Csokor, Franz Theodor

geb. am 6.9.1885 in Wien – gest. am 5.1.1969 in Wien; Schriftsteller, Kritiker, Dramaturg, Regisseur

Aus einer gutbürgerlichen Familie stammend, die serbische, kroatische, ungarische, deutsche und jüdische Wurzeln besaß, wuchs C. von 1890 bis 1905 in Mödling auf, wo er auch das Gymnasium besuchte u. 1905 die Matura ablegte. Das Studium der Kunstgeschichte und Germanistik, das er an der Univ. Wien aufnahm, brach C. zugunsten seiner literar. Interessen, vornehmlich dramatischer Natur, ab. 1912 erschien sein erster Gedichtband Die Gewalten, 1913-14 verbrachte er in St. Petersburg, wo sein Einakter Feuer uraufgeführt wurde u. lernte dort das Werk des russ. avantgard. Dramatikers u. Theoretikers des Monodramas Nikolaj Evreinoff kennen. Dessen Stück Die Kulissen der Seele führte Csokor später in Wien auf u. gab es 1920 in Buchform heraus. Den Ersten Weltkrieg verbrachte C. im Kriegspressequartier, wo er seiner Recherche nach neuen dramat. Ausdrucksformen im express. Kontext nachgehen konnte. Davon zeugen v.a. das 1916 abgeschlossene Stück Der Baum der Erkenntnis, das typologische Züge trägt und von Kokoschka und dessen Mörder, Hoffnung der Frauen beeinflusst wirkt, aber auch mit einer mythisch-sozialen Wandlungsutopie ausklingt, ferner der Gedichtbd. Der Dolch und die Wunde (1917). Auch das nächste Stück, Die rote Straße (1917, UA 1921), für C. ein „Standardwerk des deutschen Expressionismus“, griff verwandte Themen, allen voran die als Kampf dargestellte und zugleich ins Soziale getauchte Geschlechterpolarität auf; C. Hauser, der Cskokor 1918 kennenlernte und ihm lebenslang freundschaftlich verbunden blieb, schuf dazu das Bühnenbild. Während A. Polgar den Autor aufgrund der vielen „Finsternisse des Lebens“ in diesem Stück als „Musikanten der Schwärze“ bezeichnete, lobten der AZ-Kritiker O. Koenig u.a. die korrodierende Macht des Geldes und P. Friedländer in der Roten Fahne die pulsierende dramatische Kraft.

1919 hielt sich Csokor zwei Mal in Berlin auf, wohnte einer Auff. von E. Tollers durch K.H. Martin inszenierten Wandlung im Theater ›Tribüne‹ bei; 1920 folgte der Essay Der Expressionismus als Regieproblem. 1922 wurde C. unter Rudolf Beer Dramaturg am Raimundtheater u. inszeniert G. Kaisers Kanzlist Krehler, die u.a. R. Musil positiv wahrnahm sowie 1923 Friedrich Wolfs expr. Stück Das bist du, das Polgar in der Weltbühne hymnisch besprach. 1924-25 folgten weitere bemerkenswerte, von C. mitverantwortete Inszenierungen u. Aufführungen wie F. Molnárs Liliom, G. Kaisers Nebeneinander u. E. Tollers Hinkemann,  1925 stellte er seine Erstfassung der Ballade von der Stadt (1928) fertig, Versuch einer Synthese aus Welttheater und Kollektivdrama (Klauhs), zugleich auch sichtbares Abrücken von seinen express. Produktionen. Ab 1926 finden sich daher in C.s. Inszenierungsrepertoire Stücke wie Anja und Esther von Klaus Mann oder Bürger Schippel von Carl Sternheim; 1927 wohnt C. der legendären E. Piscator-Inszenierung von Tollers Hoppla, wir leben! in Berlin bei, beschließt jedoch 1928, trotz einem in der Kritik gefeierten Versuch Büchners Woyzeck zu vollenden, angesichts der zunehmenden Polarisierung u. Politisierung der Theaterlandschaft sich von der Regiearbeit zurückzuziehen. Zunächst arbeitet er an einem Wien-Romanprojekt mit dem Titel Die Stadt neben dem Strom, von dem der Prolog Gesang von Wien im Tag erscheint. Alsbald verlegte er sich aber auf histor. Stoffe und begann an seinem Büchner-Drama Die Gesellschaft der Menschenrechte zu arbeiten (1929, UA 1931), dem schon 1930 Besetztes Gebiet folgte und 1936 sein wohl erfolgreichstes Stück Dritter November 1918, das 1937 seine UA am Burgtheater hatte. Zugleich interessierte sich C. seit der erfolgreichen Auff. von Ö. v. Horvaths Die Bergbahn in Berlin (1929) für den jungen Autor, woraus sich in der Folge eine Freundschaft, begleitet von intensivem briefl. Austausch bis H.s. Tod 1938, entwickelte.

1933 unterstützte C. am PEN-Kongress in Dubrovnik die Resolution gegen die NS-Gleichschaltungspolitik u. zählte, wie Briefe an Lina Loos und Ludwig Ullmann bezeugen, zu den überzeugtesten Kritikern der Vorgänge in NS-Deutschland, woraufhin seine Bücher verboten und Stücke nicht mehr aufgeführt werden durften. 1934 Reise nach Südfrankreich, wo sich C. mit exilierten Freunden wie F. Bruckner, W. Hasenclever, H. Mann u. E.A. Rheinhardt trifft. Unmittelbar nach dem Anschluss Österreichs flüchtet C. noch im März 1938 nach Polen, wo er aufgr. der Übersetzung von Z. Krasińskis  Ungöttlicher Komödie, (1936; Nie-Boska komedia, 1833, einem Schlüsselwerk der poln. Romantik) Freunde gewonnen hatte, von der Polnischen Akademie der Literatur ausgezeichnet wird u. seine Dramen Gottes General (über I. v. Loyola) bzw. Jadwiga 1939 fertigstellen kann. Nach dem deutschen Überfall flüchtet C. nach Bukarest u. anschließend nach Jugoslawien, wo er 1941 wieder auf die vom Ustascha-Kroatien besetzte Insel Korčula weiterflüchtet. Schon 1940 erschien bei A. de Lange sowie glzt. auch auf Englisch bei Secker&Warburg (Ld.) sein erster Fluchtbericht Als Zivilist im polnischen Krieg / A Civilian in the Polish War (1947 erweitert zu Als Zivilist am Balkan). Auf Korčula, von dem er 1943 nach Bari ins befreite südital. Gebiet kam, um sich in den Dienst der BBC zu stellen, entstand Kalypso, das im Juni 1946, unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Wien, im Burgtheater/Ronacher uraufgef. wurde. 1947 folgten auch die ebf. bereits im Exil entst. Stücke Wenn sie zurückkommen sowie Der verlorene Sohn. In den Nachkriegsjahren war C. maßgeblich in die Reorganisation des österr. P.E.N. eingebunden, zu dessen Präsident er 1947 auch gewählt u. bis Mitte der 1950er Jahre delikate bzw. kontrovers diskutierte Aufnahmegesuche von Mitgliedern in Abklärung mit dem Internat. P.E.N.-Zentrum in London, d.h. v.a. R. Neumann, zu behandeln hatte. 1953 erhielt C. den Literaturpreis der Stadt Wien, 1955 den Österr. Staatspreis, zeitgleich mit seinem Zeit-Roman Der Schlüssel zum Abgrund.


Weitere Werke

Der große Kampf. Ein Mysterienspiel in acht Bildern (1915), Die Sünde wider den Geist. Tragödie (1918); Schuß ins Geschäft (1924), Ewiger Aufbruch. Balladen (1926); Die Weibermühle. Zauberspiel (1932), Gewesene Menschen (1932); Nicht da, nicht dort (Bühnenmanuskr., 1937), Über die Schwelle. Erzählungen (1937); Medea postbellica (Bühnenmanuskr., 1948), Der zweite Hahnenschrei. Sechs Erzählungen (1954), Olymp und Golgatha (enth.: Kalypso, Caesars Witwe, Pilatus, 1954), Die Erweckung des Zosimir (1960)

Quellen und Dokumente

F.Th. Csokor: Gesang von Wien. In: Der Tag, 8.1.1928, S. 9; B.: „Woyzeck.“ F. Th. C. ergänzt Georg Büchners Tragödienfragment. Uraufführung im Raimundtheater. In: Reichspost, 18.2.1928, S. 9, Friedrich Schreyvogel: „Woyzeck.“ Zur Aufführung des Büchnerschen Fragments in Raimundtheater. In: Wiener Neueste Nachrichten, 20.2.1928, S. 3, Alfred Zohner: „Gesellschaft der Menschenrechte.“ In: Wiener Zeitung, 4.10.1929, S. 5f., Schiller-Marmorek. In: Das Kleine Blatt, 25.3.1931, S. 9, M-r.: Hörspiel. In: Arbeiter-Zeitung, 29.12.1933, S. 7, F. Th. Csokor: Richard Billinger. In: Neue Freie Presse, 9.11.1934, S. 26; Oskar Maurus Fontana: F. Th. C. Eigenvorlesung am Sonntag, 4. April, 16.55 Uhr. In: Radio Wien, 2.4.1937, S. 4f.

Auf fremden Straßen. Unveröffentlichte Eigenaufnahme der Österreichischen Mediathek [Online verfügbar], Zu Gast bei F. Th. C. Dokumentation über das Wirken F. Th. C.s. (1963) [Online verfügbar]

Nachlass: Teilnachlass in der Wien-Bibliothek, Eintrag zu den Beständen der OeNB.

Literatur

P. Wimmer: Der Dramatiker F. Th. Csokor. Innsbruck 1981; B. Brandys: F. Th. Csokor. Identität von Leben und Werk. Lódz 1988; H. Klauhs: F. Th. Csokor. Leben und Werk bis 1938 im Überblick. Stuttgart 1988; J. P. Strelka: Immer ist Anfang. Der Dichter F. Th. C. Bern 1990; St. H. Kaszynski: Csokors polnische Odyssee. In: H. Holzner u.a. (Hg.) Eine schwierige Heimkehr. Innsbruck 1991, 253-261; U.N. Schulenburg (Hg.): F. Th. Csokor. Lebensbilder eines Humanisten. Wien 1992; P.-H. Kucher: „Die Wollust der Kreatur […] gemenget mit Bitterkeit“ Versuch über den vergessenen Expressionisten F. Th. Csokor. In: K. Amann, A.A. Wallas (Hgg): Expressionismus in Österreich. Wien u.a. 1994, 417-436; D. Goltschnigg (Hg.): G. Büchner u. die Moderne. Bd. 2, Berlin 2002, 322-323 (Abdruck von C.s. Büchner-Essay, 1963); J. Holzner: Die Entdeckung des Geringen: Zur Büchner-Rezeption in Österreich. In: D. Sevin (Hg.): G. Büchner. Neue Perspektiven zur internat. Rezeption. Berlin 2007, 183-194; bes. 188f.

Eintrag bei wien.gv.at.

(PHK)