugend. Er entsinnt sich, daß es Zeiten gab, in denen das Theater sehr gut ohne Literatur auskam. Denkt an den Mimus der römischen Kaiserzeit, den Vorläufer der Oper und Operette und – in der äußeren Struktur: den Wechsel von Vers und Prosa, Lied und Tanz – Shakespeares. Tairoff arbeitet am konsequentesten an der Wiedergeburt des Mimus mit, die sich seit den letzten Jahren überall ankündigt: beim Drama im Zug zum Volksstück und zur comedia dell’ arte, beim Theater wenn Barnowsky „Wie es euch gefällt“ ganz auf das Schäferspiel stellt, Jürgen Fehling „Viel Lärm um Nichts“, Ludwig Berger „Der Widerspenstigen Zähmung“ ganz auf das Fastnachtspiel, Reinhardts Offenbachiade „Orpheus in der Unterwelt“ und Jeßners Wedekind-Inszenierungen nicht zu vergessen. (Dramaturgische Bearbeitungen wie sie Kalidasa durch Paul Kornfeld, Goldoni durch Otto Zoff, Calderon durch Hugo von Hofmannsthal erfuhren weisen in die gleiche Richtung.

            Aber Alexander Tairoffs theatralische Sendung ist keine theoretische, sondern eine praktische. Sie ist die Disziplin seines Ensembles. Das sind trainierte Körper, zu jeder Akrobatik und Exzentrik fähig, schmissige Tänzer mit federnden Gelenken und beherrschter Mimik – bis zum Chor voll Musikalität in den Fingerspitzen. Man hat das Gefühl, daß jeder Chorist, jedes Chormädel im nächsten Stück eine Hauptrolle übernehmen kann.

            Vorbildlich ist Tairoff durch die Suggestivkraft seiner Persönlichkeit, die sich bis zum kleinsten Statisten mitteilt und die gleichmäßige Durchdringung von Bühnenraum, Kostüm und Geste mit seiner Phantasie. Wenn Giroflé auf dem Oberschenkel des knienden Liebhabers sitzt und mit ihrem Fuß rhythmisch die Küsse begleitet, wenn Vater Bolero den Kopf mit dem wehenden Haupthaar in seine Halskrause schneckengleich einziehen kann (zwei Beispiele für beliebig viele), so ist der tänzerische Ausdruck dem bewegten Bühnenbild bis ins Letzte angepaßt: eine Klappe öffnet sich und das Zimmer verwandelt sich in ein Schiff, zwei Schiffsluken werden plötzlich zu Fenstern des Hauses – hier ist die Technik so sublimiert, so ganz und gar nicht Apparat, daß sie dienend mitspielt.

            Tairoff fand bereits deutsche Nachahmer. Von Berthold Viertels „Kaufmann von Venedig“-Inszenierung, die aus „Giroflé-Girofla“ den Kopfputz übernahm, bis zu Kieslers „Raumbühne“ und Karlheinz Martins „Franziska“-Aufführung stets äußerlich oder mißverstanden. Vorbild ist Alexander Wesnins Bühnenmodell zu Tairoffs Inszenierung des Mannes der Donnerstag war. Aber es ist ein Irrtum, wenn man aus dieser Bühnenkonstruktion ein Prinzip macht. Tairoffs Bühnenarchitektur zu „Sechs Detektivs suchen einen Anarchisten“ (wie Chestertons bekannter Roman bei Tairoff heißen könnte) ist aus dem Stücke selbst hergeleitet; gleichsam ein Einheitsbühnenbild, das die Atmosphäre der Großstadt wiedergibt, die Vision Großstadt. Nur durch das Inbeziehungsetzen der Spieler zu Raum und Musik bekommt diese Bühnenkonstruktion ihre Berechtigung. Flimmernde Lichtreklame und gehetzte Zeitungsrufer – die Straße. Kämpfende Autohupen – die Verfolgung, während gleichzeitig eine schräge Markise sich senkt und mit Tisch und Stühlen ein Teil der Bühne zum Kaffeehaus wird. Stets variiert bis zur Schlußsteigerung, wenn das Zeitungsblatt den Königsmord verkündet.

            Häufig rankt Tairoff seine Einfälle spielerisch um ein Nichts. Aber er versteht es auch, sie für dramaturgische Regie produktiv zu machen. Er proklamiert die zeitungebundene, voraussetzungslose Schauspielkunst. Aber er macht sie zur Wegbereiterin eines neugeborenen Dramas. Das ist nicht der unbeträchtlichste Teil von Alexander Tairoffs theatralischer Sendung.

In: Die Bühne, Nr. 31/1925, S. 14f.