L. Andro [= Therese Rie]: Fräulein Else und Annette (1924)

Fräulein Else, die neunzehnjährige Tochter eines Advokaten von Rang, hat jene Erziehung genossen, wie sie in den neunziger Jahren den meisten jungen Mädchen des angesehenen Mittelstandes zuteil wurde: Das Endziel aller Bestrebungen, der eigenen und der elterlichen, war eine möglichst vorteilhafte Heirat, und da der Prince charmant in der Regel nicht kam oder höchstens um den Preis enger Verhältnisse oder gesell­schaftlicher Deklassierung zu haben gewesen wäre, landete man schließlich in einer Vernunftehe und ent­wickelte sich zu einem neuen Mitglied der unabsehbar großen Gilde der unverstandenen Frauen. Auf großen Bällen oder in fashionablen Sommerfrischen wurde man möglichen Bewerbern vorgeführt, prächtig gekleidet, aber zuweilen mit fadenscheiniger Lingerie, denn es bürgte für die Anständigkeit des Mädchens, daß man sich für dergleichen noch nicht interessierte; die übrige Zeit verbrachten Fräulein Else und ihre Schicksalsgenossinnen mit ein wenig Tennis und Flirt, mit Klavierspiel, Deckchensticken und der Erlernung fremder Sprachen; damit waren sie für die Zukunft, die Ehe und den Lebenskampf hinreichend ausgerüstet.

Diesen tragischen Typus des unberührten Mädchens, unberührt darum, weil sich niemand die Mühe gab, in seiner Seele etwas aufzurühren, stellt Schnitzler mit der letzten Vollendung hin. Genau wie im Leutnant Gustl, als dessen Gegenstück diese Monolognovelle wohl auch formal gedacht ist, greift er aus der großen Masse ein unbeträchtliches Geschöpf heraus, das nur von seiner Kaste lebt, nur in dieser möglich ist. Und nun zerbricht eine Feder dieses sorgsam geölten Gesellschaftsmechanismus: Um das un­bedeutende Einzelwesen rauscht das Schicksal mit schweren, schwarzen Flügeln: das arme Menschen­kind sieht sich mit einemmal in schauerlicher Einsamkeit, auf sich selbst angewiesen, alles, was ihm Halt geben konnte, existiert nicht, mehr. Aus einem Typus wird es blutende, leidende Kreatur, seine arme, eingeschnürte Seele wird plötzlich hellsichtig. Erschiene ihm jetzt, in seiner Schicksalsstunde ein Retter, es könnte sogar vielleicht noch ein Mensch werden. Wie oft aber kommen Retter zur rechten Zeit? Den Leutnant Gustl erlöst im letzten Augenblick noch ein Zufall; für diearme kleine Else kommt er nicht, und ihr könnte wohl auch kein Zufall helfen.

Dies ist ihr Schicksal, daß sie eines Sommerabends, als Gast reicher Verwandter in eurem Dolomitenhotel weilend, einen Brandbrief von daheim empfängt: der Vater hat Mündelgelder unterschlagen, leider nicht zum erstenmal, aber diesmal ist die Katastrophe unabwendbar. Nur Else kann helfen, indem sie einen zufällig im gleichen Hotel wohnenden Bekannten, einen reichen älteren Lebemann, um das Geld bittet.

Die törichte Mutter, die diesen Brief schrieb, hat sicherlich nicht gewußt, was sie damit forderte; ob der kluge Vater, der ihn diktierte, ahnungslos war, bleibt dahingestellt. Der jungen Else soll jedenfalls rasch genug Klarheit werden. Denn der freundliche Don Juan erklärt sich herzlich gern bereit, dem schönen Mädchen das Geld zu überlassen, nur knüpft er eine ganz kleine Bedingung daran: daß sie sich in seinem Zimmer eine Viertelstunde lang unverhüllt seinen Augen darbiete. Er ist bescheiden, nur den Augen. Und an der Notwendigkeit dieses Opfers, das durch ein neuerliches dringendes Telegramm unabweisbar wird, geht das kleine Mädel zugrunde.

Mit rasender Hast, jagt das Schicksal sie ihrem Untergange zu. Man liest kein Buch mehr, man erlebt mit versagendem Atem das Absterben eines Menschen. Nicht, daß sie ihren Körper fremden, kühl abschätzenden Augen schmachvoll preisgeben muß, schmachvoller, als wenn er in wilder Glut genommen würde, ist das Schlimmste; sondern vielleicht die Erkenntnis eigener dunkler Wünsche, geheimnisvoller Wirbel, die sie unbekannten Abgründen zutreiben können, wie es ja auch der andern Heldin Schnitzlers, der Aurelie in der Komödie der Verführung, ergeht. Keiner ist da, ihr die Rätsel ihres Temperaments gütig zu deuten. Das junge Mädchen Else ist im Grunde in diesem Augenblick schon getötet worden; was dann noch vor sich geht, daß sie, wie Monna Vanna, einen Mantel um den nackten Leib schlägt und sich vor der versammelten Hotelgesell­schaft enthüllt, geschieht eigentlich schon in einem andern Leben. In eine fingierte Ohnmacht sinkend, sieht sie plötzlich Welt und Menschen so klar und unbarmherzig scharf, wie nur Sterbende sie sehen. Daß sie dann noch zu dem längst vorbereiteten Glase mit Veronal greift, ist letzten Endes nur das äußere Symbol eines vor Stunden schon erfolgten Todes.

Vielleicht stammt auch diese ganze Problemstellung aus den neunziger Jahren. Viele junge Mädchen von heute, gewöhnt, im Schwimmanzug viele Stunden lang an der Seite junger männlicher Gefährten zu ver­bringen, werden vielleicht die Achseln zucken über die Geschichten, die da wegen ein paar Zentimeter Stoff ge­macht werden; manche von ihnen würden wahrscheinlich, ironisch lächelnd, dem alten Lüstling das Vergnügen machen, der in unsern Tagen freilich eine ähnliche Zumutung nicht zu stellen brauchte, da er schon aus der gewöhnlichen Straßenkleidung in der Lage wäre, genaue Schlüsse auf die Reize eines bewunderten Wesens zu ziehen. Neugierde in dieser Hinsicht ist kaum ein Laster unsrer Zeit, wo die Antworten früher erfolgen, als die Fragen gestellt worden sind. Aber die junge Else steckt noch körperlich und seelisch eng eingepreßt in dem Fisch­beinpanzer, den man der Frau damals anlegte.

Die Schmerzen dieser armen kleinen Rhodopenseele, die zu jung, zu schwach, zu zerbrechlich ist, um eine Schuld auf sich zu nehmen und sich von ihr erhöht zu fühlen, legt Schnitzler mit einer Eindringlichkeit und Zartheit bloß, welche völlig an das Blendende seiner Technik vergessen läßt, die sich zu immer atemraubenderem Krescendo steigert. Voll Mitleid ist dieses. Buch und — vielleicht— auch voll Sehnsucht nach einer Zeit, die vermutlich nicht besser war als die unsre, in der aber das Wort Hebbels, des tiefsten Deuters aller Keuschheitsprobleme, noch Bedeutung hatte: „Man muß nicht immer fragen: was ist ein Ding? Zuweilen auch: was gilt’s?“…

Es ist ein Zufall und ist doch keiner, daß diesem zarten Pastellbild des Mädchens von gestern von einem andern großen und reinen Dichter, Romain Rolland, in einem gewaltigen Triptychon das Bild der denkenden, kämpfenden/ leidenden Frau von heute gegenübergestellt// wird: in der Vorrede zu seiner „Verzauberten Seele“, von der bisher zwei Bände vorliegen, sagt Rolland: „Wenn ich einen Roman schreibe, wähle ich ein Wesen, mit dem ich Gemeinsamkeiten fühle, oder vielmehr, es wählt mich. Sowie das Wesen einmal erwählt ist, lasse ich es ganz frei und habe wohl acht, daß ich nichts von meiner Persönlichkeit hineinmische. Eine Persönlichkeit, die man seit mehr als einem halben Jahrhundert trägt, ist eine schwere Last. Die göttliche Wohltat der Kunst besteht darin, uns von ihr zu befreien, indem sie uns gestattet, andre Seelen aufzutrinken, uns in andre Existenzen einzuhüllen. Unsre indischen Freunde würden sagen: andre von unsern Existenzen…“

Annette Rivière erlebt ihre erste große Zuneigung und Enttäuschung an ihrer Halbschwester, der kleinen Schneiderin Sylvie, von deren Existenz sie erst nach dem Tode ihres Vaters erfährt und für die in ihr nach an­fänglicher Eifersucht die leidenschaftlichste schwesterliche Liebe ausblüht. Aber Sylvie, ein richtiges Boulevard-Pflänzchen, leichtsinnig und berechnend, schmiegsam und selbständig. Zärtlich und kühl, denkt gar nicht daran, ihr eigenes Dasein mit dem ihrer patrizischen Schwester zu vereinigen, und auch aus eine gelegentliche nette, kleine Perfidie, der großmütigen Annette gegenüber, kommt es ihr nicht an. So sieht sich diese mit ihrer großen Liebes- und Leidensfähigkeit bald wieder allein. Ein Mann tritt in ihren Kreis, sie glaubt ihn zu lieben, aber ihre Klugheit bleibt wach, und sie fühlt, daß es nur ein Strom von Sinnlichkeit ist, der sie zueinander reißt, daß ein wirkliches Zusammenleben mit ihm nicht denkbar ist. Dennoch kommt die Stunde, wo ihr Blut sie überwältigt; sie gibt sich ihm und stößt ihn dann von sich, weil sie spürt, daß er ihrer Seele verderblich wird; sie ruft ihn auch später nicht mehr, da sie fühlt, daß sie Mutter werden wird. Sie will ihr Kind in Freiheit zur Welt bringen und es allein besitzen.

Der Kampf um die soziale Vollwertigkeit der un­verehelichten Mutter mutet in deutschen und skandinavi­schen Ländern nicht mehr so neu und fremdartig an wie in romanischen, wo sich das junge Mädchen vom Schlage Fräulein Elses weit länger konserviert hat. Wir ahnen schon, daß Annette durch alle Demütigungen hin­durchgehen muß, welche die Gesellschaft zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts für Menschen übrig hatte, die gegen bestehende Sittengesetze anrennen. Der Kampf wird härter, da Annette ihre materielle Sorglosigkeit einbüßt, welche sie vom Urteil ihrer Mitmenschen unab­hängig machte; nun erst beginnt der ergreifendste Teil des Werkes. Jetzt erst lernt Annette den erbittertsten Krieg kennen, der je geführt wurde: den der Arbeitenden gegen die  Arbeitenden, die Konkurrenz, das Weg­schnappen des kleinsten Stückchens Brot. Nun lernt sie begreifen, daß Gedanken, Gefühle, Weltanschauungen ein Luxus sind, nur dem erreichbar, der weiß, daß er morgen zu essen haben wird. Sehr drollig steht nun im Gegensatz zu ihr ihre Schwester Sylvie, die als Besitzerin eines gut gehenden Schneiderateliers. bürgerlich ge­worden, solide verheiratet und Annette somit in jeder Weise überlegen ist.

Sie kämpft für ihr Kind, aber auch um das Kind: denn dieses kleine Geschöpf, das sie den ganzen Tag andern Leuten überlassen muß, um seinen Unterhalt zu verdienen, empfindet die Zärtlichkeitskatarakte, mit denen es abends von der heimkehrenden Mutter über­schüttet wird, als durchaus unangenehm. Was zum Teufel will diese fremde exaltierte Frau? Im Schneideratelier der Tante Sylvie, wo es als Hauskatze der munteren Nähmädchen herumläuft, ist es viel netter. Mit unbarm­herzigen Augen sieht es seine Mutter an, sieht alle ihre seelischen und physischen Schwächen. Dieses Kind, für das sie alles hingegeben hat, liebt sie kaum; mindestens hat es andre lieber. Noch will die verzauberte Seele es nicht wahrhaben; langsam muß sie es begreifen lernen.

Vor der Liebe hat sie Angst. Wer seine Kräfte für den Lebenskampf braucht, darf sich nicht verlieren. Der schöne, gesunde Körper der blühenden Frau will sein Recht, aber sie kennt sich und hat Furcht vor sich selbst. Dennoch kommt die Liebe; sie kommt, wie es bei einer starken Frau fast selbstverständlich ist, in Gestalt eines schwachen Mannes, der sich in ihre Kraft verliebt und den sie doch erschreckt. Wie traurig, zu wissen, daß man den Geliebten um Haupteslänge überragt! Es ist ein trostloses Hin- und Herzerren, dem sie endlich ein Ende macht. Ihr ganzes Leben ist ein Kampf um ihre Seelen­kraft, die jeder, der in ihre Nähe kommt, zerbrechen will. Und sie braucht sie doch so nötig. Häusliches Ungemach bricht über sie herein, nichtssagend bei Leuten, welche Geld haben, zerschmetternd bei solchen, die mit jedem Groschen rechnen müssen. Sie entzweit sich mit der in sorglosen Verhältnissen lebenden Schwester und steht nun ganz allein, mesquinen Sorgen preisgegeben, wissend, daß ihr heranwachsendes Kind den ganzen Tag unbehütet und allein bleibt. Mit der Hand des Meisters legt Rolland die Seele dieses einsamen kleinen Jungen bloß, des verbitterten, grübelnden, frühreifen Kindes, das seiner Mutter beobachtend, kritisch, kühl gegenübersteht. Er gehört nicht in die bürgerliche Gesellschaft, er gehört nirgends hin. Er ist stolz darauf, daß diese Frau ihn nicht kennt, die äußerlich ihm gegenüber alle Rechte hat und die ihn doch nie besitzen wird. Der ewige tragische Kampf der zwei Generationen hebt an: doppelt tragisch da, wo die Mutter dem Kinde alles geopfert hat.

Noch ein letztes Mal, da Annette schon fast an der Schwelle des Alters steht, kommt die Liebe: diesmal als Elementarkraft, gegen die keine andre Gewalt nützt. Der Mann, ein berühmter und gewissenloser Chirurg, der von unten kommt und den Lebenskampf noch besser kennt als sie, zerbricht sie beinahe. Sie muß durch alle Höllenstrafen durch, welche die Liebe einer freien Frau zu einem verheirateten Manne mit sich bringt, und als sie sich endlich befreit, scheint ihr nur der Tod zu bleiben. Da geschieht das Wunder: die verstümmelte, geknickte, verzauberte Seele findet sich noch einmal. Noch einmal kommt ihr die Kraft, stark zu werden, sich zu reinigen und zu erheben. Irgendwo kritzelt sie dann ein wunder­volles Gedicht hin — ein seltener lyrischer Ausbruch bei Rolland —, ein Gedicht der weiblichen Demut:

„Du kamst — deine Hand erfaßt mich —, ich küsse deine Hand,
Mit Liebe, mit Entsetzen küß‘ ich deine Hand.
Du warst mich zu vernichten, Liebe, mir gesandt.
Ich weiß es wohl — schlag zu! —, ich küsse deine Hand.“

Die verzauberte Seele ist gerettet. Sie weiß nicht, daß ihr Sohn zu gleicher Zeit seine schmerzliche Liebeskrise überwindet — wann wissen Menschen, die eng zu­sammen leben, jemals voneinander? Sie selbst hat den Weg zur Einheit mit sich gefunden und ahnt noch nicht, welche Schrecken sich über ihrem Haupte zusammenziehen, daß der Krieg auf dem Wege ist, der ihr das mühsam gezimmerte Asyl über dem Kopf zertrümmern wird.

Der letzte Band wird erst in einigen Jahren er­scheinen, und er wird vermutlich den Leiden der Frau im Kriege gehören. Die gütigsten Menschenaugen, die je geblickt haben, werden auf der namenlosen Pein der Seelen und den erniedrigendsten Quälereien des Alltags mit dem gleichen grenzenlosen Mitleid ruhen, und unter ihrem Blick wird sich ein Bild des Frauenlebens formen, wie es kaum je erschöpfender gestaltet worden ist. Wer Menschenleid so verstehen kann, ist ein guter Mensch; wer es so gestaltet, ein Künstler.

In: Neues Wiener Tagblatt, 24.12.1924, S. 2-3.

Max Foges: Die Rotte Korahs. Hermann Bahrs neuester Roman (1919)

                Hermann Bahrs neuester Roman ist in Buchausgabe erschienen. Er ist ein Band der Romanserie, die Bahr mit der Rahl begonnen hat, und bildet gewissermaßen die Fortsetzung dieser epischen Schöpfungen, die eine Art Philosophie des Österreichertums darstellen. Die Rotte Korahs ist der fünfte Band in der Reihe, und die Niederschrift ist gerade vor einem Jahre Ostern 1918, vollendet worden. (S. Fischer Verlag, Berlin.) Wieviel liegt zwischen diesen beiden Ostern, den von 1918 und den von 1919! Und bei der Lektüre des Buches fallen die dunklen Schatten dieses so ereignisreichen Katastrophenjahres auf die Blätter… Ein Abgrund hat sich aufgetan zwischen dem Leser und dem Inhalt des Buches. Es ist wieder eine Predigt Bahrs von der Religion des Österreichertums, aber wo ist dieses Österreichertum seither hingeraten? Wo ist Österreich? Alles hat der Abgrund verschlungen, und so ist es einigermaßen mühsam, sich zurückzufinden in die Gedankenwelt dieses Romans, obwohl anderseits gerade die Gestalten und Ereignisse des Buches vielfach den Schlüssel bieten zu manchem, was wir jetzt miterleben. Bahrs große österreichische Romanserie bildet ein Panorama und jedes Buch einen Sektor. Es geht dabei selbstverständlich nicht ohne einige störende Empfindungen ab, die darauf zurückzuführen sind, daß eben bei dem Ausschnitt jedes einzelnen Sektors der Zusammenhang, wenigstens soweit er die Personen betrifft, die in den verschiedenen Teilen der Serie wiederkehren, zerrissen erscheint. Indessen gelingt es der Kunst Bahrs, über diese Schwierigkeit hinwegzukommen, und je weiter er die Handlung seines neuen Buches ausspinnt, desto selbstständiger entwickelt sich das Problem, desto mehr Eigenleben gewinnt der Roman Die Rotte Korahs.

                Ein Roman und eine Predigt – erfüllt von jenem Zug zu katholischer Mystik, dem sich Bahr schon in dem vorhergehenden Werke Himmelfahrt hingegeben hat, dabei doch ein weltlich frohes Buch, amüsant, voll feiner Ironie, reich an echt Bahrschen Antithesen, mit einer geistvollen Problemstellung. Der Held des Buches ist ein junger adeliger Beamter des Ministeriums des Äußern, der Enkel eines österreichischen Staatsmannes der liberalen Ära, der Sohn eines Reiteroffiziers aus südslawischem Blut, einer mit verwegener Passion gezeichneten Figur des Romans. Der junge Diplomat ist eine Persönlichkeit von tiefernster, vornehmer Veranlagung. Im Augenblick, wo der Leser seine Bekanntschaft macht, erholt er sich von einer tiefen seelischen Erschütterung – er hat an der Front in Italien einen Lungenschuß erhalten – und in sein Amt wieder zurückgekehrt, während draußen die Schlachten noch immer geschlagen werden, noch immer die kaiserliche Armee den Feinden ringsum siegreichen Widerstand bietet, findet er sich im Hinterland schwer zurecht. Erziehung und soziale Stellung beginnen bei dem Helden des Buches sozusagen naturgemäß eine zumindest ablehnende Haltung gegenüber dem Judentum und dem jüdischen Einfluß in der österreichischen und in der Wiener Gesellschaft. Und gerade steht die Judenfrage im Vordergrunde der gesellschaftlichen Sensation Wiens. Der ehemalige Theaterdirektor Jason – Bahrs Leser kennen ihn aus O Mensch und auch aus der Gelben Nachtigall ist er dem Theaterpublikum Bahrs erinnerlich – hat als großer Faiseur ein vielfaches Millionenvermögen erworben. Er repräsentiert die Macht des skrupellosen Kapitals während des Krieges, ist das Prototyp der Kriegsgewinners, die Verkörperung der großen Korruption. Heute noch der allmächtige, umschränkte, umschmeichelte und umwedelte Heldfürst, wird er plötzlich zum Sündenbock, weil die öffentliche Meinung seines Glückes überdrüssig geworden ist, und kommt als Angeklagter vor Gericht … Ganz Wien lauscht nach diesem Prozeß, er kann die unerhörtesten Enthüllungen bringen, denn Jason wird sich zweifellos zur Wehre setzen und er ist imstande, viele sehr viele von stolzer Höhe mit in die Tiefe zu reißen. (Der Leser wird die Beziehung zu einem Sensationsprozeß der Kriegsjahre unschwer herausfinden.) Der Prozeß endet aber noch viel sensationeller als die lüsternste Neugierde erwartet hat. Der Angeklagte Jason stürzt vor den Schranken des Gerichtes infolge der ungeheuern Erregung, in die ihn die Anklage versetzt, vom Schlage gerührt tot zusammen.

                Bisher ist der Held des Romans sozusagen am Rande der Ereignisse dahinflaniert, vom Autor von allen Seiten beleuchtet und analysiert, sozusagen exponiert für die kommende überraschende Handlung. Das Testament Jasons enthüllt nämlich ein vom Großvater und vom Vater des Helden sorgsam gehütetes Geheimnis. Der junge Diplomat ist nämlich gar nicht der leibliche Sohn des Reiteroffiziers Baron Drzie, sondern ist das Kind Jasons, der der Verführer seiner Mutter geworden war. Der Rittmeister hatte das unglückliche junge Mädchen geheiratet, ihm seinen Namen geschenkt, allerdings nicht, ohne daß Jason dazu beigetragen hätte, ihm dafür seine Schuldenlast abzunehmen. Diese Vorgeschichte – und Bahr will durchaus, daß der Rittmeister als Kavalier vom Scheitel bis zur Sohle aufgefaßt und die Verführte, die übrigens bei der Geburt des Kindes stirbt, obendrein von der Gloriole mystischer Frömmigkeit umstrahlt wird – darf den Leser allerdings nicht stören. Geht er auf diese Voraussetzung des Autors nicht ein, dann allerdings wird ihm alle Kunst Bahrs die Lektüre wenig erfreulich gestalten. Allein man kann überzeugt sein, daß bei den meisten Lesern Bahrs Virtuosität siegen wird, die Vorgeschichte in Vergessenheit gerät und das eigentliche Problem des Buches zu jener Geltung gelangt, die ihm Bahr verschaffen will. Die ihn lockende Antithese ist nämlich der Konflikt, der in dem jungen Baron Drzie entsteht, der nun plötzlich erfährt, daß er jüdisches Blut in den Adern hat, dem mit dieser Erkenntnis seine ganze Weltanschauung zusammenstürzt und der nun plötzlich vor dem Konflikt steht, zwischen den zwei Menschen, die er in sich vereint fühlt, zu wählen … Der eine ist der Österreicher von christlicher, katholischer Kultur, der andere ist der Jude mit dem tragischen Erbteil seiner Rasse. Der junge Diplomat ist mit einem Male der Herr eines ungeheuren Vermögens geworden. Seine erste Regung, den Millionen zu entsagen, überwindet er über Rat seines Großvaters und in der ihm werdenden Erkenntnis, daß man seine Entsagung allgemein für eine Pose halten würde. Und gerade das will er nicht, er will wahr gegen sich selbst sein, wahr bis zum Extrem. Das Reizvolle des Buches ist nun, wie sich der Held mit sich selbst und der Gesellschaft auseinandersetzt, um zum Schlusse, eine Sünde gutmachend, ein seltsames Mädchen zu heiraten und sich auf einen Landsitz zurückzuziehen, einzig in dem Bestreben, ein guter Mensch zu sein, ein zärtlicher Gatte, ein liebevoller Vater. Diese Entwicklung rollt das Problem der Judenfrage nach allen Richtungen hin auf und gibt Bahr Gelegenheit, in geistvoller Weise diese Frage dialektisch zu erörtern, das heißt, nicht er erörtert sie, sondern die zahlreichen Gestalten des Buches, die wir in ihrer frappierenden Lebendigkeit als Type des Österreichertums aus den früheren Bänden seiner Romanserie kennen. Da ist der flotte Franz Heitlinger, der berühmte Chirurg Hofrat Scharizer, der „Menschenfischer“ Domherr Zingerl, die köstliche Fürstin Uldus, und vor allen der unerhört lebenswahre Zionist und Oberarzt Dr. Beer. Es ist eine vergnügliche, köstliche Gesellschaft, ein drolliges Schattenspiel des Lebens, virtuos behandelt von dem meisterlichen Puppenspieler Bahr. So virtuos und so meisterlich ist das alles erzählt und durcheinandergewirbelt, daß der Leser sogar über manche Länge hinwegliest, über manche Wiederholung, die aber durchaus vom Autor beabsichtigt erscheinen, denn Bahr will offenbar nicht nur einen Roman geschrieben haben, sondern auch ein Erziehungs- und Erbauungsbuch. Von Österreich und seiner Eigenart, von der katholischen Kirche und ihren Wundern, von Adalbert Stifter und Hölderlin, von Heiligem und Unheiligem predigt er unermüdlich; allerdings ein amüsanter Prediger, ein moderner Abraham a Santa Clara. Und auch derjenige wird sein neuestes Buch nicht ohne Genuß aus der Hand legen, der vielleicht, wenn er den Band schließt, finden wird, daß Bahr das Problem der Judenfrage zwar ungemein geistvoll beleuchtet, aber durchaus nicht gelöst hat. Hat er es aber überhaupt lösen, hat er eine Antwort erteilen wollen?…

In: Neues Wiener Journal, 16.4.1919, S. 3-4.

Ernst Fischer: Aus den Tiefen eines Jahrhunderts (1930)

            Folgendes hat sich ereignet: Eine militärische Kommission hat einen Soldaten ausgegraben, der sich tot stellte. Der Militärarzt erklärte den Tachinierer für frontdiensttauglich. Man gab ihm Schnaps zu trinken und nahm ihn mit. Die Nacht war blau und schön. Man konnte, wenn man keinen Helm aufhatte, die Sterne der Heimat sehen. Voran die Musik mit Tschindrara spielt einen frohen Marsch. Und der Soldat marschiert in der Mitte, und daß man den Grabgeruch nicht merke, schwingt ein Priester das Weihrauchfaß. Die Zeitungen haben diesen Vorfall totgeschwiegen. Die Wissenschaft hat ihn totgeschwiegen. Die Weltgeschichte hat ihn totgeschwiegen. Da gab es größere Sensationen; außerdem glaubt der gebildete Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts so was nicht. Trotzdem hat sich die Sache herumgesprochen, die Sache von dem toten Soldaten; ein Mensch namens Brecht hat sie schließlich dem deutschen Publikum mitgeteilt, diese Sache, die doch gewiß aufregender, beunruhigender, wesentlicher ist als zum Beispiel die Rede irgendeines Ministers oder irgendein Bericht irgendeiner Studienkommission, ja sogar nervenaufpeitschender als die täglichen Meldungen über Morde, Raubüberfälle, Brandlegungen usw. Um aber nicht der Lüge geziehen zu werden und die atembeklemmende Wahrheit so zu sagen, daß man sie nicht berichtigen kann, hat dieser unangenehme Brecht sie in Verse gepreßt. So ist das Gedicht vom toten Soldaten entstanden:

            Und wenn sie durch die Dörfer ziehn,
                kommt’s, daß ihn keiner sah.
                So viele waren herum um ihn
                mit Tschindrara und Hurra.
                So viele tanzten und johlten um ihn,
                daß ihn keiner sah.
                Man konnte ihn einzig von oben sehn.
                Und da sind nur Sterne da.
                Die Sterne sind nicht immer da.
                Es kommt ein Morgenrot.
                Doch der Soldat, so wie er’s gelernt
                zieht in den Heldentod.

Wir möchten schreiend aus den Gräbern steigen!

            Also Lyrik! Jawohl, Lyrik. Wahrheit, die man in Prosa totgeschwiegen hat. Bericht aus der Tiefe eines Jahrhunderts. Mitteilungen aus der Mördergrube, zu der man das Herz einer ganzen Generation gemacht hat. Telegramm aus dem fernsten, unbekanntesten Kontinent, aus der von Krieg und Hohn und Hunger verschütteten Seele der Fünfundzwanzigjährigen, Dreißigjährigen. Stimmen aus dem Massengrab:

            Wir haben Dreck im Mund. Wir müssen schweigen.
                Und möchten schreien, bis das Grab zerbricht!
                Und möchten schreiend aus den Gräbern steigen!
                Wir haben Dreck im Mund. Ihr hört uns nicht.
                Ihr hört nur auf das Plaudern der Pastoren,
                wenn sie mit ihrem Chef vertraulich tun.
                Ihr lieber Gott hat einen Krieg verloren
                und läßt euch sagen: Laßt die Toten ruhn!

– in der Weltgeschichte beschäftigt!

Dreck im Munde, pfui wie gemein, wie ordinär! Lyriker haben Gold im Mund zu haben,

Geruch von Frühlingsspülwasser, Sonne auf der Zunge und die Herzallerliebste im Gaumen – für Friedenszeiten, versteht sich; wenn ein Krieg auszubrechen droht oder bereits ausgebrochen ist, ersetzt das Vaterland die Herzallerliebste und der Pulverdampf die Lenzesluft. Darum ist uns die Lyrik so zum Kotzen geworden, darum haben wir plötzlich genug gehabt von allen Gedichten – bis die toten Soldaten schreiend aus ihren Gräbern stiegen, bis die Wahrheit sich der Versform bediente, bis wir mit Herzklopfen die Gedichte des Bert Brecht, des Joachim Ringelnatz, des Erich Kästner lasen. „Wir haben Dreck im Mund. Wir müssen schweigen!“ das ist von Erich Kästner; von ihm ist das ungeheure Gedicht Jahrgang 1899.

        …dann holte man uns zum Militär,
        bloß so als Kanonenfutter.
        In der Schule wurden die Bänke leer,
        zu Hause weinte die Mutter…
        …wir haben sogar ein Examen gemacht
        und das meiste schon wieder vergessen.
        Jetzt sind wir allein, bei Tag und bei Nacht,
        und haben nichts Rechtes zu fressen!
        Wir haben der Welt in die Schnauze geguckt,
        anstatt mit Puppen zu spielen.
        Wir haben der Welt auf die Weste gespuckt,
        soweit wir vor Ypern nicht fielen.
        Man hat unsern Körper und hat unsern Geist
        ein wenig zu wenig gekräftigt.
        Man hat uns zu lange, zu früh und zumeist
        in der Weltgeschichte beschäftigt!
        Die Alten behaupten, es würde nun Zeit
        für uns zum Säen und Ernten.
        Noch einen Moment. Bald sind wir bereit.
        Noch einen Moment. Bald ist es soweit!
        Dann zeigen wir euch, was wir lernten!

Hymnus an die Zeit.

Die Weltgeschichte, in der wir beschäftigt wurden, hat uns jahrelang übertönt: Krieg und Revolution haben wir schweigend miterlebt, die schlechten Kriegsgedichte wurden im Hinterland geschrieben, die schlechten Revolutionsgedichte waren das erste Gestammel einer verzweifelten Hoffnung, was galten damals Gedichte, da wir die Welt umformen wollten! Dann aber, als die Weltgeschichte uns beurlaubte, hatten wir lange nicht den Mut zu unserer Zerstörtheit, zu unserem Wesen und unserem Schicksal. Bis dieser Erich Kästner sein erstes Gedichtbuch herausgab: Herz auf Taille, angefüllt mit der wilden Traurigkeit, der bitteren Erkenntnis, der ironischen Leidenschaft unseres Lebens. Wir waren tausendfältig bereit, zu lieben, anzuerkennen, uns zu begeistern – aber wie war die Welt, für die wir Gut und Blut und unsere ganze Jugend gegeben hatten? Hymnus an die Zeit? Soweit wir vor Ypern nicht fielen, grüßen wir diese Zeit:

            Wem Gott ein Amt gibt, raubt er den Verstand.
                In Geist ist kein Geschäft. Macht Ausverkauf!
                Nehmt euern Kopf und haut ihn an die Wand!
                Wenn dort kein Platz ist, setzt ihn wieder auf!
                Macht einen Buckel, denn die Welt ist rund!
                Wir wollen leise miteinander sprechen:
                Das Beste ist totaler Knochenschwund.
                Das Rückgrat gilt moralisch als Verbrechen.

Noch einen Moment! Bald ist es so weit! Dann zeigen wir euch, was wir lernten! Euch ins Gesicht zu sehn, ihr Verdiener an jeder Konjunktur, ihr Händler mit jeder Ware, mit Eisen und Menschenmaterial, mit Aktien und Idealismus, euch in die Schnauze zu gucken, anstatt mit den Puppen zu spielen, die ihr uns für Brot und Freiheit gebt! Zeitgenossen haufenweise:

Es ist nicht leicht, sie ohne Haß zu schildern,
und ganz unmöglich geht es ohne Hohn.
Sie haben Köpfe wie auf Abziehbildern
Und, wo das Herz sein müßte, Telephon…
In ihren Händen wird aus allem Ware.
In ihren Seelen brennt elektrisch Licht.
Sie messen auch das Unberechenbare.
Was sich nicht zählen läßt, das gibt es nicht.
Sie haben am Gehirn enorme Schwielen,
fast als benutzten sie es als Gesäß.
Sie werden rot, wenn sie mit Kindern spielen.
Die Liebe treiben sie programmgemäß.

Einmal kommt auch eure Zeit!

Ja, dieser Erich Kästner ist kein Lyriker für die braven Bürger,d ie Lyrik soll sich mit edlen und idealen Dingen beschäftigen, mit Dingen also, die in der Bürgerwelt keinen rechten Platz haben; solche Gedichte wird man loben und sie keinesfalls lesen (mit Recht), sondern höchstens die Jugend damit belästigen, damit sie auch was Höheres kennenlernt als den Betrieb des rationalisierten Kapitalismus. So sind die Lyriker bei der Jugend in Verruf geraten (mit Recht!), aber die Gedichte des Erich Kästner, diese „unmoralischen, zynischen, poesielosen“, diese wahrhaften, aufregenden, befreienden Gedichte soll jeder, jeder, jeder junge Mensch lesen! Herz auf Taille und Lärm im Spiegel heißen die Gedichtbände; euch alle gehen sie an! Die Proletarierkinder: „Weihnachtslied, chemisch gereinigt!

Morgen, Kinder, wird’s nichts geben!
Nur wer hat, kriegt noch geschenkt.
Mutter schenkte euch das Leben.
Das genügt, wenn man’s bedenkt.
Einmal kommt auch eure Zeit.
Morgen ist’s noch nicht so weit.
Die Stenotypistinnen: Chor der Fräuleins“:
            Wir hämmern auf die Schreibmaschinen.
                Das ist genau, als spielten wir Klavier.
                Wer Geld besitzt, braucht keines mehr verdienen.
                Wir haben kein’s. Drum hämmern wir.

Und wir alle, die wir uns nicht vormachen lassen, daß wir „Sonne im Herzen“ haben und Idealtypen der Menschheit sind (Type I A, in Serie hergestellt):

            Man kann sich selber manchmal gar nicht leiden
                und möchte sich vor Wut den Rücken drehn.
                Wer will, ob das berechtigt ist, entscheiden?
                Doch wer sich kennt, der wird mich schon verstehn.

            Kameraden, zu euch spreche ich!

            Junge Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts, ihr glaubt mit Unrecht, daß Lyriker unbedingt langweilige Leute sind. „Es gibt wieder Verse, bei denen auc der literarisch unverdorbene Mensch Herzklopfen kriegt oder froh in die leere Stube lächelt. Es gibt wieder Lyriker, die wie natürliche Menschen empfinden und die Empfindungen (und Ansichten und Wünsche) in Stellvertretung ausdrücken.“ Ja, dieser Erich Kästner hat recht; er spricht in Stellvertretung von hunderttausend jungen Menschen der Großstadt, tönende Stimme aus den Massengräbern der großen Zeit. In Stellvertretung von Millionen aber, eingesargt in den Massengräbern der kapitalistischen Industrie, spricht ein Fünfundzwanzigjähriger, Walter Bauer, der größte Arbeiterdichter Deutschlands (und daher kaum bekannt!). Dieser Walter Bauer war Arbeiter in den Leunawerken, aus dem Inferno hat er Gedichte geschöpft, die unvergleichlich sind. Ein schmales Gedichtbuch, „Kameraden, zu euch spreche ich!“, unbeachtet von der Öffentlichkeit, übertönt vom Lärm der Tagessensationen. Und doch ist dieses Buch zu kennen Glück und Erschütterung. Da wird nicht getrommelt, nicht posaunt, nicht pathetisch herumgeredet, da klirrt keine Phrase, dröhnt kein Schlagwort, reimt sich nicht ‚rot‘ auf ‚Tod‘, da ist nichts als die schlichte, unaufgeregte, namenlose Wahrheit des Proletarierschicksals: Für die Gestorbenen der Leunawerke!

            Laßt die Musik beiseite,
                weg mit Reden, Literatur, Violinspiel, Gebet,
                                                               was soll das hier?
                Wir!
                Aus unseren Sachen dampft der Ammoniak-
                                               geruch der Schufterer,
                aus unseren Blicken fällt die Müdigkeit der
                                               Nachtschichten.
                Alle!
                Und aus uns strahlt unaufgefordert un-
Ausgesprochene,
                nie bekannte brüderliche Liebe…
                …wir verbergen
                eure Leiden nicht, wir schreien sie nicht, wir
                                               sprechen sie aus,
                seid ihr glücklicher jetzt? Ihr schweigt? Vielleicht,
                                               vielleicht seid ihr glücklicher als wir.

Hier ist ein Frühling von grünem Gas!

            Wir verbergen eure Leiden nicht, wir schreien sie nicht, wir sprechen sie aus. Dieses Aussprechen, ruhig, einfach, aus der Tiefe des Lebens (Laßt die Musik beiseite, weg mit Reden, Literatur!), das ist die bezwingende Kunst dieses Leunawerk-Arbeiters. Mensch im Maschineninferno:

            …hier blüht ein Frühling ohne Baum und
Vogellaut,
                hier ist ein Frühling von grünem Gras…
                …Eingepreßt zwischen Benzinwäschern, Silos,
                                                               Windhitzern,
                erhebt sich der Ruf, verborgen in der Welt,
                im Bau siebenhundert, laßt,
                               laßt mich zu Wort kommen!

Unter dem traurigen Himmel des Krieges.

            Als dieser Mensch, dieser Arbeiterdichter, Walter Bauer, wenigen nur bekannt, unerhörte Gedichte formend, die niemand drucken will, als dieser Mensch ein Kind war, starb sein Vater, starb sein Bruder im Kriege.

In der zweiten Stunde schrieben wir einen
Klassenaufsatz,
                und ich schrieb ihn zum Teil von meinem Kame-
                               raden ab,
                dem ich in Mathematik half.
                In der zweiten Stunde lag mein Bruder da und
                               Schrie,
                immer…
            Und die Mutter („Du Gute, graue
            Geliebte!“) ging über Land zu den Bauern, um Brot und Kartoffeln zu hamstern und ein paar Pflaumen.
            Aber abends. Mutter, ging ich dir immer weit
übers Feld entgegen auf der langen Straße, da
                                               brannten
schon Lichter, und Wagen kamen von den Feldern
                                               wollten heim,
und die im langen Kriegsjahr geschwächten
                                               übriggebliebenen
Gäule bliesen Dampf des Herbstes durch die
Nüstern.
Dann ging ich vor den Häusern schneller,
                                               Mutter, weil
es dunkel war und ich allein, dann lief ich dir
                                                entgegen,
schnell wie heim, und sieh, da warst du, sieh, ich
                                               fiel
dir so entgegen, schneller war mein Herz, und
                                               unter
dem traurigen Himmel des Krieges küßte ich dich
und sah, ob du im Korb auch ein paar Pflaumen
                                               hattest.

  • über Jahrhunderte hinweg!

Kindheit „unter dem traurigen Himmel des Kriegs“, Jugend, in der traurigen Hölle der Fabrik. Und eingepreßt zwischen Benzinwäschern, Silos, Windhitzern, schreibt der Arbeiter seiner Freundin:

            Dein Herz ist grün wie die Gärten, die grünen,
                in denen Amseln und solche Vögel singen,
deren Namen ich nicht weiß,
denn ich bin Arbeiter im Kraftwerk.
Bäume sind, schreibst du mir, auch da und
Sinken grün ins Erinn’rungsherz.
Ach, wie lange ist’s, daß ich Rauschen von Bäumen
nicht gehört, solchen besonderen Gärten, in denen
du groß geworden bist. Du sagst,
Blumen sind da, noch immer,
noch, wenn wir den Mars kolonisieren, werden
einige da sein. Ihre Namen
weiß ich nicht, im Kraftwerk ist nur Platz für
zweckmäßige Dinge.
Ich bin ein völlig anderer als du,
anders klingt als in Gärten auf Asphaltstraßen
                                die Stimme der Welt.
Blumen und Gräser.
In den Städten hörten wir, daß es Blumen gäbe.
Wir erinnern uns ihrer noch, denn
wir lernten, dies sei
Schafgarbe, dies Rittersporn und
das Rot Mohn zwischen Feldern.
Unsere Kinder werden das nicht wissen,
die letzten wird man in Museen halten
in Erde, und einmal
wird eine Zeit kommen, da man die Namen
der Bäume nicht kennt, wird nur sagen: der
                                Baum –
wird nur wissen: die Blume –
wird nur lächeln und es lustig empfinden,
aber ich sage, ich sage es dir
über Jahrhunderte hinweg.

            Stimme des Menschen in dieser rationalisierten, mechanisierten, atemlosen Welt des Kapitalismus, angstvoll, beschwörend, schonungslos. Der Proletarier im Leunawerk und der Intellektuelle in Berlin, Walter Bauer und Erich Kästner, Kinder der Maschinenzeit, Rebellen gegen sie, Dichter unserer Jugend, unserer Wahrheit, unseres Lebens! Laßt sie zu Wort kommen in euren Herzen, ihr jungen Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts.

In: Arbeiter-Zeitung, 8.7.1930, S. 5.

Jakob Fingermann: Die Jüngsten. Bemerkungen zur neuen deutschen Moderne (1919)

In den Achtzigerjahren des verflossenen Jahrhunderts kommt ein kleiner Kaufmann aus dem Osten nach Berlin. Er hat wenig Geld, aber desto mehr Spürsinn und den glühenden Wunsch, Berlin zu erobern. Er versucht sich in verschiedenen Geschäften, die mißlingen, bis ihm eines Tages die entscheidende Idee aufblitzt. Er mietet ein schmales Lädchen und ein bescheidenes Schild kündet die Etablierung des Verlages S. Fischer an. Einige junge Dichter, die eben ihren Sturmlauf gegen die alten Literaturgötzen begonnen haben und denen die alten, wohlfundierten Verlagsanstalten ihre Pforten verschließen, finden in dem kleinen, unscheinbaren Mann einen kühnen, jede Erfolgsmöglichkeit behend ausnützenden Verleger, der bei alledem für ihre Menschlichkeiten ein humor- und hilfswilliges Verständnis zeigt. Die Stürmer und Dränger von 1890, um nur einige aus der großen Schar zu nennen, Hauptmann, Dehmel, Bahr, Wassermann, Hofmannsthal und die Brüder Mann. Es sind die heute Fünfzigjährigen, die neuen Klassiker der deutschen Literatur, die Erfüllung einer Epoche, die mit dem Weltkriege abschließt.

                                                           *

Neunzehnhundertneunzehn – der […] meiner Männer setzt an. Ein besiegtes Land zeigt sich geistiger Gärung voll. Aus den Ruinen zusammenbrechender Weltanschauungen, aus den Kratern sozialer Umwälzungen sprießt in schillernder Üppigkeit eine neue Moderne und kündet sich die Fanfarentönen an: „Wir sind!“ Wieder ist es S. Fischer, der die Jüngsten unter seine Fittiche nimmt. Diesmal heißen sie: Johannes R. Becher, Georg Kaiser, Adolf von Hatzfeld, Emil Alphons Rheinhardt, Ernst Toller, Paul Kornfeld, Ludwig Meidner, Gottfried Köhwel, Kurt Heynicke – eine lange Liste, die sich fortsetzen ließe. Ein Trommelfeuer von Lyrikbänden, Dramen und Novellenbänden überschwemmt den Büchermarkt und zwingt zur Stellungnahme.

Thomas Mann, einer der feinsten Köpfe des schöpferischen Deutschland, hat jüngst in einer dänischen Zeitung mit einem gewissen Pessimismus von der Zukunft der deutschen Dichtung gesprochen. Alfred Kerr hingegen sieht in ihr den Aufstieg und die Erfüllung. Er erwartet sich von ihr das Glühende und Ewige und begeistert sich an ihrem Aktivismus. Meinung wider Meinung zweier Persönlichkeiten, deren Blick vielleicht tiefer als der unsere sieht; aber die Frage, ob hier neue Kräfte zu walten beginnen oder nur Erscheinungen des Tages am Werke sind, bleibt dennoch offen.

                                                                       *

Zur rechten Zeit erscheint ein Sammelbuch des neuen Kreises[*], welches charakteristische, bisher noch unveröffentlichte Arbeiten enthält. Wenn man es gelesen hat, ist man leicht geneigt, mit einem harten Urteil abzuschließen, sich selbst zu mißtrauen, sich zu sagen; daß doch etwas daran sein müsse, nochmals zu lesen, um wiederum unbefriedigt, sich selbst zürnend, dem Gedanken Raum zu geben: Diese sind die Rechten nicht! Sie gehen mit der Zeit und deren Schlagworte liegen auf ihren Lippen. Ihre Zungen sprechen: „Brüder!“ ihre Worte malen das Grauen, aber die große Liebe, die sie künden, ist nicht in ihnen. Je mehr sie mit Gefühlen hantieren, je tiefer sie in den Wunden der Menschheit wühlen, je heftiger ihr Schrei Liebe, Erbarmen, Beglückung fordert, ein umso kälterer Hauch strahlt von ihnen aus. Etwas Dumpfes und Unwahres ist in ihnen, ein Lallen Erdgebundener, denen der Flug in die erlösende Unendlichkeit versagt bleibt.

                                                                       *

Gefühlsüberschwang rührt oft von innerer Verarmung her. Ihnen allen ist dieses Stigma aufgedrückt. Einer verarmten Zeit Ersatzdichter. Sie bauen Wortphalanxe zum Sturm, wühlen in absurden Bildern, häufen rhetorischen Schwall, zeigen ihre Muskeln gleich Athleten, sind kühn, erfahren, altersweise und jugendwild, so und so, in allen Sätteln gerecht, ein Bräu von Schiller, Büchner und Wedekind und doch wieder anders. Sie haben die Literaturen abgegrast, die Franzosen und Russen schlecht verdaut und geben ihre Überflüsssigkeiten mit vulkanischem Getöse von sich.

Die neue deutsche Literatur? Man möchte es, der großen Vergangenheit eingedenk, verneinen. Übergangsprodukte…

In: Wiener Morgenzeitung, 4.5.1919, S. 2.


[*] „Die Erhebung“, Jahrbuch für neue Dichtung und Wertung, herausgegeben von Alfred Wolfenstein, Verlag S. Fischer, Berlin.

Emil Arnold-Holm: Moderne österreichische Lyrik [Mitterer, Zernatto] (1931)

Die österreichische Literatur erlebt jetzt in den Alpenländern eine wahrhafte Renaissance. Die neueste Erscheinung ist Guido Zernatto, ein junger Dichter, der für seinen ersten Gedichtband bereits einen Literaturpreis erhielt, eine Billinger verwandte Erscheinung. Er hat jetzt im Verlag Wolfgang Jeß, Dresden, einen neuen Gedichtband Gelobt sei alle Kreatur herausgegeben. Man liest und staunt, wieviel schöpferische Kraft es in unserer als so wenig schöpferisch verschrienen Zeit noch gibt, man wird gepackt von der Ursprünglichkeit dieser dichterischen Begabung, von all dem Großen und Schönen, das auf uns einströmt. In Zernattos Gedichten rauscht und braust die Natur, singt alle Kreatur mit zum Herzen dringenden Tönen ihr Lied der Lust und des Leides. Hier ist wieder einmal ein Dichter, fern allen Schlagworten und Modeströmungen, zeitlos und über den Wandel der Stile erhaben, wie die Natur zeitlos und über alles erhaben ist. Welche Naivität und Wärme des Empfindens und wie meisterlich beherrscht ist der lyrische Ausdruck des Empfindens! Zernatto hat den scharfen Blick eines Jägers für die Natur und die weiche Seele eines Dichters. Da sind die Gedichte „Kälbern“, „Herr und Hund“, „Brief einer Schwangeren“, „Am Mais, am Roggen, am Kleefeld vorbei“, „Märzsturm“, „Heimfahrt in den Abend“, „Wenn ich mich nachts von meinem Lager hebe“, „Das Kind“, „Totenklare“, von denen ich „Märzsturm“ zur Probe anführe:

            Jetzt hänget alle Fenster aus,
            jetzt laßt den Märzsturm in das Haus
            und atmet tief! Wie jungen Wein
            trink‘ ihn, wer kann, in sich hinein.
            Die Kinder weinen jetzt im Traum,
            die Alten aber spürens kaum;
            die Kranken sehen fürchterlich
            das Leben und den Tod vor sich.
            Die Weiber stehen auf und geh’n
            jetzt hin und her. Sie bleiben steh’n.
            Das Herz schlägt ihnen viel zu laut,
            wer heute kommt, zahlt keine Maut.
            Heut ist der Märzsturm aufgewacht,
            heut‘ weht das Leben durch die Nacht.
            O hänget alle Fenster aus:
            Das Leben kommt! Laßt es ins Haus!

            Zernatto hat sich mit seinem ersten Gedichtbändchen in die Reihe der großen österreichischen Lyriker gestellt. Es ist etwas in seinen Dichtungen, das unsere Liebe erweckt und ihnen Ewigkeitswert verleiht.

            Erika Mitterer, die fünfundzwanzigjährige Wiener Dichterin, hat durch ihren ersten Gedichtband Der heilige Tag bereits Aufsehen erregt. Nun ist jetzt wieder ein Gedichtband von ihr erschienen: Dank des Lebens (Verlag Rütten &Loening, Frankfurt am Main). Erika Mitterers Dichtungen sind nicht Frauenlyrik im traditionellen Sinne des Wortes. Weiblich im Gefühl, ist sie in ihrem strengen Willen zur Form gänzlich unfeminin. Sie hat etwas von männlicher Strenge und männlicher Zucht. Sie erinnert – ein wenig allzusehr – an Rilke, an den späten, hymnischen Rilke der „Sonette des Orpheus“. Hoffentlich emanzipiert sie sich von ihrem großen Vorbild und findet den Weg zu einer eigenen Form. Denn Erika Mitterer ist eine ungewöhnliche Begabung. Sie erweckt große Hoffnungen und gibt auch schon große Erfüllungen. Tiefe und Leidenschaft des Empfindens finden bei ihr Ausdruck in Versen, die voll reifer Formkultur sind. Eine hingebungsvolle Frauenseele singt und wir lauschen gern dem holden Klang dieser Stimme. Eine tief und schmerzlich erlebte Liebe ist das Thema ihrer meisten Dichtungen, von denen wir zur Probe das folgende reizende Gedicht anführen:

                        Sei nicht müde, mein Kind,
                        weil ich nicht bin.
                        Es kommt ja der Wind
                        noch zu dir hin.
                        Er bringt dir Fühlung mit
                        von allen Fernen;
                        vom Herzen reicht sein Schritt
                        bis zu den Sternen.
                        Sei nicht müde, mein Kind,
                        ich war dir zu nah.
                        Sieh, ich bin im Wind
                        immer da.

In: Neues Wiener Journal, 5.9.1931, S. 6.

Friedrich Austerlitz: Ein Tag gewaltigsten Umsturzes (1918)

Welch ein Tag! In seinem Rahmen drängen sich Ereignisse zusammen, die wie Flammenzeichen aufsteigen und der ganzen Erde das Ende Österreichs verkünden. Das endgültige, furchtbare, schreckliche Ende!

Am Piave ist der Widerstand der österreichisch-ungarischen Armee zusammengebrochen und so hat sie um den Waffenstillstand gebeten. Mittwoch früh 1 hat das Armeeoberkommando zu der italienischen Heeresverwaltung einen Parlamentär geschickt. Die Italiener haben die Verhandlungen zuerst abgelehnt […] Der Sieg der Feinde ist vollendet; es gibt keine Gegenwehr mehr in Österreich, weil es kein Österreich mehr gibt. Es war von den schwarz-gelben Patrioten doch recht voreilig auf das „Österreich der Front“ stolz und rühmend hinzuweisen. Würdig an den Zusammen-//bruch des Landheeres reiht sich die Auflösung der Kriegsmarine an: Die österreichisch-ungarische Kriegsflotte besteht seit heute nicht mehr. Sie wird einfach dem kroatischen Nationalrat übergeben, der auch sofort seine Flagge hissen kann. Die Mannschaften können, wenn sie nicht Südslaven sind, nach Hause gehen; aber der ganze Stab kann auch bei dem Nationalrat Dienst nehmen. Die Übergabe wird mit der Stimmung der südslavischen Mannschaften folgendermaßen begründet: „Die Erklärung der Trennung Ungarns von Österreich, dann die Erklärungen des tschechischen und südslavischen Nationalrates konnten nicht ohne Einwirkung auf die Mannschaften der Kriegsmarine bleiben. Die Rückberufung der Mannschaften durch die Nationalräte hätte derart auflösend gewirkt, daß blutige Zusammenstöße zwischen den einzelnen Nationalitäten nicht unwahrscheinlich würden und die Flotte dadurch wehrlos gemacht, dem Feinde zum Opfer gefallen wäre. Dem vorzubeugen und das wertvolle Material der Kriegsmarine den Nationalstaaten Österreich-Ungarns zu erhalten, entschloß man sich zu dem bekannten Schritte, als dem einzig richtigen in dieser schwierigen Lage.“ Die Behörden haben bei der Übergabe das Eigentumsrecht der „nichtsüdslavischen Nationen“ geltend zu machen und sich die seinerzeitige „Ablösung“ vorzubehalten. Protokollarisch vorzubehalten! […] Triest ist von der amerikanischen Flotte besetzt worden, und das ist schon ein Trost: Man nimmt an, daß die Amerikaner die Stadt besetzt haben, damit die Italiener nicht kommen und sie gleich endgültig in Besitz nehmen, damit also ihr weiteres Schicksal noch eine offene Frage bleibe. Und um das militärische Ungemach voll zu erleiden: Fiume ist von der italienischen Flotte besetzt und in Laibach sind englische Truppen eingezogen 

Während sich in Österreich die Auflösung des Nationalitätenstaates und die Gründung der Nationalstaaten in disziplinierten Formen vollzieht, obwohl die tiefe Gärung im gesamten Volkskörper unverkennbar ist, war Budapest von Mittwoch abend an der Schauplatz von Vorgängen revolutionärster Art, die damit endigten, daß die gesamte bürgerliche und militärische Gewalt in die Hände des Nationalrates fiel. Die unmittelbare Folge war, daß die Mission des Grafen Hadik aufgegeben und Graf Michael Karoly mit der Kabinettsbildung betraut wurde. Daß nur Karoly, der Demokrat und Pazifist, fähig sei, die Dinge zu meistern, war schon längst klar; warum man sich also weigerte, ihn zu ernennen, ist nicht zu begreifen. In Karolys Regierung treten zwei Sozialdemokraten ein: die Genossen Garami und Kunfi auch das zeigt den gewaltigen Wandel an, der sich in so wenigen Tagen vollzogen hat. Dazwischen fällt als aufrüttelndes Ereignis die Ermordung des Grafen Stephan Tisza, den auf einem Spaziergang Soldaten erschossen haben. In dem Attentat hat sich offenkundig die Verbitterung der Soldaten gegen den Mann entladen, der an dem Ausbruch des Krieges so große Schuld trägt. Die neue Regierung hat ernste Aufrufe erlassen, in denen sie zur Ruhe und Ordnung mahnt. 

In guten Bahnen bewegt sich die Bildung der neuen Regierung in Deutschösterreichs. Sie ist nun vollendet, das Direktorium des Staatsrates und die Staatssekretäre ernannt und feierlich in die Pflicht genommen; die Übernahme sämtlicher alter Ministerien, soweit ihre Funktionen das deutsche Gebiet betreffen, wird ohne Verzug geschehen. Schwere, ernste, unendlich große Arbeit steht vor den Männern, die nun berufen sind, die Geschicke Deutschösterreichs zu leiten; möge ihnen fruchtbarer Erfolg beschieden sein. Die ungeheure Sorge, die sie auf sich nehmen, die Verantwortung, die auf ihnen lastet, gebietet allen, ihnen mit Vertrauen, Hingebung und Disziplin zur Seite zu stehen und alles zu tun, was ihre Arbeit fördern, alles zu unterlassen, was sie stören könnte. 

In: Arbeiter-Zeitung, 1.11.1918, S. 1-2.

  1. 10.

Edwin Rollett: „Traumtheater“ und „Traumstück“ von Karl Kraus (1924)

(Erstaufführung: Neue Wiener Bühne, 29. April.)

Die Feier des 50. Geburtstages von Karl Kraus, die am Dienstag in der Neuen Wiener Bühne vor sich ging, wurde durch eine Rede des Regisseurs Berthold Viertel eröffnet, der Kraus, „den eigensinnigsten Sohn Wiens“, nach Wesen, Art und Charakter schilderte, die Bedeutung Wiens für Schaffen und Entwicklung des Mannes darstellte, der, „indem er in Wien geblieben, weit über Wien hinauswuchs“, und die verschiedenen Wege aufzeigte, auf denen der Norden und der Süden an die Persönlichkeit des Kämpfers und Dichters Kraus

heranzukommen streben: wie dem Berliner die schneidende Verstandesschärfe das gemäße Eingangstor zu seinem inneren Wesen, dem Wiener dagegen die Pointe des Witzes die Brücke zu ihm bildet. Das zu sich selbst geflüchtete Innenleben des Satirikers, dessen Darstellung die Rede gewidmet war, bildet auch den Inhalt der nachfolgenden Stücke, die, wie Viertel sagte, „seinen Schreibtisch auf die Bühne stellen““und die Zuhörer „in einer

Stunde eine Nacht mit dem Dichter erleben lassen“, wie deren ungezählte in seinen Schaffensjahren dahingegangen sind.

Diese abschließenden und überleitenden Sätze der Rede geben die richtige Einstellung zu den beiden Stücken. Traumtheater und Traumstück sind durchaus lyrische Werke, unmittelbare Bekenntnisse, Nachtvisionen, bei denen das direkte und persönliche Mitwirken und Mitleiden des Dichters noch verdeutlicht und veranschaulicht wird durch den

Rahmen, den „Der Dichter“ als dramatis persona beherrscht. Im wörtlichen Sinne steht sein Schreibtisch auf der Bühne, er ist es, der daran sitzt, er, der die Visionen erlebt und an ihnen teilnimmt. Aus dieser Subjektivität aber erwächst ein Typus: der des Kunst- und Lebenverbundenen, des Gestalters und Weltleid Erleidenden. Und das Wort des 

Traumtheaters: „Ich habe zu Einzelgestalten, wie sie im Leben herumlaufen, keine Beziehung“, darf in höherem Sinne über beide Dichtungen gesetzt werden.

„Das Einssein des Weibes und der Schauspielerin, die Übereinstimmung ihrer Verwandlungen, die Bühnenhaftigkeit einer Anmut, die zu jeder Laune ein Gesicht stellt“, die Erkenntnis der „zeitwidrigen Urkraft“ des Weibes, des „Urgesichts der monotonen Vielgestalt und Wechselblicks Naturgewalt“ sind die Probleme der „zarten Gabe“, die Traumtheater heißt. Fünf kleine schlanke Szenen, licht, klar und  spielfreudig, in dem schweren Rahmen des Zwiegespräches von Dichter und Regisseur, eingefügt als erhellender Traum in die trübe Wirklichkeit, als ein Lichtblick aus den

Regionen, in denen „die Elemente auf das Leben losgelassen“ sind, einen Meter hoch über dem Leben. — Ein Fliehen in das Reich der Phantasie, aus dem das Theater als einziges Vorwerk in die Wirklichkeit herüberragt, dem Traum verwandt in seiner Unwirklichkeit, Sinnenspiel und Spiel der Gedanken vereinend, im Verlorensein Geist und Leib zueinander führend, zugleich Symbol des künstlerischen Schaffens und seiner Kämpfe mit der Realität überhaupt.— Was an Symbolik und an mystischen Zusammenhängen noch in diesem feinen

Spiele liegt, ist wohl nachzufühlen, nicht nachzudenken. Wie viele Deutungen möglich, wievielerlei Gaben daraus zu nehmen sind, läßt sich nur ahnen. Eine skizzierende Analyse von Poesie bringt nur den Schatten ihres Skelettes fertig. Nur Konstruktionen lassen sich bis zu Ende deuten. Dichtung muß in ihrem Wesen erfühlt, immer neu, immer anders erfühlt werden.

Das Traumstück, das aus Vorlesungen des Dichters und aus der schon seit längerer Zeit erschienenen Buchausgabe bereits bekannt war, ist das weltanschaulichere, das wirklichkeitsnähere der beiden Stücke. Visionen der Sehnsüchte und der Widerstände, gestaltende Abrechnung mit den Fratzen der Wirklichkeit, die in das Traumleben eindringen.

Die peinigenden Erscheinungen der entmenschten Nachkriegszeit, aus denen Niedertracht, Habsucht, Vertierung und abgründiges Elend ihre Bekenntnisse tun, löst die Flucht in die Natur, zum Ideal ab. Die dorthin nachdringenden scheußlichen Bilder knechtender Unfreiheit erwecken die Kampfesfreude des Verstandes, der wieder durch Ausartungen des Verstandes, die „Psychoanalen“, denen die längste // und schärfste Szene des Dramas gilt, verscheucht wird. Traum und Traumdeutung sind hier in ebenso geistreicher als boshafter Art in Beziehung gestellt. Der Hilferuf, in den die Szene ausklingt, sucht Rettung aus solcher Klarheit in den Traum. „Imago“, das aus der Wand sprechende Bild, hier eine Versinnlichung künstlerischen Weltfühlens, das alles durchlebt und sich in allem darbietet, das kleine, sonst übersehene, von ihm beachtete Geräusch des fallenden Tropfens, die Poesie des Kleinsten, und der Traum selbst führen endlich den Weg des Trostes, leiten in ein  phantasiebeschwingtes Erwachen, dem das Geräusch des Teppichklopfens noch zu einer letzten Vision verhilft, die die Welt nicht nach Besitz, sondern nach Wert geordnet zeigt und schon durch einen Ansatz dazu Versöhnung mit dem Leben verheißt. 

Das Erlebnis dieser Traumdichtungen wird durch eine ganz ungewöhnlich intensive Regietat Berthold Viertels vermittelt. Er ist der bühnenkundige, hingebungsfreudige Leiter, den solche Dichtung, ja Dichtung überhaupt, braucht. Seine Führung bleibt in der Gefolgschaft des Autors, hebt Gedanken, Vers und Wort sinnlich, ohne sie zum Effekt auszuschroten. Aus dem Versenken in die dichterische erwächst ihm die theatralische Vision. Geringfügiges gewinnt Bedeutung: Der gedämpfte Trommelwirbel hinter der Szene, der die Erscheinung des Schieberpelzes begleitet, das spukhafte Hervorschnellen der drei Nachkriegsvisagen, der unheimlich starre Aufmarsch der Teufel des Weltkrieges sowie die unwirkliche Lieblichkeit der Imagoszene im Traumstück und die halb wie ein Märchen, halb wie ein Marionettenspiel gehaltene Stilisierung der Visionsszenen des Traumtheaters spiegeln Geist vom Geiste des Dichters. Die szenischen Bilder Leopold Blonders gesellen der Dichtung und den Regieideen das entsprechende malerische Gewand. Lothar Müthel hat in beiden Stücken die Rolle des Dichters inne. Sein Spiel ordnet sich von innen heraus. Der Schwerpunkt liegt im Herzen. Der Körper gehorcht den Gängen der Seele, der Ton des Sprechers dem Geiste des Wortes. Cäcilie Lvovsky innig und lieblich als Imago, weich, instinkthaft, gar nicht dämonisch als Schauspielerin im Traumtheater, weder Schlange noch Kätzchen, sondern warmes Weib. Von überwältigender Scheußlichkeit Oskar Homolka als Gürtelpelz und als tanzender Zinsfuß, Lyda Salmanova als Valuta, das Trio der Psychoanalen (Behal, Farkas, Schrecker) äffende Alpdrücke. Karl Götz, dezent als „der alte Esel“, Ernst Stahl-Nachbaur männlich und fest in beiden Stücken. Unter den Darstellern gab es keinen, der nicht gegeben hätte, was er konnte und mußte.

Daß die Hörerschaft von diesem in jeder Hinsicht seltenen Theaterereignis hingerissen ward, gehört zum Selbstverständlichen.

In: Wiener Zeitung, 2.5.1924, S. 1-2.

Edwin Rollett: Der Heimatdichter und sein Erfolg. Zu J. C. Heers 70. Geburtstag (1929)

Eine Betrachtung der schriftstellerischen Persönlichkeit J. C. Heers rollt zweierlei Probleme auf. – Und jede Betrachtung eines nicht in der ersten Reihe der Literatur stehenden Schriftstellers vier Jahre nach seinem Tod kann, wenn sie nicht rein philosophisch ist, nur durch die Bedeutung der an ihn gebundenen und in ihm ausgedrückten allgemeinen Fragen und Probleme gerechtfertigt werden, ja wird wohl geradezu nur durch sie veranlaßt und um ihretwillen angestellt. – Sich mit J.C. Heer beschäftigen, heißt mit anderen Worten die Frage der Heimatliteratur aufwerfen, Sinn, Grund, Bedeutung von Stoff, Gegenstand, Hintergrund und Milieu des Romans beleuchten, es heißt aber auch, und das kaum weniger, der Psychologie des Erfolges der schriftstellerischen Publikumswirkung, dem Magnetismus des Romans nachzuspüren, wobei gleich gesagt sein soll, daß zwischen diesen beiden Fragen ein gewisser Zusammenhang besteht. 

Es ist ein Ästhetenmärchen, ein ausgesprochener Aberglaube, daß der Gegenstand des Romans Nebensache ist. Gewiß kann eine geniale Künstlerhand jeden ihr gemäßen Stoff zum Gegenstand formen, kann auf der Entdeckungsfahrt in die Füße des Lebens Gebiete entdecken, deren Vorhandensein bisher als belanglos ignoriert wurde. Das Findergenie des großen Erzählers fährt ja mit jedem wirklich künstlerischen Roman derart die Columbus-Reise über den westlichen Ozean nach Ostindien und erschließt einen neuen Erdteil. Was neben den Genialen und nach ihnen segelt, das lebt aber nicht durch die Tatsache der Entdeckung, sondern von den gewonnenen Kolonialprodukten, nicht durch die Genialität der erstmaligen Tat, sondern durch die Tüchtigkeit der Verwertung des Gefundenen.

Columbusnaturen waren, um auf dem Gebiet der Heimatkunst zu bleiben, unbedingt etwa die Geschwister Brentano, das war im anderen Sinn Fritz Reute, war auch Rosegger, der anfangs seine Entdeckung nicht einmal einzugestehen wagte, und seinen Waldschulmeister irgend wohin nach Tirol verlegte, weil ihm seine Fischbacher Alpen und Mürztaler Berge zu unansehnlich, zu unbekannt erschienen, und er meinte, einen populären Namen als Vorspann benützen zu müssen. Columbusnaturen waren in der Schweiz ganz besonders Jeremias Gotthelf und Gottfried Keller, der Berner Bauer und der Züricher Bürger, die jeder selbst Ergebnis und Träger der Kräfte ihrer schweizerischen Heimat, mit dem Selbstbewußtsein der Söhne eines jahrhundertelang republikanischen Stammes, dessen Eigenart ohne Beschönigung und ohne Beschränkung einbekannten, darstellten, künstlerisch ausformten, so kräftig und überwältigend, daß Schweizertum und Schweizer Volk literarische Mode wurden. 

Auf solchen Fundamenten baute die Schweizer Heimatkunst am Jahrhundertende weiter, begünstigt durch den realistisch naturalistischen Zug, der zu jener Zeit die gesamte europäische Literatur beherrschte und allenthalben dazu verleitete, gewissenhafte Ortsangaben und Zeitbestimmungen durch detaillierte, spezialisierte Schilderung, durch Nachzeichnung wohlbekannter und vertrauter Charaktere zu ergänzen, begünstigt endlich durch die geläufig gewordene Popularität Kellers, begünstigt endlich durch den zunehmenden Fremdenverkehr, der jeden schweizerischen Heimatroman für so viele nicht nur zu einer durch die dargestellten Ereignisse, Schicksale und Stimmungen anregenden, sondern durch Landschaft und Milieu an Sommerfrische, Bergpartie und Erholung erinnernden, also von vornherein angenehm und willkommenen Lektüre machte, weil es sich darin doch um die bekannten Schweizer Berge und Schweizer Herzen handelt. 

So ungefähr stellte sich die literarische Konjunkturlage dar, als der Winterthurer Bauernsohn, spätere Volksschullehrer und damalige Feuilletonredakteur der Neuen Zürcher Zeitung mit seinem Erstling hervortrat, und was an Material, an Elementen und Ingredienzien zu einem guten Heimatroman nötig ist, das war in // diesen „Heiligen Wassern“ schon reichlich enthalten: das Bauerntum mit echtem Erdgeruch bieder (manchmal bis zur Borniertheit), fromm (oft bis zum Aberglauben), naturhaft (selbst bis zur Unmenschlichkeit) und bodenständig (bis zur erbitterten Feindschaft gegen Besserung des Lebens).  Dieses Bauerntum wurzelt ausschließlich und unausreißbar angeklammert in seinem Boden, auch wenn er furchtbar mit ihm umgeht, auch wenn die Heimat zum Fluch wird und ihre Kinder einem Blutbann unterwirft, wie der, der dem Dorf Sankt Peter, hoch oben an der Gletschergrenze, von Zeit zu Zeit immer wieder ein oder ein paar Menschenopfer abfordert, ähnlich dem Lindwurm, der den Städten der Sage solchen Tribut auferlegt hatte. Das Bauerntum der Berge also mit all seinen Mühsalen und Schwierigkeiten ist sozusagen das Rückgrat seiner Romane, jenes harte Bauerntum, das im Sommerfrischler ein so wohltuendes Gruseln erzeugen kann. Daneben Landschaft, sehr viel Landschaft. Darin war Heer ja seit jeher groß, man kann sagen, als Meister vom Himmel gefallen. Durch seine Fähigkeit, eine Landschaft in ihrer Eigenart, ihrem Reiz, ihrem speziellen Charakter zu erfassen und das Erfaßte in Worten festzuhalten, hatte er zu allererst auf sich aufmerksam gemacht. Als der Reisende in den Adriagegenden und als Schilderer von Ballonfahrten und den dort gewonnenen Eindrücken, als der Beschreiber der Landschaft aus der Vogelschau war er bekannt geworden. Das alles ist mit großer Solidität und ausgesprochener Tüchtigkeit, ohne Extravaganz, allerdings auch ohne besonderen Schwung in diesen Roman gegeben und schließlich fehlt auch noch der Fremdenverkehr nicht, der Schutzpatron der ganzen schriftstellerischen Richtung, der dem Alpental sogar gegen dessen Wunsch neue, frische Impulse und endlich doch eine Lebensverbesserung zuführt. 

Es ist wie ein Rezept, wonach der erste, wonach aber auch so ziemlich alle anderen seiner Romane gebaut sind, selbst sein nachdrücklichster Erfolg Joggeli und sein ausgebreitetster Der Wetterwart. Das Handwerkliche steht im Vordergrund und auch damit ist Heer der typische Vertreter der ganzen Heimatdichter.

Nicht nur ihrer Abstammung nach, die sich ja von bahnbrechenden Genialitäten herleitet, sondern ebenso in ihrer Wirkung ist diese Heimatskunst aber eine gute, löbliche und gesunde Erscheinung, mag sie auch oft in allzu weitgehender Überschätzung des Stoffes diesen zum Selbstzweck erheben und schwelgerisch in ihm verweilen, mag sie auch mitunter das persönliche Interesse des Autors und das erhoffte des Lesers durch übertriebenes Entgegenkommen auszeichnen. Eine gewisse, wenn auch beschränkte Garantie gegen die Gefahr allzu papierenen Literatentums liegt doch in ihr. Hie Kaffeehaus – hie Sommerwohnung! So stellt sich der literarische Antagonismus von Stadt und Land, genauer besehen, dar, so kann man (auch heute noch) das deutsche Schrifttum halbieren, soweit nicht die ganze dünne Schicht in Frage steht, die wirklich Kunst zu schaffen vermag. Und es ist eine Angelegenheit des Geschmacks, nach welcher Seite man sich schlagen will. 

Das deutsche Lesepublikum hat seine Entscheidung getroffen: die psychologische Konstruktion der Kaffeehausliteratur bucht manchen Sensationserfolg für sich. Sie lockt mit den Mitteln des Unbekannten, des Seltsamen, des Pathologischen, des Abenteuers, das sich freilich hier meist nicht in geographisch, viel mehr in psychologisch und sozial fremden Regionen vollzieht. Diese Fremde übt gewiß ihre Anziehungskraft. Aber dauerhafter, solider ist jener andere Magnetismus, der von der Assoziation des Bekannten und Geläufigen, vom Wiederfinden eigener Stimmungen und Empfindungen ausgelöst wird. Er beherrscht jene sehr breite Sphäre, in der nicht der abenteuerliche Reiz (allerdings auch nicht die Adelung und Selbsterneuerung durch wahrhafte Kunst), sondern die gegenständige Solidität, die Bürgerlichkeit maßgebend sind. Dieser weit ausgedehnte Kreis des deutschen Bürgerhauses sucht sich die zu ihm passenden Bücher.

Es ist Gebrauchsliteratur, die da gefordert wird, so wie man von Gebrauchslyrik oder Gebrauchsmusik spricht, eine Literatur, die alle Kultur-,// Sozial- und Religionsprobleme nicht in ihrer voller Wucht und Größe erfaßt, sondern in den Regionen des Unterhaltungsbedürfnisses verharren bleibt, die, soweit es sich um Heimatdichtung handelt, einer im Grunde genommen intellektualistischen Neigung huldigt, nach welcher sich die Wechselbeziehungen zwischen Volk und Kunst nicht als ein gewiß beschränkter, aber  natürlicher Widerhall eines machtvollen Klanges in mehr oder minder taubem Gestein vollziehen, nicht als das Spiegelbild eines Gipfels im See darstellen (wie es bei Keller war), einer Neigung vielmehr, die meint, über eine hier und dort auf der halben Höhe des Entgegenkommens gespannte Konzessionsbrücke den Wechselverkehr bequem vollziehen zu können. Es ist der Standpunkt, des Sommerfrischlers, des unbeteiligten zufriedenen Beschauers, der hier ganz augenscheinlich dominiert. 

Dieses deutsche Bürgerhaus aber beherrscht als der Hauptkäufer den Markt, trägt das Buch, macht seinen Erfolg und bestimmt das Geschäft von Autor und Verleger. Würde denn das Trommelfeuer der Verlagsprospekte, Annoncen und Affichen, würde der Ertrag der glänzenden Abonnentenspekulation, die sich Buchgemeinschaften nennt, würde die nahezu undurchdringliche, sicher unausrottbare Organisation der Freundschafts- und Gefälligkeitskritik auch nur halb den Umfang haben, wenn es anders wäre?

Nicht das Buch als geistige Kraft und  geistige Macht ist dabei zu betrachten, sondern das Buch in seiner kaufmännischen Realität, als Ware, deren Werk sich ausschließlich nach der Nachfrage, also nach einer, nicht durch die absoluten Maße der Idee, sondern durch das höchst subjektive Element der Bequemlichkeit bestimmten Skala richtet.

Das Bedürfnis der Käufer bestimmt die Art der Ware, Das leicht faßliche mußte über das ideentiefe Werk triumphieren, das bequem zugängliche über jedes eigenartige und originelle, das nur anschauliche über das symbolische und gedankenstarke, das stofflich reiche über das gegenständlich hochwertige. Dabei ist ein gewisser nicht zu reichlicher ideeller Gehalt als Gewürz höchst willkommen. Zu viel Gewürz aber verdirbt den Braten. Ohne Theatralik der Aufmachung geht es auch nicht ab. Sie muß das ideelle Rückgrat vortäuschen, wo es fehlt, oder die Idylle so lange verkünden, bis sie geglaubt wird. Rein künstlerische Fragen treten in den Hintergrund. Die Gestaltung des lebendigen Sprachorganismus wird unwesentlich verglichen mit dem Gegenstand, der aus leicht zu bearbeitendem Sprachmaterial geformt wird. Daß auch die Literatur eine bildende Kunst sein muß, ist in Vergessenheit geraten.

Mit der Bevorzugung des. Gegenstandes. Hängt aber auch eine andere Erscheinung eng zusammen, die fast erfreulich scheinen möchte und als ein Zeichen der Gesundheit gelten darf: unter all den Büchern, die sich deutsche Heimatliteratur nennen, ist nicht ein einziges, das im Sinne bürgerlicher Sittlichkeit anstößig, das seiner Tendenz nach nicht gut zu heißen wäre. Mag man auch feinen menschlichen Wert noch so sehr in Zweifel ziehen, irgendwo glimmt in jedem Heimatdichter ein Funken echten Idealismus.‘

Nach all diesen Seiten hin kann I. C. Heer als Typus und Vertreter einer ganzen Richtung gelten, als der Dichter der deutschen Bürgerfamilie mit höheren Ambitionen. Das ist vom Standpunkt höchster Kunstkritik aus gesehen nicht eben viel. Das ist aber um so mehr, betrachtet man die Funktion des geschriebenen und gedruckten Wortes im Lebensganzen einer breiten Volksschichte. Es ist im wesentlichen eine Lehreraufgabe, die zu bewältigen ist, um so schwieriger, als sie von den Belehrten nie bemerkt werden darf, auch undankbar, insofern kein ideeller Erfolg sichtbar wird. Es ist die Kleinarbeit des Zwischenhändlers der Kunst, der, in der Mitte des Weges vom Genie zum Banausen stehend, jedem, der beiden die Hand reichen möchte, ein Volksbildneramt, wie so viele andere, nur daß dabei etwas mehr Ertrag abfällt, bei dem es gar sehr auf die Menge des Gebotenen und die Menge der Aufnehmenden ankommt, damit nur irgend etwas vom Guten hängen bleibt.

In: Wiener Zeitung, 18.7. 1929, S. 1-3.

Ernst Lothar: Gespräch über die besten Bücher des Jahres. Ratschläge, Urteile, Feststellungen (1928)

Der Bücherfreund (zum Kritiker): Sie haben kürzlich vom „Glück der Bücher“ gesprochen, das einem seither ja auch auf allen Plakatwänden mundgerecht gemacht wird. Wollten Sie nicht über das Allgemeine hinausgehen und bestimmte Werke nennen? Vor Weihnachten haben viele, die Bücher kaufen werden, den Wunsch nach einem Rat. Blättert man aber die Kataloge durch, dann erschreckt man vor der Quantität und wird noch konfuser. Welche Bücher empfehlen Sie? 

Der Büchersnob: Die Frage des Herrn ist wohl in der Einzahl gemeint! Er will, hoffe ich, schlimmstenfalls sagen: welche zwei oder drei Bücher empfehlen Sie? Denn das, worum es sich hier handeln kann, ist doch nur: das Buch des Jahres. Das Buch, von dem man spricht. Sind Sie mehr für den Ulysses von James Joyce oder für das Chinabuch Die Eroberer von Malraux? 

Der Kritiker: Auf diese Art werden wir uns schlecht verständigen. Rekommandationen für Fünfuhrgespräche zu liefern, bin ich außerstande. Auch ist es weder meine Sache, das Verstiegen-Abseitige zu bestätigen noch irgend etwas nur deshalb zu rühmen, weil es von Ausländern herrührt. Damit will ich nicht sagen, daß dieses Jahr nicht eine ganze Anzahl ausgezeichneter ausländischer Bücher, darunter etwa die genannten, hervorgebracht hat. Aber solange es ausgezeichnete neue Bücher deutscher Verfasser gibt, werde ich zuerst für diese stimmen. Besonders dann, wenn man ihre Autoren noch nicht gebührend kennt. 

Der Bücherfreund: Gibt es denn neue wertvolle deutsche Namen?

Der Kritiker: Es gibt zwei. Sie heißen: Ernst Glaeser und Ernst Weiß. Ernst Glaeser steht im Beginn, Ernst Weiß hat sich trotz vielfachen Beweisen seiner Dichterschaft noch nicht „durchgesetzt“. Lassen Sie mich mit dem Unbekannten beginnen. Von Ernst Glaeser liegt ein Roman Jahrgang 1902 (Verlag Kiepenheuer) vor. Nichts ist mir zuwiderer als die fetten Lobkleckse, die fast jedem Druckwerk prompt und wahllos angepinselt werden. Aber bei ersten Buche eines jungen Deutschen, das die Epoche, die dem Krieg unmittelbar voranging, aus Knabenausgen sieht, das von lapidarer Sachlichkeit ist, ohne nüchtern oder roh zu sein, das die junge Generation hinreißend verteidigt, weil es ihre Defekte aus ihrem Erlebnis ursächlich erklärt und ihre Vorzüge wortlos sichtbar macht: bei diesem Buch, das überall dokumentarisch wirkt, ist das Wort „außerordentlich“ am Platze und vielleicht noch zu gering. Wer die höhnischen Schlagworte über die neue Jugend verlernen und die um 1902 Geborenen verstehen lernen will, erwerbe den Jahrgang 1902. Auch der Roman Boetius von Orlamünde (Verlag S. Fischer), der Ernst Weiß zum Dichter hat, formt das Problem des jungen Menschen dieser Zeit. Mit reinsten Mitteln, in einem beispielhaften Deutsch von // schöner epischer Ruhe wird das Heranreifen eines adeligen Konviktszöglings erzählt und der Sport monumentalisiert. Doch nicht auf die landläufige Zyniker-Art, welche den Erd- zu einem riesigen Fußball deformiert, sondern in einer neuen, persönlichen, harmonischen Verbindung von Muskel- und Seelentum. Ergreifend klingt ein Oberton von Güte und Zartheit aus diesen Blättern, die den Fäusten Reverenz erweisen… Ein Ton, der in den jüngeren geistigen Hervorbringungen Deutschlands selten wurde. 

Der Büchersnob: Sie preisen also noch immer „Romane“ an? Haben Sie gelesen, was bei einer Rundfrage nach den besten Büchern Bert Brecht einer Berliner Zeitschrift jüngst geantwortet hat: er findet den Roman von heute „stumpfsinnig“ und nennt als „Prototyp der üblichen stumpfsinnigen Form unsres Romans“ den Fall Maurizius von Jakob Wassermann. Was sagen Sie dazu? 

Der Kritiker: Dazu lache ich. Urteile solcher krassen Verantwortungslosigkeit kann man nicht ernst nehmen. Derselbe Bert Brecht spricht übrigens an derselben Stelle von der „respektablen Dummheit“, die er in Wells „Welt des William Clifford“ gefunden haben will. Ich, meinerseits, habe sie in seinem Werturteil über Wassermann und Wells gefunden, und nicht einmal so respektabel. Was aber den „Fall Maurizius“ betrifft, ist er der beste deutsche Roman dieses Jahres; in Problematik, Komposition und Ausdruck. 

Der Bücherfreund: Wie denken Sie über Arthur Schnitzlers Therese? Ich habe in deutschen Blättern Beurteilungen gelesen, die miteinander nicht übereinstimmen. 

Der Kritiker: Hier liegt ein kritisch sonderbarer Fall vor. Man hat, in Deutschland, der Therese ihren „grauen Ton“ zum Vorwurf gemacht. Man fand die chronikale, sozusagen protokollhafte Aneinanderreihung von Fakten des kargen Lebens einförmig und der Gesamtfarbe abträglich. Dieser Meinung kann ich nicht beipflichten. Denn hier wird als ein Manko betrachtet, was bewußte dichterische Absicht und wohl auch Notwendigkeit war. Nie hat sich Arthur Schnitzler um Vortrag oder Thema monoton gezeigt; immer als das absolute Gegenteil. Schon dieser sinnfällige Unterschied zwischen seinem bisherigen Werk und der „Therese“ hätte klarstellen müssen, daß dieser Unterschied gewollt war. Nicht also zufällig oder aus nachlassender Kraft hat hier ein großer Dichter einen Lebensalltag grau in grau gezeichnet, sondern: dies war strenges Darstellungsprinzip. Richtiges, wie ich glaube. Aus der Summe gleichbleibender Summanden sollte die ungeheure Differenz zwischen Anspruch und Erfüllung abgelesen werden; aus dem lebenslang Unveränderten die Überlebensgröße des Unabänderlichen; aus dem Oberflächengrau die unterirdische Blutröte der Sehnsucht. Deshalb wirkt das Buch ganz so beklemmend wie unser Leben. Die Französin Bovary hat in der Wienerin „Therese“ eine ebenbürtige Schwester gefunden. 

Der Bücherfreund: Und wie steht es mit den Büchern anderer Autoren von anerkanntem Rang?

Der Kritiker: Es sind Nieten darunter. Dem Rang ihrer Dichter entsprechen: Heinrich Manns Eugenie (Verlag Zsolnay): eine faszinierende Frauenfigur, von einem bizarren Hintergrund meisterhaft abgehoben. Dann: Franz Werfels Abituriententag (Verlag Zsolnay); René Schickeles Blick auf die Vogesen (Verlag Kurt Wolff): Beide von innerem Blick, zeitnah, vollkommen erzählt. 

Der Bücherfreund: Und das nichtdeutsche Ausland? Jetzt werden Sie doch wohl Ausländer nennen?

Der Kritiker: Ich habe noch nicht die Absicht. Ich fange geradezu erst an. Denn nun kommen die Bücher jener Autoren, die zwar bekannt, aber in Österreich nicht genug gelesen sind. Wappnen Sie sich mit Geduld, denn ihrer sind nicht wenig! Da ist vor allem Arnold Zweig. Kennen Sie seinen Roman Der Streit um den Sergeanten Grischa? (Verlag Kiepenheuer). Es ist der Kriegsroman Deutschlands. Ganz abgesehen davon, daß er (technisch) mit einer staunenswerten Kunst gebaut, gesteigert, vorgetragen ist, besitzt er eine Universalität der Anschauung, eine Objektivität des Urteils, eine Schlagkraft der gestalterischen Beweisführung, daß man diesem Buche anheimfällt wie einer Passion. Um dieses gräßlich abgegriffene Wort zu brauchen: das Buch ist ein Erlebnis. Arnold Zweig hat in diesem Jahre außerdem die Erzählung Pont und Anna veröffentlicht, die eine Figur aus dem „Sergeanten Grischa“ übernimmt und fortsetzt (Verlag Kiepenheuer). Auch diese Erzählung überragt durch Realität und Landschaftsbildnerschaft den Durchschnitt hoch. Hier nenne ich gleich Leonhard Frank, aus dessen Humanitätsschule der junge Ernst Glaeser kommt, mit dem entzückenden Ochsenfurter Männerquartett (Insel-Verlag); Heinrich Eduard Jacobs kleinen Roman Jacqueline und die Japaner (Verlag Rowohlt): Rassenfragen mit Takt und Feinfühligkeit gültig beantwortet und in schwebende Sprachmusik gesetzt; „Als Mariner im Krieg“ von Joachim Ringelnatz (Verlag Rowohlt): Berichte von einer Präzision, Vitalität und Ungeschminktheit, die ihresgleichen suchen; Bruno Frank: Politische Novelle (Verlag Rowohlt), fesselnde Verbindung von politischer und Menschenanschauung, die einem eminenten Stilisten gelang; erfreulicherweise auch zwei österreichische Erzähler: O. M. Fontanas Roman Gefangene der Erde (Verlag Knaur), der mit Recht den Preis der Stadt Wien erhielt, da er Phantasie, Feuer und ethische Kraft vereint; Paula Grogger, die steirische Dichterin, deren Roman Grimmingtor und deren Novelle Die Sternensinger (Ostdeutsche Verlagsanstalt) seit langem wieder ein großes österreichisches Frauentalent beglaubigen. Lassen Sie mich hier der herrlichen Gedichte gedenken, die Max Mell im Speidelschen Verlage hat erscheinen lassen. Es sind Strophen von einer solchen edlen Anmut, von solcher spürbaren Naturnähe, schlichten Macht und keuschen innersten Melodie, daß ich sie zum Kostbarsten zähle, was wir an deutscher Lyrik überhaupt besitzen. 

Der Büchersnob: Und das Ausland? Geben Sie doch endlich die Pfahlbürgerei auf, immer nur „Nationales“ // zu propagieren. Europäisch muß das Buch sein, wenn es mir gefallen soll. Nennen Sie mir europäische Bücher!

Der Kritiker: Entschuldigen Sie es, wenn ich bei meinen Ratschlägen und Feststellungen auf Ihre Privatmeinung nicht genügend Rücksicht nehme. Denn ich fürchte, daß Ihnen das Wort „europäisch“ nur deshalb so ans Herz gewachsen ist, weil es mit den drei anderen eisernen Intelligenzphrasen („Einstellung“, „Mentalität“, „Rhythmus“) zum täglichen Weltbürgerbedarf gehört. Was sich davor drängt – aber lassen wir das. Ich nenne Ihnen lieber einen ausländischen Roman, der mir den Begriff „europäisch“ vorbildhaft zu verkörpern scheint: „Die amerikanische Tragödie“ von Theodore Dreiser (Verlag Zsolnay). Halten Sie das für paradox: ein amerikanisches Erzeugnis als europäisch reklamiert? Dafür müßten gerade Sie Verständnis haben, obschon ich nichts weniger als ein Paradox beabsichtige. Doch in der Dreiserschen Trilogie manifestiert sich, wie in keinem Buche irgend einer Nation zuvor, der europäische Gedanke: Gegen die Todesstrafe! Wer gelesen hat, wir der junge Clyde Griffith im „Todeshaus“ auf den elektrischen Stuhl vorbereitet wird und ihn nach Jahresfrist erleidet… der ist so unsäglich erschüttert, ja wochenlang ans Kreuz dieser Vision genagelt, daß er für sein ganzes Leben erzogen worden ist. Europäisch erzogen. 

Der Bücherfreund: Ich fürchte, das ist zu deprimierend. Ich für meinen Teil wäre für minder triste Bücher dankbar. 

Der Kritiker: Dann lesen Sie Hamsuns letzten Roman: Landstreicher (Verlag Langen): Nicht ganz so bezaubernd wie „Segen der Erde“ und Die Weiber am Brunnen. Aber immer noch: Hamsun. Also göttliche Ironie der Darstellung. Leben aus der Distanz, trotzdem tief genähert. Und lesen Sie die beiden ersten Originalbände von J. Haseks Geschichte des braven Soldaten Schwejk (Verlag Synek): das ist nicht etwa der von Piscator plakatierte Theaterfilm, sondern ein Epos tiefgründigen Humors, eine gelassene entlarvende Auseinandersetzung mit Schändlichkeiten. Auch der Roman Das Schlangenhemd von Grigol Robakidse (Verlag Diederichs), einem neuen „Ausländer“, zeigt ein unvergeßliches Gesicht, das sich der „Monotonisierung der Welt“ entgegenstemmt und die Charakterzüge des Georgischen Volkes aus dem Hexenkessel europäischer Gleichmacherei erhebt. 

Der Büchersnob: Das alles sind Romane, Novellen, Gedichte. Gibt es denn nichts, das im Grenzgebiet zwischen dem allen läge? Eine neue Form? 

Der Kritiker: Gewiß gibt es das. Es ist die „kleine Form“, die Alfred Polgar meistert. Sein neues Buch Schwarz auf Weiß (Verlag Rowohlt) bereitet ein durch nichts geschmälertes Vergnügen. Delikatessen für literarische Feinschmecker, und noch etwas mehr. Denn in diesen Miniaturen unseres kleinen Lebens ist eine blendende Stilkunst, doch auch eine Beobachtungsschärfe am Werk, welche mit des Messers Schneide spielt und trifft. Überdies empfehle ich für jeden, der vor Allzumenschlichem fliehen will, Paul Eippers Tiere sehen dich an (Verlag Reimer) als Rettung. 

Der Büchersnob: Und? 

Der Kritiker: Ich nehme Ihnen das Wort vom Munde, das Sie vorwurfsvoll zurückhalten: Memoiren. Sie wollen (weil auch das zu den Gemeinplätzen gehört, auf denen „europäisch Eingestellte“ mit Vorliebe lustwandeln) vermutlich sagen: „Mir sind Memoiren hundertmal lieber als die besten Romane!“ Bedienen Sie sich. Ob Ihnen freilich Rudolf G. Bindings Erlebtes Leben (Verlag Rütten & Löning), das eines Dichters Dasein schildert, nicht zu „einfach“ sein wird? Diese Einfachheit ist, notabene, grandios. Und ob sie Vera Figner Nacht über Rußland (Malik-Verlag) nicht zu revolutionär finden werden? Ungeachtet diese Denkschrift das Gedächtnis der Welt für alle Zeiten wachrütteln müßte! Ohne mir indes den Kopf hierüber zu sehr zu zerbrechen, nenne ich auf exakteren Literaturgebieten: den zweiten Band von Egon Friedells Kulturgeschichte der Neuzeit (Verlag Beck): Barock und Rokokko in durchaus persönlicher Weise gesehen und sichtbar gemacht; falsche Meinungsfassaden glänzend blankgeputzt, eingekrustete Vorurteile rabiat abgerissen; eines wie das andere mit einer Polyhistorkenntnis, mit außerordentlicher Formulierung und mit bedeutender Kraft zu rebellischer Synthese. Wells Weltgeschichte (Verlag Zsolnay): Mehr als Wissenschaft, die es natürlich auch ist. Hier wird Welt- als Menschheitsgeschichte vorgetragen. Schließlich, vom Biographischen dieses Jahres: Josef Redlichs bewundernswertes Standard-Werk über Franz Joseph (Verlag für Kulturpolitik); André Maurois: Disraeli (Verlag S, Fischer), der die großartige Figur Lord Beaconsfields der Dauer überliefert; Paul Wieglers „Wilhelm I, und seine Zeit“ (Avalun-Verlag): eine Epoche nobel empfunden und ebenso beschrieben; Rudolf Kayser: „Stendhal“ (Verlag S. Fischer): Verlebendigung der schönen Gestalt durch Nach- und Nahgefühl; Werner Hegemann: Der gerettete Christus“ (Verlag Kiepenheuer): mißverständlich als Lästerung aufgefaßt, während der Autor im Gegenteil die heilige Idee stützt und reinigt; Emil Ludwig: Der Menschensohn (Verlag Rowohlt): Heilandsbiographie, nicht durchaus auf der Höhe von Ludwigs vorangegangenen historischen Porträts, doch um ihrer psychologischen Klarheit willen lesenswert. Damit bin ich am Ende. 

Der Bücherfreund: Ist Ihre Liste vollständig?

Der Büchersnob: Meiner Meinung nach überkomplett! Und nun verraten Sie mir noch, was Sie bei der Auswahl aller dieser Bücher geleitet hat? 

Der Kritiker: Sie irren in der Annahme, mein Lob-Index erhebe nur den mindesten Anspruch auf Vollständigkeit. Er ist unvollständig, weil subjektiv. Damit beantwortet sich auch Ihre Frage. Um gut zu sein, müssen Bücher, meiner Meinung nach, zwei Forderungen erfüllen: Die der Kunst: diese Forderung ist relativ. Die der Menschlichkeit: diese Forderung ist absolut. 

In: Neue Freie Presse, 16.12.1928, S. 1-3.

Paul Stefan: Rasch noch einige Bücher (1927)

Rasch, das ist noch vor Weihnachten. Es sind vielleicht keine Weihnachtsbücher – die gibt es ja wohl auch gar nicht. Aber es sind Bücher für jedermann, und vor allem gute, sehr gute Bücher. 

Ein merkwürdiger Roman, ein Buch, das alle unsere Ansichten über Amerika und amerikanische Literatur zu erschüttern imstande ist. Das ist die Amerikanische Tragödie von Theodor Dreiser. Dreiser ist deutscher Herkunft, aber der rechte Amerikaner und sein Buch ist selbstverständlich auch englisch geschrieben, jetzt aber in einer guten deutschen Übersetzung bei Zsolnay erschienen. Diese amerikanische Tragödie ist eine richtige Tragödie, nicht minder bedeutungsvoll, als die Schilderung der Schicksale Raskolnikows. Aber hier ist eine Tragödie, wie sie in ihrem erregenden Moment, in ihrer Katastrophe nur in Amerika Ereignis werden konnte. Ein Roman von über tausend Seiten erzählt das Leben und den Tod des jungen Clyde Griffith, dessen Eltern als religiöse Prediger in den Straßen der amerikanischen Provinz umherziehen. Dies ist überhaupt ein Provinzbuch, und so gibt es noch europäische Vergleichsmöglichkeiten, gibt es auch überraschend viele deutsche Familiennamen. Clyde lernt als Boy in einem Hotel die Sitten und den Luxus der großen Welt kennen, gerät dann als Arbeiter, später als Aufseher in die Fabrik seines reichen und angesehenen Onkels; schon winkt ihm die Hand einer reichen Erbin dieser Industriegesellschaft, da wird seine Geliebte, ein entzückendes Mädchen aus der Fabrik, guter Hoffnung. Man sucht die Folgen zu verhindern, aber da es nicht gelingen will, lockt der junge Mann das Mädchen im Ruderboot an eine entlegene Stelle im Seengebiet; er wollte sie töten, aber sie stürzt von selbst ins Wasser. Alsbald kommt die Tat auf und ein ehrgeiziger Staatsanwalt, der um seine Stelle kämpft, leistet sein Probestück, indem er bei den Geschworenen ein Todesurteil durchsetzt. Nun kämpft Clydes Mutter in allen religiösen Gemeinden verzweifelt um die Kosten eines Wiederaufnahmeverfahrens. Aber der Gouverneur lehnt einen neuen Prozeß ab und Clyde muß auf den elektrischen Stuhl. Keinen Augenblick verläßt den Autor, der ein ganz großer Dichter ist, seine psychologische Meisterschaft; Schuld und Sühne werden herzbewegend gedeutet. Furchtbar, aber auch großartig sind die Szenen im „Todeshaus“, etwa wenn der elektrische Lichtstrom schwächer wird, weil der Kraftstrom gerade einen tötet. Ein amerikanischer Dostojewsky hätte es nicht besser machen können. 

So jung Werfel ist – schon erscheinen (bei Zsolnay) seine Gesammelten Werke. Zunächst die Gedichte, die seinen Ruhm begründet haben, alle die Sammlungen, wie „Weltfreund“, „Einander“, „Wir sind“, „Gerichtstag“ und viel Neues in einem einzigen starken Band. Der ist nun ein europäisches Dokument, in Bruchstücken längst in viele fremde Sprachen übersetzt, in alle Literaturgeschichten aufgenommen. Was uns Werfel so wert macht, ist nicht nur seine lyrische Gewalt, nicht nur der klassische Ausdruck des Zeitgefühls, sondern insbesondere die starke, bezwingende Menschlichkeit, die aus jeder Zeile, jedem Vers dieses gütigen, vornehmen und doch um jeden Einzelnen werbenden Dichters spricht. Eine Sammlung seiner Gedichte, die übrigens mit höchster Kunst angeordnet und durchgeführt ist, war notwendig und ist auf das herzlichste zu begrüßen. 

Der berühmteste Dichter der Generation vor Werfel, Arthur Schnitzler, gibt im Wiener Phaidon-Verlag ein Buch der Sprüche und Bedenken heraus. Es sind prachtvolle Aphorismen, die nicht nur den Meister der Sprache, sondern auch einen unerbittlichen und doch liebevollen Denker zeigen. Die Titel einzelner Abschnitte wie „Schicksal und Wille“, „Verantwortung und Gewissen“, „Wunder und Gesetze“, zeigen allein schon welche Fülle dieser schmale, aber wahrhaft bedeutende Band birgt. Wenn uns Schnitzler noch näher gebracht werden könnte, durch dieses Buch würde es geschehen. 

Endlich ein Bilderbuch, ein Parallelband zu der reizenden Sammlung Wien in Bildern, die hier angezeigt wurde. Diesmal hat der Verlag Dr. Hans Epstein in Wien „Venedig in Bildern“ mit nicht minderem Glück und Geschick für die Erinnerung festgehalten. Es ist ja die uns nächste und wohl auch liebste italienische Stadt, die Stadt, in der sich jeder Wiener noch ein wenig heimisch fühlt. Und jedenfalls ist dieses neue und billige Bilderbuch vollständig; es läßt weder die bekannten Schönheiten, noch die verborgenen Winkel vermissen. 

In: Die Stunde, 24.12.1927, S. 6.