Ernst Fischer: Neue Kunst (1920)

             Bis zum Ekel haben Dichter, Maler, Musiker, Schauspieler, Künstler und Intellektuelle jedes Grades und jeder Schattierung versucht, immer wieder versucht, Kunst an sich, ohne jede Relation, als etwas Wertvolles, für sich Bestehendes, als rein formale Gestaltung, ohne weiteren Zweck, hinzustellen. Diese Tendenzen finden wir bezeichnenderweise immer in Zeiten, die zermürbt, aufgelockert, müde und verfallend sind, fröstelnde Abendröte morschender Kulturen vergehender Gesellschaften. Die Kunst starker latenter Zeitalter, scharfumrissener Gesellschaftsbildung, selbstbewußter Klassen ist nichts anderes als geschlossener, konzentriert geballter Ausdruck der Zeit, ist im Spiegel das Erlebnis der Zeit (denn jede Zeit hat ihr eigentümliches Erlebnis) und, in ihrer höchsten Form, Deutung, Verklärung der Zeit, Ausblick und Überschwang. Dies ist eine historische Tatsache; starke Zeitalter (Griechentum, Gotik, Renaissance in Italien, England, Spanien, Frankreich) haben starken, eigenwilligen Stil, haben eine Kunst, die in ihren Ideen, ihrer Logik, ihrem inneren Aufbau, ihren formalen Ausdrucksmöglichkeiten nichts ist als Information des Zeitalters, eines bestimmten Grundwillens, der sich gleicherweise ausspricht, in Staat, Gesellschaft, Religion, Philosophie, in allem Größten und Kleinsten.

Aus dieser historischen Tatsache erhellen unmittelbar Wesen und Zweck der Kunst. Ein Volk, eine Gesellschaft – oder, noch richtiger: die herrschende Klasse eines Volkes, einer Gesellschaft, die kräftigste, geschlossenste, bewußteste, die der ganzen Zeit ihr Gepräge gibt, will sich selber, ihr Wesen, ihr Wollen, ihren historischen Sinn im vereinfachten Bilde erkennen, aus diesem Erkennen sich selber steigern, sich selber bereichern, sich stärken an ihrem eigenen Wesen, sich entflammen zu dem, was ihre historische Sendung ist.

Wir nehmen ein typisches Beispiel. Die französische Tragödie um die Zeit Ludwigs XIV. Herrschende Klasse war der kriegerische Adel des Landes, der, erst kürzlich seiner unbändigen politischen Macht beraubt, sich allmählich umbildet in einen höflichen Adel. Der Dichter dieser Zeit ist Corneille. In seinen Dramen verherrlicht er alle starken, umgebrochenen Instinkte des Edelmannes, diese Instinkte zu Tugenden verklärend. Das Ideal der Zeit wird uns die Verbindung von Held und Hofmann. Mut, Entschlossenheit, Königstreue, Ritterlichkeit, eine gewisse Erhabenheit der Gesinnung – aus diesen formt sich das typische Erlebnis der Zeit. Man verstehe nun ferner, daß im Künstler stoffliches und formales Erleben untrennbar verbunden sind. An einem Hofe, der um ein Zentrum, den absoluten Monarchen, erst kürzlich gebeugte Fürsten, Grafen und Ritter vereinigt, ihre stolzen und störrischen Instinkte durch ein strenges Zeremoniell bändigend, konnte nur die Tragödie, das Drama herrschende Kunstform werben. Und zwar das klassisch geschlossene, starren Regeln unterworfene Drama, dessen strenge Form die starken Leidenschaften der Handlung bändigt. So fand das Publikum, bestehend aus den Herren des Hofes, sein Schicksal gespiegelt in den Dramen, die vor ihm aufgeführt wurden. Dieses formale Gestalten der Zeit erstreckt sich natürlich bis auf die Sprache, deren ursprünglich saftige Kraft in dem strengen und feierlichen Prunk des alexandrinischen Versmaßes erstarrt. So ergreift uns Ahnung der Lust, die jener Hofstaat angesichts jener Kunstwerke empfand.

Dies Beispiel ist eines von Tausenden. Ich möchte noch, zum besseren Verständnis, auf Zola verweisen, dessen Romane ich als bekannt voraussetze. Dieser gewaltige Künstler steht am Tor einer neuen Zeit, in ungeheuren Visionen ihr tiefstes Wesen erkennend. Das Erlebnis dieser Zeit ist das Eintreten der Urbereitschaft in die Geschichte, die, als innerlich stärkste Klasse, ihre historische Sendung beginnt. Das künstlerische Erlebnis dieser Zeit ist das Erlebnis der Masse, die sinonyme Kunstform der Romane. Nur im Roman ist es möglich, die Masse künstlerisch widerzuspiegeln, formal auszudrücken.

Diese beiden Beispiele mögen genügen, das Wesen einer starken Kunst zu erläutern. Alles andere, das diesen großen, historischen Gesetzen nicht entspricht, ist nur Literatur. Neben den wenigen Künstlern läuft immer das Pack unzähliger Literaten, die dann gefährlich werden, wenn sie Talent besitzen. Sie betrachten ihr Talent nicht als eine Verpflichtung, es der Gesellschaft nutzbar zu machen, sondern als einen Freibrief, ihr auch lästig zu fallen.

Und nun die Frage: Wie stellt sich unsere Zeit bar im Spiegel der Kunst?

Es ist wesentlich leichter, diese Frage für vergangene Epochen der Geschichte zu beantworten. Die Distanz ermöglicht es, zwingt uns sogar, nur das Große, Bedeutsame, Wesentliche zu betrachten, das Überflüssige zu vermeiden. In der Gegenwart kann es uns leicht geschehen, die Kunst über dem Wucherwerk der Literatur zu übersehen. Immerhin sind starke Stimmen vernehmbar, selbst durch das Gebrodel der hundert schwachen hindurch, wenn auch das Katzenkonzert der Literaten uns jedes Zuhören verekeln könnte. Eine weitere Schwierigkeit, ein klares Bild zu gewinnen, liegt darin, daß unsere Zeit überhaupt keine Zeit klarer Bilder ist.

Immerhin: wer sich etwas mit Kunst beschäftigt hat, erkennt zwei wesentliche Faktoren: Masse und Rhythmus. Und ich glaube, wir haben es hier tatsächlich mit den beiden Faktoren zu tun, die das typische Erlebnis unserer Zeit bedingen. Auf einer Seite das rasende Tempo der Schnellzüge, Automobile Aeroplane, der Maschinen und technischen Ungeheuer – der stählerne Pulsschlag fiebernden Blutes – auf der anderen Seite die Tatsache, daß sich die große Masse als Masse fühlt, daß jenes viel mißbrauchte Wort vom „sozialen Gewissen“ Wirklichkeit wird.

Die Arbeiterschaft, das Proletariat, ist die Waffe, die der Zeit ihr Gepräge gibt, die Revolution in jedem Sinne ist das entscheidende Ereignis.

In diesem Zusammenhange muß die moderne Kunst gewertet werden. Ihr Inhalt ist die Revolution, ihre Form ist ebenfalls – die Revolution. Und wenn wir, mit einer gewissen Skepsis vielleicht, das Aufschießen unzähliger neuer Kunstrichtungen beobachten, erkennen wir doch das eine: die Künstler fühlen, es hat eine neue Zeit begonnen. Diese neue Zeit verlangt gebieterisch neuen Ausdruck. Man mag über Expressionismus, Futurismus und wie diese -ismen alle heißen, denken, wie man will – eines darf man nicht unterschätzen: Es ist ein ehrlicher Wille, der hier, oft unter Krämpfen, oft unter Fieberzuckungen, um das Neue kämpft. Es sind die Geburtswehen einer neuen Kunst. Diese Kunst wird und muß, wenn sie erst klar in Erscheinung tritt, Spiegel der Revolution, Ausdruck des Proletariats, Information einer neuen Gesellschaftsordnung sein.

Dies wird geschehen, trotz aller Salonexpressionisten und Kaffeehausmystikern, trotz aller hysterischen Ästheten und Konjunktursozialisten trotz aller Literaten, die sich um neue „Kunstrichtungen“ raufen und sich redlich bemühen, die Kunst in Tinte zu ersäufen – dies wird geschehen, weil es geschehen muß.

Das Proletariat wird seine Kunst haben, wie es seinen Staat, seine Gesellschaftsordnung, seine Welt erkämpfen wird, weil es heute die einzige Klasse ist, die um Gestaltung einer neuen Idee ringt.

In: Arbeiterwille, 9.11.1920, S. 9.

V. Eggeling, R. Hausmann: Zweite präsentistische Deklaration (1923)

Gerichtet an die internationalen Konstruktivisten

             Im ersten präsentistischen Manifest erklärten wir den Aspekt einer Welt, die real ist, eine Synthese des Geistes und der Materie. Wir streben wieder nach der Konformität mit dem mechanischen Arbeitsprozeß. Wir fordern die Erweiterung und Eroberung aller unserer Sinne; wir werden in der Optik weiterschreiten bis zu den Grundphänomenen des Lichtes. Wir sprachen es unzweideutig aus: Unserer Aufgabe ist es, gegen die Allerweltsromantik in ihrer letzten und feinsten Form noch zu kämpfen wir fordern ein Ende des kleinen Individualistischen und wir erklären, daß wir die Forderung nach einer Erweiterung und Erneuerung der menschlichen Sinnessemanationen nur erheben, weil ihr die Geburt eines unerschrockenen und unhistorischen Menschen in der Klasse der Werktätigen vorangegangen ist! Und nun wenden wir uns gegen die Deklaration der ungarischen Konstruktivisten im „Egység“ und rufen ihnen und den internationalen Konstruktivisten überhaupt zu: Unser Arbeitsgebiet ist weder der Proletkult der kommunistischen Partei noch das Gebiet des l’art pour l‘art! Der Konstruktivismus ist eine Angelegenheit der russischen Malerei und Plastik, die die ideoplastische (gehirnlich-nützliche) Einstellung des Ingenieurs als Spiel mit beliebigem Material nachahmt und damit weit unter der Ingenieursarbeit rangiert, die funktionell und erzieherisch ist. Versuchen wir auch keine intellektuelle Einwirkung auf das Proletariat, bevor wir uns über unsere Rolle als Deklassierte klar geworden sind. Unsere Aufgabe ist es, im Sinne einer universalen Verbindlichkeit an den physikalischen und physiologischen Problemen der Natur und des Menschen zu arbeiten und wir werden unsere Arbeit dort beginnen müssen, wo die moderne Wissenschaft aufhört, weil sie inobjektiv ist, weil sie nur das System der Ausbeutungsfähigkeit verfolgt und fortwährend Standpunkte einnimmt, die einer erledigten Zivilisationsform angehören. Wir haben voraussetzungslos und unvoreingenommen die ersten Schritte einer Naturbetrachtung zu unternehmen, die die Physik und Physiologie auf ihre eigentliche Wirkungsebene bringt, im Sinne einer kommenden klassenlosen Gesellschaft, ohne dabei in Utopismus zu verfallen, und völliger Klarhiet über die noch innerhalb der bestehenden Gesellschaftswissenschaft und ihrer Methoden zu leistende Destruktionsarbeit. Wir haben die Zeit eines objektiven und positiven Aufbaues nur vorzubereiten, weil wir aus der Bedingtheit unserer Welt nicht hinaustreten können und wollen.

             Unsere sinnesphysiologische und formfunktionell-physikalische Orientierung stellt uns im Gegensatz zu den bisherigen Techniken und Künsten vor die Einsicht, daß kein menschliches Erfahrungs- und Arbeitsgebiet um seiner selbst willen da ist, es ist in jedem ein analytisches Vorgehen im Unterbewußtsein über die Organmängel und Funktionshemmungen der menschlichen Psychophysis gebunden; dieses Tasten muß, in die Bewußtheit gerückt, eine unterste Annäherungs- und Ausgleichsgrenze zur Steigerung der somatischen Funktionalität ergeben. Von hier aus gesehen, ist die Maschine kein Apparat zur bloßen Ökonomisierung der Arbeitsleistung und die Kunst als einziges Produktionsgebiet, auf das das Kausalitätsprinzip keine Anwendung finden kann, trotzdem das Gesetz der Erhaltung der Energie auch dafür gilt, verliert ihren Charakter des Nutzlosen und Abstrakten. Die universale Funktionalität des Menschen verändert die Gesamteinstellung aller Arbeitsgebiete im Sinne erdatmosphärischer Bedingtheit und Notwendigkeit. Hieraus ergibt sich die dynamische Naturanschauung und die allgemeine Erweiterung aller menschlichen Funktionen, eine Anschauungsform wird geschaffen, die sich von der Dreidimensionalität als allzumenschlicher Hilfskonstruktion loslöst, ebenso wie sie die Vorstellung von der Trägheit aller Materie ablehnt. Der Generalnenner aller unserer Sinne ist der Zeit-Raum-Sinn. Die Sprache, der Tanz und die Musik waren Höchstleistungen der intuitiven Zeit-Raum-Funktionalität, und die Optik, Haptik etc. müssen auf einem neuen Wege nachfolgen, für den Ernst Marcus im Problem der exzentrischen Empfindung wichtige Vorarbeit geleistet hat. Das Zentralorgan Gehirn ergänzt gewissermaßen einen Sinn durch den andern, es vervollkommnet jeden durch gegenseitige Schwingungssteigerung unter Zeitübereinstimmung der Größe von Frequenz und Amplitude. Die dynamische Naturanschauung kennt hierfür nur ein Funktionalitätsprinzip der Zeit, die als kinetische Energie Raum und Materie bildet.

In: MA 8 (1923) H. 5, S. 6.

Ludwig Kassák: Bildarchitektur (1922)

             Bewegung ist Leben. Die ewige Bewegung des Lebens ist mit der ewigen Neuerzeugung und Erhaltung des Gleichgewichtes gleichbedeutend. Denn das ewig bewegliche Leben bedeutet letzten Endes nicht die Mannigfaltigkeit der Bewegung, sondern den Zustand einer aus der konstruktiven Bewegung der Weltkräfte sich ergebenden, immer neuen, mithin unendlichen Stabilität. Jede lebendige Konstruktion oder Organisation, deren innere Kraftbewegungen aus welchen Gründen auch immer stillstehen, fällt tot zusammen, verliert ihre dominante Gegenwart, ihr Symbolsein. Wir sehen also, daß der Exponent des Lebens die Bewegung, die Gesamtheit der Bewegung aber die Stabilität, das universale Leben ist. Auch der Mensch verdankt sein Dasein der Kraft der Bewegung: er wurde lebensfähig, mit beweglichen Kräften erfüllt, mitten unter die sich außer ihm bewegenden Kräfte als ebenfalls bewegliche Kraft versetzt. Und wir sehen im Organismus des Menschen den unaufhörlichen Kampf der physischen und psychischen Kräfte um den „normalen Zustand“, um das das Leben bedeutende Gleichgewicht, wie wir auch den Kampf der Revolutionen und Konterrevolutionen um das soziale Gleichgewicht sehen. Unser Zeitalter ist eine Periode der losgelösten und irren Bewegungen. Der Mensch unseres Zeitalters ist der verzweifelte Mensch. Die Kunst des heutigen Menschen ist die dynamische Kunst. Sie ist eine Bewegung, die zuweilen als Reaktion der Gegenbewegung, zuweilen als Bewegung um sich selbst willen auftritt. Diese Phase der Kunst wurde als Erfühlen des Lebens durch den Futurismus eingeleitet, fand ihre Fortsetzung mit gesteigerten ästhetischen Ansprüchen im Suprematismus und lebte zuletzt als aggressiv angreifende, ja eroberungslüsterne Kraft im Proun fort. In all diesen künstlerischen Bestrebungen ist noch alles um der Bewegung willen da, ihre Farben- und Formgesetze bedeuten die Gesetze der Bewegung, die Bewegung als Element des Schaffens und nicht das Schaffen selbst. Statt Synthese Analyse. Aber Kunst ist Schaffen, sie ist Synthese der konstruktiven Bewegungen, ein neues Gleichgewicht in der großen Lebensdynamik als Dokument dessen, daß wir mit unserem Willen und Sicherheitsgefühl zur Erzeugung eines neuen stabilen Punktes da sind. Auf die Suche nach diesem stabilen Punkte zog der Kubismus aus. Er verlor sich in seinen kompositionellen Doktrinen, schuf aber die Grundlage des plastischen Bewußtseins und des architektonischen Gefühls des neuen Menschen. Während also der Futurismus die Bewegung als ernährendes Element des Lebens entdeckte und das Proun die Konstruktivität der Bewegung fand, deutete der Kubismus auf die Möglichkeit der Stabilität, auf die neue Architektur hin. Auf die auf konstruktiver Basis beruhende Architektur, als synthetische Möglichkeit des künstlerischen Suchens unserer Tage. Der Kampf um die neue konstruktive Architektur schlug zwei Wege ein: im Raume und auf der Fläche. Erstere ist Baukunst, das zweite Bildarchitektur. Der Suprematismus setzte in der Malerei „den letzten Punkt über dem Buchstaben l“. Und die Bildarchitektur versucht, mit der Schwungkraft des Proun ihre ersten Schritte nach der Architektur als der einzigen, stofflich und geistig konstruktiv-kollektiven Kunst. Die Kraft der Bildarchitektur, sowie des Lebens selbst wird durch die Bewegung gegeben, sie selbst aber stellt bereits das Ergebnis der Bewegung, die Stabilität, dar. Und deshalb sehe ich in der Bildarchitektur fortan nicht die in den suchenden Künsten vorherrschenden Stoff-, Form- und Farbenprobleme, sondern den Anfang einer neuen synthetischen Kunst. Die Bildarchitektur gehört zu den ersten Dokumenten dessen, daß der sich in Kämpfen aufreibende Mensch von heute sein Sicherheitsgefühl wiedererlangte und seiner in Farben und Formen objektivierten Weltanschauung im Wege der primitiven Kunst zum erstenmal auf die Beine helfen will.

In: MA, H.1/1922, S. 6.

Otto Groß: Orientierung der Geistigen (1919)

             Unmeßbar allgemein ist das dunkle und drängende Ahnen, erstickend beschränkt das klare Begreifen der Urgründe und Erfüllung des großen Geschehens, das kommen soll. Die schönste neue Erscheinung, die im Bereich extremst gerichteter revolutionärer Gruppierung erblüht, das fortan unverlierbare Erleben tiefsten Einssein und nicht mehr lösbare Waffenbrüderschaft der Proletarier und der Geistigen, ist auch das erste Zeichen bewußtseinsnäheren Erkennens der ewig menschlichen Motive der Revolution. Wo immer geistige Menschen heute noch abseits geblieben sind, wird man sich überzeugen können, daß ihnen jede Kenntnis von anderen Bestrebungen fehlt. Fast jeder Hinweis auf den Welt und Leben umfassenden Horizont der wirklichen Perspektive des Kommunismus – von deren Reichtum zu erfahren ihnen in der Tat nur in geringem Maße Gelegenheit geboten wird – vermag hier Wandlung zu schaffen.

             Verbindender und trennender als Rasse, Geschlecht, Kultur und Klasse ist der typische Gegensatz zwischen dem revolutionären und dem konservativen Menschen, sagt Grete Fantl.[1]

             Das elementare Prinzip in der menschlichen Seele, dessen quantitative individuelle Verschiedenheit, dessen // Ausreichen und Versagen also die Menschen in diese beiden Kategorien trennt und einteilt, dieses im höchsten Sinne Wert und Wesen bestimmende Prinzip ist die Widerstandskraft des einzelnen Menschen, besonders des Menschen im Zustande der Entwicklung, gegen die Suggestionen von außen her, gegen die aufgedrängten Gefühle, Werturteile und Normen: die Selbsterhaltungskraft des angeborenen Menschentums, das an der eigenen Individualität wie an der Freude und dem impulsiven Ja zu allem Individuellen in allen anderen ringsum, am unbeschränkten eigenen Sein wie an der unbeschränkten Liebe festhält und seinen Widerstand der Vergewaltigung entgegensetzt wie der Verführung, dem ewigen und ringsgeschlossenen Druck zur Anpassung an die Anderen…

[…]

             Die freie grenzenlose Entwicklung des Menschentums, der Liebe und des Geistes setzt eine Ordnung der Welt voraus, welche in Allem und Jedem tödlich ist für die Angepaßten an jene andere Ordnung, // welche bis jetzt die herrschende ist und immer und überall tödlich war für Menschentum, Liebe und Geist… Es ist darum stets und ausnahmslos Lüge von vornherein, was immer gesprochen wird von allmählichem Übergang und Ausgleichung der Interessen, von Mäßigung und Vergleich – Lüge ist Alles und Jedes, in dem ein einziges gemeinsames Interesse des Revolutionären und des Angepaßten als existierend oder auch nur möglich vorausgesetzt wird.

             Was jeweils die Vermittlungspolitik erreichen kann, das ist allein ein Kompromiß von Interessen von absolut nur wirtschaftlicher Narur – mit ewiger Erhaltung des Unzuänglichen sogar auf diesem Gebiete selbst, mit definitivem Verzicht auf alle Werte des Lebens außer dem abgrenzbaren der reinen Zahl… Hier ist der Boden, auf welchem die Revolutionen sich auflösen, in Verhandlungen zwischen den Parteien, hinter welchen kein Unterschied steht von Mensch und Mensch: Verhandlungen zwischen verschieden Situierten, ohne Voraussetzung überhaupt mehr von verschiedenen seelischen Typen und deren verschiedenen Ansprüchen auf das Sein. –

             Noch nie hat eine kämpfende Partei sich einen Namen gegeben, so sehr als Ausdruck eines seelischen Typus geprägt und das gemeinsam psychologische Moment in allen ihren schöpferischen Charakteren bezeichnend, als der der »Höchstes fordenden« – das ist Derer ohne Kompromiß.

             In Jedem, dem der Kommunismus innere Berufung ist, wirkt ein lebendiger, ursprungnaher, von einer Jugendzeit der Menschheit her im besten Blut noch fortgeerbter Urgeist: ein unmittelbares Wissen vom Unterschied zwischen Mensch und Mensch: ein selbstverständliches dort ewig heimatlos und hier zu Hause Sein, dort losgelöst und hier ins Leben eingegliedert vom dominierenden Element im eigenen Innersten, der revolutionären Menschheitseele, die jedem Menschen solcher Art den Dienst des unbe-//schränkten großen Lebens zur Schicksalsbestimmung macht: ein reflektorisches Sich-Distanzieren von Allem Angepaßten, der Anpassung and das Inferiore, an Macht und Unterwerfung, Besitz, Gewohnheit, Tradition und Sittefähigen.

             Deswegen ist uns nichts so wesensinnerlich cerhaßt, erscheint uns keine je noch aufgestellte Politik so furchtbar korrumpierend und gefährlich als diese heutige des Kompromißes, dieser realpolitische Sozialismus der Vielzuvielen, der für das Proletariat und die Bourgeoisie mit einander den Boden gemeinsamer Anpassung herzustellen erraten hat – gemeinsamer Anpassung an den Geist des Bisherigen, um den Preis materieller Auskommensmöglichkeiten ein Mithinüberschleppen alles Wesentlichen aus der alten Ordnung: mit reduziertem Flügelschlag nun auch der kapitalistischen Ideen ein Realisieren von Durchschnittsmassen in Allem und Jedem, aber basiert wie früher auf die Selbstverständlichkeit von Macht und Vormacht zwischen Allen, um jeden Einzelnen herum die endlose Einsamkeit.

             Es ist diese Demokratie des »letzten Menschen«, die Nietzsche prophetisch vorhergesagt hat und vor welcher die Diktatur des Proletariats  die Zukunft des Menschengeschlechtes erretten soll.

             Das Endziel alles Kommunismus ist ein Zustand, in welchem Niemand irgend eine Vormacht politischer, ökonomischer, autoritativer Natur über Irgendeinen erhalten kann. Wir wissen, daß es niemals eine Ordnung geben kann, die etwa garantierte, daß nur der seelisch Höhere über den niedriger Organisierten Macht bekäme; und würde eine solche Ordnung je gefunden, so brächte sie die Korruption der hohen Seelen… Allein die völlige Unmöglichkeit jedweder Vormacht Irgendeines über Irgendeinen gewährt die Sicherheit, daß nie ein Mensch, in dem der freie schöpferische Urgeist lebt, sich Elementen zweiten Ranges beugen muß. //

             Wir wollen die Macht den Machtlosen geben, den Räten der Armen, damit die Macht wieder ohne Sünde werde, ein Kollektivgefühl der Menschen miteinander und unpersönlicher Besitz des unpersönlichen Gesellschaftskörpers.

             Bis einst die Menschen noch einmal beginnen, als Ausdruck eines schrankenlosen Einander-Verstehens und ihrer Freude aneinander einen Turm in den Himmel hinauf zu bauen.

             Erst dieser Bau wird dann den Namen tragen dürfen: Kultur

In: Sowjet. Kommunistische Monatsschrift, Nr. 5, Nov. 1919, S. 1-5.


[1] Neue Rundschau, Berlin, 1919/3.

Friedrich Lorenz: Gibt es revolutionäre Kunst? (1932)

             Seit jeher ist es der größte Kummer der Sozialisten in allen Ländern, daß der revolutionäre Elan des Jahres 1918 zwar Throne stürzen, Wirtschaftsgebiete zerreißen und uralte Kulturtraditionen vernichten konnte, aber nicht imstande war, Kunst zu schaffen, Künstler zu inspirieren.

             Es gibt natürlich Künstler, die eingeschriebene Mitglieder revolutionärer Parteien sind. Aber diese Männer sind darum noch keine revolutionären Künstler. Sie schaffen trotzdem, nicht weil sie Marxisten sind, ihr Werk hat mit ihrer politischen Überzeugung im wesentlichen nichts zu tun, es wird aus dem unerschöpflichen Born der Menschheitsprobleme gespeist, nicht aus dem Parteistatut. Ich kenne einen sehr begabten marxistischen Schriftsteller, der bisher noch mit keinem größeren Werk vor die Öffentlichkeit getreten ist; darum nicht, weil die Partei, der er politisch angehört, es ihm niemals verzeihen würde, daß sein Talent universell und daher unmarxistisch geblieben ist, Sein Talent streikt, wenn es in den Dienst revolutionärer Propaganda gestellt werden soll, die Partei aber würde streiken, wollte der Dichter schreiben, wie ihm ums Herz ist. Also ist er zum Schweigen verurteilt. Denn ein[en] Kompromiß gibt es zwar in der Parteipolitik, nicht aber in der Kunst.

Nun taucht die Frage auf, ob es ein Zufall ist, daß gerade der letzte und folgenschwerste revolutionäre Stoß gegen die Weltordnung, der des Jahres 1918, kraftlos erlahmte, als er auf das Gebiet des künstlerischen Lebens übergreifen sollte. Es taucht die Frage auf, ob nicht zwischen Kunst und Revolution vielleicht eine prinzipielle Unvereinbarkeit besteht, die im Wesen der Kunst begründet wäre, da die Erfahrung zeigt, daß die größte aller Revolutionen nicht einmal ein anständiges Gedicht inspirieren konnte, das Gebiet des Künstlerischen vollkommen unberührt ließ. (Außer man wollte die Zweckbauart der Breitnerschen Wohnkasernen als einen neuen architektonischen Kunststil, die marxistischen Wahlplakate als revolutionäre Malerei und ein paar Versammlungsreden und Tendenzartikel als sozialistische Dichtung bezeichnen!) Heute schreiben wir 1932. Und 1918 schrieben wir, als die umwälzendste aller Revolutionen die mitteleuropäische Welt über den Haufen warf. Längst hat dieser revolutionäre Stoß sich stabilisiert, längst sind aus den revolutionären Führern der Umsturzzeit bourgeoise Nutznießer und Verteidiger ihrer Pfründen geworden. Mit allen Segnungen der Revolution sind wir ausgiebig bedacht worden; von der Tragödie der Massenarbeitslosigkeit bis zur Aufreibung des Mittelstandes ist uns nichts erspart geblieben; das revolutionäre Programm wurde also politisch und wirtschaftlich Punkt für Punkt durchgeführt. Nur die revolutionäre Kunst ist man uns schuldig geblieben, den Dramatiker der Revolution, den Epiker des Umsturzes, den Lyriker des Klassenkampfes, den Maler des Weltbrandes hat man uns vorenthalten. „Weil die Revolution noch zu jung ist“, sagen die Marxisten. Ist sie aber wirklich so jung? Wenn aus einem revolutionärem Stürmer in der Zwischenzeit ein arrivierter Parteibureaukrat werden konnte, dann hätte dieser Zeitablauf doch auch die Entwicklung eines revolutionären Dichters ermöglichen müssen. Damit ist es also nichts. Warum aber gibt es heutzutage zwar marxistische Plakatzeichner, marxistische Tendenzjournalisten und Volksredner, aber keinen einzigen revolutionären Maler oder Dichter? Warum gibt es zwar eine sozialdemokratische Kunststelle, aber keine sozialdemokratische Kunst?

Bevor wir darauf antworten, eine Feststellung: Es gibt eine revolutionäre Kunst, ja mehr noch, jede Kunst ist notwendig revolutionär. Aber diese Freiheit, die der Geist meint, ist nur in den seltensten Fällen identisch mit dem Freiheitsbegriff der politischen Parteien. Solange gab es revolutionäre Kunst, als Revolutionen noch vom Geiste diktiert waren, als der Geist den Revolutionen den Weg wies, als die Revolution noch nicht bureaukratisiert, noch nicht parteihörig war und darum hellhörig für die Winke des fortschrittlichen Prinzips. Die Revolution des Jahres 1918 aber konnte für die Kunst schon darum nicht produktiv werden, weil das wenige Positive, was sie brachte, von der Geistesgeschichte, dem Kunstleben schon seit Jahrzehnten im voraus eskomptiert worden war, weil ihr das geistige Überraschungsmoment fehlte. Was uns ein Parteiapparat schließlich bescheren kann, das ist nicht geistige Revolution, überhaupt nicht Revolution im fortschrittlichen Sinne des Wortes, sondern bloß der widerlich-dilettantische Versuch, ideelle Forderungen durch Maschinengewehre und Massenaufmärsche zu kompromittieren. Jede geistige Revolution beginnt in der Kunst. Jede Kunst ist Revolution, jedes neue Kunstwerk ein Schritt vorwärts auf dem geistigrevolutionären Wege in die zukünftige Welt. Aber nicht jeder Sturm im Wasserglas der Parteipolitik ist eine Revolution, nicht jedes Knallen von Parteiflinten bedeutet schon Fortschritt.

Wenn also die Frage, ob die revolutionären Ereignisse der letzten Zeit das Kunstleben zu beeindrucken vermochten, verneint werden muß, so spricht das nicht gegen die Kunst, sondern gegen die Revolution. Denn es beweist, daß diese Revolution ein rein parteimaschineller Vorgang war, ohne mehr Ideen hinter sich zu haben. Ganz anders die französische Revolution, ganz anders etwa die Epoche der Freiheitskriege. Diese Revolutionen waren noch Revolutionen des Geistes, nicht aber, wie die heutigen, Revolutionen politischer Parteien. Ihnen konnte die Kunst darum auch auf gefährlichem Wege folgen, mit ihnen konnte die Kunstübung in ständigem, fruchtbarem Kontakt bleiben. Die Frage also, ob eine Revolution Ausfluß einer geistigen Notwendigkeit ist, ob ihr eine Idee, ein Fortschrittsideal zugrunde liegt, läßt sich leicht beantworten, wenn man untersucht, ob diese Revolution für die Kunst produktiv werden konnte, ob sie den Künstler inspirierte oder abschreckte. So wird die Kunst zu einer unerbittlichen Richterin jeder revolutionären Strömung. Und solcherart dient der Umstand, daß der Sozialismus nach 1918 nirgends in der Welt Kunst zu schaffen vermochte, zum Beweis dafür, daß der Sozialismus längst zu einer hohlen bureaukratischen Form erstarrt ist, in der es keinerlei Ideeninhalt mehr gibt, daß der Sozialismus vergreist ist und der künstlerische Instinkt über seine Leiche hinweg in die Welt zukünftiger Entwicklungen schweift.

Kunst ist revolutionär. Darum hat sie nur mit wirklich revolutionären Handlungen geistig zu tun, nicht aber mit Palastrevolutionen ungeistiger Parteiorganisationen. Kunst ist Politik, weil Weltanschauung. Darum hat sie nur mit wirklich politischen Tendenzen und Strömungen zu tun, aber nicht mit Parteipolitik, dem bureaukratischen Tod jedes gesunden politischen Strebens.

In: Neues Wiener Journal, 27.3.1932, S. 19.

Max Adler: Neue Menschen. Gedanken über sozialistische Erziehung (1924)

[…]

             Und nun begreifen wir es und erkennen aus tiefstem Grunde, warum Erziehung und Bildung nicht neutral sein können. Alle Erziehung und Bildung, welcher Art und welchen Inhalts immer sie sein mögen, will jedenfalls für das Leben tüchtig machen, ja dieses vollkommener gestalten. Aber dieses // Leben ist, wie persönlich es auch immer gestaltet und empfunden werden mag, durchaus vergesellschaftetes Leben steht unentrinnbar unter der Gesetzlichkeit desselben. Eine Erziehung, die hier neutral absehen wollte von den in dieser Gesetzlichkeit auftretenden Gegensätzen, um sich an deren Stelle eine „allgemeine Menschheitssphäre“ zu konstruieren, wäre eine Erziehung im luftleeren Raume, d.h. eine Erziehung außerhalb jener Atmosphäre, in der nun einmal ihr Gegenstand, das Leben ihres Zöglings, gegeben ist. Es wäre eine Erziehung, die aus Angst, parteiisch zu sein, gerade dort nicht Partei nehmen würde, wo es sich um ihre eigene Sache handelte, um die Entwicklung der Menschheit. Will sie diesem Zweck wirklich dienen, so kann sie unmöglich die notwendigen Entwicklungsrichtungen, wie sie aus der jedesmaligen gesellschaftlichen Situation hervorgehen, ignorieren. Sie muß der Gegensätzlichkeit sozialer Strebungen, die in ihrem Komplexe die konkrete geschichtliche Entwicklung ausmachen, sehenden Auges gegenübertreten, muß unter ihnen eine Wahl treffen, d.h. sie muß sich auf die eine oder andere Seite stellen, also Partei ergreifen. Denn die schier unausrottbare Vorstellung aller Verfechter einer neutralen Erziehung, daß es genüge, anständige Charaktere erzogen zu haben, welche Partei sie auch immer ergreifen mögen, sollte endlich als das erkannt sein, was sie ist, eine gedankenlose Sentimentalität, die noch dazu durchaus nicht ungefährlich ist. Mit solchem Raisonnement muß man es zulassen, daß zuletzt aus dieser neutralen Erziehung ebenso sehr kosmopolitische Menschheitsschwärmer wie nationalistische Hetzapostel hervorgehen, wenn nur jeder persönlich überzeugt von seiner Anschauung ist, und diese ganze vielgerühmte Neutralität der Erziehung endet in ödestem Relativismus und absoluten Kulturdefaitismus. Und dies ist noch das minder schädliche Resultat: viel //ärger, weil nicht zuletzt den unglaublich tiefen Stand der heutigen politischen Bildung und Moral weiter Kreise der Intelligenz ermöglichend, ist eben jene aus der „Neutralität“ entstandene fast gemeinplätzliche Ansicht, daß man ein „ganz anständiger“ Mensch und trotzdem z.B. Rassenantisemit oder Hakenkreuzler sein kann, wenn es nur „mit Überzeugung“ geschieht, daß man also sich noch immer auf Bildung und Erziehung berufen darf, wenn man „aus Überzeugung“ Juden nicht als Menschen betrachtet oder politische Gegner „erledigt“. Eine sonderbarere Anschauung von „Anständigkeit“ und „Charakterbildung“ dürfte es kaum geben, und sie genügt, um uns zu erkennen lassen, welch ungeheurer moralischer Widersinn sich hinter der „neutralen Erziehung“ verbirgt. Nein – ist einmal die notwendige Klassengegensätzlichkeit des heutigen gesellschaftlichen Lebens erkannt und sind die aus ihr sich ergebenden gesellschaftlichen Strebungen in ihrer Auswirkung auf die Ermöglichung einer Sicherung, ja Vervollkommnung des Lebens für alle erforscht – und beides vermittelt die Sozialwissenschaft, der Marxismus – dann muß jede Erziehung, die über ihr Ziel klar ist, Partei nehmen, und es kann gar nicht zweifelhaft sein, wie sie das tun wird. Ist ihr Ziel Lebensentfaltung und Lebenssteigerung eines jeden, dann muß sie sich in den Zug der Entwicklung des sozialen Lebens überhaupt einfügen, d.h. sie muß deren Partei ergreifen und zur Klassenerziehung der revolutionären Klasse werden, kurz, sie muß heute sozialistische Erziehung werden.[1]

[…]

Neue Menschen! – Das also ist das eigentliche Ziel einer revolutionären Erziehung, einer Erziehung, die jene neue Gesell-//schaft auch in den Seelen der Menschen vorbereitet, die sonst in ihrer Vorbereitung durch den ökonomischen Prozeß bloß eine objektive Möglichkeit bleibt. Es kann in der Welt nicht anders und besser werden, wenn jede neue Generation immer wieder in Gedanken und Empfindungen der vergangenen Geschlechter aufwächst, mögen dies auch ihre vernünftigsten und besten sein, mögen es selbst nicht so sehr ihre Laster als ihre Tugenden sein, die der Jugend übermittelt werden. Denn nirgends gilt das Dichterwort „Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage“ in tieferem Sinne als von einer Erziehung, die inmitten der ungeheuren Umwandlung in den gesellschaftlichen Lebensverhältnissen immer wieder die neuen Inhalte in die unzugänglich gewordenen alten Geistes- und Willensformungen hineinpreßt. Man kann zwar eine Zeit-//lang den jungen Wein in alte Schläuche fassen, aber sind die Schläuche selbst einmal muffig geworden, dann verderben sie nur noch ihren feurigsten Inhalt. Darum haben auch die großen revolutionären Pädagogen seit Rousseau, Kant und Fichte es als den Krebsschaden aller den Menschen fortbildenden Erziehungsarbeit angesehen, daß die Kinder nur immer wieder recht und schlecht gelebt hatten. Besonders eindringlich hat diesen Gedanken Kant in seiner „Pädagogik“ ausgesprochen, wo es heißt: „Ein Prinzip der Erziehungskunst, das besonders solche Männer, die Pläne zur Erziehung machen, vor Augen haben sollten, ist: Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglich besseren Zustand des Menschengeschlechtes, das ist der Idee der Menschheit und deren ganzer Bestimmung angemessen erzogen werden. Dieses Prinzip ist von großer Wichtigkeit. Eltern erziehen gemeiniglich ihre Kinder nur so, daß sie in die gegenwärtige Welt, sei sie auch verderbt, passen. Sie sollten sie aber besser erziehen, damit ein zukünftiger, besserer Zustand hiedurch hervorgebracht würde.

Diese Worte sollten in goldenen Lettern über allen proletarischen Kinderfreundeanstalten stehen. Sie bedeuten den grundsätzlichen Bruch mit der bürgerlichen Erziehung, der es nur darauf ankommt, „daß die Kinder“, wie abermals Kant rügt, „gut in der Welt fortkommen“; sie bedeuten das Ende jener echt bürgerlichen Auffassungm die nach der Anklage Fichtes nur den armseligen Wunsch kennt, mit der Erziehung rasch zu Ende zu kommen, um das Kind recht bald hinter die Maschine zu stellen. Das Ideal der bürgerlichen Erziehung, wie es so oft in offiziellen Kundgebungen sowohl von Staats- wie von Schulmännern verkündet wird, ist, aus den Kindern „nützlcihe Glieder der menschlichen Gesellschaft zu machen“, wobei freilich die eigentliche Meinung ist, nützlich für die Nutznießer dieser Gesellschaft, nützlich, das heißt, tauglich für die Ziele und Zwecke der herrschenden Klasse. Treffend hat bereits Georg Büchner, dieser geniale Jüngling, in dessen Seele schon so viel von proletarischem Empörergeist in ersten Regungen wach wurde, diese heuchlerische Phrase verspottet, indem er seinem nach einem wirklichen Lebensinhalt ringenden jugendlichen Prinzen Leonce auf die Worte: „So wollen wir nützliche Glieder der menschlichen Gesellschaft werden“, sagen läßt: „Lieber möchte ich meine Demission als Mensch geben.“ (Leonce und Lena, I. Akt, 5. Szene)

(Berlin 1924, Auszüge aus Klassenkampf und Erziehung bzw. Sozialismus und Erziehung, S. 42-44 bzw. 66-68)


[1] *(orig. Fußnote in der Publ. 1924): Alle große Pädagogik der Vergangenheit von Plato bis Pestalozzi war stets revolutionär. Sie variiert nur auf verschiedene Weise das Grundthema der Erziehung, das Kant einmal als „Prinzip der Erziehungskunst“ bezeichnet hatte: „Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftigen möglich besseren Zustande des menschlichen Geschlechtes angemessen erzogen werden.“ [Immanuel Kant: Über Pädagogik. Königsberg 1803, S. 17; vgl. dazu die entsprechende Seite in der Erstausgabe gem. DTA: https://www.deutschestextarchiv.de/book/view/kant_paedagogik_1803?p=17; Zugriff 24.10. 2022, PHK] Daher kommt es, daß die Ideen aller der großen Pädägogen auch heute noch modern sind, und dies hat wieder andrerseits den Wahn einer neutralen Erziehung unterstützt, indem doch Kant oder Rousseau oder Pestalozzi sicher keine Sozialisten waren. Allein sie haben, wie überhaupt die großen Denker des Bürgertums in seiner vorrevolutionären Epoche infolge des soziologischen Gesetzes, daß die Ideologie jeder aufsteigenden Klasse universalistisch oder Menschheitsumfang haben muß, in ihrem Denken den späteren Klassenstandpunkt des herrschend gewordenen Bürgertums noch nicht gekannt. […]

Robert Müller: Die neue Erregung. (Aktivismus) (1918)

Im Wesen der zeitläufigen Erregung liegt der unduldsame Trieb nach Vereinfachung. Man sucht nach klassischer Lebensführung. Der Mensch schüttelt wieder einmal alles ab, um sein Lebenshaus von Grund auf neu zu bauen, sich in die Mitte zu stellen und die Dinge nach dem Mittelpunkt seiner – Sternbewußtheit zu ordnen, ohne dem Dingzwang zu dienen. Was wir wollen ist die Schlichtheit, die Logik, die fühlbare Verbindlichkeit, die vom Leben selbst ausgeht. Diese Schlichtheit ist aber nicht Gemeinplätzigkeit, sondern sie ist das Schwerste für den ungeübten und vertrakten Bürger. Ob der Kunstausdruck solcher Schlichtheit ein Buch von Paul Adler oder ein Bild von Campendonck ist, wagt der Expressionistischste unter uns Allen am wenigsten zu entscheiden. Er bekennt sein Schlichtheits-Erlebnis und sich selbst in den ihm innensichtig dafür gewordenen Formen. Um einem Mißverständnis vorzubeugen, sei gleich erklärt, daß diese Schlichtheit als Formforderung nicht identisch ist mit Klischee oder Stereotyp, sondern das neue Formgebären aus der seherischen Einfalt herausgefordert.

             Die sichtbarste Form solcher Schlichtheit und Umweltbefreiung des neu gewonnenen Menschen ist der Wille, die Gesellschaft auf menschlichste Verkehrsimpulse zu zerlegen und neuerlich, nun nach dem Schlüssel: Mensch, zu gruppieren. Und damit sind wir bei den Aktivisten angelangt.

             Sie verwandeln die Erregung, indem sie auf die Straße, in das Kaffeehaus, auf den geistigen Markt eilen, in ein Pathos. […] Ihre Manifeste, Bücher, Essays sind lang, das ist noch ein Fehler, weil sie das Schlichte, es Unschlichten zu beweisen, oft verwickelt vertreten. In ihrer Absicht liegt die Komplikation nicht. Daß ihr Pathos ihre direkt eingreifenden Akte überwiegt, liegt an der Schärfe und Jugend des ganzen Ereignisses. Sie sind so vielversprechend exakt, gebildet und praktisch, daß sie in kurzer Zeit die prägsamsten Vertreter in die Legislaturen des Planeten gesendet haben werden. Die Tatsache ihres Pathos gibt ihnen Affinität zur politischen Einstellung des Romanen. Dessen gleichlaufende Erscheinung an ihnen abzumessen, wird eine unten folgende Konfrontation mit dem Futurismus ermöglichen.

             Alle radikalen »Strömungen« beunruhigen ihr Blut, dessen Erregung durch keine dieser allein genügend befriedigt ist. Sozialismus, Mutterschutz, Eugenik, Schulreform, Körperkultur, Kapitalsabbau, Legierung der Nationen, Abrüstung, Friedensorganisierung, Weltrasse-Schöpfung, Neureligiosität, Kunstmehrung und Genußsteigerung, Verbesserung der für den Erdstern noch viel zu provinziellen Technik, Beseelung der Politik zugleich mit der Entsumpfung der materiellen Ordnung von Gefühlsmiasmen, all das ist Punkt in ihrem großen Programm. Sie sind nicht Bolschewisten, sie gehen darüber hinaus. Ist es ein fünfter Stand nach den Arbeitern: der der Geistigen? Kündet sich einfach eine neue Schichtbildung an? Dieser Schluß ist eine historische Unart, ein Gewohnheitsdenkerschwips. Die »Geistigen« sind kein neuer Stand. Sie setzen nicht die in der französischen Revolution begonnene lineare Entwicklungsgeschichte der Revolutionen fort. Sie sind keine arithmetische Errechenbarkeit, die einmal auch »Faktor« sein wird. Sie sind Dimension. Aus der Fläche des Bürgertums, die sich in dem Sozialismus fortgesetzt hat, knicken sie förmlich als ein Raum hervor. Die Geistigen sind Bürger, darüber laßt uns, so ohrfeigenhaft das klingt, hinwegkommen. Die Geistigen sind nicht Ultraproletarier. Sie sind nicht noch um ein Stückchen revolutionärer, Pünktchen oder zwei programmatischer. Die Arithmetik der französischen Revolution kann, wie Rußland beweist, fortgeführt werden. Dort taucht hinter einer Schicht immer eine andere auf. Die Geistigen sind nicht eine Originalrevolution. Sie führen durchaus den bürgerlichen Gedanken fort, sie sind sein Ausreifen. Das zu leugnen, sich dessen schämen zu wollen, wäre sentimental. Gerade weil sie die bürgerliche Epoche durch diesen Seitensprung viel gründlicher negieren als der Sozialismus, sei der der Trotzkys oder der englischen Gewerkschaften oder der anorganischen Massenerhebung des amerikanischen Proletariats unter Gompers zugunsten des Wilsonschen Staatswolkenkratzers, gerade draum haben sie ihren Ursprung im Bürgerlichen nötig. Mit dessen Produktivität, dem Individualismus, sind sei näher verwandt als mit dem kommunistischen Binnenstaat. Der Sozialist liegt in der Fläche des Bürgerlichen mehr als er denkt, siehe einmal den deutschen Staatssozialismus. In die Raummöglichkeit des Bürgers entsprang der Geistige. Taktisch hat der Geistige mit dem Proletarier viel gemeinsam, prinzipiell nur den Menschen.

             Der Aktivismus ist eine Partei, die noch keine Partei hat und nur eine nimmt; eine Partei, die noch keine gewählten, bloß geborene Vertreter und keine Körperschaften hat, in denen diese sprechen könnten. Um also von der Literatur in die forensische oder administrative Tat zu gelangen, wird der Aktivismus so ziemlich die gesamte bestehende Ordnung im Kern treffen müssen. Ob er es vermag, wird sich zeigen. Die Unsicherheit des Erfolgs ist für den Aktivisten keine Entschuldigung, den Versuch zu unterlassen.

             Der Aktivismus ist vorerst das Pathos zu einer Politik: er ist vorerst das Romanische zu etwas, das deutsch ausfallen soll.

             […]

             Die Aktivisten stellen sich der aktuellen Situation. Sie sind Journalisten mit Jahrhundert Wirksamkeit, nennen wir sie Säkularisten. Was am Tag Jahrhundert ist, bringt ihre Federn in Gang.

             Die Gegner des Aktivisten sind der Politiker und der Dichter. Der Dichter will das Subjekt ändern; er verzichtet auf die sofortige Änderung des Objektes. Der Politiker, der Sozialist oder Revolutionär etwa ändert nur das Objekt. Der Aktivist ändert das Objekt an Ort und Stelle, um die Änderung des Subjektes zu ermöglichen, zu beschleunigen. Der Zweifrontenkrieg reibt ihn auf. Viele geben ihm darum keine Chance. So muß er sie ergreifen. Wird er sich zum politischen Akt im gegebenen Momente bekennen?

             Verwandte Bewegungen laufen in Frankreich und Italien. Es hat keine die Höhe des Notwendigen erfaßt, wie der deutsche Aktivismus, sie sind alle politischer, aber sie sind ebenso menschlich stark. Das Futuristenorgan in Mailand „Italia Nuova“ stellt folgendes Programm auf:

             „Die politische Partei der Futuristen, die wir heute gründen, will ein freies starkes Italien, auf dem nicht mehr der Druck seiner großen Vergangenheit, des allzu sehr geliebten Fremden und der allzu sehr geduldeten Priester lastet: ein Italien, ohne Vormundschaft, in jeder Hinsicht eigener Herr seiner Kräfte, ein Italien, das stets den Blick auf seine große Zukunft gerichtet hat.“

             In den Einzelheiten des futuristischen Programmes steht an der Spitze das Problem der Erziehung. Sie soll vor allem patriotisch sein. Abgeschafft wird ein großer Teil der vielen unnötigen Universitäten sowie der klassische Unterricht. An seine Stelle tritt ein Obligatorium in technischen Fächern, Freilichterziehung, Sport ec. Der bisherige rhetorische Antiklerikalismus soll ersetzt werden durch einen Antiklerikalismus der Tat. Das Parlament soll umgewandelt werden im Sinne einer gleichmäßigen Anteilnahme der Industrie und der Handelswelt an der Regierung des Landes. Wählbar ist jeder Italiener, der das 22. Jahr erreicht hat, Möglichster Ausschluß der Advokaten (stets Opportunisten) und Professoren (stets „Rückblickler), Aufhebung des Senates. Wenn dieses vernunftgemäße und praktische Parlament sich nicht bewähren sollte, so ist eine technische Regierung ohne Parlament zu schaffen. Sie wird aus zwanzig, nach allgemeinem Stimmrecht gewählten Technikern bestehen. […]

             Dieses Programm nimmt hauptsächlich auf die bestehenden Verhältnisse Italiens Rücksicht, es will „Welt“ nach Italien bringen und die Fremden, auch die Bewohner früherer Jahrhunderte und ihre Wahrzeichen ausmerzen. Im Verhältnis dazu ist das aktivistische Programm elastischer und geistiger, es steht ohne Zweifel höher, aber es ist auch nicht so unmittelbar.

             Die Forderungen, die der Aktivist an Staat und Gesellschaft stellt, quellen aus den natürlichen menschlichen Bedürfnissen und haben keine Nation zur Voraussetzung, legen überhaupt kein Gewicht auf äußere Kraftentfaltung seiner Wunschgesellschaft, sondern allein auf deren Intensität. Sie verlangen persönliche Freiheit, eine Art Habeas-corpus-Akte für seiner Sinne Fähigen; freie Liebe und Ehereform; Rückführung der Erziehung auf die natürlichen Instinkte des Menschen; also kalokagathistische Ausbildung an Körper und Seele, das klassische Ideal; Abschaffung aller politischen Formalitäten, Weltstaatlichkeit, komplexe Menschheitspolitik, durch Bundesformen erreichbar; der politische Apparat müsse (ohne näher zu sagen, wie das geschehen kann) in die Hände der Auslese aus den Besten übergehen; also ein geistiger Aristokratismus. Verpönt sind Krieg, Wirtschaft um ihrer selbst willen, andererseits auch Ästhetizismus von nur Verfeinerten; die Gesellschaft soll möglichst so gebildet sein, daß sie ein Leben in geistigen Erregungen gestattet und fördert, weil nur auf diesem Wege der Mensch sich wesentlich ändern und hinaufbilden kann. […]

             Wir mußten historisch und genetisch vom Expressionismus ausgehen, um den Aktivismus erfassen zu können. Der Expressionismus ist eine Erregung; Aktivismus der letzte Effekt dieses endemischen Willens unter Geistigen, die Welt nicht mehr beschaulich zu zerlegen und zu bewissenschaften, sondern sie geistig zu bewirtschaften. Der Aktivismus ist Geistwirtschaft am Erdball. Die Parteinahme des postanalytischen schöpferischen Menschen gegenüber dem Gegenstande, dessen Ordnung nach einem Ausdrucksprinzip, das im Künstler liegt, hat notgedrungen zur Parteinahme gegenüber dem sinnfälligsten Totalgegenstand, unserer sozialen Umwelt, führen müssen.

Die Aktivisten haben eine Zeitschrift in Zürich, „Das Zeitecho“, herausgegeben von Ludwig Rubiner. In Leipzig steht ihnen der Verlag „Tätiger Geist“ zur Verfügung, in dem soeben das zweite der „Ziel“-Jahrbücher erschienen ist. Wenn ein gebildeter und objektiver Ausländer, sagen wir ein Engländer oder ein Amerikaner aus dem Wilsonkreis, sich über die Entwicklung der deutschen Mentalität unter dem jungen Geschlecht unterrichten wollte, müßte man ihm dieses Buch, das von den ersten Schriftstellern geschrieben ist, darunter auch Heinrich Mann, in die Hände spielen. Und man würde dort draußen sehen, daß man mit Deutschland noch immer als dem Mittelpunkt der geistigen Welt rechnen kann.

 In: Die Wage, 30.9.1918, S. 615-619;(KS, II, 214-218)

Robert Müller: Bilanz des Aktivismus (1920)

             Der Aktivismus hat natürlich keine Saison. Als praktisches Ressort unseres modernen Geisteslebens, zu dem er sich seit Jahren herausgewachsen hat, ist er aber an den Rhythmus des allgemeinen Geschäftsgangs angeschlossen und hat mit ihm die Cäsuren, Abschnitte, Pausen und Kulminationen gemeinsam. Es ist also nur geschäftstechnisch zu verstehen, wenn wir mitteilen, daß ein Arbeitsjahr abgeschlossen hat und wie es abgeschlossen hat; und daß wir, die Bilanz des Gelernten und Getanen ziehend, uns ein Motto und eine Strategie fürs Kommende zurechtlegen.

             Wort und erster bewußter Inhalt des Aktivismus stammen aus der geistigen Atmosphäre der ungeheuer intensiven, amerikanisierten, apparatlich vehementen Kapitale des neudeutschen Reiches, Berlin. Daß die Kontemplation der immerhin geistig bleibenden Europäers sich der Dynamik der sprengkräftigen, kochenden Großstadt nicht entziehen können werde, hatten einige von uns vorausgesehen; wir sahen es voraus, weil wir hofften, es war der Wunsch Vater der Erkenntnis. Wenn jemand sich der sogenannten Ruf-Hefte erinnert, die im Jahre 1913/14 in Wien von damals allerjüngsten Studenten, Schriftstellern und Künstlern herausgegeben wurden und zum erstenmal sensationell eine neue Generation nach der Gerhart Hauptmann-Hermann Bahrschen anzukündigen schienen, so wird er in ihnen vieles von dem geahnt und empfunden vorfinden, was heute daran ist, sinnliche Gestalt zu werden. Ungefähr zur selben Zeit erschien in Deutschland Kurt Hillers Buch Weisheit der Langeweile, das ebenfalls schon die aktivistische Klaue verrät. In den Weißen Blättern des René Schickele war dieselbe deutsch-europäische Erscheinung als selbstständiges Symptom zum Ausdruck gekommen.

             Inzwischen hatten schlagfertige, aber durch die Erleichterung eines Initiative-empfindlichen technischen Verkehrsapparats auch schlagkräftige Berliner die ersten Organisierungsversuche unternommen. Eine literarisch-kulturpolitische Partei war gegründet, sie nannte sich „Die Aktivisten“. Die motorische Kraft der Bewegung dürfte schon damals der phantastisch konzeptive Kurt Hiller gewesen sein. Die Genesis und den weiteren historischen Verlauf möge er selbst erzählen, er hat eine bedeutende Fähigkeit, Ordnung in aktuelle Zusammenhänge und Relationen zu bringen. […] //

             Möglich, daß sich ein Dutzend Programme des Aktivismus in den nächsten Jahrzehnten auf den Kopf stellt; die Köpfe selbst werden, dürfen nicht aus ihrer Lage geraten. Sie gewährleisten, daß Programm-Revolutionen nicht frivol, zusammenhanglos und antilogisch vor sich gehen; vielmehr; daß sich ein solches Programm in seine stete und stetige Verbesserung verkehre.

             Nur auf diesem Wege, nicht auf dem einer dogmatischen Gesinnungsgleichheit haben sich die heutigen europäischen Aktivisten unterwegs getroffen. […] In Wien war der Aktivismus wie anderswo latent in voraktivistischen Gemeinschaften und Strebungen vorhanden. Er war mit ein Grund, daß die Revolution ausbrach; allerdings keiner, daß sie so ausbrach und einbrach. Das synthetische Element, das die nicht durch Bedürfnis, sondern Hunger und Autoritätslosigkeit entstandene allgemeine Tagesbericht-Revolution mit fortschwemmte, als sei es eine reaktionäre Erscheinung, flüchtete sich in ihn. Die Aktivisten in Wien waren die ersten und gründlichsten Umordner, nicht Unordner; ihre Programme griffen so radikal zu, daß sich die Wirtschaftsrevolutionäre, Marxisten und Klassenkämpfer in den ursprünglich breit gesteckten Debatten dialektisch überhaupt nicht halten konnten, sie verloren, aus ihrem volksversammelten Wortschatz gerissen, den Atem und, feuerfeste Ideologen, die sie damals waren, überschütteten sie uns mit Mißtrauen in unsere auf Seelenumwälzung losgehenden Sachpläne. Damals entstand eine Spaltung zwischen den Materie-Ideologen (Marxisten) und den Ideo-Materialisten. Die ganz brutalen Marxisten blieben weg; die feinen, die landauernden Intellektuelle des Sozialismus, möchte man sagen, hielten ihre personelle Affinität zur aktivistischen Gemeinschaft selbst unterm Druck des Dogmatischen, dem sie verschrieben sind, aufrecht. Es bildeten sich die persönlichen Respekte und Sympathien, diese geistige Erotik (das ist nur eine Metapher), die für den Aktivismus charakteristisch geworden sind und sein historisches Schicksal formen werden, denn der Aktivismus besteht nur mit seinen genuinen Trägern, außerhalb ihrer, als Dogma, als Lehre, als Massen-Entzückung gar nicht.

             Dies alles ereignete sich mit den Umsturztagen – es war kein Umsturz, sondern eine Schwankung von rechts nach links – im „Bund der geistig Tätigen“, nachdem ein einschichter Versuch, ein Raritätenkabinett von Königen ohne Portefeuille, von Ministern ohne politisches Kleingeld zu bilden, an seiner wunderschönen kristallenen Einsamkeit verschollen war. „Die Katakombe“ hatte exklusiv begonnen, um sich, wenn möglich, dem pragmatischen Leben zu inkludieren. Aus der Zusammenarbeit sehr vornehmer Intellekte ergaben sich geistige Wohlstandsbulletins, die eine Unsumme von Philologität in sich aufgespeichert haben; Wortliebhaberei für die Sprachreiniger. Ich kann heute darüber gut gelaunt sein; aber ich muß gestehen, daß mir die geistige Alm, auf die wir uns verstiegen hatten und von der es dann Abschied nehmen hieß, damals, als die Weltanschauungsberge ihre Opfer forderten und einer nach dem anderen abstürzte, als ein vorbildliches Fiasko sehr zu Herzen ging. Es waren ihrer nicht viel; und das Aussterben ging schnell. Daß ich so heiter geworden bin: Man sieht schon, daß ich noch einen Rest Traurigkeit zu vertuschen habe. Ich begrabe einen Lieblingsplan.//

             Im „Bund der Geistigen“ ging es flott. Die Aktivisten genieren sich nicht, amerikanische Worte in den Mund zu nehmen. Es ging flott. Ihr seid dabei gewesen, Freunde. Es beginnt eine neue – Saison. Seid wieder dabei!

             Über das Ergebnis hat der „Strahl“ an anderer Stelle (Chronik) berichtet. […]

             Die Bedeutung des engen Verhältnisses Berlin-Wien zeigt sich in der europäischen Resonanz. Nachdem zwei Manifeste, die wir an Henri Barbusse und die nachmaligen Pariser Clartisten gerichtet hatten, unbeantwortet geblieben waren, […] erlangten wir, von Hiller unterstützt, den gewünschten Kontakt. Victor Cyril fordert uns auf, in Wien eine lokale Sektion der „Internationale de la Pensée“ zu begründen. Wir sind daran, diese ehrende europäische Aufgabe zu erfüllen.

             Wie in den verschiedenen Regionen deutscher Zunge spontan, gleichzeitig und voneinander unabhängig die geistvereinenden Ideen auftauchten, so entwuchsen sie auch der französischen Mentalität. Die Frage ist nicht mehr, ob „Aktivismus“ oder „Internationale de la Pensée“, sondern in welcher Struktur. Die Gegensätze sind keine Epigramme, der Kooperativ-Instinkt ist es, der seinen Triumph feiern will, und nicht Grundsätze, sondern Menschen mit einigermaßen berechenbaren Lebensäußerungen sind es, die sich finden wollen. „Clarté“, „Zieljahrbücher“ und „Der Strahl“ sind Instrumente des Verständigungsvorganges, den Europa in reinster und reichster Form erleben will.

             Es will es.

             Europa ist keine Landkarte, sondern eine Geistkarte.

In: Der Strahl, H. 2/1920, S. 5-10 (auch in KS, II, 425-428)

Alfred Polgar: Dada. (= Teil 2 des Artikels: Ein paar Tage in Berlin) (1919)

             Den Dadaisten gehörte meine große Zuneigung. Sie schienen mir der Schrei und Geste gewordene Widerspruch gegen bürgerliche Vernunft und Vernünftigkeit. Sie pfiffen den gigantischen Unsinn des Lebens aus und selbst das „befreiende Gelächter“ noch verlachten sie. Sie setzten dem scheußlich-behaglichen Kulturbau aus Zeitungspapier und Ziegelsteinen, inklusive seiner heiligsten, geist-gestrichenen Räumlichkeiten und seiner Kunstkabinette mit esoterischer Wasserspülung, den roten Hahn der Verneinung aufs Dach. Sie störten die Comédie humaine-divine durch erquickend bübisches Dazwischenspielen und deckten die Szene mit einem Regen fauler Witze zu. Sie spieen ihren Haß in die Fratze der Zivilisation und nahmen überhaupt menschliche Beflissenheit als das, was sie ist: als dadaistische Angelegenheit.

             So schien es aus der Ferne. In der Nähe – bei einer Berliner Sonntags-Dada-Matinee – verblaßte der Zauber einigermaßen.

             Die Ordnung der Welt ist schlecht: also muß sie verrückt werden. Hierfür sorgt Dada. Lettern, Zahlen, Striche, Formen, Farben, Begriffe, Kausalitäten, Heiligkeiten, Betisen: alles stürzt, purzelbaumt durcheinander. Weiter als bis zu diesem Durcheinander ist Dada noch nicht gekommen.

              Der Wirrwarr hat manchmal, einfach dadurch, daß er vorhanden, etwas faszinierend Höhnisches, das leere oder lug- und mistgefüllte Innere der Ordnung unbarmherzig Aufspaltendes. Vor den Trompetenstößen der Dadaisten stürzen die kunstbeklexten Mauern der Kulturmenschensiedlungen, und Gestalten im Nachthemd, häßlich, aller Würde bloß, fallen der Lächerlichkeit zur Beute.

             Aber solche dadaistische Groß-Augenblicke hatte die Sonntagsmatinee keine. Sondern ein paar junge Leute machten allerlei Stegreif-Jux, verulkten ihre Zuschauer, trampelten, schrieen, pfiffen, telephonierten, warfen einander hinaus und herein, fistelten und brüllten, zogen einen gutmütigen Vorhang auf und zu, klatschten sich, quietschend vor Unsinnswollust, auf den Podex und sagten beiläufig: Ecce homo! Oder auch: Ecce ars!

             Sozusagen: „munteres Anarchistenvölkchen“.

             Es war erschreckend langweilig. Wenn man ihnen das aber sagte, würden sie antworten: Eben; wir sind gegen „Unterhaltung“. Und wenn man ihnen sagte: Aber warum so gottserbärmlich geistlos gegen Unterhaltung?, würden sie antworten; Eben; wir sind gegen „Geist“. Und wenn man ihnen sagte: Aber warum so jammervoll witzarm in der Verneinung von Geist?, würden sie antworten: Eben, wir sind gegen „Witz“.

             Man hat’s nicht leicht mit ihnen.

             Denn dies ist, scheint es, ein Wesentliches des Dadaismus: er ist gegen. Was immer in die Schußlinie dieses Gegen kommt, wird Zielobjekt und angeknallt.

             Dem Erlegten ziehen sie die Haut ab und treiben Schindluder mit dem armen Fell und verarbeiten es zu Dada.

             Und als höherer Sinn der Welt offenbart sich ihre tiefe Sinnlosigkeit. Oder auch umgekehrt.

             Es war die Pointe – (…wir sind gegen „Pointe“…) – der Sonntags-Matinee, als ein beleidigter dicker Bürger die Bühne berannte und von den Dadaisten, die sich die Röcke ausgezogen hatten und in Hemdsärmeln fochten, unter ungeheurem Getöse zurückgeschlagen wurde. //

             Frauen traten leider keine auf.

             Unter den Berliner Dadaisten gibt es ein Genie, einen Zeichner. Er arbeitet für zwei ultraradikale Blätter, für den „Blutigen Ernst“ und die „Die Pleite“. Seine Menschenbilder bestehen aus Kontur und Luft. Aber sei nehmen den Gesichtern und Bäuchen die Eingeweide heraus. Es sind Zeichnungen mit dem Apachen-Messer.

             Der schreckliche Mensch heißt George Groß.

             Ansonsten ist das Berliner Dada eine durchaus dadaistische Angelegenheit.

In: Der neue Tag, 25.12.1919, S. 3-4 (KS 4, 228-230).

Günther Hirschel-Protsch (Hirspro): Konstruktivismus und Dynamik (1925)

             Konstruktivismus ist die formale Ausdrucksweise körperlicher Starre nach logischen Gesetzmäßigkeiten. Dynamik ist das Prinzip bewegter Ruhe in der Übertragung von Raum auf Zeit, Fläche auf Raum, Fläche auf Zeit. Der Zusammenhang von Konstruktivismus und Dynamik ist nur durch Vitalität, Rotation und Mechanik lösbar. Sonst bleiben der Raum, Fläche, die Zeit pathetisch, bewegt erscheinend, so „als ob“. Die Gesetzmäßigkeit von Raum, Fläche, Zeit liegt begründet in ihrem gegenseitigen, zwingenden Verhältnis.

             Die Elektromechanik Lissitzkys ist der erste Schritt zur Überwindung des toten Raums. Auch Tatlins Versuche (Denkmal der 3. Internationale) müssen als Synthese der drei Polaritäten an dieser Stelle genannte werden. Die Forderung, welche Kurt Schwitters durch die „Merzbühne“ stellt, gehört in begrenzten Stellen ebenfalls hierher.

GEDICHT

ich sitze verquer durch den raum

baumloses astet und gilbt

ich lasse den raum

und schüttle den raum

und bebe den raum

und höhe den raum

leere stöhnt

leere weitet

leere fruchtet

Angst

In: MA, H. 3/1925, S. 7.