Grete Ujhely: Aus einer russischen Schule (1928)

Wenn man etwas Gutes von unserer Zeit sagen kann, dann ist es vielleicht das: daß sie den Respekt vor dem Alter ein wenig vermindert hat zugunsten des Respekts vor der Jugend. Es ist noch gar nicht so lange her, seit man nichts Besseres von einem Kinde sagen konnte als: es ist brav, es ist folgsam. Die Kinder wurden nur beurteilt vom Standpunkt der Erwachsenen. Je weniger sie störten, je weniger ihr eigener, ein bißchen anders gearteter Wille zu schaffen machte, desto zufriedener war man mit den Resultaten der Erziehung

Die Menschen — das waren die Erwachsenen. Und die Kindheit nur ein vorübergehendes, durch seine Hilflosigkeit fast ein wenig komisches Stadium, ehe man Erwachsener wurde. Dafür vergoldete man in der Vorstellung dieses Stadium, von dem man wenig wußte, mit viel Unschuldsromantik, paradiesischer Vor-dem-Sündenfall-Glorie.

Das alles hat sich in den letzten Jahren sehr verändert. Ellen Key, Maria Montessori und Alfred Adler sind ein paar Namen, die eng mit dieser Anschauungswandlung verknüpft sind. Das heute schon allgemein geläufige Resultat ist: Gebt den Kindern und Jugendlichen die ihnen gebührenden Minoritätsrechte! Zwingt sie nicht in die Welt der Erwachsenen, laßt ihnen ihre eigene! Haltet sie nicht für Engel, solange sie „brav“ sind, und nicht für „verloren“, wenn es sich herausstellt, daß sie ebenso verlogen und lasterhaft sein können wie wir Erwachsenen. Helft ihnen, wenn ihr klüger seid als sie: nicht durch Autorität, sondern durch Überzeugung und Liebe.

Es ist für den Augenblick natürlich leichter, ein Kind durch Androhung von Strafe — seien es nun Prügel oder das wachsame Auge des lieben Gottes — zu dem zu bringen, was es unserer Meinung nach tun sollte. Ein Kind, ohne daß es etwas davon merkt, auf den richtigen Weg zu führen, das Kind selbst seine Wertmaßstäbe wie alles übrige erarbeiten zu lassen, ist ungleich schwieriger — aber das so Errungene allein ist ein dauerhafter Erfolg. Nur ein Beispiel: Ein Kind, das etwa nur deshalb nicht lügt, weil der liebe Gott das merkt, hat im Augenblick jeden Grund verloren, nicht zu lügen, wo es an der Allwissenheit des lieben Gottes zu zweifeln beginnt.

Überall in der Welt versucht man, diesen neuen Anschauungen in der Erziehung Rechnung zu tragen. Und die Wiener Schulreform ist da ein großer Schritt nach vorwärts. In Rußland, wo man ja auf manchen Gebieten ungehinderter experimentieren kann — weil kein reaktionärer Klerus und keine verzopfte Bürgerlichkeit Einspruch erheben kann —, ist die alte Autoritätsschule in Grund und Boden reformiert worden. Das Tagebuch des Schülers Kostja Rjabzew gibt ein anschauliches Bild davon, ein Buch, bei dessen Lektüre nicht nur einem Gymnasialprofessor von vor zwanzig Jahren die Haare zu Berge stehen dürften. Vielleicht auch manchem modernen Lehrer, der doch immer noch eine gewisse Dosis Autorität für notwendig hält.

Kostja Rjabzew, der fünfzehnjährige Schreiber des Tagebuches, ist ein frecher, vorlauter, ungemein selbstbewußter Bursche, durchdrungen von der Überzeugung aller jungen Menschen, daß so ziemlich alles, was bis jetzt auf der Welt geschehen ist, schlecht war, und daß er es besser machen wird. Die politische Atmosphäre, in der diese jungen Leute leben, unterstützt diesen Glauben nur, ist nicht seine Ursache. Das Tagebuch reicht über ein Schuljahr, von Herbst bis Herbst, und wir erleben die großen und kleinen Ereignisse in der Schule, wie sie sich im Hirn Kostjas spiegeln. Kostja — so heißt er zwar, aber er selbst findet den Namen überholt. Er beschließt, sich von nun an Wladimir zu nennen, nach Wladimir Lenin. So kindisch wie dieser sehr ernsthaft, erwogene Entschluß einer Namensänderung ist das ganze Tagebuch, aber trotzdem läßt es ahnen, daß aus dem wirren, draufgängerischen, prahlerischen kleinen Bengel ein, ganz prachtvoller Mensch werden wird.

Die Schule, das ist in Rußland zweierlei: erstens die Anleitung zur selbständigen Erarbeitung von Kenntnissen, zweitens ein kleiner Sowjetstaat im Sowjetstaat. Vielleicht überwiegt manchmal die zweite Funktion die erste. Kostja klagt immer wieder, daß er über all seinen politischen Funktionen nicht zum Lernen kommt. Das ist natürlich kein gesunder Zustand. Anderseits bietet die Tätigkeit in der Selbstverwaltung der Schule den Bedürfnissen der jungen Leute nach Wirksamkeit, organisatorischer und rhetorischer Arbeit, praktischer Durchsetzung ihrer Ideen ein ausgezeichnetes Feld. Sie haben es nicht mehr notwendig, Indianerhäuptling und Detektiv zu spielen, da sie in wirklichkeitsnäherer Form Sozialismus spielen können.

Die Herren der Schule sind die Schüler, Buben und Mädel natürlich in Koedukation. Die Lehrer haben nur beratende Stimme. Keine Autorität hilft ihnen mehr. Nur der, dessen Persönlichkeit stark genug ist, sich auch in diesem Gleich-zu-gleich-Verhältnis den Schülern aufzuzwingen, kann in dieser Schule lehren, wirken, führen; der auch ohne den Mantel der Würde diesen respektlosen Halbwüchsigen Respekt vor seiner Menschlichkeit einflößen kann. Ganz indirekt tauchen in der Schilderung Kostjas einige solcher wahrhafter Erzieher auf: Die „lange Sinajda“, die Schulvorsteherin, hinter deren komischer Äußerlichkeit die Schüler sehr wohl den starken Willen und die unendliche Liebe und Opferbereitschaft für die Jugend fühlen; Nikpetosch, der Lehrer, der selbst noch nicht ganz fertig geworden ist mit den Wirren, unter denen die jungen Herzen seiner Schüler leiden, der ihnen deshalb schließlich nicht mehr Führer sein kann, nur Freund.

Wenn in der Schilderung des Schullebens die vielen „Allgemeinen Versammlungen“, „Schülerkomiteesitzungen“, „Sanitäres Komitee“, „Kulturelles Komitee“, „Einigungskommission“, die Wandzeitungen und die Gerichtsverhandlung mit Vorsitzendem, Verteidiger und Staatsanwalt erst ein wenig komisch wirken, so begreift man doch bald, wie die Schüler in fortwährendem Experimentieren dabei verstehen lernen, daß sie sich Gesetze geben und diese selbst gegebenen Gesetze halten müssen. Natürlich gibt es auch Revolutionen — wie etwa die wunderbar kindische Revolution mit der Forderung: wir wollen die Lehrer nicht mehr grüßen. Aber die Revolutionen verlaufen ganz von selbst in dieser beneidenswerten Schule im Sande und gewähren dabei doch eine Freiheit, die das wirkliche Leben leider noch nirgends kennt, am allerwenigsten in Rußland.

Gerechte Gesellschaftsordnung als Voraussetzung für den Bestand dieser Gesellschaft — diese Notwendigkeit lernen die Buben und Mädel so gut, daß sie es nie mehr vergessen können. Früher trat dem Kinde „Ordnung“, „Gesetz“ als Wille von außen entgegen und er regte damit den immer bereiten Auflehnungsgeist der Jugend. Jetzt erarbeitet die junge Generation sich selbst diese Notwendigkeit. Freilich, wenn sie einmal die Schule verlassen wird, werden sie neue unerhörte Schwierigkeiten erwarten: in der Welt, die von den ihnen bis dahin unbekannten wirtschaftlichen Notwendigkeiten regiert wird. Aber es ist wahrscheinlich, daß Kostja Rjabzew und seine Kameraden sich mit diesen Schwierigkeiten noch besser herumzuschlagen verstehen werden als ihre Eltern.

Das Tagebuch des Schülers Kostja Rjabzew schildert außerdem in einer sehr zarten, dabei aber völlig aufrichtigen Weise die große Not der Pubertät: durch Koedukation und Aufrichtigkeit ist ihr zwar der Stachel des Versteckten, Sündhaften und Heimlichen genommen, aber es bleibt noch genug Verwirrendes und Schweres für die jungen Menschen auf dem weiten Feld der sexuellen Nöte, für die ja auch wir Erwachsenen noch keine eindeutige Lösung gefunden haben. Nicht ohne Rührung lesen wir den Satz, den Kostja mit vielen Stirnfalten der Entschlossenheit und allem Selbstvertrauen der Jugend in sein Tagebuch schreibt: „Irgendeine Lösung der sexuellen Frage muß ich endlich finden.“

Er kann überhaupt gut „große Worte“ machen. Insbesondere das Vokabular des „Kommunistischen Katechismus“ ist ihm geläufig. Ideologisch falsch zum Beispiel verwendet er immer, ob es paßt oder nicht: „Das alles ist antiproletarischer Quatsch.“ — „Nein, neben Mädeln sitzen, das ist etwas für die verseuchte Intelligenz“, konstatiert der kleine „bewußte“ Proletarier.

Trotz allem und gerade wegen seiner offen sichtlichen Kindlichkeiten und Überheblichkeiten gewinnt man diesen Kostja Rjabzew lieb und möchte gern mehr von ihm hören. Und von ihm noch mehr zu erzählen, hat der Autor Nikolai Ognjem versprochen, Nikolai Ognjem, dessen Buch (Verlag der Jugendinternationale, Berlin) so unerhört lebendig ist, daß man seinen hohen künstlerischen Wert über der Neuheit des Inhalts fast vergißt.

In: Arbeiter-Zeitung, 12.2.1928, S. 17.

Paul Friedländer: Drei Bücher Trotzkis (1924)

Trotzkis Genialität, seine Tatkraft und zugleich sein erstaunlich weitumspannender Gesichts- und Interessenkreis werden durch drei in rascher Aufeinanderfolge erschienene[n] Bücher (Die Geburt der Roten Armee, Literatur und Revolution, beide im Verlag für Literatur und Politik, und Fragen des Alltagslebens, Verlag Hoym Nachf.) illustriert, die übrigens nur Auszüge aus einigen seiner letzten, in russischer Sprache verfaßten Arbeiten darstellen.

Die Geburt der Roten Armee handelt von der vielleicht gewaltigsten Leistung der russischen Arbeiter und Bauern, an der Trotzki in hervorragendstem Maße beteiligt ist. Das Buch ist eine Sammlung von Reden, Befehlen, Aufrufen und Thesen Trotzkis aus dem Gründungsjahr der Roten Armee.

Die Friedensparole der bolschewistischen Partei Rußlands war es, die den Zersetzungsprozeß in der zaristischen Armee während der Kerenskiperiode beschleunigte, bis der Zerfall dieser Armee da war, der eine der wichtigsten Voraussetzungen zur Begründung der proletarischen Herrschaft in der Form der Sowjetrepublik war. Der zaristische Militarismus wurde zunächst durch keinerlei Militarismus abgelöst. Freiwillige Arbeiter- und Bauernbataillone übernahmen Verteidigung und Schutz des neugeschaffenen Bollwerks des Weltproletariats.

Eine kurze Zeit war es möglich, daß Sowjetrußland ohne militärische Macht existieren konnte. Der fortdauernde Weltkrieg, in dem die Entente- und Mittelmächte ihre Kriegsmittel und Truppen verbrauchten, gewährten der jungen Sowjetrepublik eine kleine Atempause. Aber Brest-Litowsk — und die darauf folgende „Offensive“ der Deutschen und Österreicher gegen die Ukraine — zeigte deutlich die ungeheure Gefahr, die Sowjetrußland vonseiten des ausländischen Imperialismus drohte. Seine Wehrlosigkeit schien es zur rechten Beute für die Imperialisten aller Schattierungen, insbesondere aber für die aus Rußland entflohenen

blut- und geldgierigen weißen Generäle, hinter denen vor allem Frankreich stand, zu machen. Der Sommer 1918 brachte denn auch den Vormarsch der tschecho-slowakischen Legionäre, die als Werkzeug russischer und französischer reaktionärer Militärs gegen die Diktatur des russischen Proletariats eingesetzt wurden.

Es wurde breitesten Kreisen der Arbeiter und Bauern in Rußland klar, daß sie ihre Herrschaft und ihre Ordnung nur verteidigen konnten, wenn sie sich dem sie auf Tod und Leben bedrohenden konterrevolutionären Militarismus entgegenstellten. Pazifistische Illusionen wären gleichbedeutend mit, der Herbeiführung der wütendsten bis an die Zähne bewaffneten und im Arbeitsblut watenden Reaktion gewesen. Hier gab es keine Wahl. War der Zerfall der zaristischen Armee eine der Grundbedingungen zur Eroberung der proletarischen Macht, so war die Gründung und der rasche Aufbau der Roten Armee die entscheidende Voraussetzung zur Aufrechterhaltung des proletarischen Sieges in Rußland.

Lenin, Trotzki und eine Reihe von Männern, die dies klar erkannten, gingen sofort an die Durchführung des gewaltigen Planes. Trotzki, an die Spitze des Kriegskommissariats und des Komitees zur Vorbereitung einer Roten Armee gestellt, bewies eine Umsicht und Energie, vollführte eine organisatorische und zugleich aufklärende Arbeit, wie sie in der Weltgeschichte ihresgleichen kaum findet. Von diesem gewaltigen Werk, das im Verlauf einiger Monate geleistet wurde, gibt das Buch über Die Geburt der Roten Armee, das in die Hand jedes revolutionären Arbeiters gehört, ein anschauliches Zeugnis.

Die Rote Armee unterscheidet sich fundamental von einer bürgerlichen Armee. Die Soldaten eines Bourgeoisiestaates kämpfen für die Interessen der sie unterdrückenden kapitalistischen Minderheit. Die Soldaten des Proletarierstaates kämpfen für ihre eigenen Interessen. Je unwissender, gefügiger, willenloser die Truppen der kapitalistischen Mächte, umso brauchbarer für deren Zwecke. Je bewußter, zielklarer, willensstärker die roten Truppen umso kampftüchtiger für die Verteidigung der proletarischen Macht. So haben die Führer der russischen Revolution, voran Trotzki, es sich in erster Linie angelegen sein lassen, die der Roten Armee angehörigen Truppen mit revolutionärem Wissen, Bildung, klarem Geist zu erfüllen. Keine Analphabeten in der Roten Armee (Der Zarismus hatte sie in seinem Interesse geradezu gezüchtet.)

Trotzki selbst, der jahrelang an der Spitze der Roten Armee steht, hat allen politischen, wirtschaftlichen und geistigen Fragen der Sowjetrepublik sein Augenmerk zugewendet und bei ihrer Lösung hervorragend mitgewirkt. Daß er dabei sogar scheinbar weniger bedeutsamen Fragen sein Interesse widmen konnte, wie den Fragen des Alltagslebens und dem Problem der Literartur, ist ein Beweis seiner außerordentlichen Regsamkeit.

Fragen des Alltagslebens ist der Titel des überaus klar und verständlich geschriebenen Buches Trotzkis, das sich mit einigen sehr ernsten Aufgaben in der Epoche der „Kulturarbeit“ beschäftigt. Diese Epoche ist in Sowjetrussland schonangebrochen. Trotzki gibt eine Fülle durchaus gesunder Anregungen, wie diese Aufgaben zu erfüllen sind. Er verfällt nicht in den Fehler der Literatur und gewisser scheinradikaler Kulturpolitiker, abenteuerliche, ausschweifende, den Massen unverständliche Vorschläge zu machen.

„Die Zeitung hat ihre Leser“, lautet ein Kapitel, in dem die Mangelhaftigkeit der proletarischen Presse scharf // gekennzeichnet und den Redakteuren, Korrektoren, Setzern und „Fragen des Alltagslehens“ und dem Problemen der „Literatur“, nach dem Herzen der Masse ist als auch ihrer Fortbildung und ihren Interessen dient, herstellen muß. — Von „Schnaps, Kirche und Kino“ handelt ein anderes Kapitel, in dem auf die noch immer nicht genügend erkannte sozial-kulturelle Bedeutung des Kinos hingewiesen und angedeutet wird, wie man es, ohne den Sensationsbedürfnissen der Masse Abbruch zu tun, im Sinne der Erneuerung der Kultur auswerten müßte. „Das Kino ist eine große Konkurrenz nicht nur der Kneipe, sondern auch der Kirche. Es ist das Werkzeug, dessen wir uns unbedingt bemächtigen müssen!“ – Am bedeutsamsten sind die Kapitel über die Krise des Familienlebens, über den Zerfall der alten und dem Übergang zur neuen Familie. Die Revolution des Familienlebens, im innigen Zusammenhang mit der sozialen Revolution, berührt breite Massen noch tiefer und leidenschaftlicher als die für das öffentliche Leben charakteristische politische Revolution. Trotzkis Gedanken über den neuen Weg der Familie, über die Gründung von „Familienwirtschaftskollektiven“ usw. sind der Vertiefung und Konkretisierung würdig. Wie alle diese Fragen des Alltagslebens aus dem innersten und fortwährenden Bedürfnis der proletarischen Männer und Frauen — auch Jugend — gestellt sind, wird aus einem sehr umfangreichen Anhang ersichtlich, in dem das Protokoll von Besprechungen einer Gruppe von 25 Moskauer Parteimassenagitatoren über alltägliche Probleme wiedergegeben wird

Das dritte Buch Trotzkis Literatur und Revolution ist von besonderem Wert für all jene, die für proletarische Kultur und Kunst, insbesondere für revolutionäre Literatur Interesse zeigen. Es zeichnet sich wiederum durch Klarheit, Verständlichkeit und Echtheit aus. Es ist eine sehr bittere, aber gesunde Pille für alle die Leute – sie sind auch außerhalb Sowjetrußlands zahlreich –, die ihren Mangel an Verständnis für die soziale Revolution und für die Aufgaben der proletarischen Diktatur, in der Kultur- und Kunstbewegung ausleben möchten. Dieser oft ehrlichen, oft verlogenen Sorte ist die Masse zum Probierkaninchen gut. Sie glauben häufig, ihre eigene leere und verworrene Geschwätzigkeit bei der Masse gut anbringen zu können.  Trotzkis keineswegs gehässige Kritik gegen all diesen Mitläufern, sowie an den Futuristen ist vollkommen berechtigt. Diese Kritik ist nicht im mindesten spießerisch. Sie weist in die Zukunft, nicht in die Vergangenheit. Es ist doppelt zu begrüßen, daß ein Mann von der Bedeutung Trotzkis mir den Literaten ins Gericht geht. Er spricht dabei das dunkle Empfinden der Masse aus. Auch das Geschrei Majakowskis in seinem vielgepriesenen „150,000,000“ wird in der gebührenden Weise beurteilt. Es ist keineswegs das Poem der Revolution. Trotzki analysiert dieses Poem. Er beurteilt das in manchen ‚Einzelheiten packende Machwerk noch zu milde. „Anstatt des tatsächlichen Titanenkampfes von 150.000.000 ergibt sich die Parodie eines sagenhaften Zirkusmatch.“ „Der Verfasser“ möchte gern „mit dem Sozialismus und der Revolution auf Du und Du sein“. Aber er bleibt „individualistisch, und zwar hauptsächlich im bösen Sinne des Wortes“. – Als ehrlichen revolutionären Proletarierdichter stellt Trotzki den Dichter Demjan Bjedny hin. 

Die Kapitel über proletarisch« Kultur und Kunst, über Revolutionskunst und sozialistische Kunst können diesem Rahmen nicht besprochen werden.“

Dieses Buch Trotzkis bringt eine frische, kräftige Luft in eine verpestete Athmosphäre. Denn nirgendwo hat sich mehr Unrat und Stickigkeit angesammelt, als in den Regionen der

„Kulturbürger“, der Künstler und Literaten.

In: Rote Fahne, 16.5.1924, S. 2-3.

Fritz Rosenfeld/Karl Leuthner: Neue russische Romane (1930)

Wohl selten war eine literarische Schaffensperiode in ihren Themen und in ihrer Form so einheitlich wie es die russische Dichtung der Nachkriegszeit ist. Der Stoff aller Romane ist die jüngste Vergangenheit und die Gegenwart Sowjetrußlands; die Darstellungsform bleibt, mit Ausnahme ganz weniger Dichter, die zu einer neuen Romantik Hinstreben (Leonow), der breite Naturalismus alter Schule, in den sich impressionistische Elemente, lyrische Zwischenspiele, Stimmungsmalerei, mischen. Ihrem Inhalt nach sind die neuen russischen Romane leicht zu gliedern. Der Krieg, die Revolution und der Bürgerkrieg, die Aufbauarbeit im neuen Staate, sind die drei großen Themengruppen, in die sich die neue russische Epik einteilen läßt. 

Der Krieg ist die Hauptmelodie des großen Romans 

Der stille Don

von Michael Scholochow (Verlag für Literatur und Politik, Wien-Berlin). Das Buch schildert erst das Leben der Kosaken, die an den Ufern des Don stille Bauernarbeit leisten, und zeigt dann, wie diese Kosaken, vom Zaren in das Blutbad des Weltkrieges gestürzt, zu neuen Menschen werden. Die Vollendung der Wandlung, die der Krieg an ihnen vollzieht, wird ein zweiter Teil des Romans darstellen. Wie die Kriegsbücher aller Völker, zerreißt auch dieses russische Kriegsbuch die Legende vom Heldentum. Friedliche Menschen werden zu Mördern, weil sie fürchten, gemordet zu werden.

Ein Zeitdokument aus der Revolution ist die Selbstbiographie Vera Inbers, die im Malik-Verlag, Berlin, deutsch unter dem Titel 

Der Platz an der Sonne 

erschienen ist. Das Buch ist kein Roman im gewöhnlichen Sinne, sondern eine breite, gestaltenreiche Zeitschilderung, die den Atem, die „Schwingungen“ einer großen Epoche wiederzugeben versucht.

Farbiger, lebendiger sind die beiden Erzählungen, die der Neue Deutsche Verlag, Berlin, in dem Band

Taschkent, die brotreiche Stadt 

vereinigt hat. Die Titelerzählung des Buches stammt von Alexander Newerow. Sie spielt in den trübsten Hungerzeiten nach der Revolution und hat einen kleinen Jungen zum Helden, der für seine Familie die abenteuerliche Fahrt nach Taschkent wagt, um Brot und Saatkorn heimzubringen. Er schlägt sich mit Soldaten, mit Wegelagerern, mit dem großen Heer der Hungerndenherum, aber er erreicht sein Ziel. Großartiger als diese Geschichte ist A. Sferafimowitsch‚ gewaltiges episches Fresko Der eiserne Strom, das den zweiten Teil des Buches bildet. Hier gibt es keinen „Helden“, kein Einzelschicksal. Ein von den Horden der Reaktion aus der Heimat vertriebener Trupp kaukasischer Bauern bahnt sich mit der nackten Faust durch die ehernen Reihen der Feinde einen Weg und entrinnt den weißgardistischen Kadetten, von denen er verfolgt wird. Ein schauriges Gemälde aus dem Bürgerkrieg, unbarmherzig in der Darstellung der Kriegsgreuel, überhöht und überglänzt von dem Gedanken, daß an der geeinten Kraft der Revolutionäre alle Mordbanden der Reaktion zuschanden werden müssen.

Eine Episode aus dem Bürgerkrieg erzählt A. Fadejew in seinem im Verlag für Literatur und Politik erschienenen Buch 

Die Neunzehn.

Kommunistische Freischärler kämpfen gegen die Truppen Koltschaks. Typen treten aus der Masse heraus, das Gesicht des russischen Freiheitskämpfers wird in vielen Abwandlungen gezeigt. Die Hauptfigur ist ein junger Mensch, der nicht weiß, wofür er kämpft, der in seinem innersten Wesen ein Feigling ist: er schlägt sich in der Stundeder Gefahr seitwärts in die Büsche, wahrend die Kameraden, zielbewußte Soldaten der Revolution, den Kampf weiterführen.

Der wertvollste Roman des neuen Rußland nach Fedor Gladkows „Zement“ ist der ebenfalls im Verlag für Literatur und Politik erschienene Bauernroman 

Die Genossenschaft der Habenichtse

von F. Panferow. Er ist das Gegenstück zu „Zement“: dem Roman vom Wiederaufbau der Industrie wird hier der Roman vom Neuaufbau der russischen Landwirtschaft gegenübergestellt. An den Ufern der Wolga gründen ein paar arme Bauern auf ungerodetem Regierungsgrund einen gemeinwirtschaftlichen Betrieb, eine landwirtschaftliche Genossenschaft. Sie verteidigen ihre Idee und ihr langsam wachsendes Werk gegen die Sabotierungsversuche der wieder frech gewordenen Großbauern, sie führen Werk und Idee zum Sieg, obgleich die Kulaken mit den niederträchtigsten Mitteln die Genossenschaft umzubringen versuchen. An dem Problem: Einzelwirtschaft oder Gemeinwirtschaft, entzünden sich andre Probleme; der Konflikt der Generationen, der Konflikt der Geschlechter. Große, schicksalsträchtige Spannungen erfüllen den Roman, treiben seine Handlung an. Die Kernfragen der neuen russischen Bauernpolitik werden aber nicht trocken abgehandelt, der neue Geist des Kollektivismus wird nicht pathetisch gepredigt, sondern lebendig und dichterisch gestaltet. In machtvoller Steigerung spitzt Panferow das Buch auf eine Auseinandersetzung zwischen Großbauern und Habenichtsen zu, die zugunsten der Habenichtse ausfällt: die Arbeitsgenossenschaft der Besitz losen räumt mit dem alten Elend der kleinen Einzelwirtschaft auf und bannt die politische Gefahr der allzu mächtigen großen Einzelwirtschaft. Was Eisenstein in dem Film „Die Generallinie“ in großartigen beredten Bildern geformt hat, formt Panferow mit den Mitteln des Romans. Sein Werk ist oft von wuchtigster dramatischer Größe, oft wieder von verträumter lyrischer Zartheit. Ein großer Gestalter hat einen großen Stoff meisterhaft bezwungen.

[F. Rosenfeld]

Romantischer Roman

Leonid Leonov: „Der Dieb“

Leonow, der vor acht Jahren— damals zweiundzwanzig Jahre alt — mit den „Aufzeichnungen Kowiakins“, einer kurzen, meisterhaften Erzählung aus dem Leben der Provinz, hervortrat, gilt für eine der stärksten Begabungen des jungen Rußland. Dem Erstlingswerk folgten mehrere Erzählungen, der Roman Barsuki (Die Dachse) und 1928 der große Roman Wor (Der Dieb), der in deutscher Übertragung im Paul-Zsolnay-Verlag, Wien, erschien. Der Dieb hat in der russischen Kritik ein zwiespältiges Urteil erfahren. Nennen die einen den Roman ein herrliches, vollwichtiges Werk (so Pilski) und entdecken darin Züge des großen Seelenergründers und Seelenkünders Dostojewskis, so bezeichnet ihn Arseniew in  seiner Russischen Literatur der Neuzeit als „psychologisch recht interessant, aber  schwerfällig und langatmig“. Doch an diesem Urteil kann nur so viel als richtig zugegeben werden, daß kein rascher Drang und Zug die Handlung einem Konflikt und seiner Lösung zutreibt. Diese Eigenschaft teilt der „Dieb“ mit einigen der berühmtesten russischen Romane. Das Gefüge ist lose. Der Verfasser selbst tritt mit seinen Figuren auf die Bühne und schreibt im Roman den Roman, wie unsere Romantiker im Theater das Theater aufführten. Ja, es ist ein sehr abenteuerliches Geschehen, das hier zum größten Teil in der Verbrecherwelt des sowjetistischen Moskau spielt. Indes man fragt im Lesen gar nicht danach, ob nun jede wundersame Wendung der Geschicke genau den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit entspricht, ob nicht eine oder die andre der Gestalten vom Abenteuerlich-Romantischen ins Romanhafte hinüberspielt. Um all die Gestalten, um all die Dinge, um all die Ereignisse fließt der Geist der Ironie, einer Ironie, die manchmal scharf ätzend, noch häufiger jedoch mit leisem Lächeln deutend, Andeutung an Andeutung reiht, bis sich uns das ganze Geschehen des Romans zur schärfsten Kritik der Sowjetwelt wandelt. In dem Tschinownik, der, in einen Sowjetbeamten und Hausvertrauensmann umgeschaffen, doch nur der alte Tschinownik ist, bekommt die Ironie ihr kraftvollstes Symbol. Wie von Gogol her kommt diese Gestalt und scheint zu sagen: sie ist wiederum da die Zeit, welche Menschen gebiert, über die wir weinen müssen, während uns zugleich der Ekel würgt.

[K. Leuthner]

 In: Arbeiter-Zeitung, 19.8.1930, S. 5.

Stefan Zweig: Reise nach Rußland (1928)

Stefan Zweig hat auf Einladung der russischen Regierung an den Tolstoi-Feierlichkeiten teilgenommen. In dem nachfolgenden Artikel beginnt er mit der Schilderung seiner Eindrücke.

Salzburg, 18. Oktober.

Redliche Vorbemerkung.

Welche Reise innerhalb unserer näheren Welt wäre heute auch nur annähernd so interessant, bezaubernd, belehrend und aufregend als jene nach Rußland? Während unser Europa, und besonders die Hauptstädte, dem unaufhaltsam zeitgemäßen Prozeß wechselseitiger Anformung und Verähnlichung unterliegen, bleibt Rußland völlig vergleichslos. Nicht nur das Auge, nicht nur der ästhetische Sinn wird von dieser urtümlichen Architektonik, dieser neuen Volkswesenheit in unablässiger Überraschtheit ergriffen, auch die geistigen Dinge formen sich hier anders, aus anderen Vergangenheiten in eine besondere Zukunft hinein. Die wichtigsten Fragen gesellschaftlich-geistiger Struktur drängen sich an jeder Straßenecke, in jedem Gespräch. In jeder Begegnung unabweisbar auf, ununterbrochen fühlt man sich beschäftigt, interessiert, angeregt und zwischen Begeisterung und Zweifel, zwischen Staunen und Bedenken leidenschaftlich angerufen.

So voll ballt sich jede Stunde mit Weltstoff und Denkstoff, daß es leicht wäre, über zehn Tage Rußland ein Buch zu schreiben.

Das haben nun in den letzten Jahren ein paar Dutzend europäische Schriftsteller getan; ich persönlich beneide sie um ihren Mut. Denn klug oder töricht, lügnerisch oder wahr, vorsichtig oder apodiktisch, alle diese Bücher haben doch eine fatale Ähnlichkeit mit jenen amerikanischen Reportagen, die nach zwei Wochen Cook-Rundfahrten sich ein Buch über Europa erlauben. Wer der russischen Sprache nicht mächtig ist, nur die Hauptstädte Moskau und Leningrad, bloß also in die beiden Pupillen des russischen Riesenleibes gesehen, wer außerdem die neue revolutionäre Ordnung mit den zaristischen Zuständen nicht aus früherer Erfahrung zu vergleichen vermag, sollte, meine ich, lieber redlicherweise verzichten auf Prophezeiung wie auf pathetische Entdeckungen. Er darf nur Impressionen geben, farbig und flüchtig wie sie waren, ohne jeden anderen Wert und Anspruch als den gerade in bezug auf Rußland heute wichtigsten: nicht zu übertreiben, nicht zu entstellen und vor allem nicht zu lügen.

Grenze.

In Niegoroloie erste russische Erde. Spät abends, so dunkel schon, daß man den berühmten roten Bahnhof mit der Überschrift »Proletarier aller Länder vereinigt euch« nicht mehr wahrnehmen kann. Aber auch die so pittoresk und fradiavolesk von romanhaften Reisevorgängern geschilderten Rotgardisten, grimmig bis an die Zähne bewaffnet, kann ich mit bestem Willen nicht erblicken, einzig ein paar klug aussehende, durchaus freundlich Uniformierte, ohne Gewehr und blinkende Waffe. Die Holzgrenzhalle wie alle anderen, nur da statt der Potentaten die Bilder Lenins, Engels, Marx’ und einiger anderer Führer photographisch von den Wänden blicken. Die Revision exakt, genau und geschwind, mit aller erdenklichen Höflichkeit: schon beim ersten Schritt auf die russische Erde spürt man, wieviel Lüge und Übertreiblichkeit man noch totzutreten hat. Nichts ereignet sich härter, strenger, militärischer als an einer anderen Grenze; ohne jeden brüsken Übergang steht man plötzlich in einer neuen Welt. Aber doch, ein erster Eindruck gräbt sich sofort ein, einer jener ersten Eindrücke, wie sie so oft eine erst später bewußt erkannte Situation divinatorisch umfassen. Wir sind im ganzen vielleicht dreißig oder vierzig Personen, die heute die Grenze Rußlands überschreiten, die Hälfte davon bloß Durch-// reisende, «“Japaner, Chinesen, Amerikaner, die ohne Aufenthalt mit der mandschurischen Bahn nach Hause sausen; das gibt mathematisch einen Rest von etwa fünfzehn bis zwanzig Personen, die mit diesem Zuge wirklich nur nach Rußland reisen. Dieser Zug wieder ist der einzige im Tage, der von London, Paris, Berlin, Wien, von er Schweiz, aus ganz Europa nach dem Herzen Rußlands, nach seiner Hauptstadt Moskau zielt. Unbewußt erinnert man sich an die letzten Grenzen, die man passierte, erinnert sich, wieviele Tausende und Zehntsausende jeden Tag in unsere winzigen Länderchen einreisen, indes hier zwanzig Personen im ganzen ein Riesenreich, einen Kontinent beschreiten Zwei oder drei geradeströmende Eisenbahnadern verbinden im ganzen Rußland mit unserer europäischen Welt, und jede dieser pocht nur matt und zaghaft. Da erinnert man sich an die Grenzübergänge zur Zeit des Krieges, wo auch nur ein siebenmal gesiebtes Häuschen die unsichtbare Linie von Staat zu Staat überschritt, und begreift instinktiv etwas von der augenbliklichen Situation: Rußland ist eine umschlossene Festung ein wirtschaftliches Kriegsgebiet, durch eine Art Kontinentalsperre, ähnlich jener, die Napoleon über England verhängte, von unserer anders eingestellten Welt abgeschlossen. Man hat eine unsichtbare Mauer überschritten, sobald man die hundert Schritt vom Eingang zum Ausgang zwischen diesen beiden Türen getan. 

Umstellung ins Russische.

Noch ehe sich der Zug in Bewegung setzt, Moskau entgegen, erinnert mich ein freundlicher Mitreisender, daß man die Uhr jetzt umstellen müsse, um eine Stunde, von westeuropäischer auf osteuropäische Zeit. Aber dieser rasche Handgriff, diese winzige Schraubendrehung, bald wird man es merken, reicht beiweitem nicht aus. Nicht nur auf dem Zifferblatt muß man die Stunde umstellen, sondern sein ganzes Gefühl von Raum und Zeit, sobald man nach Rußland kommt. Denn innerhalb dieser Dimensionen wirkt sich alles in anderen Maßen und Gewichten aus. Die Zeit wird von der Grenze ab einen rapiden Kurssturz des Wertes erfahren, und ebenso das Distanzgefühl. Hier zählt man die Kilometer nach tausend statt nach hundert, eine Fahrt von zwölf Stunden gilt als Exkursion, eine Reise von drei Tagen und drei Nächten als verhältnismäßig gering. Zeit ist hier Kupfermünze, die keiner spart und sammelt. Eine Stunde Verspätung bei einer Verabredung gilt noch als Höflichkeit, ein Gespräch von vier Stunden als kurze Plauderei, eine öffentliche Rede von anderthalb Stunden als kurze Ansprache.

Aber 24 Stunden in Rußland, und die innere Anpassungsfähigkeit wird sich daran gewöhnt haben. Man wird sich sich schon nicht wundern mehr, daß ein Bekannter von Tiflis drei Tage und drei Nächte herfährt, um einem die Hand zu schütteln, acht Tage später wird man mit gleicher Gelassenheit und Selbstverständlichkeit wegen der Kleinigkeit von 14 Stunden Bahnfahrt selbst einen solchen »Besuch« machen, und sich s allen Ernstes überlegen, ob man nicht wegen der bloß sechs Tage und sechs Nächte doch in den Kaukasus fahren sollte.

Die Zeit hat hier ein anderes Maß, der Raum hat hier ein anderes Maß. Wie in Rubeln und Kopeken, lernt man hier rasch mit diesen neuen Werten rechnen, man lernt Warten und sich selber Verspäten, Zeit versäumen ohne zu murren, und unbewußt kommt man damit dem Geheimnis der Geschichte und des russischen Wesens nahe. Denn die Gefahr und das Genie dieses Volkes liegt vor allem in seinem ungeheuerlichen Wartenkönnen in der uns unfaßbaren Geduld, die so weit ist wie das russische Land. Diese Geduld hat die Zeiten überdauert, sie hat Napoleon besiegt und die zaristische Autorität, sie wirkt auch jetzt noch als der mächtigste und tragende Pfeiler in der neuen sozialen Architektur dieser Welt. Denn kein europäisches Volk hätte zu ertragen vermocht, was dieses seit tausend Jahren leidensgewohnte und beinahe leidensfreudige an Schicksal erduldet; fünf Jahre Krieg, dann zwei, drei Revolutionen, dann blutige Bürgerkriege von Norden, von Süden, von Ost und West gleichzeitig sich hinwälzend über jede Stadt und jedes Dorf, schließlich noch die entsetzliche Hungersnot, die Wohnungsnot, die wirtschaftliche Absperrung, die Umschaltung der Vermögen— eine Summe des Leidens und Martyriums, vor der unser Gefühl ehrfürchtig sich beugen muß. All dies hat Rußland einzig nur überstehen können durch diese, seine einzige Energie in der Passivität, durch das Mysterium einer unbeschränkten Leidensfähigkeit, durch das gleichzeitig ironische und heroische »Nitschewo« (»Es macht nichts«), durch diese zähe, stumme und im Tiefsten gläubige Geduld, seine eigentliche und unvergleichliche Kraft.

Moskau: Straße vom Bahnhof her.

Kaum aus dem Zuge nach zwei Nächten und einem Tage, ein heißer, erster, neugieriger Blick durch das klirrende Wagenfenster auf die Straße hin. Überall Drängen und Geschwirr, überfülltes, heftiges, vehementes Leben: es sind plötzlich zu viele Menschen in die neue Hauptstadt gegossen worden und ihre Häuser, ihre Plätze, ihre Straßen quellen und kochen über von dieser stürmischen Bewegtheit. Über die stolperigen Pflaster flirren flink die Iswotschiks mit ihren Wägelchen und struppig-süßen Bauernpferdchen Trambahnen sausen blitzschnell mit schwarz angehängten Menschentrauben an der Plattform, dem Strom der Fußgänger stellen sich wie auf einem Jahrmarkt überall kleine Holzbuden entgegen, mitten im Trubel bieten hingekauerte Weiber gemächlich ihre Äpfel, Melonen und Kleinzeug zum Verkauf. All das schwirrt, drängt, stößt mit einer in Rußland gar nicht erwarteten Flinkheit und Eile durcheinander.

Dennoch aber, trotz dieser herrlichen Vitalität, wirkt etwas in dieser Straße nicht voll lebhaft mit. Etwas Düsteres, Graues, Schattenhaftes mengt sich ein und dieser Schatten kommt von den Häusern Die stehen über diesem verwirrend phantastischen Treiben irgendwie alt und zermürbt, mit Runzeln und zerfalteten Wangen, mit blinden und beschmutzten Augenlichtern; man erinnert sich an Wien 1919. Der Putz ist von den Fassaden gefallen, den Fensterkreuzen fehlt Farbe und Frische, den Portalen Festigkeit und Glanz. Es war noch keine Zeit, kein Geld da, sie alle zu verjüngen und aufzufrischen, man hat sie  vergessen, darum blicken sie derart mürrisch und verjährt. Und dann – was so besonders eindrucksvoll wirkt: während die Straße rauscht, redet, sprudelt, spricht, stehen die Häuser stumm. In den anderen Großstädten gestikulieren, schreien, blitzen die Kaufladen in die Straße hinein, sie türmen lockende Farbspiele, werfen Fangschlingen der Reklame aus, um den Vorübergehenden zu fassen, ihn für einen Augenblick vor den phantastisch bunten Spiegelscheiben festzuhalten. Hier schatten die Laden stumm; ganz still, ohne kunstvolle

Türmung, ohne Hilfe eines raffinierten Auslagenarrangeurs legen sie ihre paar bescheidenen Dinge (denn keine Luxusware ist hier verstattet) unter die mißmutigen Fensterscheiben. Sie müssen nicht streiten miteinander, nicht ringen und nicht wettkämpfen, die Kaufladen von nebenan und gegenüber, denn sie gehören doch, die einen und die andern, demselben

Besitzer, dem Staat, und die notwendigen Dinge brauchen nicht Käufer suchen, sie werden selber gesucht; nur das Überflüssige, der Luxus, das eigentlich nicht Gebrauchte, ,,Le superflu“, wie die französische Revolution es nannte, muß sich ausbieten, muß dem Vorübergehenden nachlaufen und ihn am Rockärmel fassen; das wahrhaft Notwendige (und anderes gibt es nicht in Moskau) braucht keinen Appell und keine Fanfaren.

Das gibt der Moskauer Straße (und allen andern in Rußland) einen so eigenartigen und schichsalshaften Ernst, daß ihre Häuser stumm sind und zurückhaltend, eigentlich nur dunkle, hohe, graue Steindämme, zwischen denen die Menschen fluten. Ankündigungen sind selten, selten auch Plakate Und was in roten Schriftzügen breitgerändert über Hallen und Bahnhöfen steht, ruft nicht Raffinements aus, Parfüms und Luxusautomobile, Lebensspielwerk, sondern ist amtliches Aufforderungsplakat der Regierung zur Erhöhung der Produktion, Aufruf, nicht zur Verschwendung sondern zur Zucht und Zusammenhang. Wieder spürt man hier, wie schon im ersten Augenblick, den entschlossenen Willen, eine Idee zu verteidigen, die ernste, zusammengeballte Energie, streng und stark auch ins Wirtschaftliche gewandt. Sie ist nicht ästhetisch schön, die Straße von Moskau, wie die pointillistisch glitzernden, farbensprühenden, lichtverschwendenden Asphaltbahnen unserer euroäischen Städte, abler sie ist lebensvoller, dramatischer und irgendwie schicksalhaft.

(Weitere Artikel folgen)

In: Neue Freie Presse, 21.10.1928, S. 1-2.

Fannina Halle: Die neue Frau als Weib (1932)

Nachdem wir nun das letzte Wort über die neue, unter völlig veränderten Verhältnissen aufwachsende und ins Leben gestellte Frau Sowjetrußlands vernommen haben, ist auch die Frage nicht länger zu umgehen: fühlt sich diese Frau heute wohler, in ihrem persönlichen Leben glücklicher als die von früher und von anderswo? Diese Frage ist natürlich schwer zu beantworten, weil Mascha noch zu jung und näher betrachtet mehr die Frau von morgen als von heute ist. Man muß also die Zeit erst abwarten, bis sie reifer wird. Vom Gros ihrer etwas älteren und gleichaltrigen Genossinnen läßt sich daher vorläufig nur sagen: wiewohl alle Ventile weit geöffnet und die äußeren Hindernisse aus dem Weg geräumt sind, befinden sich die Dinge durchaus noch im Fluß, die Entwicklung ist also keineswegs als abgeschlossen anzusehen und die Gegensätze stoßen hier in mancher Hinsicht mehr als anderswo im Raume zusammen.

Worin diese Gegensätze ihren Grund haben, wurde bereits angedeutet. Hier sei aber das Problem nochmals angeschnitten. Vor allem gipfelt es in der beim russischen Mann und bei der russischen Frau viel mehr als überall divergierenden Einstellung zur Geschlechtsfrage. Denn wie für alle Frauen der Welt, so bildet auch für die Mehrzahl der russischen Frauen, die bei aller äußerlichen Vermännlichung innerlich sehr fraulich, überaus emotionell veranlagt sind, die Liebe das zentrale seelische Erlebnis. Und trotz aller Versachlichung durch die sowjetrussische Jugend zeigt sich eben hierin eine große Diskrepanz zwischen den Geschlechtern. Während die Mehrzahl der in der ange//[272] führten Odessaer Enquete befragten männlichen Studentenschaft die Liebe als Realität überhaupt nicht anerkennt, geben von den weiblichen Studierenden immerhin fünfzig Prozent zu, daß ihr Geschlechtsleben nur durch innere Ursachen, durch Liebe und Leidenschaft geweckt wurde. Vielfach wird behauptet, und es ist auch kaum zu leugnen, daß die russischen Frauen im Leben aktiver, stärker, energischer und zielbewußter sind als ihre häufig etwas femininen, schwankenden Männer, daß das „schwache Geschlecht“ dem „starken“ überlegen ist. Und das läßt sich vielleicht dadurch erklären, daß – während im Dasein des russischen Mannes das sozial-ethische Moment überwiegt – bei der russischen Frau, als Frau an und für sich, immer das Individuelle, das Persönliche und das Ästhetische vorherrscht. […] Die russischen Männer, denen man eine starke, gesunde Sinnlichkeit gewiß nicht absprechen kann, denen aber die verfeinerte, vergeistigte Form der Sexualität, die Erotik, so gut wie verschlossen ist – weil die meiste Intensität ihrer eurasischen Geistigkeit auf anderem Gebiete liegt und sich der Austragung sozial-ethischer Probleme zuwendet –, sind aber wohl aus diesem selben Grund auch wenig dazu befähigt, das ihrem Wesen differente Seelisch-Geistige der Frau zu wecken, zu gestalten. Die Russen sind in der Liebe eigentlich phantasiearm. Deshalb auch, und nicht allein wegen //[273] der so vielfach zitierten ausländischen Seidenstrümpfe die großen Chancen der Fremden bei der russischen Weiblichkeit. 

Die Folge davon ist, daß die Klagen der sich außerhalb der sowjetrussischen Grenzen aufhaltenden „Spez“-Gattinnen, die sich ähnlich wie im Weltkrieg verlassen sehen, täglich lauter werden. […] Dabei darf man nicht vergessen, daß die russischen Männer schon seit eineinhalb Dutzend Jahren, unter Einsetzung aller Kräfte mit angespannten Nerven im schwersten Feuer stehen. Sind doch zum Übermaß der während des imperialistischen Krieges, der Revolution, des Bürgerkrieges und der Hungerjahre überstandenen körperlichen und seelischen Leiden, in deren Ertragen das russische Volk ohnedies ungleich stärker ist als jedes andere, in den letzten Jahren – neben der ständigen Angst vor einem Interventionskrieg – noch die ungeheuren Anforderungen des Fünfjahresplanes hinzugekommen! Übermenschliche Arbeitsleistungen, durch die die Sexualtriebkraft der russischen Männer erwiesenermaßen bedeutend herabgesetzt wurde. Die Männer, die gleich den Frauen in Rußland ohnedies immer früh alterten, sollen nach Aussage der Ärzte jetzt schon Mitte Vierzig größtenteils zur Liebe unfähig sein. 

Noch bis vor ganz kurzer Zeit gab es – wegen der unterbrochenen Woche – keinen allgemeinen Ruhetag, kein Wochenende, keinen Ausflug, und wegen der miß//[274] lichen Wohnverhältnisse gibt es auch heute kaum eine Möglichkeit, in seinem Heim mit sich allein zu sein oder zu zweit, eine wirkliche Mußestunde zu genießen. Die russische Frau, sogar die Frau von heute, die zu einem Teil schon im Morgen lebt, zum anderen aber, wenn auch nur leise, das Gestern berührt, will, obwohl sie es prinzipiell leugnet, doch wie jede Frau, in irgendeiner Form als Weib umworben sein. Auch sie verlangt Rücksicht, Zärtlichkeit, Erotik und trägt unbewußt eine verschwiegene Sehnsucht nach Romantik im Herzen. Ihre Welt aber ist entzaubert, das Persönliche, der Mann, die Liebe nimmt darin – aus Mangel an Zeit und Gelegenheit – recht wenig Platz ein, ist kaum existent, und es gibt nur noch „ein bißchen Bett“. So wird von Millionen in ihrem Gefühlsleben ungeweckter, nach einer Entladung, einer Entspannung der seelischen Kräfte dürstender Frauen ihre ganze Energie, Begeisterungsfähigkeit, Opferwilligkeit, Leidenschaft und die angesammelte Glut eines undurchlebten Weibtums in technisch Dimensionen, Ziffern, Superlative umgesetzt und dem Altar der Platiletka freudig und selbstlos hingeopfert. Wir werden weiter unten sehen, daß es wahre Wunder sind, die da vollbracht werden, und daß die Frauen, wie einst in den ersten Reihen der russischen Revolution, so heute an der Spitze des modernen Epos der Arbeit, der Mythenschöpfung schreiten. 

Allerdings: einmal im Jahr gibt es einen mehrwöchigen Urlaub, den man für gewöhnlich an jener sinnberauschenden Küste verbringt, die im südöstlichen Winkel des Schwarzen Meeres, bei Batum, beginnt, und sich fast ununterbrochen bis zur Westküste der Krym erstreckt. Wie kein anderer hat Gladkow in seinem schon erwähnten Roman Die trunkene Sonne das azurne Rauschen dieses // [275] Meeres, den durchsichtig darüber gewölbten Himmel, die vom betäubenden Duft der Wasserpflanzen und Mollusken gesättigten Luft geschildert, in der man „vor Glück hinsterbend“ ausruht. Denn „hier ist der Sonnenschein dem Fünfjahresplan nicht unterstellt“ (Knickerbocker), und somit werden auch alle theoretischen Ansichten über Liebe für drei oder vier Wochen hinfällig. Hier, an der Roten Riviera, zieht man die besten Kleider an, die man besitzt, und legt seine stehenden Redensarten ab. Hier holt man die Schmink- und Puderdose aus dem Koffer und die in den übrigen elf Monaten brachliegenden Gefühle aus dem Herzen. Hier sonnt man und flirtet den ganzen lieben Tag am Strande und badet im Mondschein einer subtropischen Nacht. Hier ist man lyrisch gestimmt, macht Dummheiten und nimmt den heißen Kampf der Geschlechter auf. Es ist der Kampf zwischen elementarer männlicher Sinnesbegierde, „noch nicht Eros gewordener Sexualität“, und dem das ganze Jahr über im Verborgenen blühenden Strauß, der nuancenreichen weiblichen Erotik. Kaum aber hat der Kampf begonnen, schon muß er bis zu den nächsten Sommerferien aufgeschoben werden. 

Es ist ein bißchen wenig für den Typus Vollblutweib, zu dem die Russin zweifellos gehört. Und so ist es vielleicht doch nicht so seltsam, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, daß gerade in dem Lande, in dem es für die Frau keine soziale und ökonomische Tragödie mehr geben soll, Prof. Njemilows Buch Die biologische Tragödie der Frau entstehen konnte. Von marxistischer Seite wurde diese entmutigende Theorie mit heftigem Widerspruch aufgenommen: „Die Geschlechterfrage“, erklärt der Sexologe Prof. Salkind, „hat niemals als eine rein biologische Frage gegolten.“ Trotzdem erlebte das Buch // [276] Njemilows, das auch ins Deutsche übersetzt wurde, in Sowjetrußland, wo die Frau tatsächlich ihre biologische Tragödie weniger zu spüren bekommt als anderswo – weil diese durch Präventivmittel, Legalisierung des Abortus und durch die ganze Gesetzgebung nach Möglichkeit gemildert ist – in kurzer Zeit fünf Auflagen. 

Außerdem erhielt Njemilow eine Menge Zuschriften, in denen nicht nur Frauen sondern auch Männer zu den von ihm aufgeworfenen Fragen polemisch Stellung nehmen. Einen Teil dieser Briefe hat es im Nachwort zur letzten russischen Auflage seines Buches veröffentlicht. Daß es eine biologische Tragödie gibt, bestreitet keine der Frauen. Viele verweisen aber darauf, daß sie in der Hingabe an einen Mann und in der Mutterschaft die größte Befriedigung finden. […] Neben diesem allgemeinen kommt aber auch das schon angedeutete spezifisch russische Frauenprobleme zur Spra//[277]che. Am meisten beklagen sich die Briefschreiberinnen Njemilows darüber, daß sie unter der Diskrepanz im männlichen und weiblichen Verhalten zum Problem der Liebe, das heißt, unter der Hemmungslosigkeit, der Leichtfertigkeit leiden, mit der Männer dem Geschlechtsakt gegenüberstehen. „Sie könnten sich schon etwas zusammennehmen, die Männer und ihre ‚Liebe‘ nicht mit so verbrecherischem Leichtsinn vergeuden“, ist der ständig wiederkehrende Refrain dieser Zuschriften. Alles wird aber durch die eine Stimme übertönt: „Nicht unter der ‚biologischen Tragödie‘ leiden wir, sondern unter dem ‚Chamstwo‘ der Männer“, was im Russischen eine Synthese der schönen Begriffe: Grobheit, Rohheit, Bestialität, Brutalität, mit einem Worte den Gipfel der Unkultur bedeutet. Diese Behauptung trifft wohl in manchen Fällen den Kern des Problems, und so darf man vielleicht sagen: die Tragödie der russischen Frau scheint augenblicklich weniger biologischer als psychologischer Natur zu sein. 

Während man in Westeuropa allgemein vielleicht an einer Überkultur, einer zu großen Differenziertheit des Sexuallebens leidet, die so manche in Rußland kaum vorhandene Folgeerscheinung aufweist […] ist das Liebesleben der Russen viel zu oft zu einem seelenlosen Geschlechtsverkehr degradiert, zu einer bloßen Bedürfnisbefriedigung, ohne höheren persönlichen Anspruch. Die Männer scheinen sich hierbei ganz wohl zu fühlen, die Frauen weniger. – So zeigt es sich, daß die sowjetrussischen Frauen zwar alle Rechte haben, nur nicht das eine Recht, Weib in einem höheren Sinn des Wortes zu sein. Kaum erblüht, werden sie als erledigt angesehen: gilt doch in den // [278] Augen ihrer Männer als etwas primitiver Maßstab für die Altersgrenze nicht der Stärkegrad der gegenseitigen seelisch-geistigen Durchdringung, nicht der Eros, der mit den Jahren sogar zunehmen und sich vertiefen kann, sondern zunächst die nackte, rein sexuelle Anziehung und Eignung. 

Den russischen Frauen wäre sehr zu wünschen, daß man in den bevorstehenden kulturellen Fünfjahresplan noch einen neuen Punkt aufnimmt: die kulturelle Hebung der gegenseitigen Beziehung der Geschlechter. 

In: F. Halle: Die Frau in Sowjetrussland. Berlin-Wien-Leipzig: Zsolnay 1932, S.271-278 (Auszüge)

Otto Heller: Sibirien. Ein anderes Amerika. Berlin 1930

Der Wettlauf mit Amerika beherrscht die westliche Welt. Ein Wettlauf kann eine sehr schöne und wohltuende Sache sein. Vom Wettlauf des bürgerlichen Europas mit der Welt von Wallstreet und Hollywood kann man das leider nicht behaupten.

Amerika ist Trumpf, Schlagwort und System. Wenn etwas das hat, was man mit einem der furchtbarsten Worte der Gegenwart „Tempo“ nennt, so ist es amerikanisch. Jede Raserei ist amerikanisch, in der Vorstellungswelt des Westens: das Autorasen wie das Wolkerkratzerbauen. Von der anderen Raserei, der Ausbeutung des Arbeiters, der Vernichtung all dessen, was vergangene Zeitalter als menschlich bezeichneten, spricht man nicht gerne. Ein einziges Reisebuch aus der endlosen Kette von Amerikabüchern hat uns gezeigt, mit welch einem Paradies wir um die Wette laufen. 

Zwei Opfer gibt es bei diesem Rennen: den arbeitenden Menschen und die Natur. Beide sind nur Objekt. Die Subjekte sitzen in Palm Beach oder in Cannes.

Vor dreihundert Jahren kamen die Väter der Yankees in die Gefilde Winnetous und Mitahasas. Eine Rasse ist vernichtet worden und eine Sklaverei ohnegleichen ist entstanden. Man sieht immer nur das Woolworth-Building. Die Freiheitsstatue ist nicht einmal mehr zu Reklamezwecken verwendbar. Die neue Welt ist nur der Schlußpunkt, vielleicht noch das Ausrufungszeichen der alten. Außerdem liefert sie Wolkenkratzerziffern, Rekordzahlen von reichen Leuten, Selbstmorden, Verbrechen, Menschen, die des Hungers sterben, Börsenkrachs, Golddepots in Bankkellern, Aktienpaketen, Interessen, Einflußsphären und Automobilrennen. Jeder Rekord ein Geschäft. //

Auch der Selbstmordrekord. Erst recht der an Naturschätzen. Ein Bombengeschäft im wahrsten Sinne des Wortes. Siehe Mexiko, Nicaragua und Haiti.

Vor dreihundert Jahren kamen die Kosaken  nach Sibirien. Sie haben keine Rasse vernichtet. Sie gerieten selbst in eine Sklaverei ohnegleichen, obzwar sie dessen erst zweihundert Jahre später gewahr wurden. Sie waren Sklavenhalter im kleinen. Nicht mehr. Und als die Sklaven sich erhoben, wurden auch ihre Peiniger frei. Seltsam, aber wahr. Man sah immer nur die Katorga. Man las immer nur Dostojewskis Memoiren aus einem Totenhaus. Das war nicht anders möglich und es war auch recht so. Sibirien war das Gegenstück zu Amerika – schon damals. Dort klirrte die Börse, hier klirrten die Ketten. Die Börse plünderte einen Weltteil. Die Ketten legten sich vor den Toren des anderen. Amerika wurde wachgemordet, in die Geschichte geschossen. Sibirien schlief – bis gestern. 

Wahrscheinlich war das sein Glück. Die Geschichte geht ihre eigenen Wege, ohne Zufall, nach strengem Gesetz, das nur nicht allstündlich offenbar ist. Die neue Welt liegt nicht jenseits des Atlantik. 

Die neue Welt liegt nicht vor, sondern hinter uns. Wir haben es nur nicht gewußt. Wir sind, mit dem Gesicht nach Westen, um die Wette gelaufen. Mit dem falschen Partner. Es ist an der Zeit, daß wir uns umwenden. Nach Osten. Da gibt es leider ein abgebrauchtes lateinisches Wort vom Licht, das im Osten ersteht. Dort ist es allerdings schon lange hell. In Sibirien jeden Tag um rund fünf Stunden früher als bei uns. Es wird bald um fünf Stunden heller sein, dort drüben. Die Sonne ist vor dreizehn Jahren an der richtigen Stelle aufgegangen. 

Wir laufen einstweilen immer noch um die Wette. Noch eine Lichtreklame, noch eine Rolltreppe, noch ein Über-//saxofon, noch ein Tonfilmpatent,noch eine amerikanische Beteiligung bei der Aktiengesellschaft X & Cie.! In letzterem Fall endet der Wettlauf meistens zugunsten der anderen Seite. Wir laufen noch immer um die Wette. Auf jedem Gebiet: von der Prostitution bis zum Bau neuer Kirchen. Neger und Kulis haben wir auf Lager. Sogar mit der Annehmlichkeit, daß sie über eine weiße Haut verfügen. So bequem ist Europa. Man glaubt es gar nicht. 

Im Jahre 1893 gründeten Eisenbahnarbeiter um die Stelle des Brückenbaus über den Ob, in der Baraba-Steppe, ein Dorf. Sie nannten es Alexandrowsk. Im Jahre 1895 kamen den Arbeitern Händler nach. Man taufte die kleine Stadt, die aus dem Dorf entstanden war, in Nowo-Nikolajewsk um. Im Jahre 1897 zählte man fünftausend Einwohner […] 1910 wohnten schon fünfzigtausend in der Stadt, die noch immer nichts anderes war als ein großes Dorf. […] Im Jahre 1921 verlegte man den Sitz der sibirischen Regierung, des „Sibrekom“ (Sibirisches Revolutionskomitee) von Omsk nach Nowo-Nikolajewsk; die Zahl der Einwohner stieg bis 1923 auf sechundsiebzigtausend. Im Jahre 1926 fand man, daß der Name der Stadt nicht mehr in die Zeit passe. Man gab ihr den dritten Namen, der ihr nicht mehr genommen werden wird. Man nannte sie Nowosibirsk, die „Neusibirische“. Es gibt kein Altsibirien, kein altes Stück „Sibirsk“, das sich zum „Neuen“ verhielte wie New York zu York. Nowosibirsk ist das neue Sibirien. Gleichsam ein Musterlager.

Im Jahre 1926 hatte die Stadt hundertzwanzigtausend Einwohner. Im Jahre 1929 schätzte man die Einwohner-// zahl auf rund einhundertfünfzigtausend. Das ist amerikanisches Tempo. Freilich gibt es in Nowosibirsk keine Erdhütten, die im Schlamm versinken, neben Wolkenkratzern aus Glas, Stahl und Marmor. Gleich neben dem Bahnhof wächst eine Arbeiterstadt aus dem Boden. Der Bahnhof ist alt und klein. Aber die Wohnhäuser der Arbeiter sind groß und luftig. […]

Chicago wuchs in knappen hundert Jahren zur Millionenstadt. Vorher war Prärie an den Ufern des Michigan-Sees. In Chicago wachsen noch immer die Türme des Reichtums zum Himmel. Es stehen noch immer die Erdhütten der Ungenannten und Ungezählten, der Hunderttausenden, neben den Palästen. In Nowosibirsk gibt es kein Floptown. Das ist ein Stadtteil von Chicago. 

Kap.: Wettlauf mit Amerika (Auszüge), S. 246-252.

[N.N.] Was die Bolschewiken literarisch geleistet haben. Eine Unterredung mit dem Volkskommissar für Bildungswesen Lunatscharski. [Proletarische Literatur/Theater]

Der bekannte Bolschewik Lunatscharski, der oberste Chef des russischen Bildungswesens, hat dem Moskauer Korrespondenten der Berliner „Roten Fahne“ die folgenden, selbstverständlich rosig gefärbten Mitteilungen gemacht:

Elf Jahre proletarischer Diktatur sind an der Kunst der Sowjetunion nicht spurlos vorbeigegangen. Die proletarische Literatur in der Sowjetunion bring immer neue Überraschungen: das russische revolutionäre Theater steht einzigartig da; die proletarischen Elemente dringen auch in die bildenden Künste und selbst in die Architektur immer tiefer ein; am längsten widersteht noch die Musik dem Ansturm der proletarischen Kräfte. Die proletarische Wirklichkeit erhält in der Kunst bereits ihre entsprechende Gestaltung. Die Fragen: „Gibt es eine proletarische Kunst? Ist eine proletarische Kunst möglich?“ werfen drüben nur solche kleinmütige „Revolutionäre“ auf, die auch an den sozialistischen Aufbaukräften des russischen Proletariats zweifeln (siehe den Fall Trotzki). Das Leben straft diese antiproletarischen Theologen rücksichtslos Lügen. (Gerade das Gegenteil ist der Fall. Das Leben beweist täglich, daß der Bolschewismus eine politische Farce ist, deren Ende nicht mehr aufzuhalten. D. Red.)

*

In den letzten Monaten in den letzten zwei Jahren ist bei uns eine mächtige proletarische Literatur entstanden. Am stärksten äußert sie sich in der Form des großen Romans und der Erzählung. In der Poesie ist momentan eine Pause eingetreten. Vor zwei bis drei Jahren repräsentierte eine Gruppe von proletarischen Dichtern die Sowjetliteratur. Nun aber liest man wenig starke Gedichte. Hoffentlich wird dies nicht lange dauern; doch muß man feststellen, daß gegenwärtig die proletarische Prosa bei uns höher entwickelt ist als die proletarische Poesie.

Ein außerordentlich bedeutender neuer Roman ist „Tichi Don“ („Der stille Don“) von Scholochow, einem ganz jungen Arbeiter. Dann ein schönes und tiefes Werk, der Bauernroman „Bruski“ von Panferow. Werke, die den in Deutschland gekannten Roman „Zement“ von Gladkow bereits überragen. Ein wichtiger Roman Lessozawod“ („Holzfabrik“) von Karaveja, einer Frau. Alles, was sie bisher schrieb, war bereits interessant, doch sie gab in diesem Roman zum erstenmal ein umfassendes, groß angelegtes soziales Bild. Lebedinsky, künstlerisch schwächer als die anderen; aber er gibt eine scharfe soziale Analyse, er greift tief in die Wirklichkeit ein. Ein früherer wichtiger Roman „Nazgrom“ („Zerstörung“) von Fadejew (in deutscher Sprache im Verlag für Literatur und Politik unter dem Titel „Die 19“ eben erschienen). Vor den Werken von Scholochow, Panferow und Karavajeva der stärkste proletarische Roman in der Sowjetliteratur.

*

Auch im Theater erfocht die proletarische Literatur große Siege. (Na! Na! D. Red.) Die stärkste Wirkung ging von „Relsje gudjetj!“  („Die Schienen tönen“) von Kirschon aus, aufgeführt im Theater MGSPS. Auch Bilizerkowksi hat starke Dramen geschaffen. Eines seiner Werke, „Sturm“, war beinahe ein ebensolcher Theatererfolg wie „Relsje gudjetj“ .

Was die proletarische Dichtung anbelangt, haben die interessantesten proletarischen Dichter in letzter Zeit wenig gegeben. Das Poem „Motele“ („Die Erzählung vom rothaarigen Motele, dem Herrn Inspektor, dem Rabbiner Isai und dem Kommissär Bloch) v. Utkin war sehr stark und vor zwei Jahren eine der beliebtesten und gelesensten Dichtungen (fünf Ausgaben publiziert). Doch nichts Neues von ihm, was diesem ebenbürtig wäre. Wie seine angekündigte Dichtung „Die Kindheit“ sein wird, kann man noch nicht wissen. Auch der andere begabte Dichter, A. Sharoff, hat neuerdings wenig geschrieben. Um seine „Magdalena“ wurde viel gestritten. 

Die neuen proletarischen Schriftsteller stellen sich als Aufgabe: das neue Leben, wie es die proletarische Revolution geschaffen, gründlich kennenzulernen und künstlerisch zu gestalten. Darum ist die neue sowjetrussische Literatur nur realistisch. Früher war der Bürgerkrieg der hauptsächliche Stoff, die großen Ereignisse des Bürgerkrieges hatten solchen Eindruck gemacht, daß sich der Schriftsteller von ihnen nicht lösen konnte. Heue sind bereits viele Romane, die den sozialistischen Aufbau, die sozialistische Konstruktion schildern, jedoch ohne jede Verfälschung, ohne jede Schöntuerei. Bei den proletarischen Schriftstellern sind nur ganz selten und ganz untergeordnet Spuren von Skepsis, von Kleinmütigkeit. (Begreiflicherweise, weil sich die meisten den Gefahren einer freimütigen Kritik im erzreaktionären Rußland nicht aussetzen wollen. Wer die Wahrheit sagt, wird gemaßregelt. D. Red.) 

In: Neues Wiener Journal, 4.1.1929, S. 6.

Eugen Hoeflich: Bolschewismus, Judentum und die Zukunft. (1919)

In der berliner Zeitschrift „Die Arbeit“ wurde letzthin von Ludwig Strauß eine Diskussion über Bolschewismus und Judentum eingeleitet. Wenn wir nun auch als Zeitgenossen heute noch kaum den ruhigen Blick zu einem richtigen Urteil haben können, darf dennoch versucht werden, noch ein paar Worte – vielleicht von einem andern Standpunkte aus – darüber zu sprechen. 

Bolschewismus: lassen wir für einen Augenblick die Erinnerung an alle tendenziösen Zeitungsmeldungen, an die Taten sadistischer Marodeure des sozialen Kampfes und fragen wir uns ruhig: was ist die Ursache des verhältnismäßig großen Anteiles von Juden an dieser neuen Form ökonomischen Kampfes? Sind es unedle Motive, Anlässe persönlicher Gewinnsucht, die sie in die ersten Reihen treiben?

Nein, trotz haßerfüllten Lügen: Nein. Dieser bolschewikische Jude will Europa nicht anzünden, um sich die Taschen zu füllen, ihn treibt die reinste Idee, die aber in ihrer Ausführung tragischer Irrtum ist, Folge einer durch den Krieg geborenen Massenpsychose, der die Psyche vieler Juden leichter zugänglich ist als die anderen Völker, die zweitausend Jahre Galuth nicht hinter sich haben. 

Das Judentum kann – ich glaube Buber tat es – in zwei Gruppen geschieden werden: in die mit dem weiten Herzen: die idealistischen Träger der hinreissendsten Gefühle, und in die mit dem vertrockneten kleinen traurigen Golusherzen: die Krämernaturen, die Geldmenschen. Die Idealisten unter uns, Vollblutjuden durchaus, auch in ihren Irrtümern, spontan, urkräftig, unbedingt, aber auch konsequent und zähe im Verfolgen einmal gefaßter Ideen, selbst bis zur Unsinnigkeit, und stets ihrer Zeit um ein Stück voraus, von diesen Idealisten kamen Etwelche zum Bolschewismus, wie sie zur Sozialdemokratie kamen, wie sie stets zur Freiheitsbegeisterung für das Ideal irgend eines Volkes sich fanden. Immer in den ersten Reihen, glühend, fanatisch, ekstatisch. Hier in dieser Ekstase liegt das spezifisch Jüdische, Orientalische. Chassidim der Befreiung, ekstatische Fanatiker für die Menschheit, sprengen sie, die tausend Jahre bedrückt waren, endlich die Fessel und lodern auf in dem Brand, den sie kommen sahen, ehe er noch aufbrach. Darum ist dieser Jude, der idealistische Jude der Galuth Revolutionär, weil er aus dem Leiden seines eigenen Blutes ungeheures Mitgefühl hat zur unterdrückten Menschheit. Und weil der rein menschliche Wunsch, frei zu werden, endlich, allzuplötzlich nach tausendjähriger Gefangenschaft zur Erfüllung kommend, kein System für den Einzelnen vorbereitet hat, reißt er nieder, was ihn bis nun hielt, wirkt grenzenlos – bis mit einem dieser jüdische Mensch erkennt, daß alle äußerliche Freiheit, alle ökonomische Freiheit lange noch nicht Freiheit ist. Nun erst erkennt er sich, besinnt sich und zieht sich zurück: will wieder zu der Innerlichkeit kommen, die er von sich warf, als die Fahnen Sturm riefen in den Gassen der unterdrückten Menschheit. Nun erkennt er, daß sein Kampf gegen das Böse nutzlos war, da dieser europäischen Menschheit nicht die Bereitschaft zum Bösen schwinden kann – eben weil sie nicht innerlich ist. Die aber, deren Erkennen im Taumel der neuen Gefühle nicht zur Klarheit wird, werden weiterkämpfen, bis sie die Realisation ihrer Ideen erfühlen. In dem Augenblicke aber, da ihre Idee konkrete Formen anzunehmen beginnt, werden sie sie verlassen, denn die Kleinzügigkeit der Ausführung ist nicht ihre Sache. Groß und ihnen eigen ist nur der Weg, aus dem die Ströme stürzen, welche die Angelpunkte der Menschheit umbranden und immer neue Ideen gebären, und daraus entwindet sich die große Tragik des Juden mit dem weiten Herzen, daß er seiner Zeit immer um ein Stück voraus ist, um jenes Stück, das ihn, wenn er Glück hat zum Märtyrer, wenn er Unglück hat, aber zum Narren macht, oder aber zum Unentwegten, über den die Geschichte lächelt. […]

Wie immer aber die Juden beschaffen sind, die dem Bolschewismus anhangen, ihre jüdische Abstammung ist nicht die direkte Ursache dieser ihrer politisch-sozialen Tätigkeit. Die direkte Ursache vielmehr ist jene europäische Masse, deren Bestialität gegen Schwache und Geschwächte stets Äusserung ihrer Existenz war, der Judentum gleich war, mit etwas, das unterdrückt werden muß. Nichts aber ist ewig zu unterdrücken, ohne daß es mit Gegendruck antworten würde. Wenn nun aber jene Juden, die ihr Volkstum verloren, in bolschewistischen Formen reagierten, kann der Bolschewismus natürlich nicht als eine jüdische Angelegenheit bezeichnet werden, denn die gesunden Elemente des jüdischen Volkes reagierten in eine andere Richtung, in die des Zionismus, der in seinen Anfängen nichts anderes ist, als der elementare Freiheitsschrei der Unterdrückten, (und nur reiner Gedanke bleiben kann, solange er Schrei bleibt) die dem Geknechteten immanente Tendenz zur Revolutionierung seiner ihm gleichen Umgebung. Beide sind revolutionär, der gesunde und der kranke Jude; der Eine aber bleib revolutionierend beim Volk, um es und die Menschheit zu erlösen, der Andere verließ das Volk, weil er in dem tragischen Irrtum befangen war, daß Volk ein überholter Begriff sei und die Menschheit aus einer mehrweniger homogenen Masse bestehe, die man durch Anwendung gewisser Theorien innerlich und äußerlich zu einem Block zusammenschmelzen könne. 

In dieser falschen Ansicht scheint mir auch die schließliche Lebensunfähigkeit des Bolschewismus begründet zu sein, jenes von Bucharin festgelegten Programmes, das Individualität im Einzelnen wie in den Völkern nur als etwas zu Überwindendes kennt. Hier liegt der Irrtum des phantasiearmen Theoretikers, der am Schreibtisch die Menschheit ummodelnd, plötzlich faktische Macht in die Hände bekommt und nun seine Theorie in Tat umzusetzen versucht. Fleischgewordene Rechenmaschine, die den Eintritt des glücklichen Zeitalters genau errechnet hat, hat ein System aufgebaut, das zwar folgerichtig entwickelt, aber an das der menschlichen Phantasie sich entringende Bedürfnis nach steter, auch äußerer Veränderung und an den unbrechbaren Willen des Individuums zur Individualität vergißt. Der Jude aber ist letzten Endes Romantiker und Individualist, mehr als ein Anderer. Ihn wird der Bolschewismus schließlich abstoßen; […]

Er wird voraussehen, daß der Geist auch des bolschewistischen Europas schließlich verflachen wird, wenn die Jugendlichkeit der Idee in den Alltag der Organisation hineingeglitten ist (wie es mit dem Geiste aller europäischen Bewegungen geschah, denn sie alle waren irgendwie ökonomisch gerichtet) er wird erkennen, daß neue Klassen aus der Tiefe heraufwachsen werden, die die ökonomische Diktatur in gleichem Maße handhaben werden, wie die früheren Herrenklassen, daß eine europäische Revolution stets in ihren Folgen nur eine Eintagsrevolution ist, selbst wenn ein monatelanges Blutband ihren Weg bezeichnet, daß sie ausschließlich Magenfrage ist, wohl eine Station in der Tragödie der europäischen Menschheit, dennoch aber nur blutige Groteske einer wirklichen Revolution, denn ihr Urgrund ist nicht Revolutionierung der Herzen, sondern Revolte der Magennerven, und ihr Ziel nicht die Menschheit, sondern die Bequemlichkeit. […]

Ich glaube anders: vom Bolschewismus trennt uns ebensoviel wie von jenem Judentum, das sich europäisch fühlt und europäische Maße sich zu eigen machte. Der Jude, der die Diskrepanz zwischen Bolschewismus und Judentum erkennt, wird auch den Zwiespalt zwischen Judentum und Kapitalismus, Europäismus, Merkantilismus erkennen und wird die reinsten Formen des Lebens auf der Bahn des Volkes suchen. 

Er wird entweder als Mystiker sich den göttlichen Kern zusprechen und die Möglichkeit der Vereinigung mit Gott, um so die Menschheit zu erlösen. Er wird Religion und Dogma übersteigend, in die klarsten Höhen der Religiosität gelangen und so wirken auf die fernste endliche Zukunft seines um die Zukunft der Menschheit besorgten Volkes. Oder aber er wird Formen für diese Tage suchen, die den Möglichkeiten des Judentums, völkerverbindend sein zu können, freie Bahn schaffen und er wird in der gegebenen Realität verbleibend, zu retten suchen, was an der Menschlichkeit in dieser Menschheit für diese Tage noch zu retten ist. 

Man müßte hier über die ungeheuer fruchtbaren ethischen Werte des Judentums sprechen, wollte man die Bahn wieder aufzeigen, in der die Notwendigkeit liegt, sich zu bewegen. Es ist sicher, daß am Ende dieser Bahn jener Sozialismus steht, der den Klassenbegriff nicht kennt, zu dem nicht leibliche Not ausschließlich führt, sondern der Wille zur sozialistischen Gesinnung der Menschheit, die aus sozialistisch gesinnten Völkern besteht. Auf dieser Bahn aber liegt kein Bolschewismus, keine Sozialdemokratie, keine ökonomische oder politische Partei und keine Gewalt, denn diese Bahn mündet in Asien, in jenem Asien, das Religionen stiftet und Gemeinschaften, wo Europa höchstens Staaten bauen kann und Klassenzwänge, in jenem Asien, das sozialistisch ist vom Anfang seiner Idee bis zu ihrer Diktatur der Liebe über die Menschheit. 

Judentum und Bolschewismus haben nichts gemein. Wenn beider Ziel auch das höchste der Menschheit ist, können sie nicht zueinander kommen, denn der Absolutheit des Einen entspricht nur Zweckmäßigkeit, Bedingtheit des Andern, der Sehnsucht nach der wirklichen Menschheit nur der Wunsch die Produktion auf das Höchste zu steigern und die Konsumtion so angenehm als möglich zu machen. […]

Diese Frage wird einmal aufgeworfen werden, die Frage nach der reinsten Form des Nebeneinanderlebens, nach der an-archischen Form. Sie wird beantwortet werden, wenn entweder Europa vollends zertrümmert sein wird, oder aber, wenn es sozialistisch, also menschlich denken, fühlen und handeln wird, wenn Kapitalismus, Bolschewismus und alle andern Ismen verschwunden sein werden.

Hier die Ersten zu sein, sind die ungeheuren Möglichkeiten unserer palästinensischen Zukunft um die Zukunft der Menschheit. 

In: Esra, H. 1/1919, S. 41-47

Richard A. Beermann: Der Bolschewismus als Gefahr und als Hoffnung.

Aus Rußland heimgekehrte Reichsdeutsche veröffentlichen im „Vorwärts“ einen „Warnruf vor dem Bolschewismus“. Sie sagen:

„Friede, Brot, Freiheit war die Parole, mit der die Bolschewisten das Volk zu ködern suchten. Mit der Miene des Menschenfreundes, des Weltbeglückers, des zürnenden, aber gerechten Richters, versprachen sie dem auflauschenden, in der Not langer Trübsal schmachtenden Volke eine neue, gerechte, glückspendende Weltordnung, ein Paradies auf Erden!

„Und was grinst jetzt, nachdem die Prunkhüllen gleisnerischer Phrasen eine nach der anderen herabgefallen sind, aus diesen Versprechungen hervor? Die leibhaftige Hölle mit all ihren Schrecknissen.

„Friede — welch blutiger Schwindel! Die wenigen, beim Ausbruch der Revolution gefallenen Opfer haben sich vertausendfacht, Leichenhügel türmen sich auf. Bruder- und Bürgerkrieg wütet im Lande, geht um in Dorf und Stadt wie ein hungriger blutlechzender Wolf, Leben und Eigentum ist ständig in Gefahr, alles geht drunter und drüber. Schon weigert sich die Rote Garde, noch tiefer und weiter in Blut zu waten. Als Mordschergen und Henkersknechte sind deshalb Chinesen gedungen worden.

„Und zu all dem schleicht Armut und Hungersnot durch die Städte und Dörfer, die Preise für Lebensmittel sind unerschwinglich, der Acker verödet, die Fabriken stehen still, weil die Rohstoffe fehlen, Millionen von Arbeitern sind brotlos, der Wohlstand des Bürgertums und der Bauern ist zerstört, Petersbürg hat heute Einwohner weniger als 1914, Handel und Wandel ist völlig im Absterben, das ganze Finanzwesen gerät durch kopflose, überstürzte Maßnahmen immer tiefer in Wirrwarr und Zerrüttung!“

Die deutschen und deutschösterreichischen Freunde der Bolschewiken behaupten mit Heftigkeit, das jetzt in Rußland herrschende System werde von der Bourgeoise böswillig verleumdet. Wir wissen genug von der Wahrhaftigkeit der Weltpresse, um zugeben zu können, daß wir wahrscheinlich über Rußland auch nicht genauer und unparteiischer informiert werden, als über andere Weltgegenden. Greuel aufzubauschen ist der Lieblingssport der internationalen Presse. Man möchte zur Ehre der Menschheit annehmen, daß nur der zehnte Teil von dem Entsetzlichen wahr ist, was uns immer wieder aus dem bolschewikischen Rußland berichtet wird. Aber auch dieser zehnte Teil wäre grauenhaft. Es ist schwer, darüber ein Urteil zu gewinnen, denn die Bolschewiken haben die Preßfreiheit abgeschafft. (Aus einer deutschen bolschewikischen Broschüre: „Die Bolschewiken denken nicht daran, Rede- und Preßfreiheit im bürgerlichen Sinn zu verwirklichen“.) Folglich gelangen aus Rußland nur die gewissen Tataren- und Emigrantenmeldungen ins Ausland: ein Land ohne Preßfreiheit wird immer verleumdet und ist selbst schuld daran. Die Gegner des Bolschewismus leben, wie die Bolschewiken nicht leugnen, unter dem furchtbaren Drucke eines blutigen Terrors; von ihnen ist eine unparteiische Berichterstattung kaum zu erwarten. Tatsächlich werden manche Schilderungen, die sie in der letzten Zeit verbreitet haben, aus der Psychologie gehetzter Verfolgter und Emigranten zu erklären sein.

Wie oft haben wir nicht von dem unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruch des Bolschewismus gehört! Dann aber gewinnt er plötzlich Erfolge, dehnt sich aus, zeigt doch eine zähe Lebenskraft, die tiefere politische und soziale, ja religiöse Gründe haben muß.

All das hat die Welt schon einmal erlebt, und zwar im Jahre 1793. Mit dem jakobinischen Terror hat der bolschewikische das systematische Wüten gemeinsam, die blutige Vergewaltigung, die Lähmung der Gesellschaft, auch eine ungeheuere Energie, der oft das Unmögliche gelingt. Wie die Jakobiner haben die Bolschewiken sich gegen die ganze Welt zu behaupten und wie die Jakobiner möchten sie im Namen des Friedens und der Freiheit die ganze Welt unterwerfen. Fünfvierteljahrhunderte bevor Radek davon träumte, am Rhein gegen den englischen Imperialismus zu kämpfen, unternahm es der Berg, am Rhein gegen diesen selben englischen Imperialismus und seine kontinentalen Verbündeten in den Krieg zu ziehen; in einen Krieg, der mit großen Verbrüderungsphrasen begann und dann ein reiner Machtkrieg wurde, der ärgste, den die moderne WeIt vor 1914 erlebt hat. Auch damals fehlte es nicht an deutschen Jakobinern, die sich für die Guillotine begeisterten.

Die Faszination, die der Bolschewismus heute auf einen Teil der deutschen und auch der deutschösterreichischen Arbeiterschaft ausübt, ist leicht genug zu verstehen. Das furchtbare Elend, das der Krieg uns gebracht hat; mußte den äußersten Radikalismus begünstigen. Der Satz des Kommunistischen Manifests, das Proletariat habe bei einem Umsturz nichts zu verlieren als seine Ketten, konnte um 1914 auf die deutsche Arbeiterschaft nur mehr recht bedingt angewendet werden; in den Kriegsjahren gewann dieses mächtige Argument wieder an Bedeutung. Clemenceaus Behauptung, nur besiegte Organismen seien gegen bolschewikische Ansteckung nicht immun, mag insofern wahr sein, als eine durch den Krieg und durch unerträgliche Friedensbedingungen völlig verelendete deutsche Arbeiterschaft unschwer tobsüchtig gemacht werden könnte. Je schwieriger die Bedingungen der Entente die Wiederaufrichtung der deutschen Wirtschaft, einer organischen Sozialpolitik und des allgemeinen Wohlstands erscheinen lassen, desto bedeutungsloser muß der ungeschulten Logik der Volksmassen jene Zerrüttung des Wirtschaftsorganismus vorkommen, die die nächste Folge bolschewikischer Experimente ist. Ein geächtetes, vom Welthandel abgesperrtes, mit unsinnigen Kriegsentschädigungen belastetes Deutschland geriete allerdings in die starke Versuchung, Anlehnung, Bündnis, ein weites Wirtschaftsgebiet dort zu suchen, wo allein es noch zu finden wäre: jenseits der russischen Grenze. Ein bolschewikisches Deutschland ist heute die letzte Hoffnung Lenins und Radeks; hier können sie die industriellen Kräfte finden, die ihnen fehlen, hier einen Weg aus der Umschnürung, der Rußland erliegt. Wehe, wenn morgen das bolschewikische Rußland die einzige Hoffnung Deutschlands wäre! Ob eine trügerische Hoffnung, das kommt leider gar nicht in Betracht. Die großen Massen sind nur zu leicht in Sackgassen zu treiben, wenn nun ihr Eingang offen ist. Die Zustände, die der Bolschewismus in Rußland geschaffen hat, sind gewiß nicht verlockend; nun kommt es darauf an, was für Zustände der Anti-Bolschewismus der Entente dem deutschen Volk verheißt. Die Machthaber Rußlands, die im Versprechen sehr groß sind, bieten ihre Hilfe gegen die Entente an. Das tiefe Friedensbedürfnis der Deutschen wäre heute der Entente gegen jeden Friedensstörer verbündet, wenn sie solches Bündnis anzunehmen bereit wäre, wenn sie einen wirklichen Frieden schließen wollte. Tut sie es nicht, dann sind die Folgen unabsehbar. Daß man für die Freiheit und gegen tyrannische Unterdrückung blutig Krieg führen müsse, hat die Entente vier Jahre lang gepredigt. Daß sich die Völker der gegnerischen Staaten gegen ihre Beherrscher schließlich auflehnen würden, hat sie sehr richtig angenommen. Es liegt furchtbar nahe, das Experiment fortzusetzen. Demagogische Halblogik kann leicht so argumentieren. Es könnte der Augenblick der Verzweiflung kommen, in dem der Bolschewismus auch Besonnenen weniger als eine äußerste Gefahr, denn als eine letzte Hoffnung erschiene. Denn dieser Wahnsinn hat doch wenigstens Methode; das bolschewikische Rußland mag ein entsetzliches Leben führen, aber es lebt, es behauptet sich bisher der Entente gegenüber, ist von ihr unabhängig. Rußland ist groß, und Lenin ist weit, die russischen Zustände kennt niemand genau, das Furchtbare, das von ihnen erzählt wird, kann als Verleumdung hingestellt werden — und je ratloser, je zerfahrener das unglückliche deutsche Volk ist, desto mehr Aussichten hat die wilde Energie der russischen Propaganda. Denn das muß man den Bolschewiken lassen: auf die Agitation verstehen sie sich.

Der große Gegeneinwand: daß ein hingerichtetes Huhn keine Eier legt und eine zerstörte Industrie keine Arbeiter ernährt, ist den Massen nicht so überzeugend, wie man meinen sollte! Es wirkt da das Moment eines fast religiösen Irrationalismus gegen die nüchterne Vernunft.

Die bolschewikische Propaganda beutet den tief in der Volksseele liegenden idealistischen Optimismus aus; sie verheißt ein holdes Wunder, an das man nur zu gern glauben möchte. Sie malt die enteignete Fabrik, die zehnmal mehr und besseres produzieren wird; und dies gleich, morgen. Woher die Rohstoffe nehmen? Wir werden die exotischen Länder bolschewisieren.

Gerade weil die Abschaffung Ungerechter Besitzvorrechte, unsozialer Ausbeutung, parasitischen Drohnentums zum selbstverständlichen Glaubenssatz aller modern Gesinnten geworden ist, ist es schwer, die richtigen Perspektiven zu wahren; dem hoffenden Auge scheinen Fernen nah, Klüfte eben, Felsen gangbar. Es hat viele eine Verzückung ergriffen, ein mystischer Fanatismus. Ein neuer Kinderkreuzzug in die Wüste scheint bevorzustehen.

Man darf diesen religiösen Einschlag nicht unterschätzen. Er hat mit gesunder Politik, gar mit wirtschaftlicher Berechnung nichts zu tun, aber die Klugen und Nüchternen verlieren in solchen Zeiten leicht die Führerschaft, wenn sie zu klug und vor allem zu nüchtern sind. Jene zerstörende revolutionäre Energie des Bolschewismus, die mit den Maßregeln das Untunliche und Aussichtslose aufbaut, müßte durch eine positive Energie des Schaffens und Helfens pariert werden. Will die Entente den Bolschewismus in Mitteleuropa nicht haben, dann muß sie das Schaffen fördern, dem Helfen helfen. Von Rußland, dem Land der ekstatischen Sekten, strahlt ein religiöser Wahnsinn in die Welt, das ist es. Selbst wenn es gelänge, die bolschewikische Sekte in ihrem Ursprungsland gewaltsam zu unterdrücken, würde das die Verbreitung ihrer Idee kaum hindern. Man muß ihr bessere, aber ebenso warme Ideale entgegensetzen.

In: Der Friede, Nr. 51/10.1.1919, S. 581-582.

Stefan Zweig: Der Weg Hermann Hesses (1923)

Jede erreichte Höhe wird immer Wiederkehr eines Anfangs: so ist gerade der berühmte, der allbeliebte Künstler ähnlich und vielleicht noch mehr als der unbekannte in eine Art von Anonymität eingeschlossen; er lebt umkrustet, petrifiziert innerhalb des glatt-handlichen Begriffes, den sich die Welt von seiner Eigenheit geschaffen hat, und seine tiefsten Wandlungen und Verwandlungen gehen unter dieser Fläche gleichsam geheimnisvoll und für die anderen un­bemerkt vor sich. Die Öffentlichkeit starrt immer nur auf den Schatten, den der Frühschein ersten Erfolges von einem Dichter in die Welt geworfen hat, lange merkt sie es nicht, daß inzwischen der lebendige Mensch — bergan oder bergab — seiner einstigen Form entwandert ist. Eines der zeitgemäßesten Beispiele solchen ungenauen Sehens scheint mir die Wertung Hermann Hesses, über dessen allgemeiner, breiter, wohlgefälliger, ja bis ins Familienpublikum hineingewärmter Beliebtheit die merkwürdige, erstaunliche und bedeutende. Wandlung und Vertiefung seines dichterischen Wesens beinahe unbemerkt geblieben ist. Und doch weiß ich in der neueren deutschen Literatur kaum einen gleich sonder­baren, mit allen Windungen im letzten doch geraden Weg der inneren Entfaltung als den seinen.

Hermann Hesse hat vor etwa zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren begonnen, ganz wie ein württembergischer Pastors­sohn zu dichten beginnt: mit Versen, mit sehr weichen, ver­sehnten Versen. Er saß damals als Buchhandlungsgehilfe in Basel, war bitter arm und allein: aber wie immer bei solchen sehnsüchtigen Dichtern, je bitterer das Leben, um so süßer die Musik und die Träume. […] //

Dann kam der Krieg, der — es brennt einem der Mund, ihm ein Verdienst nachsagen zu müssen — durch den Überdruck der Atmosphäre aus so viel Menschen das Entscheidende herauspreßte: er hat auch in Hesse den inneren Durchbruch gefördert. Sein ganzes Leben geriet damals aus­ einander: das eigene, helle Haus war längst verloren, die Ehe geendet, die Kinder in der Ferne; allein inmitten einer stürzenden Welt, zurückgestoßen in seiner zerschmetterten, romantischen Gläubigkeit an Deutschland und Europa, mußte er sich wieder wie ein Unbekannter, ein neuer Anfänger an das Werk stellen. Und aus einem prachtvollen Gefühl für diese tiefe Umackerung seines Wesens, für die vollkommene Erneuerung seines Schicksals, für den nochmaligen Lebensbeginn hat damals Hermann Hesse etwas getan, was seit absehbarer Zeit in Deutschland kein Dichter von Rang gewagt hatte (und jeder einmal in seinem Leben versuchen sollte): er hat das erste Werk seiner neuen Epoche nicht unter der gesicherten Flagge seines Namens, sondern in strengster Anonymität eines gleichgültigen Pseudonyms in die Welt geschickt. Plötzlich machte in literarischen Kreisen der Roman eines unbekannten Emil Sinclair Aufsehen: Demian hieß das sonderbar dunkle, tiefgründige Buch, das von einer Jugend in einer merkwürdig verästelten, bis in das Dunkel der Seele hinabgreifenden Art erzählte. Als ich es las, dachte ich an Hesse dabei, Mex ohne Vermutung, er könnte der //Autor sein: ein Schößling seiner Art schien mir dieser Sin­clair, ein junger Mensch, der Hesse viel gelesen, aber ihn doch an seelischem Wissen, an seltener Aufrichtigkeit weit überwachsen hatte. Denn hier fehlte gänzlich dies Aus­weichende, dies Zaghafte in der Psychologie, im Gegenteil, hier bohrte sich mit einer ahnungsvollen Überwachheit ein gesteigerter Sinn an das Geheimnisvolle des Lebens heran, die Wasserfarben der seelischen Erlebnisse, die früher mit zarten Pinselstrichen über die dunklen Schicksale hinzitterten, waren hier sinnlichen, warmen Tönen gewichen. Und mein Erstaunen war Respekt, als ich zwei Jahre später erfuhr, daß Emil Sinclair Hermann Hesse sei, aber ein neuer Hermann Hesse, der an sich selbst herangelangte, der wirkliche, der Mann Hermann Hesse, nicht der Träumer mehr.

Diese Grenze ist heute ganz deutlich und sie reicht tief hinab bis in das innerste Wurzelwerk seines Wesens. Nicht nur daß die Problematik des einst so sanften Betrachters eine tief hinabdrängende, dem Dunkel sich ansaugende ge­worben ist, daß von einem inneren Sturm seinen Menschen jeder sentimentale Hauch vom sprechenden Munde weggeweht ist – ganz im Unfaßbaren, im Schauen, in der Pupille waltet nun ein anderer, ein wissenderer Blick. Ge­heimnis umwaltet ja von je das unsichtbare Fortschreiten eines Künstlers in sich selbst hinein, dem Worte nicht beikommen: bei Malern ist es offenbarer, da sieht man geradezu sinnlich, wie ihnen mit einem Male – etwa, wenn sie nach Italien kommen oder zum erstenmal einen neuen Meister schauend erleben – nach langen Versuchen urplötzlich das Geheimnis des Lichtes oder der Luft oder der Farbe aufgeht, wie eine Epoche in ihrer Kunst beginnt. Bei dem Dichter ist solche Verwandlung minder tastbar, nur der Nerv kann sie erfühlen. Wenn Hesse heute einen Baum beschreibt oder einen Menschen oder eine Landschaft, so vermag ich’s eigentlich nicht zu erläutern, warum dieser sein Blick, sein Ton nun anders ist, voller, sonorer, klarer, vermag es nicht zu sagen, warum da alle Dinge um einen Grad wahrer und näher bei sich selber sind. Aber man lese doch selbst gerade jene ganz zufälligen Bücher nach Sinclair s Notizbuch (bei Rascher & Co., Zürich), und die Wanderung (S. Fischer), die beide mit seinen eigenen Aquarellen geschmückt sind und vergleiche sie mit seinen jugendlich-lyrischen Schilderungen. Hier ist alles Saft und Kraft in der Sprache und jene große Sparsamkeit, die sich nur die Fülle gestatten darf: noch wogt die alte Unruhe darin, nur jedoch gleichsam mit tieferem Wellengang. Aber das Reifste, das Reichste, das Eigen­artigste, was dieser neue Hesse bisher gegeben, ist sein Novellenbuch Klingsors letzter Sommer (S. Fischer), ein Werk, das ich mit bewußter Wertung zu dem bedeutendsten der neuen Prosa zähle. Hier ist eine seltene Verwandlung erreicht: das Sehen ist magisch geworden, es schafft gerade im Dunkel einen zitternden phosphoreszierenden Schein aus eigener Seelenkraft, der das Geheimnis der wirkenden Kräfte erhellt. Nichts umfängt es mehr flächenhaft und lau, dieses geballte funkelnde Licht, ihm wird das Leben schicksalshaft und dämonisch, eine elektrische Atmosphäre, die aus ihren eigenen Kräften sich ein abgründiges Leuchten schafft. In dem Lebensbilde des Malers Klingsor sind bewußt Van Goghsche Farben in Prosa umkomponiert, und nichts zeigt deutlicher den Weg, den Hermann Hesse gegangen – von Hans Thoma, dem schwarzwäldischen, idealistischen, flachlinigen Malerpoeten zu jener besessenen Magie der Farben, zu dem ewig leidenschaft­lichen Disput von Dunkel und Licht. Und je unfaßbarer, vielfältiger, geheimnisvoller, je magischer, verworrener und auflösender er nun die Welt empfindet, um so sicherer, um so klarer steht der Wissende nun in sich selbst; die merkwürdige Reinheit der Prosa, die Meisterschaft des Aussagens gerade dieser unsagbarsten Zustände gibt Hermann Hesse heute einen ganz besonderen Rang in der deutschen Dichtung, die sonst nur in chaotischen Formen oder Unformen, im Schrei und der Ekstase das Übermächtige zu schildern und zu reflektieren sucht.

Von dieser Sicherheit, dieser Sparsamkeit ist auch Hesses letztes Werk erfüllt, seine indische Dichtung Siddhartha (S. Fischers Verlag). Bisher hat in seinen Büchern Hesse immer über sich sehnsüchtig hinausgefragt in die Welt: hier versucht er zum erstenmal zu antworten. Seine Parabel ist nicht hochmütig oder weise-lehrhaft, sie ruht in einer gelassen atmenden Betrachtung: niemals war sein Stil klarer, durch­sichtiger, unbeschwerter als in dieser beinahe sachlichen Dar­stellung der geistigen Pfade eines Menschen, der ungläubig-gläubig immer näher an sich selbst gelangt. Nach den düsteren Melancholien, den purpurnen Zerrissenheiten des Klingsor-Buches schwingt sich hier die Unruhe zu einer Art Rast: eine Stufe scheint hier erreicht, von der Ausschau weit in die Welt verstattet ist. Aber man spürt: es ist noch nicht die letzte. Denn das Wesentliche des Lebens ist nicht seine Ruhe, sondern seine Bewegtheit. Wer ihm nahe bleiben will, muß in ewiger Wanderschaft des Geistes, in ewiger Unruhe des Herzens ver­harren, jeder Schritt dieser Wanderschaft ist gleichzeitig ein Nahekommen zu sich selbst. Selten habe ich das im Umkreis unserer deutschen Literatur stärker bei einem gegenwärtigen Dichter empfunden als bei Hermann Hesse. Ursprünglich gewiß minder begabt im Sinn von Begnadung als andere und weniger durch eingeborne Leidenschaft an das Dämonische des Daseins hingedrängt, ist er allmählich durch diese tiefe Ruhelosigkeit näher an sich selbst, tiefer an die wahre Welt gelangt als alle Gefährten seiner Jugend, und weiter über seinen eigenen Ruhm, die allgemeine Beliebtheit hinaus: seine Sphäre ist heute noch nicht ganz zu umgrenzen und ebenso­wenig seine letzten Möglichkeiten. Aber dies ist gewiß, daß alles dichterische Werk, das heute nach solcher innerer, gleich­zeitig entsagender und beharrender Verwandlung von Her­mann Hesse ausgeht, Anspruch auf äußerste moralische Geltung und unsere Liebe hat, daß man hier einem mehr als Vierzig­jährigen, bei aller Bewunderung für das meisterlich Getane, noch die gleiche Erwartung wie einem Beginnenden entgegenbringen darf und soll.

In: Neue Freie Presse, 6.2.1923, S. 1-3.