Hermann Bahr: Katholische Romantik.
Auf der religiös-wissenschaftlichen Tagung des Verbandes der Vereine katholischer Akademiker in Heidelberg erstattete Hermann Bahr ein Referat, das wir hier in seinen wesentlichsten Ausführungen wiedergeben.
Romantisch
nennen wir ein Stück Natur, das auf uns wirkt, wie wir das sonst nur von Werten
der Kunst gewohnt sind. Romantisch ist, was, um ideal zu wirken, um seiner Idee
zu genügen, fast keiner Nachhilfe, weder durch Kunst, noch durch unsere
Phantasie bedarf. Erfahrung bleibt ja fast immer hinter ihrer Idee zurück, sie
decken sich fast nie.
Das Gefühl dieser Insuffizienz ist es recht eigentlich,
dass den Künstler hervorruft und produktiv macht. Je weniger nun ein Stück der
Natur, um sich mit der Idee zu decken, erst einer Beihilfe des Künstlers
braucht, je mehr ein Naturstück sich selber schon dem Kunstwerk nähert, desto
„romantischer“ wirkt es.
Das ist der Sinn, mit dem das Wort vor etwa zweihundert
Jahren im Sprachgebrauch auftaucht. Und leise klingt in dieses Wort auch noch
die Mahnung hinein, wenn wir eine höhere Wirklichkeit, als uns das bürgerliche
Leben gibt, finden wollen, sie am besten beim Volke zu suchen. Damit haben wir
nun das Wort Romantisch mit seinem vollen Gehalt und haben damit aber auch
schon den gesamten Sinn der Romantik in allen seinen Schwingungen. Die Romantik
holt sich aus dem Wort Romantisch ihr Programm. Mit ihr erscheint eine Jugend,
die jenes Gefühl der Insuffizienz aller Erfahrung, wenn man sie an der Idee
mißt, so stark erlebt, daß ihr die Gegenwart unerträglich wird: sehnsüchtig
blickt sie von dieser schalen, leeren, unzureichenden Wirklichkeit, in die sie
sich eingezwängt sieht, weg auf das höfische Zeitalter zurück, das ihr von
einer selber schon zu Poesie so gesteigerten und erhöhten Wirklichkeit scheint,
daß der Poesie daran nichts mehr zu tun übrig blieb, als sie einfach
abzuspiegeln. Keineswegs Flucht aus der Wirklichkeit will die Romantik also,
sondern Flucht aus der Unwirklichkeit des Daseins, von dem sie sich umgeben
sieht, in Wirklichkeit, in eine volle, ja exaltierte Wirklichkeit, die der
Poesie. Auf das Erleben von Poesie kommt’s dem Romantiker an, sein eigenes
Dichten ist nur ein Griff nach der Poesie des Lebens, und wenn uns heute noch
der bloße Namen der Romantik bezaubert, dankt sie das nur ihrer Erscheinung,
aber keinem ihrer Werke. Nur eins ist von ihr lebendig geblieben, bis auf den
heutigen Tag: ihr innerlich tiefes, reines gewaltiges Lebensgefühl.
Schon im ersten Manifest der Romantik, in Friedrich
Schlegels berühmten Aufsatz über den Wilhelm Meister, wird gefordert, „Inhalt
und Form des Werks aus dem eigenen Leben zu nehmen“, auf erlebte Form wird
gedrungen, jede nachempfundene, gar aber eine der Antike nachempfundene
zurückgewiesen.
Die Romantik selber wußte nicht, daß eine solche
verwegene Lossage von der Antike schon einmal versucht worden war, schon an den
Toren der deutschen Renaissance: von der Spätscholastik nämlich, die uns erst
durch Duben und den Marburger Philosophen H. Heimsoeth verständlich geworden
ist. Aber dieser Versuch der Spätscholastik, die christlichen Wahrheiten aus
ihrer Gebundenheit an die strengen festen Denkformen der antiken Ueberlieferung
zu schälen, hat ein ganz unerwartetes Ergebnis: kaum sind die Bindungen der
antiken Denkformen gelockert, entweicht die Wahrheit und schon drängt Irrtum an
Irrtum vor, Willkür bricht ein. Gesetz wird vergessen. Es sieht fast aus, als
könnte der Mensch des Abendlands, um in der Wahrheit festzustehen, des Stabs
der antiken Denkform nicht entbehren.
Wie jene Denker der Spätscholastik, so glauben sich nun
auch die Dichter der Romantik einer eigenen Form mächtig und bedürftig der
Antike. Das Erlebnis der französischen Revolution, von der sich nach dem
Strohfeuer der ersten Begeisterung Deutschland mit Entsetzen abwendet, bestärkt
sie darin und durch die höchste Gestalt der Revolution, Napoleon diesen
leibhaftigen Revenant der Antike, fühlt sie sich berechtigt ja fast sittlich
verpflichtet dazu. Der Augenblick, einen eigensinnigen Ausdruck deutschen
Wesens zu wagen, scheint da. Jeder Form, auch der reinsten, droht Erstarrung.
So können wir den romantischen Trotz gegen die Antike verstehen. Er wurde der
ganzen deutschen Ueberlieferung gefährlich, erst dadurch, daß der einen der
romantischen Gruppen von vornherein ein Haß aller Form im Blut lag. Durch J.
Nadler kennen wir die zwei Lager der Romantik und ihren Doppelsinn, daß sie
nämlich den Altstämmen etwas ganz anderes bedeutet als den Neustämmen. Jenen,
Rheinfranken und Alemannen vor allem, geht es ihr um Restauration ihres schon
durch die „Aufklärung“ geschwächten, nun auch noch durch die französische
Revolution bedrohten geistigen Erbes, während den Neustämmen, den Kolonisten
des Ostens, überhaupt erst Gelegenheit gegeben ist, das Erbe des Mutterlandes
anzutreten. Ein altes Volk sieht den Sinn seiner ganzen inneren Existenz
gefährdet und, um sich wiederzufinden, um sich wiederherzustellen, beschwört es
das Bild seiner Vergangenheit zur Hilfe herauf: das ist die Romantik der alten
Stämme. Auswanderer, die eine neue Heimat gefunden haben, suchen wieder eine
Verbindung mit der alten und dazu müssen sie sich rasch aneignen, was dort,
seit sie fort sind, inzwischen geistig geschehen ist: das meint die Romantik
des Ostens. Dieselben Worte haben darum im Mund eines jeden von beiden einen
ganz anderen Sinn. Jene im Westen wollen, von verwegen neuem Geist bedroht,
sich auf ihr altes Wesen besinnen. Diese im Osten müssen, um an diesem alten
Wesen teilzunehmen, selber erst etwas ihnen ganz Neues werden. Ja sie müssen
dazu noch erst einen geheimen Widerspruch im eigenen Blut überwinden: „unserer
Nation ist mit der sarmatischen amalgamiert“, hat Zacharias Werner einmal
gesagt: „Die Kolonisten sind nicht unvermischt geblieben und eben aus einer
geheimen Furcht vor diesen fremden Wallungen im eigenen Blut wenden sie sich
ins alte Vaterland.“ Die Altstämme haben sich nur wieder recht auf sich zu
besinnen, die Neustämme müssen erst werden, was jene sind: jenen gehts um
Restauration, diesen um Regeneration, sie müssen selber erst zu vollen
Deutschen wiedergeboren werden. Daher können jene sichs leicht erlauben, gegen
die Antike zu rebellieren: Sie sind ja fortwährend immer wieder antikisiert
worden, durch den Romanismus der karolingischen Renaissance, den Romanismus der
Hochscholastik, den Romanismus der deutschen Renaissance und ganz zuletzt noch
eben jetzt wieder den Romanismus Weimars. Aber für die Neustämme hat jene
Lossage von der Antike ganz einen anderen Sinn, hier gerät durch sie der Wille
der ganzen Bewegung in Gefahr, der Wille, heimzukehren ins alte Vaterland, das
Erbe der deutschen Vergangenheit anzutreten, einer doch von der Antike ganz
durchwachsenen Vergangenheit, die zerrissen würde und auseinander fällt ohne
die Antike!
Ja noch mehr: Die Neustämme hätten sich, wäre dieser
dumpfe Drang nach Lösung von der Antike durchgedrungen, damit ausgesperrt vom
Abendland und in den gestaltlosen Osten verbannt. Denn das Abendland kann, um
sich Form zu geben, die Hilfe der Antike nicht entbehren.
Wir berühren hier ein Geheimnis der abendländischen
Völker, das ihnen selber unbegreiflich ist und immer wieder zu Zeiten
unerträglich wird. Alle großen Epochen dieser Völker beginnen mit einer Revolte
gegen den Zwang zur Form der Antike, um immer wieder mit einer neuen Eingebung
in diesen Zwang zu enden. Denken wir die Form der Antike!
In „Begreifen“ ruht die Leistung der griechischen
Wissenschaft, wie der griechischen Kunst. Im Bilde, im Begriffe hält der
Grieche die fortstürzenden Erscheinungen an, er glaubt, sie zum Stehen zu
bringen, das Werden zu sistieren, ein beruhigtes Sein gewonnen zu haben. Ja
noch mehr: An diesem Sein, in das er das Werden bildend bannt, glaubt er
ahnungsvoll zugleich auch schon ein Abbild jenes anderen, des großen, hinter
allem entrinnenden Schein des Werdens verborgen ruhenden Sinns zu berühren, das
vor allem Werden immer schon war und auch wenn einst alles entworden ist, immer
noch sein wird: „aute he usia“! Grieche sein heißt, im Schein des Werdens schon
ein Jenseits davon ahnen: ein Sein, und sich nun Zeichen dieser Ahnungen
machen, das Zeug zu solchen Zeichen des Seins sich freilich wieder aus dem
Schein des Werdens holend, die darum niemals das Sein erreichen können; sie
deuten nur hinüber, aber sie bringen ihn nicht hinüber, er kommt nicht zur
Wahrheit, er kommt nur bis zum Mythos. Wir aber, wir abendländischen Christen,
sind wirklich das Gegenteil des Griechen, wir können uns keine Mythen mehr
bilden, weil wir keine Mythen mehr brauchen können, denn uns trennt vom
Griechen ein ungeheures Erlebnis: das Sein selber ist unter uns erschienen, die
Wahrheit hat in Person unter uns gewohnt, das Wort ist Fleische geworden und
ist im allerheiligsten Sakrament unter uns geblieben, so daß wir jetzt mitten
im Werden schon unmittelbar teilnehmen können am Sein. Der Grieche rette sich
ins Bild, wir retten uns ins Sakrament; er wandelt im Bilde, wir wandern in der
Gegenwart Gottes!
Aber dadurch ist das Bild doch keineswegs entwertet: sein
Wert hat nur fortan einen anderen Akzent. Dem Griechen ist das Bild ein Zeichen
seiner Ahnung eines verborgenen Seins, uns ist es ein Abzeichen unserer
Gewißheit des uns offenbarten Seins. Auch wir, wenn auch der Beruhigung des
Ewigen teilhaft, müssen ja dann doch immer wieder in die Zeit zurück, an unser
irdisches Werk herab: Hier können wir uns über das Himmlische nicht
unmittelbar, sondern nur durch eine Zeichensprache verständigen. So haben denn
die jungen Völker des christlichen Zeitalters, sobald sie das Bedürfnis nach
Zeichen ihres neuen Denkens, ihres neuen Fühlens, ihres neuen Daseins
empfanden, einfach die griechischen übernommen und diese durch den neuen Gehalt
unablässig von Jahrhundert zu Jahrhundert christianisiert. Was wir heute
griechische Form nennen, sei es im Denken, sei es im Bilden, ist griechischer
Abstammung zwar, aber es ist längst nicht mehr ein reines Griechisch, es ist
ein getauftes Griechisch. Das Christentum hat seine Kraft am schönsten durch
die schonende Geduld gezeigt, mit der es von den alten Völkern jede keimende
Wahrheit zart in Obhut und Pflege nahm. Nicht zerstörend, sondern erfüllend
kommt das Christentum zu den Völkern, und wo nur immer Erkenntnis glimmt, facht
es den Funken an. Aber eben indem das Christentum die geistige Mitgift der Völker
in seine Hut nimmt, schafft es sie wesentlich um, es verwächst mit ihr, und so
völlig, daß man sie nun nicht mehr wieder von ihm ablösen kann, ohne damit auch
es selber zu verletzen. Jeder Versuch, sei es der christlichen Wissenschaft,
sei es der christlichen Kunst, von den antiken Bindungen loszukommen, hat
bisher immer nur wieder Irrtum und Formlosigkeit ergeben: Die Romantik, die
trotz reinsten Willens, rechter Einsichten, klarer Absichten, mit ihrem
erstaunlichen Reichtum an Begabung nichts zu wirken vermag und ein Chaos
zurückläßt, aus den bisher noch keine der abendländischen Nationen wieder zur
Form zurückgefunden hat, ist das letzte warnende Beispiel.
Unsere Zeit erinnert an die der Romantik so sehr, daß sie
fast eine grobe, sinnlos übertriebene Karikatur von ihr scheint. Alles um uns
und in uns wankt, Ungesetz, Willkür und Frevel walten frei und wieder sehen wir
die Ratlosigkeit einer aufgescheuchten Menschheit, ausgenützt von Abenteurern
und Betrügern, überall wird mit Magie hausiert, der Sinn fürs Heilige wird
durch alberne Fälschungen gefoppt, und wieder ist es jener alte Hang
kimmerischer Schwärmer zum Trüben, Ungestalten, in dem die Gier falscher
Propheten und windiger Religionsgründer, Religionsschieber am liebsten fischt.
So hätten auch wir jetzt wieder eine tiefe Selbstbesinnung not: eine Romantik,
aber eine, die nicht, wie jene damals, in der bloßen Forderung des Romantischen
stecken, nicht Fragment, nicht ein bloßes Spiel mit frommen Wünschen bleibt,
sondern die Kraft hätte, das Romantische zu verwirklichen durch eine
Lebensform, in der Erfahrung sich der Idee so nähert, daß sie sie fast
erreicht, daß wir hier im strömenden Werden uns schon des ewigen Seins
vergewissern, daß wir im täglichen Leben auf Schritt und Tritt Zeugnis geben von
der währenden Gegenwart Gottes mitten unter uns, Zeugnis davon geben durch
unsere Tat; den Aktivismus einer
katholischen Romantik hätten wir not.
Jene Lebensform war im Abendland bis ans Ende des Barock
wirksam.
Unsere Literatur hat von ihr einen klassischen Ausdruck
aufbewahrt: in der Makarie der Wanderjahre. Diese geheimnisvolle Gestalt ist
hier auf Erden schon des Jenseits ganz unmittelbar, ja sie glaubt, an ihm
zuweilen teilzunehmen, sie wechselt zwischen hier und dort hin und her: „Bald
gibt sie bei frisch aufleuchtendem Inneren sich der seligsten Ruhe hin“, bald
wieder, wenn ihr der Blick hinüber entzogen und sie in unseren trüben Zustand
zurückgesenkt wird, benützt sie, „bei gedämpftem inneren Licht“ die Pause zu
wohltätiger Wirksamkeit unter den Menschen. Goethe hat hier nach dem Leben
gezeichnet: es ist die Lebensform des heiligen Ignatius, der heiligen Therese,
des heiligen Philippus Neri, die Lebensform des Eucharisten. Wer das
allerheiligste Sakrament empfängt, berührt das ewige Sein. Das allerheiligste
Sakrament bringt uns in die Wahrheit hinüber. Und kehren wir dann aus ihr in
den Schein, aus der Ewigkeit in die Zeit, aus dem Sein wieder ins Werden
zurück, wir bleiben doch in der Gegenwart Gottes und können sie bezeugen durch
unsere Tat. Der Grieche konnte sich dem „Prototypon“ nur durch Abbilder seiner
Ahnungen davon, durch Wunschbilder nähern: wir, des Urbildes selber unmittelbar
gewiß, trachten es in unserem irdischen Tun, jeder durch sein Tagewerk,
nachzubilden. Unser ganzes irdisches Dasein, ob wir wachen oder schlafen,
denken und dichten aber handeln und herrschen, frohlocken oder wehklagen, ganz
einzustellen in den Flammenhauch der Eucharistie, das wäre katholische Romantik
der Erfüllung.
In: Reichspost, 21.9.1922, S. 1-3.