Brod, Max

geb. am 27.5.1884 in Prag – gest. am 20.12.1968 in Tel Aviv; Schriftsteller, Kritiker, Herausgeber, Dramaturg, Komponist, Übersetzer

Ps.: Prokop, Martin Salvat

Der Sohn eines Prager Bankbeamten und einer musikbegeisterten Mutter wuchs gemeinsam mit seinen jüngeren Geschwistern Otto und Sophie in gesicherten bürgerl. Verhältnissen in Prag auf, wo er das Stefansgymnasium absolvierte und danach ein Jura-Studium mit der Promotion 1907 abschloss. Schon während der Studienzeit lernte B. anlässl. eines Schopenhauer-Vortrags F. Kafka kennen, befreundete sich mit ihm, aber auch mit Paul Leppin, Oskar Baum, Ludwig Winder u.a.m. Mit dem Novellen-Bd. Tod der Toten trat er 1906 als Schriftsteller in Erscheinung, nachdem er bereits 1905 in der Zs. „Die Muskete“ erste Texte veröffentlicht hatte. Aus der Schul- und Studienzeit datieren auch die Freundschaften mit Willy Haas u. Franz Werfel, dessen Gedichte B. um 1910 an die Wr. Ztg. Die Zeit vermittelte. Nach der Promotion arbeitet B. als Finanz-, Post- u. Versicherungsbeamter, bevor er Theater- u. Musikkritiker beim „Prager Tagblatt“ wird. Die 1908 bzw. 1909 veröffentl. Romane Schloß Nornepygge und Ein tschechisches Dienstmädchen begründeten B.s. Ruf als Schriftsteller über Prag hinaus. Im Sept. 1909 begleitete er Kafka zu einer Flugschau nach Brescia; daraus resultierte Kafkas erste Veröffentlichung: Die Aeroplane von Brescia; 1910 las er im Berliner „Neuen Club“, in dem sich express. Autoren aus dem „Sturm“-Kreis (G. Heym u.a.) trafen. In diese Zeit fallen auch Theaterstücke wie z.B. Die Höhe des Gefühls (1910), die u.a. in der Schaubühne vorabgedruckt wurden. Zwischen 1909 und 1911 hielt Martin Buber in Prag Vorträge, die Brod stark beeindruckten, insbes. seine Drei Reden über das Judentum (publ. 1911) u. seine vorher indifferente Haltung zum Judentum modifizierten. Fortan erhalten jüd. Themen u. Aspekte für sein Schreiben größeres Gewicht; B. interessiert sich für den Zionismus, hält intens. Kontakte zur Redaktion der Zs. Selbstwehr (1907-1939), dem jüd. Studentenverband Bar Kochba u. wird nach 1918 im Jüdischen Nationalrat der Tschechoslowak. Rep. als stv. Vorsitzender tätig. Dabei u. in zahlr. Memoranden setzt er sich vehement, wenn auch nur mit Teilerfolgen, für die Anerkennung der jüdischen Nationalität in der ersten tschech. Verfassung von 1920 ein (Vassogne, 132-145). Erste Station auf diesem längeren Weg war bereits der Roman Jüdinnen (1911), zugleich sein erster zum Thema Weiblichkeit u. Judentum. Lobten Besprechungen auch die Gestaltung des Schicksals jüd. Bürgermädchen, „die für keinen anderen Zweck als für die Ehe erzogen wurden“ (Jüdischen Volkstimme, Brünn) so erkannten sie die eigentl. Stoßrichtung meist nicht, d.h. Zshg. von kulturellen Rollenbildern u. neurotischen Pathologien, das Westjüdinnen-Syndrom sichtbar machen zu wollen. K. Kraus dagegen äußerte sich abfällig über den Roman, nicht zuletzt deshalb, weil B. auf dem Höhepunkt der Polemik zwischen A. Kerr u. K. Kraus zugunsten Kerrs Stellung bezogen hat, woraufhin B. von Kraus als „empfindsamer Postbeamter“ verunglimpft wurde (F. H.324,56 bzw. F.H. 326,36). B. hat das Auslösen dieser Polemik später bedauert, aber sein nicht unproblemat. Eintreten für Kerr mit dem Verweis darauf, er habe „sein Judentum nie verleugnet“ (SL,56), verteidigt.

1912 trat B. auch als Komponist und Pianist an die Prager Öffentlichkeit, 1913 gründete er die Zs. Arkadia. Jahrbuch für Dichtung, die sich dezidiert gegen Kraus richtete u. zugleich ein Versuch war, sich ein eigenes Sprachrohr für literar. Debatten zu schaffen u. Stimmen um sich zu scharen wie z.B. den jungen Lyriker F. Janowitz. In ihr publiz. neben Kafka (ED Das Urteil) O. Baum, F. Blei, H.E. Jacob, H. Janowitz, M. Mell, O. Pick, O. Stoessl, R. Walser, F. Werfel u. A. Wolfenstein. Den Juli 1914 erlebte B. in Prag in bedrückter Stimmung, ebenso seine Einberufung. Zuvor versuchte er, so in seiner Autobiogr., gemeinsam mit F. Werfel u. M. Wertheimer T.G. Masaryk um eine Vermittlung über Italien zu bitten, um den Kriegsausbruch in letzter Sekunde abzuwenden (SL, 88). Vom Militärdienst befreit, konnte B. den Krieg mit literar. u. publizist. Arbeit unbeschadet überstehen: 1915 erschien der erfolgr. Roman Tycho Braches Weg zu Gott, 1916 arb. B. an Bubers Zs. Der Jude mit, u.a., mit Blick auf die Thematik des Ostjudentums. In dasselbe Jahr datiert auch die Begegnung mit dem slowak. Komponisten Leoš Janáček (1854-1928), dessen Werk B. durch Übersetzungen zum internat. Durchbruch verhelfen wird u. eine Annäherung an die tschechoslowak. Kultur mit sich brachte. Den Beginn macht dabei die Übers. seiner Oper Jeji pastorkyña/Ihre Ziehtochter(UA 1911), die trotz (musikalischer) Eigensinnigkeit (Kanner) unter dem Titel Jenufa mit großem Erfolg am 16.2.1918 in Wien mit Maria Jeritza in der Hauptrolle aufgeführt wurde. J. Korngold verglich die „aus wirklichkeitstreuer Rede“ entwickelte Musik mit jener Debussys und Mussorgskys u. bescheinigte der Auff. „veristische Wirkungen“. Kontrovers diskutiert wurde 1918 auch sein Drama Eine Königin Esther, wobei Brods Kulturzionismus auch innerjüdisch, z.B. in der Jüdischen Korrespondenz (8.8.1918), umstritten war. 1919 erhielt B. den Fontane-Preis, nachdem im selben Jahr (mit Impressum 1918) sein utopischer, kriegskrit. u. zugleich anarchisch-ekstatischer Roman Das große Wagnis erschienen war. 1920 folgte mit Die Fälscher wieder ein auf die politisch-sozialen Wandlungen nach dem Krieg Bezug nehmendes Schauspiel, das u.a. Camill Hoffmann in der Neuen Schaubühne enthusiast. begrüßte, sowie der programmat. Essay Sozialismus und Zionismus, der auf der Basis von B.s. Verankerung in der Hapoel Hazair mit Bezug auf J. Popper-Lynkeus‘ Nährpflicht-Studie sowie den einsetzenden Palästina-Kolonisierungsdebatten eine Re-Definierung des Verhältnisses von Judentum/Zionismus, Marxismus u. Sozialismus unternahm. Große Resonanz erzielte danach auch die Schrift Christentum, Heidentum, Judentum (1921), die u.a. H. Bahr zu einer ambivalenten Besprechung im NWJ sowie in der programmkathol. Zs. Das Neue Reich veranlasste. 1922 folgte der Liebesroman Franzi oder Eine Liebe zweiten Ranges, die J. Urzidil als Wendepunkt weg von einer durch Reflexionsüberhang geprägten Romanprosa begrüßte, ihm wiederum Leben mit einer Göttin (1923) sowie der auf Rollenimaginationen fokussierte Roman Die Frau, nach der man sich sehnt. In das Jahr 1923 fiel auch B.s. Entdeckung von J. Hašek, über dessen Der brave Soldat Schwejk er noch vor der Buchveröffentlichung einen Essay verfasste. (ebf. 1923). 1924 wurde Brod, der schon vorher am PTBl. Mitarbeitete, dessen Kulturredakteur (bis 1936), eine Erfahrung, die er in Prager Tagblatt. Roman einer Redaktion (1968) aufarb. wird. Der Rückzug aus der kulturpolit. Arbeit ab 1921 ließ insges. die literar. Arbeit stärker in den Vordergrund treten, wobei jedoch seine kulturzionist., an Achad Ha’am angelehnten Positionen auch in diese Eingang fanden, inbes. in Reubeni, Fürst der Juden (1925), aber auch in Die Frau, die nicht enttäuscht (1933) u. in versch. essayist. Schriften. 1925 markiert durch die Hg. von Kafkas Prozess einen weiteren Wendepkt. In der Biogr. Bs, dem bis 1927 weitere folgten u. B.s. Status als Retter u. Verwalter des Werks von K. begründete, einschließlich problemat. Deutungsversuche wie z.B. im Zauberreich der Liebe (1928), in dem die mit K. identifizierbare Hauptfigur zionist. Züge aufweist. 1931 legt B. mit Stefan Rott oder Das Jahr der Entscheidung einen Roman über die schwül-dekadente Atmosphäre im Prag des Jahres 1914 vor, die den literar. Zeitdiagnosen seit Th. Manns Zauberberg mitverpflichtet war. In den 1930er Jahren folgten Heine- und Kafka-Biographien sowie der prägnante Annerl-Roman (1937), der Formen von Abhängigkeit, u.a. von Kokain, gestaltete. Mit dem Erstarken des NS gerät B. in einen tiefen Zwiespalt hinsichtl. seiner Haltung der dt. Sprache u. Kultur gegenüber, die er in den Begriff der ›Distanzliebe‹ fasste. 1939 flüchtete B. nach Palästina, wo er als Dramaturg am Habima-Theater bis zu seinem Tod tätig war u. seine literar. und editor. Arbeit fortsetzte, u.a. mit der wirkungsmächtigen retrospektiven Konstruktions-Schrift Der Prager Kreis (1966) sowie mit einer Reihe von z.T. nostalgischen Prag-Romanen wie Der Sommer, den man sich zurückwünscht (1952) oder Die Rosenkoralle (1961).


Weitere Werke (Auswahl)

Tagebuch in Versen (1910); Arnold Beer (1912); Die Retterin (1914); Das gelobte Land (1917); Die Einsamen (1919); Im Kampf um das Judentum (1920); Das Buch der Liebe. Gedichte (1921); Klarissas halbes Herz (1923); Sternenhimmel (1923); Zionismus als Weltanschauung (1925, gem. mit F. Weltsch); Lord Byron kommt aus der Mode (1929); Rassentheorie und Judentum (1934); H: Heine (1934); Das Diesseitswunder oder Die jüdische Idee und ihre Verwirklichung (1939); Diesseits und Jenseits (1947); Galilei in Gefangenschaft (1948)

Quellen und Dokumente

Die Volksversammlung (aus dem Roman Jüdinnen). In: Der Sturm (1911), H. 61, S. 485-487, Der Prager „Schwejk“. In: Prager Tagblatt, 24.1.1928, S. 6.

M. B. Tod den Toten. In: Prager Tagblatt, 29.12.1906, S. 9, Ein neues Prager Dichterbuch (mit dem Gedicht Der Vater). In: Prager Tagblatt, 18.6.1913, S. 7, Richard Jerie: Neues von M. B. In: Pilsner Tagblatt, 20.7.1913, S. 13, Hedwig Kanner: „Jenusa“. In: Der Morgen, 18.2.1918, S. 4, Julius Korngold: Hofoperntheater. („Ihre Ziehtochter“, Oper von Gabriele Preiß, Musik von Leo Janeczek.). In: Neue Freie Presse, 17.2.1918, S. 1-4, Hermann Menkes: Der Höhlenstaat (Rez. zu Das größere Wagnis). In: Neues Wiener Journal, 1.4.1919, S. 3, Johannes Urzidil: Neue Bücher (Rez. zu Franzi). In: Prager Tagblatt, 6.1.1923, S. 20, Hermann Menkes: Ein Roman der Eifersucht. Neue Erzählungsliteratur (Rez. zu Leben mit einer Göttin). In: Neues Wiener Journal, 20.3.1924, S. 5, Oskar Maurus Fontana: M. B. In: Radio Wien (1936), H. 39, S. 4.

Literatur

M. Pazi: Max Brod. In: Die neue Rundschau. H.1/1979; Dies.: Max Brod – von Schloß Nornepygge zu Galilei in Gefangenschaft (ED 1985); In: Dies.: Staub und Sterne. Aufsätze zur deutsch-jüdischen Literatur. Göttingen 2001, 40-63; Dies. (Hg.): Max Brod 1884-1984. Frankf./M. u.a. 1987; A. Herzog: Max Brod. In: Metzler Lexikon der Deutsch-Jüdischen Literatur (2000, 22009), 90-93; C. Vassogne: Max Brod in Prag: Identität und Vermittlung. = Cond. Iudaica, Tübingen 2009; A. S. Mirecka: Max Brods Frauenbilder. Im Kontext der Feminitätsdiskurse einiger anderer Prager deutscher Schriftsteller. Frankfurt/M. u.a. 2014; A.-D. Ludewig; St. Höhne; J. Schoeps, (Hgg.): Max Brod (1884–1968). Die Erfindung des Prager Kreises. Wien 2016; Ulrike Schneider: Der Erste Weltkrieg und das ‚Ostjudentum‘. Westeuropäische Perspektiven am Beispiel von Arnold Zweig, Sammy Gronemann und Max Brod. In: Medaon – Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung, 10 (2016), 18, S. 1–14, E. Grabovszki: Kafka geht in die Luft. Literaturkritik.de (2003).

Eintrag bei hagalil.com.

(PHK)