Felix Salten: Fräulein Else (1924)

Atemlos fieberhaft saust das Tempo der neuen Novelle von Schnitzler. Während man sie liest, wird man gleich zu Anfang in fieberhafte Spannung entzündet, wird bis ans Ende in atemloser Teilnahme mitgerissen.

Die Geschichte, das Schicksal eines jungen Wiener Mädchens aus „guter Familie“. Der Vater, Advokat, hat Mündelgelder unterschlagen. Die Tochter soll ihn vor der Schande retten, in dem Alpenhotel, in dem sie ein paar Sommertage genießen darf, einen alten Freund der Familie um Hilfe bitten. Der reiche Mann stellt jedoch eine Bedingung. Er will Else nackt. sehen. Nur sehen. Sonst nichts. Dann gibt er die Summe her, die den Vater vor dem Kriminal bewahrt. Else erfüllt diese Bedingung und täuscht den reichen Mann dennoch. Sie wirft im Klaviersalon ihren Mantel ab, steht, nackt vor dem Retter ihres Vaters, aber auch vor allen anderen, die dabei sind.

Dann bringt sie sich um. Trinkt Veronal. Stirbt.

Die ganze Begebenheit, die sich binnen wenigen Stunden abspielt, wird nicht erzählt. Kein Vortrag, keine Ausschmückung des Dichters; keine Malerei seiner farbigen, plastischen Sprache. Was hier geschieht, wird erlebt. Else denkt, fühlt und spricht; genau so, wie einst der Leutnant Gustl selbst gedacht, gefühlt und gesprochen hat. Immer ist nur Elses Stimme zu hören, nur ihre unhörbare, lautlose Gedankenstimme. Hie und da ein paar Reden oder Redensarten der anderen; ein paar Worte, die Else zu den anderen sagt. Trotzdem…, nein: gerade deshalb wird alles so unmittelbar lebendig in dem Buch. Die ganze Existenz des jungen Mädchens nimmt man viel intensiver in sich auf, weil, scheinbar, niemand zwischen ihr und uns steht. Was für ein glänzendes, was für ein jammervolles Dasein führt Else. Die Tochter eines Vaters, der mit den glänzendsten Gaben sich und den Seinen nur ein jammervolles Leben bereitet hat. Man kennt ja eine ganze Menge solcher Menschen, auch Advokaten, die zwischen Erfolg und Absturz gefährlich balancieren. Da sind dann die Krisen, die Tage, in denen es, um Haaresbreite am Strafgericht vorbei, halbwegs wieder weiter geht. Diese Tage aber, mit ihrer Angst, mit ihren Erniedrigungen, korrumpieren. Von ihnen, von der ganzen beständig schwankenden Situation, von dem schlechten Gewissen, das nach und nach alle Mitglieder der Familie bekommen, wird die aufrechte Freiheit gebeugt, die Unbefangenheit vergiftet und zerstört.

In solcher Atmosphäre lebt Else. Jetzt ist sie, als Gast ihrer Tante, in dem vornehmen Tiroler Alpenhotel. Der Vater kann nicht von Wien fort; man würde seine Abreise vielleicht als Flucht deuten und ihn unterwegs verhaften. Es ist auch nicht genug Geld im Haus für eine Sommerreise. Deshalb muß die Mutter beim Vater in Wien bleiben. Der Bruder hat in Amsterdam eine Anstellung. Ach, man zittert, wenn eine Nachricht von ihm eintrifft, denn der väterliche Leichtsinn ist sein Erbteil. In dem Alpenhotel dahier weilt auch der Cousin von Else, der Sohn ihrer Tante, Paul, der ein //junger Arzt ist. Er hat, wie Else vermutet, Beziehungen zu der jungen Frau Cissy, die gleichfalls hier im Hotel wohnt. Trotzdem könnte er sich jeden Moment in Else verlieben. Sie fühlt das. Aber sie weiß, er würde nie daran denken, sie zu heiraten Sie ist keine Partie, Else, sie weiß dass nur zu gut. Ein Verhältnis mit ihr, oh ja, das hätte Paul gerne; Wer hätte nicht gerne ein Verhältnis mit ihr? Da sind andere junge Menschen, hier im Hotel, in Wien, überall in der Welt. Aber sie zur Frau nehmen, sie, ein Mädel, das verwöhnt, anspruchsvoll und arm ist, das zudem noch aus einer Familie stammt, deren Ansehen ohnehin schon gelitten hat und die eines Tages in Schande versinken kann… es müßte ein Wunder geschehen. An Wunder jedoch glaubt Else nicht, wenn sie es auch liebt, davon zu träumen. 

            Mit Else und ihrem Schicksal ist zugleich die Situation wie das Schicksal unzähliger anderen Mädchen getroffen. Die weibliche Jugend einer breiten Schicht des Bürgertums steht auf dieser sehr schmalen Kante zwischen Wohlleben und Armut, zwischen Ehrbarkeit und Schande, zwischen Glück und nutzlosem Hinwelken. Erzogen zu Luxus, nur bewundert in jenem leichten, wertlosen Wissen, das man in einem sorglosen Dasein braucht, ohne Mitgift, sind sie jedem Elend preisgegeben, wenn sie sich selbst erhalten müssen, wenn nicht ein Mann kommt, der sie um ihrer selbst willen liebt und sie heiratet. Wie oft ist das gesagt, wie oft erkannt, begriffen worden. Freilich manches hat sich auch im Bürgertum gebessert Langsam hört die Arbeit, der Broterwerb auch für die Mädchen aus ,,feinen“ Familien auf, das Schreckgespenst des Unterganges zu sein, langsam erlöschen die ganz albernen Meinungen nach denen ein Mädchen deklassiert war, das eine dienende  Stellung was immer für eine annimmt. Aber dies Erwachen zur Vernunft, zu gesunder Lebensanschauung geht nur langsam vor sich, nur sehr langsam. Nur vereinzelt lehrt die Praxis, wie innig verknüpft mit der selbständigen Erwerbsfähigkeit des Mädchens auch das Problem ihrer Verheiratung ist, So hat denn Fräulein Else immer noch zahllose Schwestern, wenngleich nicht jede von ihnen einen reichen Herrn um Geld ansprechen muß, damit ihr Vater vor dem Eingesperrtwerden gerettet wird.

Trotz der besonderen Umstände, die ihre Katastrophe herbeiführen, ist ja Else nur ein Beispiel, nur ein Typus, und an ihrem Fall, an ihrer Wehrlosigkeit wird der wehrlose, preisgegebene, der unglückliche Zustand aller ihrer Schicksalsgefährtinnen erschreckend klar. Es ist genau so wie am Leutnant Gastl, an den besonderen Umständen seines Einzelfalles; die Gebundenheit aller Offiziere klar wurde, ihr Befangensein in das ebenso verlogene wie überhebliche Gebot ihrer Standesehrte. Artur Schnitzler hat damals für dieses Meisterwerk, das Leutnant Gustl« hieß, seinen Rang als Reserveoffizier verloren und man hat ihn anderseits als einen politischen Vorkämpfer des Antimilitarismus gefeiert. So gänzlich kann ein Kunstwerk mißverstanden werden, von den Hütern wie von den Gegnern der jeweilig bestehenden Ordnung, von rechts und von links. Nicht um den Militarismus war es damals Schnitzler zu tun. Daß ein Dichter in seiner Seele und in seinem Geist keineswegs auf der Seite der Gewalt sein kann, versteht sich zu sehr von selbst, um gefeiert zu werden. Es sei denn, er mache sein Schafer absichtlich zum Angriffswerkzeug seiner aktiven, wagemutigen Politik. Aber Schnitzler ist nie ein Politiker und er ist niemals aggressiv gewesen. Nur einen Menschen wollte er im Leutnant Gustl hinstellen, der, in der Schlinge alberner Konvention gefangen, sein Leben verwirkt sieht, sich zum Selbstmord bereitet, den er für Standespflicht hält, und der nun, da ihm der Zufall den Gegner aus dem Weg räumt, befreit aufatmet. Er ahnt gar nicht, der gute Leutnant Gastl, daß sich durch den plötzlichen Tod dieses Gegners im Grund ja nichts geändert hat, daß alles trotz dieses Todesfalles immer noch aufrecht bleibt: er ist beleidigt worden, hat keine Genugtuung genommen und seine Offiziersehre hat einen Fleck. Das stört ihn nicht weiter,denn niemand wird je etwas davon erfahren. Er ist jung, voll Daseinsfreude, naiv, wenig nachdenklich und er freut sich unbändig, daß er weiterleben darf.

An diese Novelle, die leuchtend ist in ihrer Wahrheit, sprühend in ihrer Lebendigkeit, wird man unwillkürlich erinnert, wenn man Fräulein Else liest. Sie hat dieselbe Form, diese Art der unmittelbaren Äußerung ihrer Titelfigur. Dieses Denken, Fühlen und Sprechen genau in der Sekunde des Erlebens. Diese Form ist aus dem Drama geschöpft, wo ja die handelnden Menschen genau in der Stunde ihres Schicksals vor uns erscheinen, wir sie reden hören und fühlen können, was sie denken. Der Dramatiker, der Schnitzler ist, hat diese Form für die Novelle frühzeitig gefunden, erfunden könnte man sagen, und er gebraucht sie jetzt, ein paar Dezennien nach dem Leutnant Gustl, zum zweitenmal. Farbiger, fülliger, mit noch höherer Meisterschaft als vorher. Diese Form hat vom Drama den Saus des Tempos, der so stark ist, daß man nur in manchen Erzählungen von Kleist die gleichen Sturmschritte findet. Sie hat die volle Anschaulichkeit der Bühne, so eindringlich, daß man die Gesichter aller Menschen sieht, die Landschaft, ja, daß man den Geruch der herben Luft des Hochgebirges zu atmen glaubt. Und so gegenwärtig ist das Geschehen, daß man in jedem Augenblick meint, man könne dazwischentreten, man könne unterbrechen, könne diesem Fräulein Else ins Wort fallen, sie hindern, ihr helfen, sie retten. So zwingend geht alles vor sich, so unaufhaltsam rasch im Sturz, daß man zugleich begreift, wie rettungslos verloren die arme Else ist, daß man sie, erschüttert, ihren jungen Leib entblößen und dann sterben sieht, indessen man von Ergriffenheit, ja von Verzweiflung überwältigt wird. Ihre höchste Feinheit und ihren höchsten Rang erhält diese Form aber durch die Eigenschaft, bei aller dramatischen Wirkung durchaus novellistisch zu sein. Das Denken der Else, dieses in ihrem Hirn und Herzen geflüsterte Denken, darin sich alle anderen Figuren// abmalen, alles Vergangene und Gegenwärtige sich aufrollt, hat nur in der Novelle keine Längen, sondern eine Fülle von Schönheit.

Ganz einfach, ganz wie selbstverständlich hebt diese Novelle an. Else geht vom Tennisplatz ins Hotel zurück. Auf dein Tennisplatz spielen Frau Cissy Mohr und Cousin Paul ein Single, da Else sie allein läßt. Ein wenig tändelnd beschäftigt sich Else mit den beiden, mit dem Verdacht der galanten Beziehung, den sie gegen die zwei hegt, tändelt auch ein wenig mit dem kleinen bißchen Eifersucht, das sich in ihr regt, und geht, um nach dem Brief zu sehen, den sie von zu Hause erwartet. Unterwegs Begegnung mit ein paar Hotelgästen. Mehr nicht. Aber schon sind die Hauptfiguren plastisch  sichtbar, ist der Schauplatz abgesteckt. Dann in der Halle der Brief. Else liest ihn auf ihrem Zimmer. Die Mutter schreibt: bitte Herrn Dorsday um das Geld. Und sie schreibt, es gibt keinen andern Ausweg! Dann schreibt sie noch, wie traurig es sei, und wie schwer, seiner Tochter solche Aufträge zu geben. – Das Schicksal ist da. Beginnt sich zu vollziehen. Unabwendbar.

Von den Mädchengestalten, die Artur Schnitzler geschaffen hat, von den vielen, gütig oder zärtlich oder leidenschaftlich geschauten Mädchengestalten ist keine so vollkommen erfaßt, so bis in die verborgenste Seelentiefe durchdrungen, wie diese Else. Nur die einfache Christine in der ,Liebelei ist so umschimmert von Poesie, wie die komplizierte, aber im Wesensgrund doch auch einfache und unschuldige Else. Und keine andere, außer Christine, hat die Einprägsamkeit, ist in so klarer Weise, mit so festen Konturen umrissen, ein Wahrzeichen. Artur Schnitzler hat der Frauentreue, der Frauenunschuld von jeher  nachgespürt, mit dem Herzen eines Verliebten, mit dem Scharfsinn eines bedeutenden Geistes, mit dem Verstehen eines gütigen Menschen und mit dein intuitiven Erraten eines Dichters. Alle seine Werke haben das Problem zum Gegenstand, das die Frauenseele für den Mann bleibt, und von Leuten, die nicht merken, wie sich in diesem Brennglas die ganze Fülle der Lebensstrahlen sammelt, ist ihm der „enge“ Stoffkreis oft zum Vorwurf gemacht worden. Nun scheint er auf eine Höhe des Verstehens gelangt, auf der Schuld und Unschuld, Treue und das, was der Beteiligte Treulosigkeit nennt, sich sachte lösen, ins Fließen geraten, und nur die Herzenskraft der Frau, nur ihr Menschentum gilt, gleichviel ob sie einem Liebhaber Schmerz gewesen ist oder Enttäuschung. In seiner Aurelie, dieser edlen Hauptgestalt der edlen Komödie der Verführung, werden so viele anständige Frauen und ebenso viele gefallene Frauen Züge des eigenen Wesens betroffen erkennen. Keineswegs die Möglichkeit zur Dirne soll da entlarvt werden. Nur die Möglichkeit zu mancherlei Erlebnis, die in jeder Frau verborgen schlummert, wird angerührt. Auch in Else, dieser Komplementärgestalt zur Aurelie. regt sich keine heimliche Dirne. Wie Aurelie, von der vorschauenden Entsagung des einzigen Mannes, den sie liebt, preisgegeben, in ihr Verhängnis stürzt, so gleitet Else aus der Lebensbahn, da das Weib in ihr geweckt wird durch alle diese häßlichen Notwendigkeiten, sich zu verkaufen, und durch sonst nichts. Sie spielt mit dem Gedanken, sich zu verkaufen, sie klammert sich mit der Sehnsucht ihrer Jugend an das Leben, das ihr jenseits dieses Handels noch winkt. Aber sie tötet sich. Selten ist eine Frauenseele in ihren geheimsten Regungen so durchleuchtet worden und so rein genießen wie diese: so ganz noch Kind, so sehr noch Jungfrau, so ahnungsvoll schon Weib, so erfüllt von Güte, so durchblitzt von Messerschärfe des Verstandes, so gelind an Zärtlichkeit und so sanft in der Verzweiflung. Dieses Buch, das der Paul-Zsolnay-Verlag jetzt eben herausgibt, wird binnen kurzem von vielen Tausenden, Frauen wie Männern, gelesen und geliebt sein.

In: Neue Freie Presse, 23.11.1924, S. 1-3.

Fritz Rosenfeld: Das Dritte Reich im Roman. Lion Feuchtwanger: „Die Geschwister Oppenheim“ (1933)

             Der Dichter des Jud Süß und der Häßlichen Herzogin, Lion Feuchtwanger, hat als erster die Fratze des braunen Fascismus in einem Epos nachgezeichnet: dem Roman Erfolg, der ihm den bittersten, blutigen Haß der Hakenkreuzler zuzog und ihn zwang, beim Aus­bruch der großen Barbarei Deutschland zu verlassen. Als Erfolg geschrieben wurde, terrorisierten die SA.-Banden nur Bayern: Feuchtwangers neuer Roman Die Geschwister Oppenheim (Querido-Verlag. Amsterdam) entstand, als die Kulturkatastrophe der „nationalen Revolution“ Deutschland bereits verheert, den Geist vertrieben, alle aufrechten, weltbürgerlichen, der Idee der Freiheit und des Friedens verbundenen Menschen in die Konzentrationslager gesperrt und die Herr­schaft des Henkers, der Bestialität und des brutalsten Gesinnungszwanges etabliert hatte. Noch bluten die Wunden, die von den Landsknechten in der braunen Uniform ge­schlagen wurden, noch dauern die Martern der schuldlos Gefangenen, wehrlos Ge­peinigten in den Kerkern der Kasernen, in den Konzentrationslagern an, noch ist auf den Gräbern der Opfer kein Gras gewachsen. In einem Buch, das aus unmittelbarster Gegenwart erwächst, das Ereignisse nicht von gestern, sondern von heute mit dich­terischer Kraft vor das Gewissen der Mensch­heit stellen will, kann es kaum Einzelschick­sale geben. Der neue Roman Lion Feuchtwangers heißt zwar nach einer Berliner Patrizierfamilie, deren Mitglieder in den Monaten vor dem Hitler-Umsturz sich mit den nationalen Phrasen der hakenkreuzlerischen Propaganda auseinandersetzen, in den Tagen des nationalen „Aufbruchs“ zer­malmt oder vertrieben werden: der Held des Buches aber sind nicht die Geschwister Oppenheim, der Held, der blutige, von Urwaldinstinkten beherrschte, ein Land geistiger und kultureller Hochblüte in wenigen Wochen zertrampelnde Held ist der Nationalsozialismus selbst.

Die Geschwister Oppenheim entstammen einer alten jüdischen Berliner Kaufmannsfamilie. Zwei Brüder führen eine große Möbelfabrik, der: dritte ist. Arzt. Sie haben dem Land, in dem sie leben, manchen Dienst erwiesen, an der Wand hängt eine Urkunde, in der Moltke dem Chef der Firma seine Leistungen für die deutsche Armee in den Kriegsjahren 1870/71 bestätigt. Sie wurzeln in diesem Land, ihr Herz hängt an diesem Land, an seiner Literatur, seiner Kunst, seiner Geschichte. Sie gehören der „Gesell­schaft“ der Hauptstadt an, unterhalten Be­ziehungen mit allen maßgebenden, einfluß­reichen Männern ihrer Zeit. Sie wissen, daß eine Bewegung die Massen aufwühlen will, die sie als Fremde, als Feinde ihrer Heimat brandmarkt; sie lesen in den völkischen Hetz­blättern täglich die Schmähartikel. Aber sie glauben nicht daran, daß diese Bewegung durchdringen, zur Macht gelangen, ihre irr­sinnigen Ziele erreichen könnte. Die Pessimisten unter ihnen warnen sie mit sarkastischem Humor vor ihrer Sicherheit: „Das ist ja die Stärke dieser Partei, daß sie die Vernunft ablehnt und an den Instinkt appelliert. Ihre Ware ist schlecht, aber gängig. Die Herren verstehen sich auf ihre Kundschaft wie jeder gute Geschäftsmann.“ Sie lesen das Buch Mein Kampf nicht nur wegen seines Inhaltes, auch wegen seines miserablen Stils; sie, die Landfremden, Volksfremden, können besser Deutsch als der „Führer“ der „Völkischen“. Schon dringt der „Geist“ der neuen Partei in ihre Welt ein: ein Geschäftspartner ist Nazi geworden, der Sohn hat es im Gymnasium mit einem national gesinnten, antisemitischen Professor zu tun. Er wollte einen Vertrag über den Humanismus und seine Bedeutung für unsere Zeit halten; der neue Lehrer läßt dieses Thema nicht zu, zwingt den Schüler, über Hermann den Cherusker zu sprechen, entzieht ihm das Wort, als er eine historisch richtige, aber nicht in den Kram der Völki­schen passende Bemerkung macht. Es ist die Zeit des Generals Schleicher; die Kata­strophe droht, doch man hofft noch, sie ab­wenden zu können. Die Geldgeber der Hakenkreuzler, die Großindustrie, stellt die Subventionen ein. Die Bewegung hat ihren Höhepunkt überschritten. Da holen die ostelbischen Junker, um den Osthilfeskandal aus der Welt zu schaffen, die Barbaren zu Hilfe: mit dem Satz „Am 30. Jänner ernannte der Reichspräsident den Verfasser des Buches Mein Kampf zum Reichskanzler schließt der erste Teil des Romans.

Der zweite ist nicht mehr Roman, sondern Chronik: die nationalsozialistische Propaganda überflutet das Land, der Reichstag brennt, die Judenhetze beginnt, die Großagrarier und Großindustriellen, die die „täppischen Hakenkreuzler“ gerufen, müssen ihnen freie Hand lassen, der Terror wütet im Reich. Die jüdischen Ärzte werden auf die Straße gesetzt, Wohnungen geplündert, Menschen nachts aus dem Bett geholt und in die SA-Kasernen geschleppt. Der Chef des Möbelhauses Oppenheim flieht in die Schweiz. Täglich kommen Nachrichten über neue Greuel, neue Unmenschlichkeiten. Was in Deutschland geschieht, ist in seiner Furchtbarkeit unglaubhaft. Aber: „Sie haben immer Mittel angewendet von solcher Primitivität, daß die andern sie nicht für möglich hielten. Darum sind sie ja heute an der Macht.“ Und: „Gerade ihrer primitiven Bauernschlauheit verdanken sie ihre Erfolge. Weil nämlich die andern immer wieder an­nehmen, auf solche Plumpheit fällt kein Mensch herein. Und dann, immer wieder, fallen alle herein.“ „Sie haben mit grauenvoller Zielbewußtheit da weitergelogen, wo das Große Hauptquartier bei Kriegsende hat aufhören müssen. Und die Bauern und Kleinbürger haben ihnen jede Lüge ge­glaubt.“ Eine Höllenvision wird Wirklich­keit: „Die unvermutete Überschwemmung eines zivilisierten Gebietes durch die Bar­baren.“ Der Dichterling, den Gustav Oppenheim gefördert und erhalten, läuft über. Streber kommen durch ihre Verbindungen mit den neuen Herren zur Macht, mancher arme Teufel muß das Hakenkreuz anstecken, das er innerlich verachtet, die Hand zu einem Gruß heben, den er haßt. Die Freunde werden blutig geschlagen, gemordet, fliehen freiwillig in das Reich der Schatten. Niemand wagt ein freies Wort; der Gymnasiast, den man zwingen will, seine Rede über Hermann, den Deutschesten der Deutschen, zu widerrufen, legt Hand an sich. In Deutschland regiert die Lüge: „Wider­sinn und Lüge war, was die Machthaber dieses Reiches taten und was sie ließen. Lüge, was sie sagten und was sie verschwiegen. Mit der Lüge standen sie auf, mit der Lüge legten sie sich nieder. Lüge war ihre Ordnung. Lüge ihr Gesetz, Lüge ihr Urteil, Lüge ihr Deutsch, Lüge ihre Wissenschaft, ihr Recht, ihr Glaube. Lüge war ihr Nationalismus, ihr Sozialismus, Lüge ihr Ethos und ihre Liebe. Lüge alles, und echt nur eines: ihr Haß.“

Darf man all dies geschehen lassen, beiseite, stehen und zusehen, selbst wenn man in der Lage ist, außerhalb des Dritten Reiches leben zu können? Gustav Oppenheim vermag es nicht. Er geht, mit einem fremden Paß nach Deutschland zurück, wird verhaftet, ins Konzentrationslager gesteckt, flieht neuer­dings, stirbt an Leib und Seele gebrochen, irgendwo in Böhmen. Es hat keinen Sinn, den Märtyrer zu spielen, ist die letzte Erkenntnis seines Lebens: es ist klüger, für eine Idee zu leben, als für sie zu sterben. Eine andre Gestalt  des Buches, ebenfalls Emigrant in der Schweiz, geht den Dingen tiefer auf den Grund: „Aendert die Verhältnisse, und ihr ändert die Menschen. Nicht umgekehrt.“

Lion Feuchtwanger sieht das Dritte Reich in diesem Buch aus dem Blickwinkel einer jüdischen Patrizierfamilie; aber er hat darum noch nicht die Judenfeindschaft der Hakenkreuzler als ihren Hauptfehler, den Antisemitismus als das Hauptproblem, den Rassenwahnsinn als das größte Übel der „nationalen Erneuerung“ hingestellt. Gewiß gibt es eine Fülle von Verbrechen des Nationalsozialismus, die in diesem Buch nicht geschildert werden, weil sie außerhalb des Lebenskreises der Familie Oppenheim geschahen, gewiß müßte man die Ereignisse vor und nach der Machtergreifung auch aus andern Gesichtspunkten betrachten. Feuchtwanger hat sich auch bemüht, Gestalten aus andern sozialen Schichten in die Handlung einzuführen, den kleinen, jüdischen An­gestellten, den hakenkreuzlerischen Stammtischphilister, der selber ins Konzentrationlager wandert, weil er mit den neuen Bonzen in Konflikt gerät, den; Schüler, der unter dem Eindruck der nationalen Hetze der Lehrer zum Mörder an einem liberalen Journalisten wird. Aber alle Einzelfiguren und damit auch alle sozialen Gruppen, die in diesem Buche eine Rolle spielen; treten zurück hinter das historische Geschehen, das von Feuchtwanger ist einer Art politischer Chronik mit all seinen wirtschaftlichen, psychologischen und moralischen Wurzeln entrollt wird. Man müßte ganze Seiten aus diesem Roman zitieren, um zu zeigen, mit welcher, kritischen Schärfe und mit welcher Prägnanz der Formulierung Feuchtwanger das Wesen des Nationalsozialismus, den Umfang und die Gewalt dieses Ansturmes der Barbarei gegen die Menschlichkeit und den Geist allen denen vor Augen und Ohren hält, die die Wahr­heit über das Dritte Reich hören und sehen wollen, hören und sehen dürfen. Durch dieses Buch weht der Geist Heinrich Manns, des größten Kämpfers wider die deutsche Reaktion, ihren Terror, ihre Kriegsverherrlichung, ihre Vergiftung des Volkes durch heldische Phrase und nationalistisches Pathos.  Aus den Flammen einer ungeheuerlichen Empörung über das Ungeheuerliche und Unfaßbare geboren, lodert es als das erste dichterische Dokument über das Dritte Reich in die Dunkelheit dieser Zeit hinaus; eine Fackel, entzündet an den lohenden Trümmerhaufen einer zerstörten Kultur, ist es Mahnzeichen für die Gegenwart, leuchtet es in einen neuen Morgen.

In: Arbeiter-Zeitung, 17.12.1933, S. 2 (Beilage Arbeiter-Sonntag).

Fritz Rosenfeld: Rudolf Brunngraber: Karl und das 20. Jahrhundert (1933)

Die Lebensgeschichte Karl Lackners. Eines Wiener Arbeiterkindes, eines Menschen dieser Zeit, der im Krieg dem Vaterland diente, in der Inflation die verschiedensten Berufe hatte, abgebaut wurde, hungerte, einer Dirne Zuhäl­terdienste leistete und schließlich aus dem Ge­fühl der tiefsten Trostlosigkeit seinem Leben selbst ein Ende machte, beginnt nicht mit der Geburt, auch nicht mit der Schilderung des Elternhauses des Helden, sondern mit einer Darstellung der wirtschaftsumwälzenden Theo­rie Taylors und mit einer Beschreibung des Hauses Rockefeller. In Form einer romanhaf­ten Chronik wird die wirtschaftliche und politische Geschichte der Welt erzählt, solange Karl Lackner in ihr lebt. Die mit Zahlenmaterial belegte, manchmal bis zur nüchternen Statistik erhärtete Schilderung der weltpolitilchen Er­eignisse ist nicht etwa Hintergrund eines Einzelschicksals, sondern das Schicksal selbst.

Brunngraber, ein junger Wiener Dichter, ver­sucht, geschult an den Romanen Jlja Ehrenburgs, die schicksalhafte Macht wirtschaft­licher Ereignisse über den einzelnen Menschen in Romanform zu gestalten. Als Motto steht vor dem Buch das Napoleon-Wort: „Die Po­litik ist das Schicksal“ und das Rathenau-Wort: „Die Wirtschaft ist das Schicksal“. Nicht erb­liche Veranlagung, nicht eigner Trieb bestim­men das Leben Karl Lackners. sondern die Ausfuhr und Produktion von Waren in Län­dern, die er nie gesehen hat, die wirtschaftlichen Kämpfe von Staaten, die scheinbar weit­ ab liegen und mit dem Land, in dem er gebo­ren wurde, gar nichts zu schaffen haben. Das Leben wird als ein ungeheurer wirtschaftlicher Organismus aufgefaßt, in dem jeder Staat nur ein kleines Rädchen ist.

Der Gefahr, daß die romanhafte Gestaltung zur trockenen wirtschaftspolitischen Abhandlung verblaßt, ist Rudolf Brunngraber nicht entronnen. Lange Abschnitte seines Buches haben mit dem Roman nicht einmal mehr die äußere Form epischer Erzählung gemein, sie sind Essays oder gar nur Zusammenstellung von Tatsachen und Zahlen. Hier wird das Prinzip, nicht zu fabulieren, sondern typisches Schicksal auf Grund von unanfechtbaren Tatsachen zu erzählen, doch ein wenig übertrieben. Die Auf­gabe des Dichters ist es nicht, den Wirtschafts­teil einer Tageszeitung abzuschreiben oder nachzuahmen, sondern Ereignisse, ob sie nun erfunden oder der Wirklichkeit entnommen sind, plastisch, lebendig zu gestalten. Die pla­stische, lebendige Gestaltungskraft vermißt man an vielen Stellen dieses Werkes; sie macht erst in den letzten Kapiteln, in der erlebten Schilde­rung des Arbeitslosenschicksals, die „sachliche“ politische und wirtschaftliche „Reportage“ zum Roman.

Ein Einzelschicksal wird analysiert, wie die Weltwirtschaft analysiert wird. Ein Mensch geht zugrunde, weil die Rüstungsindustrie dunkle Geschäfte abschließt, weil Geld für den Krieg verpulvert, statt zum Aufbau neuer Städte verwendet wird, weil Absicht und Unfähigkeit, Habgier und Gewissenlosigkeit der regierenden Mächte, der Bankdirektoren, Stahlmagnaten und Konservenfabrikanten der ganzen Welt die Menschheit in die große Krise dieser Zeit stürzen. Das Leben Karl Lackners wird eingeteilt in die verschiedenen Epochen wirtschaftlicher Konjunktur oder Depression, mit der Technik filmischer Montage wird das große Schicksal der Welt und das kleine Schick­sal eines einzelnen Menschen in Zusammen­hang gebracht. Man muß nicht der Meinung sein, daß die Zukunft des Romans auf diesem Gebiet liegt, man kann das neue epische Prin­zip, das Brunngraber experimentell anwendet, aus grundsätzlichen Erwägungen ablehnen oder man kann seinen Versuch im einezlnen als mißglückt betrachten – aber man muß sich mit dem Buch befassen, weil es aus dem ehrlichen Be­mühen eines begabten jungen Dichters erwach­sen ist, der sich auf neue Art mit der Welt auseinandersetzen, der eine neue Form des gesellschaftskritischen Romans schaffen will. Vielleicht wird gerade dieses Buch die Situa­tion des Romans der Gegenwart klären, der zwischen Dichtung und Reportage, Gestaltung und Bericht, Phantastik und Sachlichkeit ratlos hin- und herschwankt.

In: Salzburger Wacht, 10.1.1933, S. 6.

Edwin Rollett: Neue Romane (Colerus u.a.) (1921)

In Zeiten sozialen Tiefstandes blüht immer die Mystik, wendet sich der Menschengeist von der Gegenwart ab und sucht Zuflucht in Fernen oder phantastischen Ländern und Zeiten. Wohl noch selten hat der Wegzeiger der Literatur so entschieden von der Gegenwart weggewiesen, wie jetzt in der Nachfolge der großen Welterschütterung des Krieges. Der Realismus der Literatur hat Schiffbruch gelitten mit dem Niederbruche der materiellen Blüte. Die Tendenz der Dichtung stiebt von dem wirklichen unerfreulichen Geschehen weg, doch es gelingt nicht immer. Meist kann sich auch der Dichter seiner Erdgebundenheit nicht entziehen und es ergibt sich ein interessantes Wechselspiel von bewußtem Wollen und unvermerktem Haftenbleiben. Hinter der phantastischen Form birgt sich das Nachzittern wohlbekannten Geschehens von gestern oder es lugt aus dem Prunkgewande des Orients das Antlitz eines Gegenwärtigen. Die Auswirkungen großen Erlebens lassen sich auch in der merkwürdigsten Verkleidung nicht wegleugnen.

Egmont Colerus schafft ein Sodom,[1] ein Reich, dem Menschen des 20. Jahrhunderts nicht realer als Shakespeares meerumschlungenes Böhmen, ein Land der Phantasie. Und er belebt diese Stadt mit Menschen,’die die Brunst, die Grausamkeit und den zum Träumen gekehrten Sinn des Orients in sich vereinigen. Wühlende Leidenschaft, brutaler Sinnenrausch und Verbrechen durchwuchern die verglühende Stadt, in deren schwüler Hitze noch einmal alles Leben zu Riesendimensionen auswächst, alle Früchte, alle Blüten, alle Menschenliebe zur sattesten Feistheit aufschwellen, ehe der Schwefelregen sie vernichtet. Namunan, der Übermensch, Marduk, das Raubtier, nacheinander auf einem Königsthron, dessen gigantischer Bau auf einer feilen Priesterkaste ruht und von ihr vernichtet wird. Ein lebender Moloch, dem das Volk opfert. Greuel über Greuel, ein Chaos von Rausch und Taumel. Ihm gegenüber der körperlose Warner Sahadheva, das Symbol eines großen Gewissens und ein Einziger, der von dem Schmutz unberührt, menschlicher Reinheit lebt, um als Einziger dem Schwefelregen zu entrinnen und dereinst wieder in die Welt zu kehren als der Erlöser Buddha.

„Sodom ist nur ein Gleichnis.“ Dieser Satz geht wie ein Leitmotiv durch den Roman. Das Gleichnis einer aus den Fugen geratenen Welt, mag man hinzufügen, in der sich hemmungslos alle Raubtiertriebe entfalten können und die nach dem Schwefelregen einen Erlöser erwartet, der die Brücke vom Alten zum Neuen schlägt.

Schwere Sehnsucht liegt über diesem Werke. Die leuchtenden Farben einer jugendlichen Phantasie dringen aus den Bildern und hemmungslos, jünglinghaft schwillt der Stoff zu immer phantastischerer Menge. Symbol, Gleichnis und oftmals allzu deutliches Philosophieren folgen einander in einer reichen, bibelhaft getragenen Sprache und legen einen eigenartigen, exotischen Reiz um diese Dichtung, deren ungelöstes Gären einem „toten Freund und reinen Menschen“ zu eigen gegeben ist.

Nicht ganz so tief in die Vergangenheit flüchtet der jüngste Roman des Lyrikers Felix Braun: Die Taten des Herakles[2]). Sehr bezeichnend ist aus dem Altertum gerade das Rom des Tiberius und Nero und das gleichzeitige Athen der Epigonenphilosophie zum Schauplätze des Romans gewählt, während gegenständlich dem Urchristentum der Hauptteil des Interesses zugewendet ist. Daß ein Lyriker diesen Roman schrieb, zeigen seine Schwächen und seine Stärken. Starte Effekte und Bewegungen, farbenreiche Bilder sind vermieden. Auch dort, wo sie vielleicht am Platze waren, ist die zarte Aquarelltechnik beibehalten, die ihr Schwergewicht auf die Geistigkeit legt. In der Psychologie ist denn auch eine nicht gewöhnliche Tiefe erreicht. Die Wandlung des jungen Römers, der, dem Herakles geweiht, in stark veräußerlichter griechischer Religiosität seine ersten Jugendjahre lebt, um in einer eindringlichen Schule des Verzichtens und Mißlingens sich zur ethischen Höhe der Entsagung und zum Märtyrertode hinanzuläutern, ist bis in die verstecktesten Winkel ihres Werdens aufgezeigt. Mit liebevollen zarten Händen ist das Material einer Entwicklung zusammengetragen und ineinandergefügt zu einem Bauwerk, dessen wohlabgewogene // Harmonie unbewußt erhebt. Ohne je eine Absicht oder Konstruktion erkennen zu lassen, stellt der Verfasser alle Geschehnisse in dieser etwas schwermütigen Geschichte einer Jugend unter den einen Gedanken, der den Kern des Werkes enthält: „Du mußt deinen Gott in dir bestatten wie einen Samen, daß er aufblühe und Frucht und Schatten gebe.“

Stoffauswahl und Problemstellung dieses Romans sprechen deutlich für einen innigen geistigen Zusammenhang mit den Fragen der Gegenwart und man wird kaum fehlgehen, wenn man das dem Buche vorangesetzte Apostelwort: „Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?“ als den Klageruf eines Modernen betrachtet, der an dem Zwiespalt von Geist und Materie krankt.

Nicht annähernd so gläubig und Gott ergeben, aber fester geht Josef Gregor in dem kurzen, inhaltsreichen Roman Erben[3]) an das Problem des jüngst Vergangenen heran. An der Küste des Adriatischen Meeres, wo die vielerlei Machtbestrebungen der im alten Österreich vereinten Stämme zusammentrafen, baut er sein Symbol: Der letzte Sprosse der alten Familie der Scaliger wird durch ein eigentümliches Erbe aus einem lässigen Dandyleben herausgerissen und verwandelt. Sein Erbteil ist ein Schrein voll Plänen und ein junges Weib. Mit dieser Erbschaft kommt der Geist seiner Vorfahren über ihn und das „aus sieben Jahrhunderten getürmte Erbe“ der Scaliger gebiert sich. Was die Vergangenheit ersonnen, eine „urbs splendida“, Genua, Florenz und Venedig niederzuschlagen, soll nun durch seine Hand verwirklicht werden. Er wächst zum Übermenschen. Orgien der Arbeit beginnen, und es entsteht das Riesenwerk der Metropolis mit Werfte, Reederei, Hafenanlage und voll der wundersamsten südlichen Pracht. Nur auf die Person des Gründers gestellt, bleibt das Riesenwerk aber dem Volke fremd und findet nur zur Staatsgewalt Verbindung, die eben-

so vereinsamt und fremd auf den Völkern lastet. Als Repräsentanten dieser Macht führt der Autor eine Person ein, die an Klarheit der Problemstellung und scharfer Plastik das Bedeutendste an dem Roman ist. Fürst Ferdinand, sichtlich nach dem Modell des ermordeten österreichischen Thronfolgers geformt, selbst ein Erbe, in dem sich ein Jahrhunderte getürmtes Gut gebären will, eine eiserne Herrschernatur voll eigenwilliger, vergewaltigender Liebe mit der Tragik des Unverstandenen an sich, deren Lanzknechtkraft am Hasse derer zerschellt, die keinen Vätergeist verwalten, sondern nach eigenem mündigen Leben schreien. In parallelem Ablauf zu dieser Fürstentragödie vollzieht sich das Schicksal des großen Schiffsherrn, der auch keine Kompromisse kennt und sogar dem Volke selbst das Erbe seiner überkommenen Machtbestrebungen aufzwingen will. Hohn, Erpressung und die unlautersten Kampfesmittel sind die Antwort, sind sein Fall. Ein Chaos der wildesten Leidenschaft und widerstrebendsten Wünsche verschlingt die Erben – alle. Ein

großer Untergang, ein Schwefelregen Sodoms, ist das Ende, nach dessen vernichtender Gewalt als letztes Wort wieder nur eines übrig bleibt: „Lasset uns beten, da der Letzte gestorben ist, daß dir Ersten wiederkämen.“

In einer am Expressionismus vielfach geschulten Form sind in diesem Roman die Ideen in reiner Form gegeneinandergestellt, und durch ein starkes Herausarbeiten alles Intellektuellen stellenweise sehr starke Wirkungen erreicht. Das Problem der großen Umwälzung ist klar und rückhaltlos ergriffen und geformt.

Was dem einen ein Kreuzweg ist, kann dem anderen zum, nachdenklichen Spaziergang werden. Auch das letzte nachgelassene Werk Thaddäus Rittners [4]) beschäftigt sich mit dem Problem der sozialen Umgestaltung. Aber während Gregor die  frühere Ordnung der Dinge zu erfassen strebt, rückt Rittner in seiner ironischen Jules Verneiade Die Geister in der Stadt der unmittelbarsten Gegenwart an den Leib und führt sie liebenswürdig ad absurdum: „Die Zeit des Schaukelns ist vorbei.“ „Geld und Muskeln waren oben.“„Man wußte wohl, daß es sogenannte Intellektuelle gab. Doch beunruhigte das keinen Menschen; denn nach § 327 des Staatsgrundgesetzes sind mittellose Subjekte mit schwerem Kerker zu bestrafen.“ In diese erbauliche Stadt zaubert nun der junge Zyprian ein Theater – kein Kino, kein Varieté – ein Schauspielhaus, und noch dazu eines, in dem richtige Geister alle Theater-  und Dichterträume, seiner Kindheit ver- // wirklichen und durch die Ungewohntheit bald zur ersten Sensation machen. Er, von den Geistern reichlich mit Millionen versorgt, wird ein angesehener, umworbener Herr, der Bräutigam der Bürgermeisterstochter, und die Kunst gewinnt Kredit, so viel, daß ihn auch die Katastrophe des Geisterhauses nicht erschüttern kann; denn „wahrscheinlich hatten die Herren die Rentabilität solcher Unternehmungen eingesehen“. Siehe da, die sogenannten Intellektuellen gewinnen die Oberhand, wiegen sich im Bewußtsein unerschütterlicher Sicherheit, „bis eines schönen Tages im Mai…“ Damit  schließt das Büchlein. Das Rad der Zeit rollt weiter. Es hieße den schnurrigen Stil des Romans verkennen, wollte man von „über dem Leben stehen“, „Weltweisheit“ oder ähnlichem sprechen. Viel eher ist vom Geiste Wilhelm Busch etwas darin zu finden. Und das Übersinnliche, seit jeher Rittners Eigenheit, verwächst mit dem Humor zu einem niedlichen Mummenschanz, zu einer Marionettenbühne, auf der die Menschlein Theater, nichts als  Theater spielen.

Die entscheidende Bedeutung, die der Schaubühne in diesem öffentlichen Leben zugedacht ist, paßt auch ganz in den Ton leichter Satire hinein. Anders als lächelnd kann man doch  kaum an die Menschen heran, denen Kulissenluft und Garderobenzauber das Alpha und Omega des Lebens sind. Gewiß haftet jedem Theater ein romantischer Hauch an, sind  Konflikte und Abenteuer in dieser Sphäre häufiger; aber wenn Kory Towska in ihrem Prinzen von Hysterien[5]), den Schatten Josef Kainz‘ beschwört und ihm, als eine Art Gottmenschen, noch nach seinem Tode magische Kräfte zuschreibt, so ist das etwas anderes, als wenn Gregor das Problem eines Fürsten gestaltet. Ihm handelt es sich um menschliches, ihr um theatralisches Geschehen. Dabei steht die Verfasserin auch keineswegs über ihrem Stoffe, sondern sehr leidenschaftlich mitten darin, kämpft pro und kontra und verschont nicht rechts noch links. Ob die Personen nun ihre wirklichen oder erfundene Namen tragen, jeder nur einigermaßen Kundige weiß doch, woher die Elemente stammen. Das aber sollte nicht sein. Gewiß kann kein Schriftsteller ohne Modelle schaffen; aber das Rohmaterial des Lebens zu stilisieren und zu einem Kunstwert zu formen, ist eigentlich die Arbeit des Schriftstellers.

[…]

In: Wiener Zeitung, 23.10.1921, S. 3-5.


[1] [Originalfußnote] Verlag von Ed. Strache in Wien.

[2][Originalfußnote] Rikola-Verlag in Wien.

[3] [OFN] Verlag von Ed. Strache in Wien.

[4] Rikola-Verlag, Wien

[5] [OFN] Wien, Donau-Verlag.

Rudolf Olden: Egon Erwin Kisch, der Reporter (1924)

Der rasende Reporter heißt ein neuer Band von 300 Seiten und enthält Berichte des Reporters Kisch. Warum „rasend“? Da das Buch kein Vorwort enthält, aus dem ich die Erklärung abschreiben könnte, so weiß ich es nicht. Dieser Reporter ist, scheint mir, gar nicht durch irgend welche besondere Raserei, Geschwindigkeit, Eile belastet. Er ist ein langsamer, genauer, breiter, sachlicher Erzähler des Geschehenen. Er sagt, ausführlich und Präzis, „was ist“. Höchstes Lob des Reporters!

Man muß, glaube ich, bevor man weiter redet, Mißverständnisse aufklären. Es gibt zu viele der Zeitung Fern- und Nahestehende, die den Reporter als einen Journalisten minderen Grades ansehen, als einen Vorzimmersitzer, Auskunfteinholer, Unterläufel, der die grobe Arbeit in der Zeitung verrichtet und dafür schlecht bezahlt wird. Diese Ansicht ist ebenso richtig wie sie falsch ist. Das heißt also: der Reporter ist allerdings manchmal äußerlich das, wozu man ihn macht. In Wahrheit aber ist er der König des Journalismus, der ihm erst den wahren Inhalt gibt. Die Herzen, die die Artikel und Feuilletons schreiben, tun das meist deshalb, weil es zu keinem Buch langt. Dem eigentlichen, wirk­lichen Zeitungszweck, den Zusammenhang zwischen Ereignis und Leser herzustellen, die Welt von gestern zu schildern, erfüllt einzig die Reporter.

Die Eigenschaften, die man von ihm ver­langt, sind zugleich minimal, und ungeheuer schwer zu erfüllen. Er muß sehen können, was vorgeht, und erzählen können, was er gesehen hat. Von jedem aufsatzschreibenden Bürgermeister, von jedem Ge­richtszeugen wird dasselbe verlangt. Es ist daher sehr merkwürdig, daß ein fähiger Repor­ter so schwer zu finden ist, einigermaßen häufig nur in den angelsächsischen Ländern vorkommt, und in deutscher Sprache geradezu eine Seltenheit bildet. Ich kenne einen, den man unbedingt anerkennen muß. Das ist eben Egon Erwin Kisch. Vielleicht gibt es mehr Re­porter, aber sie sind keine Journalisten. Unter diesen leben fast nur Dichter, Philosophen und Politiker. Wenn sie eine aufgerissene Straße, einen überfahrenen Hund oder eine über­schwemmte Wiese schildern sollen, so schreiben sie von der Unfähigkeit der Regierung, vom Marxismus oder von ihrem Liebesleben. Sie machen das so, man weiß nicht recht, ob weil sie nicht sehen können; oder weil sie nicht schreiben können, was sie gesehen haben; teils auch deshalb, weil sie sich es so schuldig zu sein glauben. Es ist also schließlich doch kein solches Wunder, das Mißverständnis über den Reporter.

Nun noch etwas. Es gibt auch sehr viele Menschen— ein großer Teil des Lesepublikums —, die meinen, erdichtete Geschichten seien interessanter als erlebte, geschehene. Dieser Irrtum hängt mit der Vernachlässigung des Reporterberufes eng zusammen. Kisch ist nicht nur der erste Reporter deutscher Zunge, sondern auch ein Propagandist seines Gewerbes. Er betreibt seine Propaganda auf die vorzüglichste Art dadurch, daß er seine eigenen Reports gesammelt herausgibt. Sie sind geschrieben, um am anderen Tage durch die Rotationspresse zu laufen. Und dabei sind sie heute, nach zehn Jahren oder nach einem Jahre, noch so frisch, so interessant, so fesselnd, wie sie nur am Tage nach dem Erleben ge­wesen sein können. Man trennt sich nur mit Schmerzen von dem Band und greift gleich wieder danach, wenn eine freie Viertelstunde kommt. Und dabei ist da kein anderer Faden als die offenen Augen des Reporters, die so verschiedene Dinge gesehen haben, wie etwa: die Obdachlosen von Whitechapel, die Ver­haftung des Einbrechers Sternickel, Venedig vom Erkundungsflugzeug aus, das in Brand geschossene Skutari, slowakische Auswanderer­ in Le Havre, Wien bei Nacht vom Stephans­turm aus, das Begräbnis einer alten Zimmervermieterin in Kopenhagen, Schweineschlachten am Roeskilde-Fjord, Hopfenpflücken in Saaz, den Kampf zwischen Reichswehr und Hakenkreuzlern in Küstrin — hundert bunte Dinge der Welt, die nichts mit­einander zu tun haben; die durch nichts ver­bunden sind als durch die Sachlichkeit, Lauterkeit, Helläugigkeit, die Klarheit,  Knapp­heit, Wahrhaftigkeit des Reporters Kisch.

Der Reporter, auch schließlich der mangel­hafte, ist der wahre Lehrer des Volkes. Was, darüber muß man sich klar sein, würden wir eigentlich von der Welt und von unserer Zeit wissen, wenn uns nicht jeden Morgen, Mittag, Abend tausend fleißige Männer erzählten, was sie gesehen haben? Niemand möge einwenden, er lese keine Zeitung. So erfährt er durch Erzählen, was die Reporter geschrieben haben. Die Kinder erfahren es von den Lehrern und Eltern, die Historiker schreiben es in die Bücher — gesehen hat es der Reporter. Aber keiner, der deutsch schreibt, sieht besser als Kisch. Er hat einen anderen Sammelband herausgegeben unter dem Titel Klassischer Journalismus. Er hätte auch diesen, mit eigenen Werken gefüllten so nennen können.

In: Der Tag, 21.11.1924, S. 4.

Hermann Menkes: Neue Romane (1920)

Trotz der Abgeschlossenheit, in der wir leben, ist in unserer Zeit das Interesse für fremde Kulturen, Länder und Völker in verstärkter Weise wach geworden. Während des Krieges sind die Maler und Zeichner nach Polen, Rußland und in den Orient gekommen und haben da in einem farbigeren und volkstümlicheren Leben ihrer Kunst Verjüngung und neuen Reiz zugeführt. Den Schriftstellern offenbarten sich in der Fremde Sitten und Lebensanschauungen, die ihnen bisher verschlossen waren.

Der Roman „Menschen im Abgrund“ von Jakob Fingermann (Wien, R. Löwit Verlag) ist aus derartigen Erlebnissen entstanden. Ein zumeist jüdisches Milieu in einer polnischen Stadt wird vorgeführt, Menschen im Krieg mit einer heftigeren Lebensgier, einer zäheren Tragik. Ein Judenroman, aber keine der üblichen Gettogeschichten mit der schwermütigen Poesie des Verfalls. Eine- soziale Note ist in der Darstellung Fingermanns, etwas von bitterer Anklage. Er zeigt die seelischen Zerstörungen des Krieges, eine Anarchie der Empfindungen und eine sittliche Verelendung. Mehr noch als die menschlichen Physiognomien ist das Gesicht der Judenstadt Lublin gezeichnet mit ihren so grausamen Kontrasten von Elend und verschwenderischer Lebensführung, moralischer Fäulnis und Idealismus. Ein unsagbar korrumpiertes Europa gibt sich als Scheinkultur dieser Stadt, in der Brände der Leidenschaft emporlohen und hungrige Sinne nach Genuß lechzen.

In diesen Strudel hineingezogen sind die österreichischen Offiziere. Es ist eine glühende, sinnliche Atmosphäre in dem Buche, das mehr dramatisches als erzählerisches Temperament zeigt. Es ist hier nicht das am Geistigen hängende Judentum, sondern das merkantile und irgendwie in den sittlichen Abgrund geratene. Es sind auch nicht die stillen, leidvollen Frauen des Gettos, sondern Messalinanaturen, die bedenken- und seelenlos nur mit den Sinnen lieben. Die Stärke des Romans mit seinen wechselnden Bildern liegt in der Unmittelbarkeit der Darstellung, sein Reiz in dem fremden Milieu, seine Schwäche in einer gewissen Flüchtigkeit, die die Konturen nur andeutet und in einer an der Oberfläche haftenden Psychologie die Geschehnisse abbricht, aber nicht zu innerem Abschluß bringt. Trotzdem ist dieser Roman ein interessantes Zeitdokument von mancherlei schönen literarischen Qualitäten, das unsere Teilnahme bis zuletzt wachzuhalten versteht.

Als ein „fast heiteres Judenbuch“ gibt sich die Sammlung von Erzählungen und bekenntnisreichen Auseinandersetzungen, die unter dem Titel „An den Wassern von Babylon“ bei Georg Müller in München erschien. Jüngere deutsche Schrift­steller jüdischer Abkunft grenzen hier ihr Verhältnis zum Volke, dem sie entstammen und zum andern, in dessen Mitte sie leben und dessen Kultur zu ihrer eigenen geworden, ab. Damit berühren sie ein Problem, das einen tragischen Zug und Zwiespalt in das Empfinden des jüdisch-deutschen Kulturmenschen bringt. Die vier Dichter, die sich hier aussprechen,. sind Nach beiden Richtungen hin treu und wurzelstark. Sie finden einen harmonischen Ausgleich zwischen zwei Welten und meinen, daß gerade daraus etwas Neues und Wertvolles entsteht: ein weltmännisch orientiertes Deutschtum. Am schönsten und gefühlsmäßigsten gibt dem Hermann Sinsheimer in seiner Knaben­geschichte „An den Wassern von Babylon“ Ausdruck. Sehr sinnig ist das Sehnen eines Kindes nach dem Heimatlichen geschildert, das in seiner Phantasie mit der Urheimat seines Volkes ver­schmilzt. Lion Feuchtwanger läßt den ewigen Juden in moderner Fasson und mit ironischen Auslassungen über den Antisemitismus erscheinen. Auch Fritz C a s s i r e r s „Breviarium Judaicum“ ist eine Abrechnung mit nationaler Beschränktheit und blindwütendem Haß, während Paul Schlesinger allerhand jüdische Menschlichkeiten in einer Anekdotenreihe witzig beleuchtet. So ist aus dem Ganzen ein Buch der Verständigung geworden, das man auch bei persönlich abweichenden Anschauungen gutheißt.

In: Neues Wiener Journal, 27.5.1920, S. 3.

Rudolf Jeremias Kreutz: Robert Hohlbaum: Die deutsche Passion. (1926)

Der Epiker Robert Hohlbaum ist eine stete Hoffnung, die unaufhaltsam nach Erfüllung drängt. In jedem seiner Bücher spürt man gleichsam ein tiefes, leidenschaftliches Atemholen: fleißig trainierte, geschmeidige, wenn auch nicht athletische Kraft strafft sich zum Sprung nach dem Erfolg. In jedem seiner Romane sind Ansätze zum Erzähler großen Stils, in jedem aber auch drohen Grenzen, türmen sich Schranken. Die deutsche Welt, Von ihm in heißer Seele umschlungen engt ihn, gerade weil sie ihn allzu innig beglückt. Die Objektivität im Goetheschen Sinne, jene kühle, scharfäugige Liebe zum Objekt – in Hohlbaum lodert sie allemal in Verliebtheit auf. Dies mag vom Standpunkt des tendenzdeutschen Schriftstellers ein Vorzug sein, dem Werke des Dichters geschieht naturnotwendig Abbruch. Wohl gehört Hohlbaum keineswegs zum Kreise jener germanischen Infallibilitätsherolde, deren lehrhaftes Pathos nur noch von ihrer abgründigen Langweiligkeit übertroffen wird, doch zeigt eine Einstellung zur Problematik deutschen Wesens öfter das begeisterungsdurchglühte Gesicht eines Couleurstudenten, als das Antlitz eines Mannes, der sein Volk auch dort kennt, wo es weniger liebenswürdig ist. Aus solcher Einseitigkeit erwachsen Vorzüge und Mängel seiner Werke. Immer steht ein junger Fant im Mittelpunkte der Handlung, ein frischer, herzfroher Geselle, dessen anmutiger Entwicklung wir mit aufrichtiger Anteilnahme folgen. Stets rankt sich um das Schicksal der Hauptperson episodistisches Beiwerk, das Folie bleibt für den ewigen Lenzkampf des Helden, den er gegen feindliche Gewalten erfolgreich ausficht. Liebe, Leid, welsche Tücke, zuweilen ein schwarz gemalter Widersacher aus eigenem Stamm – aus solchem Quellgebiet ergießt sich eine Fülle Jugend über uns: helläugig, rein, köstlich wohlgemut, aber auch befremdlich voraussetzungslos. Dieses gefühlsmächtige Strömen aus eigener Jugend zu ähnlicher Jugend hin, dieses unbedenklich innige sich Verstreuen ist Hohlbaums stärkste Kraft. Sie bezeugt den geborenen Erzähler. Mühelos, spielerisch – das fühlt man – fügt sich ihm Bild zu Bild. Der Lust zum Fabulieren gesellt sich eine beträchtliche Plastik der Formgebung, insbesondere dort, wo ein Milieu geschildert, der Hintergrund eines Schicksals gezeigt wird.

Nicht auf gleicher Höhe steht die Schicksalsgestaltung selbst. Selten nur springt eine Individualität scharfen Profils aus dem Rahmen. Die Menschen gleiten farbig, aber wenig körperhaft an uns vorbei. Hohlbaum erfaßt deutsche Vergangenheit kulturhistorisch ungemein geschickt, der Ausdruck der Zeitepoche ist sprachlich verblüffend echt getroffen. Diese virtuose Fähigkeit museale Garnituren zu beleben, gab dem Dichter wohl auch Ansporn und Mut zu einer Trilogie deutschen Leidens, Kämpfens und Werdens. Ein Stoff von bedrückender Größe, gemessen nicht nur an der Kühnheit des Vorwurfes, deutsches Schicksal vom Ausgang des Dreißigjährigen Krieges bis in das achtzehnte Jahrhundert episch zu gestalten, sondern vornehmlich durch die Schwierigkeit, Menschen glaubhaft lebendig in das historisch Gegebene zu stellen. Den Milieuteil der Aufgabe, ihren dekorativen Prospekt gleichsam, löst1 Hohlbaum in der Deutschen Passion auf das glücklichste. Und das will nicht wenig sagen angesichts des Umstandes, daß jenes von allen guten Geistern verlassene Deutschland der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts bisher überhaupt kaum einen Schilderer gefunden hat. Der törichte und unfruchtbare Kampf zwischen Luthertum und Katholizismus, die Rohheit entlassener Kriegsknechte, der Seelenpferch des Ghettos, die öde Lebensgier der besseren Stände, die »Affenschande der à la Moderei“ – das alles zieht in farbenglühenden Wandelbildern an uns vorüber. Die Menschen freilich erscheinen der Mehrzahl nach als Statisten im gewaltigen Panorama. Sie agieren in ihrem Charakterellen schemenhaft wenngleich sie in Sprache und Gehaben vortrefflich dem Bilde eingefügt sind. Sie stellen weit mehr Figurinen dar als Individuen, sie fesseln durch die Echtheit ihrer Kostüme, ohne menschlich sonderlich zu interessieren. Zwei nur treten schärfer konturiert aus der Menge: Michel Moschewin, der Vorbilddeutsche, in die chaotische Tragik seines auf blutigen Irrwegen taumelnden Volkes als ein „Held Unverzagt“ gestellt, und Schmul Kurtzhandel, der Jude. In diesen beiden – Pol und Gegenpol – stecken, von der mitunter allzu grellen Weiß- und Schwarztechnik und seiner wohl unbewußten Verbeugung vor gewissen völkischen Instinkten abgesehen, kräftige Ansätze zur Charakterformung. Moschewin = Baldur und Kurtzhandel = Loki leben, haben Fleisch und Blut. In ihnen glimmt etwas von dem „dreimal glühenden Licht“, das dem Künstler leuchten muß, auf daß er den aus dem Handgelenk spukendem papierenen Geist des Schreibtisches überwinde. Insbesondere in einzelnen Ghettoszenen gewittern Spannungen geheimnist ein Grauen, das stilistische Findigkeit nie vermitteln kann. Hier tritt ein ander[e]s hinzu, unwägbar, kostbar und selten im Reiche des Schaffens: Sparkunst am leeren Wort — Wirkung des Dichters. Robert Hohlbaum, der Dichter, ist des fruchtbaren Schriftstellers wesentlicherer Teil. Auch Die deutsche Passion erweist dies wieder, seinen vielen Freunden zum Wohlgefallen

 In: Neue Freie Presse, 13.6.1926, S. 32.

Otto Koenig: Neue Romane und Erzählungen. (F. Werfel: Der Abituriententag, B. Brehm: Der lachende Gott) (1928)

Der neue Roman Der Abituriententag von Franz Werfel (Paul-Zsolnay-Verlag. Wien) zählt zu den stärksten epischen Werken der Gegenwartsdichtung. Er ist die Geschichte einer Jugendschuld. Durch die Erinnerungen, die einer der üblichen Zusammenkünfte ehemaliger Maturakameraden, ein sogenannter „Abiturrententag“. weckt, wird auch das Er­innern an den Mitschüler Adler, einen Ver­schollenen, einen Abgesunkenen der Klasse, lebendig; der Untersuchungsrichter Sebastian glaubt jenen ehemaligen Mitschüler Adler in einem Untersuchungshäftling wiederzuerkennen, der ihm als eines Prostituiertenmordes verdächtig, eben an diesem Vormittag der Abiturientenzusammenkunft vorgeführt worden war. Er glaubt dies, weil er mit jenem befähigten Adler damals um die Herrschaft in der Klasse gerungen, weil er ihn gedemütigt, verführt und ihn schließlich, um sich selbst vor vernichtenden Gymnasialkonsequenzen seiner Jugendstreiche mit Katalogfälschungen und heimlichem Bordellbesuch zu retten, zur Flucht drängte und verhalf, er glaubt dies, weil er an jenem verschollenen Mitschüler schuldig ge­worden ist. In der Nacht nach dem Erinnerungsabend fiebert und phantasiert der aufgewühlte Richter diese fernvergangene Gymnasialschuldtragödie, aus der er durch Auf­opferung jenes andern heil hervorgegangen ist, noch einmal durch. Am darauffolgenden Morgen, im Amt vor dem Inkulpaten Franz Adler, der aber jener andre Franz Adler gar nicht ist, erfolgt im furchtbaren seelischen Ringen um Entsühnung ein Nervenzusammenbruch und durch ihn seelische Befreiung. Tiefe Zu­sammenhänge zwischen dem ethischen Gott in uns und dem Dämon des Selbsterhaltungstriebes offenbaren sich in dem hocherregten, dramatisch komprimierten Werk hinter der Schilderung und Handlung, die mit fein­fühligster Detailmalerei den  kaiserlich öster­reichischen Beamtenstaat, seine Beamtendrillschulen, die Gymnasien und das Provinzmilieu, naturfarbig illuminiert.

Der lachende Gott.

Mit Altösterreich, seinen Gymnasiarchen, sonstigen Unterrichts- und andern Beamten, mit seinem Militär, seinen Kleinstädtern und der Provinzmoral hat es auch der soeben im Verlag R. Piper (München) erschienene Roman Der lachende Gott zu tun. Sein Dichter, Bruno Brehm, ist ein neuer Mann, der aber wegen seiner in dieser Erzählung frappant in Erscheinung tretenden sicheren Schilderungskraft und reifen Begabung mit Ehren empfan­gen werden muß, obwohl sein lachender Gott — ein Priapus ist, der antike, in spätrömischer Zeit besonders eifrig kultivierte Gott männ­licher Zeugungskraft mit dem symbolisch über­triebenen, ungeheuren Phallus, also in unserer Zeit, da die Erotik offiziell nicht mehr religiös überhöht zu werden pflegt, eine frivole Obszönität. — Dieser grün patinierte römische Bronzepriapus wird von einem Bauern in der Nähe einer altösterreichischen Provinzstadt, die der Verfasser so liebevoll und genau schildert wie Goethe das Städtchen seines Hermann, auf seinem Acker ausgegraben. Der Sohn des Bauern, der Schüler am Provinzgymnasium ist und die Figur dem Direktor überbringen will, wird als unbeliebter Bauernsproß von diesem engstirnigen Unterrichtsbeamten in eine Disziplinaruntersuchung hineingetrieben und ausgeschlossen. Die ehrbar verhohlene Erotik der Spießbürger aber kommt durch den lachen­den Gott außer Rand und Band. Der Einzug der feurigen Offiziere und Mannschaften eines ungarischen Infanterieregiments verstärkt die aufstachelnden Reizungen und Wir­kungen. Die drei „destruktiven Elemente“ des Städtchens mischen sich ins Spiel, der lachende Gott wird aus dem Gymnasium gestohlen; die in verschiedenen Gesellschaftsschichten und Menschen in verschiedenen Nuancen aufflammende Sexualität führt zu Lächerlichkeiten, Komödien, Duellen, Orgien, zu Mord, behördlichen Verfolgungen, Verhaftungen und zum aktiven oder auch passiven Selbstmord der kompromittierten Honoratioren, unter denen die Künstlernatur des Zeichenprofessors RabI die sympathischeste ist. Der Dichter versteht sehr wohl in Spannung zu halten, weiß sein Garnisonsstädtchen zwischen der Thaya und Carnuntum vorzüglich zu zeichnen, prachtvoll echte Offiziers-, Beamten- und Provinzproletariergestalten zu formen, die auch dann lebensecht sind, wenn er nach seiner katholischen Idealismen zugeneigten Art eine Ausnahmefigur wie die des gütigen und weisen Religionsprofessors Pichler schildert. Eine leise und klug lächelnde Satire ist dieser Provinzroman aus der altösterreichischen Provinzgarnisons- und Gymnasialstadtskandalgeschichte, die zwischen unverhältnismäßigen, aber in diesem Milieu wahrscheinlichen Katastrophen eindringlich an­deutet, wie der Schuldige, der Gymnasialdirektor, in allen Würden bleibt, während die einzige Konsequenz, die die Provinzgemeinde öffentlich zieht, die ist, daß die straßenkehrenden Lumpenproletarier und Saufbrüderln, die ohnehin „gemütliche Menschen“ sind, die mit dem Eros keine Beziehungen unterhalten, nicht mehr auf dem Hauptplatz lungern dürfen.—

Und dann geistert noch ein tiefes und großartiges Wissen bedeutsam durch diesen originellen Roman: Das Wissen vom Erschrecken vor einer in die Gegenwart tretenden kultischen Vergangenheit, die Ahnung, daß das Bild des Gekreuzigten, in fernen Tagen zufällig auf­erstehend, auch Grauen, Entsetzen und Ver­wirrung anrichten müßte.

In: Arbeiter-Zeitung, 22.12.1928, S. 6.

Rudolf Holzer: Neue Romane (H. Mann – Wassermann – Stehr) (1919)

In nicht großen Abständen sind in letzter Zeit drei umfangreiche Romane erschienen, die, abgesehen von ihrer ästhetischen Bedeutung, wahrhaftig Spiegelungen und Dokumente der gegenwärtigen Zeit sind. Der künftige Kultur- und Literaturhistoriker wird aus ihnen einst unsere Geistesverfassung, unser menschliches Sein in diesen Tagen, unseren Anteil an den Forderungen der ewigen Entwicklung lesen können. Unabhängig von ihrem literarischen Werte darf man die drei Romane auch als Schöpfungen dreier bedeutender Schriftsteller, an sich als charakteristische Erscheinungen bezeichnen. Heinrich Mann, Hermann Stehr, Jakob Wassermann sind so sehr schöpferisch, daß sie kraft ihrer Naturen und Begabung nicht leere Abschreiber des Tages, sondern Träger der latenten Ideen und Konflikte sind.

Im Stile und Realismus des platten, politischen, tendenziösen Pamphlets ist Heinrich Manns Roman Untertan gehalten; er enthüllt angeblich das Abbild des Deutschlands Wilhelms II. Am Scheitel des Bogens schwebt, entrückt der Alltäglichkeit und dem Dutzendgeschmack, das literarische Gebilde Wassermanns Christian Wahnschaffe; jenseits ruht der Bogen verdichtet in Hermann Stehrs Roman Der Heiligenhof, im deutschen Neumystizismus, in einem Sozialismus, der an Urchristentum anknüpft.

Der Roman Heinrich Manns Der Untertan[1] wurde kurz vor dem Kriege beendet; er erschien zuerst in einer Wochenschrift im Frühjahr 1914, wurde aber als eine geschmacklose Verletzung der Stimmung bald nach Kriegsausbruch abgebrochen. Heute feiert er – leider! – als zu wahrhafter Satire geworden, eine Auferstehung; er nimmt sich — leider! — geradezu als ein historisches Kulturwerk aus; er segelt heute als Sittengeschichte des Deutschen Reiches zu Ansang des 20. Jahrhunderts in die Öffentlichkeit. Nun, zu dem Anspruch, ein wirkliches Bekenntnisbuch zu sein, fehlt ihm Objektivität und Unbefangenheit. Mit Haß und Hohn ist man niemals ein gerechter Zeuge. Heinrich Mann vermeint, die Psyche des braven, gehorsamen Untertanen enthüllt zu haben. Sein bürgerlicher Kleinindustrieller Diederich Heßling, dieses Muster eines Nationalgesinnten, beweist nur leider nichts, denn Mann bildet ihn als Ausbund der Einsichtslosigkeit, Dummheit, Charakterlosigkeit. Nach einem kurzen, in

Berlin verlaufenden Vorspiel, wohin der junge Diederich gelangt, um Chemie zu studieren, setzt sich die eigentliche Handlung in einer typisch preußischen Stadt, nicht allzu weit von der Reichshauptstadt gelegen, um die Zeit der Neunzigerjahre fort. Heßling wird zum Träger angeblich neudeutscher Kultur, die nach Manns Darstellung nichts anderes ist als knechtische Unterordnung und Bewunderung des preußischen Militärstaates. Der „Untertan“ Diederich Heßling, Fabriksdirektor und Unternehmer, wird als Typus des Geschäftssinnes und der Schneidigkeit des preußischen Staatsbetriebes gekennzeichnet. Bald stößt er natürlich mit den politisch Freisinnigen der Stadt zusammen; namentlich mit dem klugen und menschenfreundlichen Achtundvierziger Buck. Die Gutheißung der Erschießung eines Arbeiters durch einen militärischen Posten, eine Denunziation wegen Majestätsbeleidigung, eine vom Gerichtshof und den Zeugen liebedienerisch durchgeführte Verhandlung, zweifelhafte Kompromisse mit anderen politischen Strömungen, eine Reichstagswahl, die Errichtung eines Kaiserdenkmals, das sind die einzelnen Szenen der Handlung, die immer nur Gelegenheit gibt, Diederich Heßling als lächerlichen und widerlichen Gesellen zu kennzeichnen. Er wirkt durchaus als Karikatur. Der offizielle Geist der vergangenen Jahre wird mit beißender, höhnischer Laune dargestellt, wird als am Staate nagendes Gift, als Produkt der Fäulnis geschildert, des in seinem hohlen, geschmacklosen Protzentum, seinem stets die Ideale der Nation im Munde führenden Materialismus den Staat dem Abgrund entgegentreibt. Mann weidet sich an dem bekannten Pathos der Reden Wilhelms II., die Adel und Bürgertum Deutschlands einlullten. Aber in Heßlings Munde werden sie zu unausstehlichen Trivialitäten, zu fürchterlicher Satire. Der gehorsame und getreue „Untertan“, der keinen anderen Ehrgeiz kennt, als seinem kaiserlichen Herrn zu dienen, wird bei Mann zu einer verzerrten und lächerlichen Kopie des Monarchen. Seinem Charakter nach ein hohler, eitler Komödiant und Streber, schwindelt und bramarbasiert sich Heßling in der Kleinstadt zu Einfluß, und Macht empor, spielt dort den nationalistischen Scharfmacher, bedrückt seine eigenen „Untertanen“ – die Angestellten seiner Fabrik – macht zweifelhafte Geschäfte, liegt vor jeder höheren Macht im Staub, ist aber brutal und rücksichtslos nach unten und findet endlich seinen Ehrgeiz als Generaldirektor, anerkannter Patriot und Festredner bei einer Denkmalsenthüllung gekrönt.

Mit dem Rechte des Satirikers hat Mann den Diederich Heßling zu einem Zerrbild des Untertanen im Zeitalter des preußischen Imperialismus gemacht. Durch Verzerrungen hebt er die Schäden der Zeit schonungslos ins grellste Licht. Die kleine Stadt, Netzig, in der Heßling das große Wort führt, ist beherrscht und belebt von Anhängern des Imperialismus. Offiziere, Staatsbeamte, Pastoren, Industrielle, Oberlehrer, Frauen der bürgerlichen Welt, Damen aus der Halbwelt sind benebelt und berauscht von patrio-// tischen Gefühlen, die in Wahrheit der Ausfluß krassesten Egoismus sind. Es ist Mann kein Vorwurf zu machen, daß er in der Wunde seiner Zeit wühlte, es berührt jedoch nicht angeehm, daß er seinen Witz ausschließlich an Begriffe knüpfte, die dem nationalen deutschen Empfinden bisher achtenswert waren. Seine Schilderungen der Berliner Korpsstudenten, der politischen und moralischen Verhältnisse der Netziger Bürger sind überaus scharf und geistreich gesehen. Die Charakterlosigkeit und Feigheit, mit der sich Heßling der Militärpflicht entzieht, gleichzeitig aber mit seiner patriotischen und militärfreudigen Gesinnung flunkert, um später Aufnahme und Einfluß im Kriegerverein zu finden, das bürgerliche Leben, seine und die Liebesangelegenheiten der Netziger sind in dem Buche zu virtuosen Episoden verwertet. Der schärfste und reinste Niederschlag des Buches kommt aber in einer mit der Handlung gar nicht zusammenhängenden Analyse des Wagnerschen Lohengrin zum Ausdrucke. Da entgleitet dem Verfasser endgültig die Maske. Da verrät er sich endgültig als politischer Pamphletist, als – nach dem von Thomas Mann geprägten Ausdrucke – Zivilisationsliterat, als Parteigänger der undeutschen Empfindung, als Schriftsteller, dem für deutsches Fühlen und Denken nicht nur die Organe fehlen, sondern der allem Deutschen mit Hemmungen gegenübersteht. Um später einmal etwa als „historischer“ Roman zu gelten, fehlt dem Buche die einwandfreie Objektivität, aber Mann hat uns, was nicht zu leugnen ist, ein ironisches Werk von aufreizender Grausamkeit und Schonungslosigkeit gegeben. Daß das Buch vor dem Kriege entstanden ist, macht es ethisch einzig und allein erträglich; heute geschrieben, müßte man es als Ausdruck krankhaften Flagellantentums bezeichnen.

Jakob Wassermann, der zu Anfang des Krieges mit seinem Roman Das Gänsemännchen der neueren deutschen Literatur eine Dichtung von außerordentlicher Tiefe schenkte, legt jetzt in zwei Bänden die seltsames Seelengeschichte eines jungen Deutschen, Christian Wahnschaffe, vor. Sie fußt in einer Weltanschauung, in Gedankengängen, einem Stoffkreise, die auf die Anfänge aller Dichtkunst zurückgreifen. Wassermanns neues Buch ist die nach dem Himmel, nach der Erlösung anblickende Legende des Menschen und der Welt von 1919; es ist die modernste, aus der ursprünglichsten Gegenwart hervorwachsende Dichtung vom leidenden, durch irdische Entbehrung und Demut zu seelischer Befreiung und Erhebung strebenden Menschen von heute. Wer würde nicht durch den Helden des Romans, durch den mit allen glänzenden Vorzügen und Tugenden der Kultur, der Bildung, des Reichtums, der Lebensführung ausgezeichneten Christian Wahnschaffe an die Helden der alten lateinischen, deutschen, englischen Mysterienspiele und Moralitäten, an die der späteren Klosterspiele erinnert werden. Auch Christian ist ganz im Sinne lehrhafter Legenden eine Gestalt mit doppeltem Antlitze: jenem der Lebenslust und jenem der Askese, jenem der sieghaften Schönheit und dem des scheußlichen Lasters, dem der heidnischen Sinnenlust und dem der entsagenden religiösen Selbstkasteiung. Die geistige und literarische Verwandtschaft führt dann weiter über die großen psychologischen und moralisierenden Romane der Russen: über Dostojewski und Tolstoi, bis er in einem Neobuddhismus unserer Tage eine Art Glaubensbekenntnis formuliert.

Christian Wahnschaffe ist der Sohn eines jener unbegrenzt reichen Industriellen, in denen die Macht und Größe Deutschlands vor dem Kriege ihren eigentlichsten Ausdruck erhielt. Von der Natur verschwenderisch begabt, mit allen Vorzügen eines Lebemannes und Dandys ausgestattet, bildet er zunächst das Ideal eines jungen Mannes der großen Welt aus den paar führenden Familien Deutschlands. Es gibt keinen Genuß, der ihm nicht zugänglich, und keine Laune, die für ihn nicht einlösbar wäre. Sein Leben spielt sich in einem Stil ab, der bestimmt wird von unbegrenzten Einkünften, erlesenem Luxus, kultiviertester Schönheit. Dementsprechend tritt er auch kaum aus einer Umgebung, die anders empfindet. Eines Tages schießt ein Arbeiter auf seinen Vater, den Geheimrat Wahnschaffe. Dieses für sein äußeres Leben ohne weitere Folgen bleibende Geschehnis bringt ihn in Beziehung zu einem russischen Revolutionär, in weiterer Folge zum Proletariat. Vom Hochzeitsfeste seiner Schwester wandert er in die armselige Wohnung des wegen des Attentates verurteilten Arbeiters. Das menschliche Elend, das er kennen lernt, wirkt auf ihn derartig mächtig ein, daß er sich seines Vermögens entäußert, in freiwilliger Armut lebt und seinen Besitz mit Armen, am Leben Leidenden teilt. In einer elenden Matrosenschenke Hamburgs findet er die verkommene, halb vertierte Dirne Karen Engelschall. Er widmet sich ihrer Pflege und weicht bis zu ihrem Sterben nicht mehr von ihrem Lager. Christian nimmt mit diesem Leidenszug gleichsam das Kreuz auf sich, um sich selbst von dem Verbrechen seines Reichtums zu entsühnen. Er wird auch zum ruhelosen Sucher nach dem Mörder eines armen, einem Lustmorde zum Opfer gefallenen Mädchens, findet dann aber keineswegs in der Überantwortung des Mörders an die irdische Gerechtigkeit Befriedigung, sondern führt den Verworfenen zu seelischer Läuterung durch ein Geständnis, zu einer – vom Dichter allerdings bloß angedeuteten – Selbstsühne hinan…

Agitatorischer, fast inbrünstiger Trieb zum Bekennen der Menschenliebe und Menschengüte durchzieht dieses Buch; es ist in seiner Art ein Evangelium der Menschenliebe. In flammenden Worten predigt es die //Verwerflichkeit der Macht, des Reichtums und der Genußsucht. Wem noch irgend Zweifel bleibt über den Charakter von Wassermanns Buch als einem einer neuen, zeitgemäßester Sittlichkeit, der sei auf Christians Ende verwiesen: es ist eine Art „Himmelfahrt“, indem Wassermann Christian sich in Geistigkeit, im Fluidum sittlicher Reinigung einfach auflösen läßt; in dem der Dichter Christians kargen Rest von bürgerlicher Existenz im Namenlosen verschwinden läßt.

[…]

In: Wiener Zeitung, 31.1.1919, S. 2-4.


[1] Verlag von Kurt Wolff, Leipzig.

E. Guglia: Neue Romane (1919)

Thaddäus Rittner kennt man bis jetzt nur als Dramatiker. Er hat zwar einen Band Novellen veröffentlicht, aber das ist schon zwanzig Jahre her und vergessen. Dagegen sind seine Erfolge auf dem Theater, nicht zwar rauschende, aber tiefgehende, in frischer Erinnerung, sie reichen bis in die neueste Zeit. Das wird seinem vor kurzem erschienenen ersten Roman Das Zimmer des Wartens schon eine lebhafte Nachfrage sichern. Und er wird den Freunden seiner Dramen keine Enttäuschung bereiten. Er besitzt dieselben oder doch ähnliche Vorzüge: große Spannungen, starke, grelle Effekte wird man ja nicht erwarten. Aber alle die Feinheiten, die jene auszeichnen, sind da. Das Zimmer des Wartens, in dem wir am Beginn der Geschichte die Kinder mit einem Onkel so wie in E. T. A. Hofmanns Nußknacker und Mausekönig vor der Bescherung am Weihnachtsabend beisammenfinden, ist ein Symbol des Lebens für den Knaben zunächst, der der Held der Geschichte wird – aber darüber hinaus noch für viele, deren Leben sich in einem ewigen Warten verzehrt. Die harmlose Stimmung des Wartens im „Nußknacker“ verfliegt sofort: Onkel Theodor schlägt vor der verschossenen Tür, die ins Zimmer führt, wo der Christbaum angezündet wird, das tragische Motiv des Romans an: „Wie wäre es, wenn ihr sitzen und warten müßtet?“ Den Knaben ergreift ein Vor­gefühl seines Geschickes: er erschrickt tief in sich hinein. Der Dichter zeigt ihn dann aus einigen Stationen seiner Lebenspilgerschaft – es sind zart abgetönte Federzeichnungen mit melancholischen Arabesken. Wir heben drei davon heraus. Der Knabe kommt in eine „Anstalt“, in der wir sofort das Theresianum erkennen, dessen Zögling auch Rittner einmal war. Hier hat also der Roman einen autobiographischen Hintergrund. Wir werden mit dem Leben in einer sogenannten Kamerate bekannt gemacht, mit dem Präfekten, genannt Kamel, der sie beherrscht, mit verschiedenen Zöglingen, von denen fast jeder einen be­zeichnenden Spitznamen trägt: mit dem „Zuckerl“, dem „Hampelmann“, dem „Storch“, dem besten Springer Zilgitz, mit einem ewig büffelnden Ungarn, der in das  Geplauder der Kameraden über das Leben draußen und seine Verheißungen sein monotones Paradigma wirft: Cado, cadere, cecidi, casum, wir wohnen den Vigilien für Kaiser Karl VI. in der Kapelle bei, wo ein schwarzer Vorhang mit weißem Kreuz dem Knaben ein ähnliches Geheimnis zu bergen scheint wie einst die ver­schlossene Tür im Zimmer des Wartens. Wir lernen das Glück der Krankenabteilung kennen, in der man nicht zu lernen braucht und  ganze Tage ruhen und träumen darf. Auch ein Professor der Mathematik, Silius, tritt auf, der stark porträthafte, aber ins Phantastische gesteigerte Züge trägt. Dem fallen Hefte des Knaben in die Hand, in der dieser, ein früh­reifes Dichtertalent, versucht hat, Töne, Ge­rüche, Gedanken zu beschreiben: „Mensch, wach auf!“ sagt Silius zu dem Knaben. »Hörst du nicht den ersten Hahnenschrei? Das Leben be­ginnt. Und ich sage dir aus Erfahrung, sobald das Leben begonnen hat, ist es auch bald zu Ende… Du wirst nie den heutigen Tag loben, denn du bist dazu verdammt, stets den gestrigen wiederzukäuen.“ Dies ist das zweite Leitmotiv für das Leben des Helden, für den Roman. Das erste, das Warten auf etwas, das nie kommt, oder wenn es kommt, dort nicht die Erfüllung bringt, die man daran geknüpft hat, nimmt im Theresianum den breitesten Raum ein: die Zöglinge warten immer auf das Ende der Stunde, das Ende des Tages, das Ende der Woche, dos Ende des Jahres, das Ende der Zeit, die sie in der Anstalt zu verbringen haben. Aber immer ist – wenigstens für den Helden – das Erwartete nur ein vorläufiges, das Anlaß zu neuem Warten gibt. Nach der Matura darf der Glückliche nach Venedig und verbringt dort, zum Ärgernis seiner Ver­wandten, nichtstuend ein ganzes Jahr. Venedig ist übrigens die einzige Station im Leben des Helden, wo nicht bloß gewartet wird, wo er etwas erlebt, sich in ein halbwüchsiges Mädchen verliebt, der er auf Wunsch ihres Vaters, eines Spielwarenfabrikanten, Stunden in Geographie und andern Wissen­schaften gibt. Aber nach Wien zurückgekehrt, öffnet sich ein Zimmer des Wartens nach dem andern. Am längsten sitzt er in dem, das man gemeiniglich mit dem Namen „Amt“ oder „Beruf“ bezeichnet, es ist ein Zimmer gegenüber von einer großen Mauer: wenn die Sonne daraus scheint, ist es, „als wenn ein blutarmes Gesicht zu lächeln versuchte“. Das Kapitel, das von diesem Zimmer erzählt, ist betitelt: „Tausend Jahre Zwangsarbeit“ – so // empfindet es der zuerst noch junge, dann allmählich und doch blitzschnell, wie es der Professor Silius vorausgesagt hat, alternde Mann. Ein Kollege, jener Zilgitz aus dem Theresianum, der der beste Springer war, er­hängt sich, weil er in die Provinz versetzt werden soll, und als der Held vom Begräbnis wieder in sein Bureau kommt, sagt er zur Mauer: „Du bist immerhin besser als der Tod. Vielleicht fliegst du eines Tages wie ein Vor­hang in die Höhe. Und die Freiheit bricht an.“ Ja, der Vorhang fliegt wirklich zuletzt in die Höhe, die Freiheit bricht wirklich an. Aber das ist zugleich die Stunde des Sterbens. Er erlebt sie in demselben Zimmer des Wartens, in dem er als Kind auf die Christbescherung gewartet hat: „Einen Augenblick war es still, dann läutete es aber ganz hell und heiter. Die Tür sprang auf…“

In: Neues Wiener Tagblatt, 9.5.1919, S. 2-3.