eigentlich Theodor Tagger, geb. am 26.8.1891 in Sofia – gest. am 5.12.1958 in Berlin/West; Schriftsteller, Dramatiker, Kritiker, Theaterleiter, Übersetzer

Der Sohn des aus Wien stammenden Bankkaufmanns jüdischer Zugehörigkeit Ernst Tagger sowie seiner französ. Ehefrau Claire verbrachte die Kindheit in Wien, wo er die Volksschule besuchte. Nach der Scheidung der Eltern und kurzzeitigem Gymnasialbesuch in Graz übersiedelte er mit seinem Vater nach Berlin. 1909 bis 1912 fing er ein Musikstudium in Paris  und in Berlin an, u.a. absolvierte er Komposition bei F. Schreker. In diesen Jahren versuchte B. auch als Kritiker und Schriftsteller Fuß zu fassen, veröffentlichte Texte über Hugo Wolf, über Die französische Musik der Gegenwart (1909) sowie über die Wiener Moderne (1911). Im Berliner Tageblatt erschien am 16.8.1911 sein vermutl. erster literar. Text, Todtmoos, dem Gedichte, Buchbesprechungen, Feuilletons u.a.m. in z.T. renommierten Zeitungen u. Zeitschr. folgten wie in Die Gegenwart, NFP, Neue Rundschau, Österreichische Rundschau, Pester Lloyd, Weiße Blätter oder Frankfurter Zeitung. 1913-14 übernahm er Volontär- und Lektoratsarbeiten in Breslau und Berlin, 1915 musste er wegen eines Lungenleidens einen Kuraufenthalt absolvieren und trat im selben Jahr aus der Jüd. Glaubensgemeinschaft aus. Seine erste Buchveröffentlichung, der Essay Von der Verheißung des Krieges und den Forderungen an den Frieden. Morgenröte der Sozialität erschien ebf. noch 1915. Bereits 1917 folgten zwei weitere Buchpublikationen, Der Herr in den Nebeln und Die Vollendung eines Herzens, 1918 folgten weitere Bände Gedichte und Übertragungen. Zur selben Zeit trat B./T. auch als Hg. der exklus. Lit.Zs. Marsyas (1917-19) hervor, in der u.a. A. Döblin, K. Edschmid, P. Adler, M. Brod, F. Kafka, G. Landauer, R. Schickele, aber auch Maler u. Graphiker wie P. Klee, A. Kubin, M. Pechstein u.a. vertreten waren. 1919 kehrte B./T. kurz nach Wien zurück, übernahm Regiearbeiten an den Kammerspielen. 1920 Verehelichung mit Bettina Neuer in Berlin, zugleich Anerkennung des Anspruchs auf österr. Staatsbürgerschaft. 1920-21 sind auch literar. fruchtbare Jahre; es ersch. die Erz. Auf der Straße im engag. Verlag Ed. Strache sowie die Komödien Harry sowie Annette, welche im Dez. 1920 in Halle bzw. Wien uraufgef. werden. 1921 übersiedelt B./T. wieder nach Berlin u. übernimmt dort das Renaissance-Theater, auf dem er zunächst v.a. franz. Stücke u. Nachdichtungen, z.B. Esther Gobseck, aufführt.

Mit Krankheit der Jugend (1925), einem polarisierenden, neusachl. wie psychoanalyt. eingestuften Stück, das am 12.1.1927 in den Kammerspielen (Wien) seine österr. EA hatte, nimmt T. das Ps. F. Bruckner an, lässt die Öffentl. jahrelang über seine wahre Identität im Unklaren, publiz. fortan aber nur mehr unter diesem Namen. Seine Stücke erscheinen fortan im S. Fischer Verlag, auch das erfolgreiche Die Verbrecher (1928) oder Elisabeth von England (1929), das seine UA am Deutschen Theater sowie zeitgleich an fünf anderen Theatern erlebte und in bis 1933 in zwölf Sprachen übersetzt wurde; zugleich zieht sich T./B. von Leitungsarbeiten im Theater zurück, um sich auf das Schreiben zu konzentrieren. Im Zuge der Erstaufführung des Elisabeth-Stücks, für E. Lothar „eines der wichtigsten deutschen Schauspiele der letzten Jahre“, an der Dt. Volksbühne in Wien am 20.12.1930 gibt T./B. sein Inkognito auf. 1931 feiert B. mit Krankheit der Jugend an zwei Pariser Bühnen in rund 200 Aufführungen seinen internationalen Durchbruch. Nach der Wiener EA der Kleist-Bearb. Die Marquise von O. am 2.3.1933 kehrte B. nicht mehr nach Berlin zurück. Über die Schweiz gelangt B. nach Paris, wo er sich sofort an das antiNS-Stück Die Rassen macht, das am 30.11.1933 in Zürich uraufgeführt wurde u. in Österr. im Kreis von F.Th. Csokor, Ö.v. Horvath u. L. Loos diskutiert und dessen Aufführung in manchen Städten wie z.B. Prag oder Buenos Aires nach massivem Druck der dt. Gesandtschaften abgesetzt wurde. Nur in Paris erlebte es rund 100 Aufführungen. Anfang 1934 löst B. seinen Vertrag mit S. Fischer, weil dieser in Deutschland verblieben sei u. keine klare Anti-NS-Politik eingeschlagen habe; eine erste USA-Reise mit Filmplänen führt zu keinen nennenswerten Ergebnissen, auch die Verhandlungen mit A. Korda 1935 in London scheitern.

1935 erscheint sein erster Roman, Mussia, beim Exilverlag Allert De Lange, 1936 übersiedelt B. mit seiner Familie zuerst nach Hollywood, um mit Paramount Filmprojekte zu realisieren, die allerdings scheitern, und wechselt 1937 nach New York, wo er u.a. am Brooklyn College Lehrtätigkeiten ausübt, u. 1938-40 den Vorsitz des Schutzverbandes deutsch-amerikanischer Schriftsteller übernimmt. Ab 1939 intensiv. B. seine dezidiert antifaschist. Essayistik u. Publizistik, tritt am PEN-Kongress 1939 in New York auf u. arbeitet mit E. Piscator ab 1940 an dessen Studio Theatre in New York zus., wo u.a. engl. Fassungen seiner Stücke, z.B. The Criminals, aufgeführt werden oder B. engl. Fassungen deutscher Klassiker erfolgreich auf die Bühne bringt wie z.B. 1942 Lessings Nathan der Weise/Nathan The Wise. B. wird zu einer maßgebl. Instanz in der Exilpublizistik u. Exilliteratur, z.B. mit Essays wie Patriotismus und Kultur (1944), ist in zahlr. Zs. präsent (Aufbau, Austro-American Tribune, Freies Deutschland u.a.), wirkt an zentr. Initiativen mit wie z.B. der Grd. des Exilverlags Aurora 1944 (N.Y-Mexiko) u. unterhält intens. Kontakte insbes. zu B. Brecht, W. Herzfelde, H. Mann, O.M. Graf, M. Rheinhardt, B. Viertel u. F.C. Weiskopf. Auch seine literar. Produktion ist beeindruckend, wenngleich nicht immer erfolgreich: neben Dramen wie Die Namenlosen von Lexington u. Simon Bolivar. Der Kampf mit dem Engel entst. auch Komödien, Schauspiele, z.B. Die Befreiten (1944/45), Fragment gebliebene Romane u.a.m. 1946 erhält B. die amerikan. Staatsbürgerschaft, 1947 kehrt er erstmals nach Europa zurück, 1948 auch nach Wien, wo die österr. EA von Fährten im Burgtheater gegeben wird, u. nach Berlin, um der ersten Nachkriegsinszen. von Die Rassen zu sehen. 1950 kommt es am Theater in der Josefstadt zur dt.sprach. EA von A. Millers Tod des Handlungsreisenden in der Übers. B.s., 1952-53 folgt die neuerl. Übersiedelung nach Berlin-West, wo B. v.a. am Schiller-Theater tätig ist u. intensiv an seinen letzten Stücken arbeitet. 1955 u. 1958 kehrt B. nochmals kurz nach Wien bzw. Salzburg zurück, um am PEN-Kongress teilzunehmen bzw. die Dramat. Werkstatt im Rahmen der Festspiele mit zu begründen.


Weitere Werke

als Theodor Tagger: Über einen Tod (1917);  Der zerstörte Tasso (Ged. 1918); Psalmen Davids (1918); als F. Bruckner: Die Kreatur (1930); Timon (1933); Die Marquise von O. (1933); Napoleon der Erste (1936); Die Kinder des Musah Dagh (1940); Früchte des Nichts (1951); Heroische Komödie (1955).

Quellen und Dokumente

Zusammenstellung ausgewählter Besprechungen zur Wiener Erstaufführung Krankheit der Jugend Anfang 1927.

Otto Koenig: Kammerspiele [zu Krankheit der Jugend]. In: Arbeiter-Zeitung, 14.1.1927, S. 7, Emil Kläger: „Krankheit der Jugend“ von F. B. Wiener Kammerspiele. In: Neue Freie Presse, 15.1.1927, S. 9, Felix Salten: Die Verbrecher. In: Neue Freie Presse, 19.4.1929, S. 1-3, Rudolf Holzer: „Die Verbrecher“. Schauspiel von F. B. Theater in der Josefstadt. In: Wiener Zeitung, 20.4.1929, S. 1-3, David J. Bach: Leben und Theater. („Die Verbrecher“ von F. B. im Theater in der Josefstadt.). In: Arbeiter-Zeitung, 20.4.1929, S. 8-9, E. Lothar: F. B.: „Elisabeth von England“. Deutsches Volkstheater. In: Neue Freie Presse, 21.12.1930, S. 1-4. Felix Salten: Theater und Film [zu Die Marquise von O.]. In: Neue Freie Presse, 4.3.1933, S. 8, O.M. Fontana: Die Marquise von O. In: Der Tag, 4.3.1933, S. 9; Johannes Jacobi: Erstaufführungen in Braunschweig und Düsseldorf [Zu
Der Kampf mit dem Engel]. In: Die Zeit, 12.12.1957.

Zur Verfilmung von Krankheit der Jugend von 2007 von A. Mračnikar/M. Haneke: Link. Trailer der Verfilmung von Krankheit der Jugend 2010: YouTube.

Fotografie von der Erstaufführung von Elisabeth von England, 1931.

Literatur

Karin Hörner: Möglichkeiten und Grenzen der Simultandramatik. (1986, zugl. Diss. Univ. Kiel 1985); Peter Roessler, Konstantin Kaiser (Hgg.): Dramaturgie der Demokratie. Theaterkonzeptionen des österreichischen Exils. 1989; Bernhard Spies: F. Bruckners Exilkomödien. In: Ders.: Die Komödie in der deutschsprach. Exilliteratur; 1997, 84-99; J. P. Strelka: Des Odysseus Nachfahren. Österreichische Exilliteratur seit 1938; 1999, 199-200;

Carsten Jacobi: Der kleine Sieg über den Antisemitismus. 2005, 127-142; Ders.: F. Bruckner: Die Rassen. In: W. Benz (Hg.): Handbuch des Antisemitismus. Bd. 7: Literatur, Film, Theater, Kunst. 2010, 399-400.

Eintrag bei literaturepochen.at.

(PHK)

geb. am 13.2.1897 in Wien – gest. am 4.7.1955 in London; Schriftsteller, Bibliothekar, Historiker, Volksbildner

Ps.: Dubsky, Bedřich; Sladek, Wenzel; Sladek, Václav; Huegel, F.D.

F. Brügel wuchs als Sohn von Ludwig Brügel in Prag auf. Nach Erlangung des Doktorgrades der Philosophie an der Universität Wien 1921 wandte er sich fortan der literarischen Arbeit zu. Ab dem Jahr 1922 widmete sich B. der Erweiterung der Sozialwissenschaftlichen Studienbibliothek der Arbeiterkammer Wien, für die er u.a. die Privatbibliotheken Victor Adlers, Engelbert Pernerstorfers und Anton Mengers erwarb. In den 1920er Jahren veröffentlichte er regelmäßig in den wichtigsten Organen der SDAP wie die AZ, Bildungsarbeit u. Der Kampf Gedichte, Kritiken und Essays. Darüber hinaus zählt er neben Josef Luitpold Stern, Theodor Kramer, Rudolf Brunngraber u.a. zu den Gründungsmitgliedern der Vereinigung Sozialistischer Schriftsteller – ein Widerstandsversuch, der durch die Zwangsauflösung des Vereins 1934 nur ein Jahr Bestand haben sollte.

Trotz der inhaltlichen Vielfalt seiner Lyrik sind Akzentuierungen auf existenzielle und politische Fragestellungen erkennbar. So erschien B.‘s erster Gedichtband 1923 unter dem Titel Zueignung – romantische Topoi und Deutungsspielräume finden sich in den noch im selben Jahr in der Arbeiter-Zeitung publizierten Gedichten jedoch nicht. Aktivistisch und parteilich sind jene Werke, die 1932 schließlich unter dem Titel Die Hauptsache ist… Songs in Buchform erschienen und exemplarisch für B.‘s sozialistisch geprägtes Schaffen sind. So erschien die Februarballade 1935 im Exil-Verlag Der Kampf als Reaktion auf den entscheidenden Wendepunkt im Leben B.s: die Februarkämpfe zwangen ihn, als Mitglied des Republikanischen Schutzbundes, zur Emigration in die Tschechoslowakei.

Aus: Arbeiter-Zeitung, 11.11.1933, S. 6

Nach 1934 engagierte sich B. mit zahlreichen Publikationen stark in der Brünner und Prager Exilszene. Einen Höhepunkt B.s literarischer Tätigkeit stellt der Gedichtband „Gedichte aus Europa“ (1937) dar – ein Werk, das für seine formale und inhaltliche Vielfalt u.a. von Max Hermann-Neisse gelobt wurde. 1939 flüchtete B. zusammen mit seiner Frau Vera Dubska über Frankreich, Spanien und Portugal nach London.


Weitere Werke (Auswahl)

Klage um Adonis (1931); Nachdichtungen von vier Dramen des „Aeschylos“ (1923-1927) und diverse weitere Gedichte, darunter Flüsterlied (In: Die Rote Fahne bzw. Das Wort Nr.1/ 1936) und Die Arbeiter von Wien (In: Die Unzufriedene 1926) Führung und Verführung. Eine Antwort an Rudolf Borchardt (1931, Essay); Deutsche Freiheit an der Wolga (1937);Der deutsche Sozialismus von Ludwig Gall bis Karl Marx (1931); Verschwörer. Roman (1951)

Quellen und Dokumente

Aus Viktor Adlers Jugendjahren. In: Arbeiter-Zeitung, 11.11.1933, S. 6.

A. A-r.: Dichtung und Gegenwart. In: Arbeiter-Zeitung, 12.10.1933, S. 6, N.N.: Ideal und Wirklichkeit [Sammelrezension]. In: Arbeiter-Zeitung, 11.2.1933, S. 9, N.N.: Ausbürgerung eines Schriftstellers. In: Arbeiter-Zeitung, 20.1.1935, S. 7.

Teilnachlass: Wien-Bibliothek; Signatur ZPH 1242 bzw. ZPH 1495.

Literatur

Jürgen Serke: Böhmische Dörfer. Wanderungen durch eine verlassene literarische Landschaft (1987), Julius Stieber: Studien zu Fritz Brügel und seiner politischen Lyrik. Vom Aufbruch der österreichischen Sozialdemokratie in den zwanziger Jahren bis zu deren Niederlage im Februar 1934. Diplomarbeit (1991), Ders.: Fritz Brügel im Exil 1934-1955. Studien zu Leben und Werk eines sozialdemokratischen Schriftstellers. Dissertation (1998), Siglinde Bolbecher, Siglinde, Konstantin Kaiser: Lexikon der Österreichischen Exilliteratur (1999), Eckart Früh: Fritz Brügel. In: Noch mehr (2001); Gerd Callesen: Fritz Brügel. In: Günter Benser/Michael Schneider (Hg.): Bewahren, Verbreiten, Aufklären: Archivare, Bibliothekare und Sammler der Quellen der deutschsprachigen Arbeiterbewegung (2009), 53-57 [online abrufbar], Julius Stieber: F. B.s Arbeiterdichtung der österreichischen Zwischenkriegszeit. In: Konstantin Kaiser et al. (Hg.): Rote Tränen. Die Zerstörung der Arbeiterkultur durch Faschismus und Nationalsozialismus, 298-311 (2017).

Harmut Binder: [Rezension zu Fritz Brügels Verschwörer]. In: Neue Zürcher Zeitung, 15.8.1988, S. 20.

Grundlegende Daten im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek. Biographie in: Das Rote Wien.

Nachlass und Biographie bei: Theodor-Kramer-Gesellschaft.

(SK)

geb. am 20.9.1901 in Wien – gest. am 5.4.1960 in Wien; Schriftsteller, Maler, Grafiker

Ps.: Sverker Brunngraber (als Maler), C. Benjamin, Benjamin Patinir

R. B. wurde als Sohn einer aus Niederösterreich zugezogenen Bauernfamilie in Wien-Favoriten geboren. Um der harten körperlichen Arbeit zu entgehen – der trunksüchtige Vater war Maurergehilfe, die Mutter Hilfsarbeiterin – absolvierte B. 1915-20 das Landes-Lehrerseminar, fand im Anschluss aber keine Anstellung. Zeitgleich entstanden erste expressionistisch geprägte literarische Texten, die unveröffentlicht blieben (z.B. Gedichtsammlung Die Vorhölle, 1919). Vermittelt durch Kasimir Edschmid reiste B. 1921/22 u.a. nach Göteborg und Stockholm und verrichtete dort Gelegenheitsarbeiten, etwa als Kinogeiger, Holzfäller, Schildermaler und Elfenbeingraveur. Nach der Rückkehr nach Wien 1922/23 wurde B. Beamter in der Logistikbranche, anschließend bis 1926 arbeitslos. Im Oktober 1926 erhielt B. ein Stipendium für ein vierjähriges Malereistudium bei Wilhelm Müller-Hofmann an der Wiener Kunstgewerbeschule und arbeitete folglich als Gebrauchsgrafiker und Kopist; hinzu kamen erste Vortragstätigkeiten in der Bildungszentrale. Nach dem SDAP-Eintritt 1927 auch Bildungsreferent in Wien. Otto Neurath stellte ihn neben Marie Jahoda und Oskar Umrath im Wiener Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum an (1928-1933) und riet ihm von der Veröffentlichung des 1921 begonnenen Romans Die Entwurzelten ab.

Aus: Arbeiter-Zeitung, 13.12.1932, S. 7

Das autodidaktische Studium der Nationalökonomie und Soziologie unter Neuraths und Gerd Arntz‘ Einfluss führte zur Entstehung des Romans Karl und das zwanzigste Jahrhundert, der Ende 1932 in Buchform und zwischen 18.1. und 22.3.1933 in der Arbeiter-Zeitung erschien, vielfach übersetzt und u.a. von Hermann Broch, Theodor Kramer und Sinclair Lewis für die innovative neusachliche Verschränkung von persönlichem Schicksal und Wirtschaftsentwicklung gelobt wurde. B., 1932 mit dem Julius-Reich-Preis ausgezeichnet, besuchte die Gesellschaftsabende bei Heinrich Steinitz u.a. mit Josef Luitpold Stern, Oskar Maria Graf und Ernst Waldinger, trat als Vortragender im Volksheim Ottakring auf und war Mitbegründer der Vereinigung sozialistischer Schriftsteller, deren Obmann er kurz vor dem Verbot im März 1934 wurde. B. stand in freundschaftlichem Kontakt zu u.a. Broch, Edschmid, Kramer, O. M. Fontana, Wilhelm Szabo und Karl Ziak. 1933 wurde er Lektor beim Verlag Elbemühl und publizierte u.a. in der Bildungsarbeit, Die Glocke, der Wiener Weltbühne und in Die Unzufriedene. Sein Kommentar zu den Bücherverbrennungen in Deutschland 1933 („… die Nationalsozialisten vertragen die Wahrheit nicht (…).“) führte zum Verbot seines Debütwerks in Deutschland. Doch bereits sein zweiter Roman Radium (1936) erschien als Sonderausgabe für die deutsche Luftwaffe, Opiumkrieg (1939) wurde ein deutscher Propagandaerfolg. B. traf 1939 Joseph Goebbels, war vom 18.10.1939 bis zum Ausschluss am 30.8.1940 Mitglied der Reichsschrifttumskammer und sollte trotz Gestapo-Verhörs 1941 wegen staatsfeindlicher Äußerungen im Auftrag Albert Speers über das Nachschubwesen im Krieg publizieren.

Nach 1945 wurde Brunngraber erster Obmann der Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Journalisten und Schriftsteller Österreichs, Mitglied des P.E.N.-Clubs sowie der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und wirkte vor allem als Essayist und Drehbuchautor. B.s Werke wurden in achtzehn Sprachen übersetzt und erreichten nach dem Krieg eine Millionenauflage.


Weitere Werke

Zucker aus Cuba. Roman eines Goldrausches (1941), Wie es kam. Psychologie des Dritten Reiches (1946), Was zu kommen hat. Von Nietzsche zur Technokratie (1947), Prozess auf Tod und Leben (1948), Überwindung des Nihilismus. Betrachtungen eines Aktivisten (1949), 1. April 2000 (Drehbuch, mit Ernst Marboe, 1950)

Quellen und Dokumente

Texte R. B.s: Acht Tage Roßauer Lände. In: Arbeiter-Sonntag, 29.10.1933, S. 6; R. B.: Autobiographische Skizze [etwa 1937]. Abgedruckt in: R. F.: Karl und das zwanzigste Jahrhundert (1988), 259-262

Hermann Broch: Die besten Bücher des Jahres. In: Die Auslese 1935/36, S. 9-11, abgedruckt in H. B.: Schriften zur Literatur 1: Kritik. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1975, S. 382-384; Kasimir Edschmid: Brunngraber. In: K. E.: Tagebuch 1958-1960. Wien (u.a.): Desch 1960, S. 329-334; Karl Leuthner: Ein moderner Schicksalsroman. In: Arbeiter-Zeitung, 13.12.1932; Leopold Liegler: „Radium“. Roman eines Elements. In: Wiener Zeitung, 4.5.1936, S. 7; Theodor Kramer: Eine neue literarische Form? In: Tage-Buch 13 (27.8.1932) 35, S. 1362; Josef Stern: Rudolf Brunngraber: Karl und das 20. Jahrhundert. In: Bildungsarbeit, XIX, 12.12.1932, S. 255; H. Margulies: Karl und das 20.Jahrhundert. In: Der Tag, 18.12.1932, S. 25-26; R.Brunngraber: Mutterrecht. In: Die Unzufriedene. 12.11.1933, S. 27; N.N.: Rudolf Brunngraber (Zur Eigenlesung am 31.1.1938). In: Radio Wien, 28.1.1938, S. 7-8.

Verzeichnis von Brunngrabers Artikeln in Die Unzufriedene.

Literatur

Aneta Jachimowicz: Statistik als „Werkzeug des proletarischen Kampfes“? Otto Neuraths statistisches Denken und Rudolf Brunngrabers Individuum-Auffassung in Karl und das 20. Jahrhundert. In: P.-H. Kucher (Hg.): Verdrängte Moderne – vergessene Avantgarde (2016), 269-286; Christoph Fuchs: Rudolf Brunngraber (1901-1960). In: Literatur und Kritik 32 (1997), H. 317-18, 103-109; Evelyne Polt-Heinzl: Das Kommando der Dinge oder Was ein Bimmerling lernen kann. Überlegungen zu Rudolf Brunngrabers Arbeitslosenroman “Karl und das 20. Jahrhundert” (1932). In: Fausto Cercignani (Hg.): Studia austriaca III (1995), 45-63; Edwin Rollett: Rudolf Brunngraber. In: Wort in der Zeit 6 (1960), H. 3, 7-15; Wendelin Schmidt-Dengler: Statistik und Roman – Über Otto Neurath und Rudolf Brunngraber. In: Friedrich Stadler (Hg.): Arbeiterbildung in der Zwischenkriegszeit: Otto Neurath – Gerd Arntz (1982), 119-124; Ursula Schneider: Rudolf Brunngraber. Eine Monographie. Phil. Diss. (1990), Karl Ziak: Der unbekannte Brunngraber. In: Die Zukunft 1971, H. 15/16, 52-56

(ME)

Geb. 8.2. 1878 in Wien, gest. 13.6. 1965 in Jerusalem (IL). (Religions)Philosoph, Schriftsteller, Übersetzer, Zionist, Herausgeber.

Weitere Literatur:

Materialien und Quellen:

Rolf Cantzen: Die Sozialphilosophie Martin Bubers – „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“ (Gespräch über M. Buber mit gesprochenen Originalzitaten Bubers). In/Auf: SWR2, 21.1.2021.

Geb. 12.10. 1878 in Groß-Enzersdorf (Niederösterreich, k.k. Österreich-Ungarn), gest. 16.9. 1936 in Wien. Jurist, christlichsoz. Politiker (NR-Abgeordneter, Landeshauptmann, Bundeskanzler)

Materialien und Quellen:

Eintrag auf geschichtewiki.wien; Eintrag in ÖBL; Eintrag auf: oecv.at;

Die letzte Rettungsmöglichkeit des Parlaments. Aus einem Gespräch mit K. Buresch (betr. Ständekammer). In: NWJ, 16. 10. 1929, S. 2;

(in preparation)

Geb. 1.4. 1866 in Empoli (Kgr. Italien), gest. 27.7.1924 in Berlin. Italienisch-österreichischer Komponist, Musikkritiker

Materialien und Quellen:

Eintrag in Enciclopedia Treccani; Rebecca Schmid: Visionärer Traditionalist. Online auf: https://www.steinway.com/news/features/ferruccio-busoni#

A. Rosenzweig: Ferruccio Busonis Sendung. (Zum 10. Todestag) In: Der Tag, 29.7. 1934, S. 12;

(PHK, in preparation)

Geb. 9.7.1873 in Innsbruck, gest. 5.7.1924 in Wien. Kritiker, Offizier, Redakteur, Schriftsteller.

Nach der Übersiedelung der Familie von Innsbruck nach Graz, wohin sein Vater, Historiker und Universitätsprofessor 1891 berufen wurde, legte Busson 1892 die Matura ab und begann 1893 ein Medizinstudium, das er jedoch nicht beendete. 1897 begann er eine Offizierslaufbahn, die er aber im Jahr 1900 aus gesundheitlichen Gründen abbrechen musste. Daraufhin fing er beim Neuen Wiener Tagblatt als Feuilletonist und Kritiker an und brachte es ab 1914 zu einer Anstellung als Redakteur. Im Ersten Weltkrieg arbeitete er als Kriegsberichterstatter des Kriegs-Pressequartiers auf dem Balkan, in Italien, Galizien und der heutigen Ukraine. Seit 1901 erschienen Gedichte, Balladensammlungen sowie ab 1903 novellistische Prosa und mit Arme Gespenster. Historische Novelle 1909 die ersten historisch ausgerichteten Erzählungen. Nach 1918 wandte er sich zunehmend phantastisch-utopischen, aber auch pazifistisch und idealistischen, an den Idealen der Französischen Revolution inspirierten Themen zu, zu dem auch ein Interesse für den Okkultismus trat, sichtbar etwa in F.A.E. (1920) und in Die Wiedergeburt des Melchior Dronte (1921).

Materialien und Quellen:

vgl. Eintrag in Lexikon Literatur in Tirol: hier.

Literatur:

Aneta Jachimowicz: Der historische Roman der Ersten Republik Österreich in ideologiekritischer Sicht. Würzburg 2018, 283-289 (zu M. Dronte-Roman); Dies.: Außerhalb des Kanons. Paul Busson und seine Zeitkommentare. In: Dies. (Hg.in): Gegen den Kanon – Literatur der Zwischenkriegszeit in Österreich. = Warschauer Studien zur Kultur- u. Literaturwissenschaft 10, Frankfurt/M. u.a. 2017, 429-447.

(work in progress…)

eig. Venetiana Taubner-Calderon, geb. am 21.11.1897 in Wien – gest. am 1.5.1963 in London; Schriftstellerin, Übersetzerin.

Ps.: Veronika Knecht, Veza Magd, Martha/Martin/ Martina Murner

Das Porträtmodul von Veronika Hofeneder finden Sie hier.

Über C.s Kindheit und Jugend ist nur wenig bekannt: Ihr leiblicher Vater stirbt früh, der Stiefvater, den ihre Mutter heiratet, um die finanzielle Versorgung ihrer Tochter zu gewährleisten, ist ein despotischer Patriarch und misshandelt Mutter und Tochter. Nach der Matura bildet sich C. autodidaktisch weiter, vor allem in der englischen Sprache, die sie bei Auslandsaufenthalten bei Verwandten in England perfektioniert. Sie arbeitet als private Englischlehrerin (kurzfristig auch angestellt an einem Privatgymnasium) und Übersetzerin. Bei einer Vorlesung von K. Kraus lernt sie 1924 den um acht Jahre jüngeren Chemiestudenten Elias Canetti kennen, den sie 1934 heiratet. C.s erste Publikation ist die am 29.6.1932 in der Arbeiter-Zeitung gedruckte Erzählung Der Sieger; weitere Erzählungen folgen, so auch jene Texte, die sie später zum Roman Die Gelbe Straße zusammenfügen wird. Alle diese Texte erscheinen unter verschiedenen Pseudonymen, was C. in einem späteren Brief mit der politischen Situation im Wien der Ersten Republik und den schwierigen Publikationsbedingungen für jüdische SchriftstellerInnen begründet.

In der 1932 von Wieland Herzfelde im Berliner Malik-Verlag herausgegebenen Anthologie Dreißig neue Erzähler des neuen Deutschland ist C. mit ihrer Erzählung Geduld bringt Rosen vertreten – die einzige Veröffentlichung eines ihrer Texte in Buchform zu Lebzeiten. Sie erwähnt in ihrer für die Malik-Anthologie verfassten Kurzbiographie noch zwei weitere Romane aus dieser Zeit, einen über Kaspar Hauser und einen mit dem Titel Die Genießer, die jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach verschollen sind. Im Dezember 1932 wird C. für ihre Kurzgeschichte Ein Kind rollt Gold im Rahmen eines Preisausschreibens der Arbeiter-Zeitung ausgezeichnet.

C.s Publikationsmöglichkeiten schwinden unter der Dollfuss-Diktatur zusehends, da viele links orientierte Zeitungen der Zensur unterliegen oder gänzlich verboten werden. Einige Kurzgeschichten kann sie 1933/34 noch in der elsässischen sozialistischen Zeitung Der Republikaner und in der Deutschen Freiheit, der letzten unabhängigen Tageszeitung Deutschlands, sowie in Herzfeldes Prager Exilzeitschrift Neue Deutsche Blätter unterbringen. C.s letzte Veröffentlichungen sind – nach heutigem Kenntnisstand – die Erzählung Hellseher in der Sonntagsbeilage des liberalen Wiener Tag sowie die Kurzgeschichten Das Schweigegeld und Geld, Geld, Geld in der Stunde, die sich bis zu ihrer Einstellung 1938 vehement gegen den Nationalsozialismus wendete. In dieser Zeit entstehen vermutlich auch die erst postum im Band Der Fund (2001) publizierten Texte Drei Viertel, Die Flucht vor der Erde und Der Seher, die zugunsten der Schilderung von Psychogrammen des Leidens an der Liebe auf zeit- und ortsgebundene sozialkritische Stoffe verzichten, sowie die längere Erzählung Pastora.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Österreich 1938 wird das Ehepaar C. zuerst delogiert und muss in einer Pension unterkommen, bevor ihm im November desselben Jahres die Flucht über Paris nach London gelingt. Hier schreibt C. 1939 innerhalb weniger Monate ihren Roman Die Schildkröten, dessen bereits zugesagte Veröffentlichung in einem englischen Verlag durch den Kriegsausbruch verhindert wird. Unter schwierigsten Bedingungen versucht C., die sich im Gegensatz zu ihrem Ehemann für eine (gemeinsame) Existenzgrundlage verantwortlich fühlt, auch mit anderen Tätigkeiten als schriftstellerischer Arbeit Geld zu verdienen. Erst nach Kriegsende sieht sie wieder die Möglichkeit, mit Literatur Geld zu verdienen; die Projekte mit ihren eigenen Texten scheitern aber alle. C. verlegt ihre Tätigkeiten daher zunehmend auf Rezensionen und Übersetzungen: 1947 erscheint gemeinsam mit Walther Puchwein ihre deutsche Übersetzung von Graham Greenes Erfolgsroman The Power and the Glory (dt. Die Kraft und die Herrlichkeit), und auch ihre eigenen Erzählungen überträgt sie ins Englische.

© Johanna Canetti

Als 1956 erneut einer ihrer Romane abgelehnt wird, vernichtet C. in einem Anfall von Verzweiflung den Großteil ihrer Manuskripte und stellt ihre eigene schriftstellerische Tätigkeit völlig ein. Sie widmet sich nun gänzlich der Betreuung der literarischen Werke ihres Mannes und fungiert für ihn als Managerin, Lektorin und intellektuelle Beraterin – was dieser jedoch lange Zeit gut zu verschweigen wusste.

Am 1.5.1963 stirbt C. nach einer Krankheit in London. Offizielle Todesursache  war gemäß Totenschein „Lungenembolie“, Mutmaßungen über einen möglichen Suizid reißen allerdings bis heute nicht ab.


Weitere Werke (Auswahl)

Der Oger (1991); Geduld bringt Rosen (1992); gem. mit Elias Canetti: Briefe an Georges (2006).

Quellen und Dokumente

Nachlass als Teil des Nachlasses von Elias Canetti an der Zentralbibliothek Zürich

Bestand V.C. im Tagblattarchiv der Wienbibliothek

Ein Kind rollt Gold. In: Arbeiter-Zeitung, 5.3.1933, S. 17, Der Fund. In: Arbeiter-Zeitung, 28.4.1933, S. 6, Der Zwinger. In: Arbeiter-Zeitung, 27.5.1933, S. 6, Die Große. In: Arbeiter-Zeitung, 25.6.1933, S. 16, Der Dichter. In: Arbeiter-Zeitung, 3.8.1933, S. 6, Der Verbrecher. In: Arbeiter-Zeitung, 31.8.1933, S. 6, Der Neue. In: Arbeiter-Zeitung, 23.11.1933, S. 6.

Literatur

Gregor Ackermann/Walter Delabar: Veza Canetti und Veza Magd. Eine bibliografische Grille. In: Juni 45/46. Magazin für Kultur und Politik. Thema: Schreibende Frauen. Ein Schaubild im frühen 20. Jahrhundert. Bielefeld 2011, 223–226; Vreni Amsler: Veza Canetti im Kontext des Austromarxismus. Würzburg 2017; Karin Ballauff (Hg.): Veza Canetti lebt. Sozialkritische Literatur zeitgenössischer Autorinnen. Wien 2013; Helmut Göbel (Gastredaktion): Veza Canetti. München 2002; Christa Gürtler und Sigrid Schmid-Bortenschlager: Veza Canetti. In: dies.: Erfolg und Verfolgung. Österreichische Schriftstellerinnen 1918–1945. Fünfzehn Porträts und Texte. Salzburg u. a. 2002, 229–238; Natalie Lorenz: „Wenn wir Künstler nicht Haltung haben, wer sollte es sonst?“ Eine Annäherung an das Werk von Veza Canetti. In: Margrid Bircken u. a. (Hg.): Brüche und Umbrüche. Frauen, Literatur und soziale Bewegungen. Potsdam 2010, 233–250; Eva M. Meidl: Veza Canettis Sozialkritik in der revolutionären Nachkriegszeit. Sozialkritische, feministische und postkoloniale Aspekte in ihrem Werk. Frankfurt am Main u. a. 1998; Gerhild Rochus: Veza Canetti: Die Schildkröten (1999). In: Bettina Bannasch und Gerhild Rochus (Hgg.): Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur. Von Heinrich Heine bis Herta Müller. Berlin u. a. 2013, 270–277; Julian Preece: The Rediscovered Writings of Veza Canetti. Out of the Shadows of a Husband. Rochester, NY 2007; Angelika Schedel: Sozialismus und Psychoanalyse. Quellen von Veza Canettis literarischen Utopien. Im Anhang: Versuch einer biografischen Rekonstruktion. Würzburg 2002; Ingrid Spörk und Alexandra Strohmaier (Hgg.): Veza Canetti. Graz und Wien 2005.

(VH)

Geb. 8.9. 1890 in Malé Svatoňovice (dt.: Klein Schwadowitz), k.k. Österreich (heute: Tschechische Republik), gest. 25.12.1938 in Prag (Praha). Schriftsteller, Übersetzer, Feuilletonist, Fotograf.

(in Vorbereitung)

geb. am 18.05.1891 in Ronsdorf (heute Stadtteil von Wuppertal, Nordrhein-Westfalen) – gest. am 14.09.1970 in Santa Monica, CA; Philosoph und Wissenschaftstheoretiker

C. wurde als Sohn des als Inhaber einer Weberei zu Wohlstand gekommenen Johannes S. C. 1891 in Ronsdorf (Wuppertal, Nordrhein-Westfalen) geboren. Seine Mutter Anna C. war die Tochter des Pädagogen und Herbartianers Friedrich Wilhelm Dörpfeld, deren Bruder, C.s Onkel, Wilhelm Dörpfeld ein bedeutender Archäologe und Mitarbeiter Heinrich Schliemanns. Nach dem Besuch des humanistischen Gymnasiums in Barmen (heute ebenfalls Wuppertal) und dem Abitur in Jena studierte C. Mathematik, Physik und Philosophie in Jena (u.a. beim Nobelpreisträger für Literatur 1908, dem Philosophen Rudolf Eucken, und insbes. beim Logiker Gottlob Frege) sowie in Freiburg (v.a. beim Neukantianer Heinrich Rickert). In Jena engagierte er sich u.a. im der Jugendbewegung zugehörigen Sera-Kreis um den bedeutenden Verleger Eugen Diederichs. Nach seinem Dienst als Soldat im Ersten Weltkrieg und der Heirat mit Elisabeth Schöndube 1917 setzte C. sein Studium der Philosophie in Jena fort und promovierte dort 1921 mit der Arbeit Der Raum bei dem Neukantianer Bruno Bauch. Im Anschluss an weitere philosophische Studien in Buchenbach bei Freiburg und der gemeinsam mit dem Physiker und Philosophen Hans Reichenbach 1923 organisierten Erlanger Tagung, die als erste Manifestation jener neuen wissenschaftlichen Philosophie gilt, die dann der Wiener Kreis ausarbeitete, kam es ab 1924 zu persönlichen Kontakten mit den seit Anfang der 1920er Jahre in Wien wirkenden Moritz Schlick und Otto Neurath. An der Universität Wien erfolgte 1926 auch C.s Habilitation in Philosophie mit seinem ersten Hauptwerk Der logische Aufbau der Welt. Hier wirkte C. dann bis 1931 zunächst als Privatdozent, seit 1930 als außerordentlicher Professor. 1931 bis 1935 lehrte C. als außerordentlicher Professor für Naturphilosophie an der Deutschen Universität in Prag, wo er sein zweites Hauptwerk Logische Syntax der Sprache fertigstellte. Seit 1929 von seiner Frau geschieden, mit der er vier Kinder hatte, heiratete C. 1933 Elisabeth Ina Stögren. In seiner Abwesenheit während einer Gastprofessur in Harvard mit Wirkung ab 1936 zum Ordinarius in Prag ernannt, emigrierte C. aufgrund der sich radikalisierenden politischen Lage bereits im Dezember 1935 in die USA, wo er bis 1952 an der Universität Chicago, sodann bis 1954 am Institute for Advanced Study in Princeton und zuletzt bis 1961 als Nachfolger seines verstorbenen Freundes Hans Reichenbach auf dessen Lehrstuhl an der University of California in Los Angeles (UCLA) lehrte. Seit 1941 amerikanischer Staatsbürger, erfuhr C. 1963 mit der Veröffentlichung des Bandes The Philosophy of Rudolf Carnap in der vom legendären Philosophen und methodistischen Theologen Paul Arthur Schilpp seit 1939 herausgegebenen und bis zum heutigen Tag fortgesetzten Reihe Library of Living Philosophers mit eine der größten Ehrungen in der Welt der akademischen Philosophie. 1964 schied C.s an schweren Depressionen leidende Frau Ina freiwillig aus dem Leben. Pläne, seinen Lebensabend in Deutschland zu verbringen, konnten nicht mehr realisiert werden: Nach kurzer Erkrankung starb C. 1970 in Santa Monica, Kalifornien.

Als neben dem Philosophen Schlick und dem Soziologen Neurath führender Kopf des Wiener Kreises und ein Hauptvertreter des logischen Empirismus galt C.s philosophisches Hauptinteresse der Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache (so der Titel eines Aufsatzes von 1931/32). Zwar wurden andere als erkenntnis- oder wissenschaftstheoretische sowie sprachphilosophische und logische Themen im Wiener Kreis selten diskutiert, was die in der Rezeption nach dem Zweiten Weltkrieg lange Zeit vorherrschende Auffassung von dessen unpolitischer, ja weltanschaulich dezidiert neutraler Position nährte. Doch verstanden die Mitglieder im Allgemeinen und im Besonderen C. als Vertreter von deren linkem Flügel die geteilten philosophischen Absichten dezidiert als Teil eines umfassenderen Programms zur Erneuerung der Gesellschaft, und C.s Beitrag wurde von zeitgenössischen politischen Theoretikern wie Otto Bauer, dem Begründer des Austromarxismus, auch explizit in diesem Sinne verstanden und – mit einem von C. selbst geprägten Ausdruck – als „methodischer Materialismus“ begrüßt (so Bauer in einer Festrede zur Würdigung von Max Adler 1933). Von Beginn seiner Wiener Zeit an stand C. mit Künstlern und Kunst- bzw. Architekturtheoretikern des Bauhauses (v.a. László Moholy-Nagy, dessen Frau Lucia Moholy sowie Sigfried Giedion, aber auch Hannes Meyer, Wassily Kandinsky und Josef Albers) und der Neuen Sachlichkeit in Verbindung. Im Vorwort zum Logischen Aufbau der Welt (1928) attestierte C. seiner philosophischen Haltung „eine innere Verwandtschaft … mit der geistigen Haltung, die sich gegenwärtig auf ganz anderen Lebensgebieten … in Strömungen der Kunst, besonders der Architektur, … des persönlichen und gemeinschaftlichen Lebens, der Erziehung, der äußeren Ordnungen … (auswirkt)“ (Carnap 1928, zit. n. Limbeck-Lilienau/Stadler 2015, 283). Mit Neurath und unter Mitarbeit des Mathematikers und Philosophen Hans Hahn sowie des Philosophen Herbert Feigl verfasste C. – als „Dankschrift“ dafür, dass Schlick einen Ruf nach Bonn abgelehnt und sich für den Verbleib in Wien entschieden hatte – das Manifest Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis (1929). Darin affirmierten die Autoren unzweideutig (für den Adressaten Schlick sogar allzu vehement) den Zusammenhang zwischen der vom Kreis propagierten, titelgebenden wissenschaftlichen Weltauffassung einerseits und der Notwendigkeit aktiver politischer Beteiligung an den zeitgenössischen gesellschaftlichen Kontroversen andererseits, wie sie u.a. auch durch Vortragstätigkeit in versch. Einrichtungen des ‚Roten Wien‘, z.B. an den Volkshochschulen, gegeben war. Über den Literaturagenten und -kritiker Ernst Polak, einen Dissertanten Moritz Schlicks, der aus dem Prager Literatenkreis um Franz Kafka stammte und auch bei C. Vorlesungen hörte, wirkte auch C. auf jene Literaten seiner Zeit, die wie Hermann Broch und Robert Musil den aktuellen Entwicklungen der Philosophie interessiert folgten, und über Polaks Studentin, die spätere Schriftstellerin u. Literaturkritikerin Hilde Spiel, indirekt weiter auf den österreichischen Literaturbetrieb der Nachkriegszeit. C. seinerseits bezog in seinem Buch Scheinprobleme in der Philosophie (1928) eines der Beispiele für seine These, dass eine Aussage sinnvoll (weil „sachhaltig“) sein könne, ohne empirisch überprüft werden zu können, aus Leo Perutz’ Roman Der Meister des jüngsten Tages (1923). Er war also bei aller scharfen Kritik und Zurückweisung der Metaphysik in der Philosophie zugleich sehr aufgeschlossen für literarische Ausdrucksweisen und deren möglichen Erkenntniswert.


Hauptwerke in deutscher Sprache

Scheinprobleme in der Philosophie. Das Fremdpsychische und der Realismusstreit (1928); Der logische Aufbau der Welt (1928), Logische Syntax der Sprache (1934); Einführung in die symbolische Logik, mit besonderer Berücksichtigung ihrer Anwendungen (1954); Induktive Logik und Wahrscheinlichkeit (1959).

Weitere Werke (Auswahl)

Der Raum. Ein Beitrag zur Wissenschaftslehre (1922; Diss. Jena 1921);Physikalische Begriffsbildung (1926); (mit Hans Hahn und Otto Neurath) Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis (1929); „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“, in: Erkenntnis 2 (1931/32), 219–241; „Über Protokollsätze“, in: Erkenntnis 3 (1932/33), 215–228; Die Aufgabe der Wissenschaftslogik (1934); Philosophy and Logical Syntax (1935); Foundations of Logic and Mathematics (1939, dt. 1973); Science and Analysis of Language (1939); Introduction to Semantics (1942); „The Two Concepts of Probability“, in: Philosophy and Phenomenological Research 5 (1945), 513–532; Meaning and Necessity: A Study in Semantics and Modal Logic (1947); Logical Foundations of Probability (1950); The Continuum of Inductive Methods (1952); „Meaning and Synonymy in Natural Languages“, in: Philosophical Studies 6 (1955), 33–47; „The Methodological Character of Theoretical Concepts“, in: Herbert Feigl/Michael Scriven (Hg.), The Foundations of Science and the Concepts of Psychology and Psychoanalysis (1956), 38- 76; „Beobachtungssprache und theoretische Sprache“, in: Dialectica 12, Nr. 3/4 (1958 [1959]), 236–248; „The Aim of Inductive Logic“, in: Logic, Methodology, and Philosophy of Science, hg. v. Ernest Nagel (1962), 303–318; „Intellectual Autobiography“, in: The Philosophy of Rudolf Carnap, hg. v. Paul Arthur Schilpp (1963), 1–84 (dt. Übers.: Mein Weg in die Philosophie [1993]); Philosophical Foundations of Physics. An Introduction to the Philosophy of Science, hg. v. Martin Gardner (1966, dt. 1969); Studies in Inductive Logic and Probability. Bd. 1, hg. v. Rudolf Carnap und Richard Jeffrey (1971), Bd. 2, hg. v. Richard Jeffrey (1980); Untersuchungen zur allgemeinen Axiomatik, hg. v. Thomas Bonk und Jesus Mosterin (1999).

Quellen und Dokumente

The Collected Works of Rudolf Carnap. General Editor Richard Creath. Oxford University Press 2015 ff.:  http://rudolfcarnap.org/

Nachlass Rudolf Carnap: Archives of Scientific Philosophy, University of Pittsburgh, Special Collections Department

Literatur

Logic and Language. Studies Dedicated to Professor Rudolf Carnap on the Occasion of his Seventieth Birthday, hg. v. B. H. Kazemier und D. Vuysje (1962); The Philosophy of Rudolf Carnap, hg. v. Paul Arthur Schilpp (1963) (= Library of Living Philosophers, 11); Mulder, Henk, „Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis“, in: Journal of the History of Philosophy 6 (1968), 368–390; Krauth, Lothar, Die Philosophie Carnaps (1970); In Memory of Rudolf Carnap. PSA 1970. Proceedings of the 1970 Biennial Meeting Philosophy of Science Association, hg. v. Roger C. Buck und Robert S. Cohen (1971); Rudolf Carnap, Logical Empiricist. Materials and Perspectives, hg. v. Jaakko Hintikka (1975); Jacob, Pierre, L’Empirisme logique: Ses antécédents, ses critiques (1980); Erkenntnis Orientated: A Centennial Volume for Rudolf Carnap and Hans Reichenbach, hg. v. Wolfgang Spohn (1991); Wien – Berlin – Prag. Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie. Aus Anlaß der Centenarien von Rudolf Carnap, Hans Reichenbach und Edgar Zilsel, hg. v. Rudolf Haller und Friedrich Stadler (1993); Logic, Language, and the Structure of Scientific Theories. Proceedings of the Carnap-Reichenbach Centennial, University of Konstanz 1991, hg. v. Wesley Salmon und Gereon Wolters (1994); Stadler, Friedrich, Studien zum Wiener Kreis. Ursprung, Entwicklung und Wirkung des Logischen Empirismus (1997); Sigmund, Karl, „Musil, Perutz, Broch. Mathematik und die Wiener Literaten“, in: Fiction in Science – Science in Fiction. Zum Gespräch zwischen Literatur und Wissenschaft, hg. v. Wendelin Schmidt-Dengler (1998), 27–39; Mormann, Thomas, Rudolf Carnap (2000); Le Cercle de Vienne: doctrines et controverses, hg. v. Jan Sebestik und Antonia Soulez (2001); The Vienna Circle and Logical Empirism – Re-Evaluation and Future Perspectives, hg. v. Friedrich Stadler (2003); Verley, Xavier, Carnap, le symbolique et la philosophie (2003); Carnap Brought Home: The View from Jena, hg. v. Carsten Klein und Steve Awodey (2004); Carnap aujourd’hui, hg. v. François Lepage, Michel Paquette und François Rivenc (2006); L’Âge d’or de l’empirisme logique. Vienne-Berlin-Prague, 1929-1936, hg. v. Christian Bonnet und Pierre Wagner (2006); Carus, André W., Carnap and Twentieth-Century Thought. Explication as Enlightenment (2007); The Cambridge Companion to Carnap, hg. v. Michael Friedman und Richard Creath (2007); The Cambridge Companion to Logical Empirism, hg. v. Alan Richardson und Thomas Uebel (2007); Schmitz, François, Le Cercle de Vienne (2009); Vertreibung, Transformation und Rückkehr der Wissenschaftstheorie. Am Beispiel von Rudolf Carnap und Wolfgang Stegmüller, hg. v. Friedrich Stadler (2010); Bouveresse, Jacques, „Carnap et l’héritage de l’Aufklärung“, in: Ders., Essais VI. Les lumières des positivistes (2011) 55–133; Chalmers, David, Constructing the World (2012); Rudolf Carnap and the Legacy of Logical Empiricism, hg. v. Richard Creath (Vienna Circle Yearbook 16) (2012); Carnap’s Ideal of Explication and Naturalism, hg. v. Pierre Wagner (2012); Der Wiener Kreis. Ursprung, Entwicklung und Wirkung des Logischen Empirismus im Kontext, hg. v. F. Stadler (2015); Der Wiener Kreis. Texte und Bilder zum Logischen Empirismus, hg. v. Christoph Limbeck-Lilienau und Friedrich Stadler (2015).

Einträge u.a. in:

Internet Encyclopedia of Philosophy, Encyclopedia Britannica, wien.gv.at, Bibiotheca Augustana, rheinische-geschichte.lvr.de, philosophynow.org, carnap.org.

Trivia

An der Ruhr-Universität Bochum finden seit 2007 jährlich die Rudolf-Carnap-Lectures statt.

(ARB)