Richard von Schaukal: Zuchtlose Jugend und ihre Schriftstellerei

Man liest immer wieder in jüdischen Blättern, daß eine neue Jugend entstanden sei, die sich insbesondere mit dem überkommenen Verhältnis der Kinder zu den Eltern auf ihre zeitgemäße Weise auseinandersetze. Selbstbewusst, um nicht zu sagen aufdringlich, verkündigt denn auch, von den Schriftleitungen dazu aufgefordert, der und jener Vertreter dieser ›neuen Jugend‹, meist irgendein achtzehnjähriger Verfasser eines der trotz Misserfolgen im einzelnen stets als Gattung beliebten brünstigen ›Entwicklungstheaterstücke‹, seine höchst unliebsamen Anschauungen über die Ansprüche seiner Altersgenossen auf unbedingte Freiheit usw. Es melden sich dann auch unterweilen die nichts weniger als ehrwürdigen Erzeuger jener wortreichen Verfechter des Umsturzes ihrerseits in denselben Blättern zu Wort – in den illustrierten erotischen Magazinen1 fügt der rührige Verlag die willkommenen Bildnisse von Vater und Sohn  bei – und orakeln resigniert über den Umschwung der Zeiten und die auf dem Gebiete des sogenannten Familienlebens bevorstehenden sensationellen Ereignisse. 

Ob derlei Ergüsse ihren Lesern ebenso ekelhaft sind, wie dem, der wider Willen darauf stößt und nicht umhin kann, einen angewiderten Blick in diese ›Dokumente der Zeit‹ zu tun, ist zweifelhaft, vielmehr kaum anzunehmen, jedenfalls, wenn nicht gleichgültig, doch insofern nicht eben belangvoll als ›Leser‹ solcher ›Literatur‹ ihren Geschmack mit sich selbst abmachen mögen; aber was einmal mit aller Entschiedenheit gesagt werden muß, ist, daß in dieser ganzen Diskussion zwischen ›neuer Jugend‹ und zurechtgewiesener, aber einsichtig-verzichtender Elternschaft sich nur ein Kapitel von privater Armseligkeit [gesperrt gedr. im Orig.] zu maßgebender Bedeutung aufspielt. Mögen die Familien, um die es sich hier handelt – sie sind alle irgendwie mit der herrschenden jüdischen Literatur unauflöslich verwoben – ihre Erfahrungen als Heilsbotschaft oder unentrinnbares Gesetz des Fortschrittes verkünden: es gibt anderswo immer noch wohlgeborene und wohlerzogene Kinder bis fünfundzwanzig und mehr Jahren, die nicht im entferntesten jenen Radaumachern gleichen, sondern bei aller Begabung, allem Scharfsinn, aller Urteilsfähigkeit im Verhältnis zu ihren achtbaren Eltern die uralte kindermäßige Zucht und Sitte als ein selbstverständliches Gut schöner und reiner Seelen in Liebe und Selbstachtung hegen und pflegen und hüten werden, solange es die Klasse – nicht Generation – der unmündigen Kinoschauspieler und Nackttänzerinnen, die freilich eine schmachvolle Last für die mühsam um ihr Dasein kämpfende ›alte‹ Gesellschaft bedeuten, nicht dazu gebracht haben wird, daß die Venus vulgoviva als Staatsgöttin verehrt werden muß.

In: Schönere Zukunft, Nr. 50, 19.9.1926, S. 1230.


  1. Vermutlich eine Anspielung auf Hugo Bettauers Wochenschrift Er und Sie. Wochenschrift für Lebenskultur und Erotik.

N.N. (= Franz Anderle): Radiofreiheit

Über Nacht, wie das bei allem, was mit Radio zusammenhängt, schon zu sein pflegt, hat  unsere politische Einstellung zu ihm eine Wandlung erfahren: Seit ein paar Tagen stehen wir in Österreich im Vorstadium

des Kampfes um die Radiodemokratie,

eines Kampfes, der überall ausgefochten werden muß und der bei uns scharf zu werden verspricht.

Unser Standpunkt in diesem Kampfe ist bald gewählt: wir treten aus allgemeinen und aus besonderen Gründen als Menschen, als Österreicher und als Radiobeflissene

für die Radiodemokratie

ein. Wir wollen unsere besten Kräfte im Kampfe für sie einsetzen, denn wir wissen, daß hier Entscheidendes auf dem Spiel steht.

            Es wäre zu wenig gesagt, wenn man den Kampf für Radiofreiheit einen Teilkampf im großen Kampfe für Preßfreiheit nennen wollte. So verhalten sich die Dinge nicht. Der Kampf für Preßfreiheit, der sein Heldenzeitalter und seine Helden, seine Opfer und seine Verräter gehabt hat, war eine der Formen, in denen sich der Auftrieb, der Selbstbefreiungswille des Bürgertums bestätigt hatte. Er war eine typische Erscheinung des XIX. Jahrhunderts, die diesem ihren Stempel aufgedrückt hatte. Der Kampf um die Radiofreiheit ist echtestes XX. Jahrhundert [gesp. im Orig.], untrennbar von diesem und nur in dessen Rahmen verständlich. Es handelt sich vor allem um ein wesentlich

technisches Problem.

Das war die Preßfreiheit ja auch, ebenso wie auch die Radiofreiheit ihrerseits neben dem technischen Moment auch ein nicht zu übersehendes Machtmoment enthält. Aber das Verhältnis dieser beiden Momente verschiebt sich bei dem Problem der Radiofreiheit entscheidend zugunsten der technischen. Es handelt sich, wie bei allem, was mit Radio nur im entferntesten zusammenhängt, auch hier um ein Problem sui generis, das nach den eigenen Voraussetzungen betrachtet werden will.

Über das Ideal sind wir uns ja klar und hoffentlich sind wir darin mit den meisten unserer Leser einig:

Der ideale Zustand wäre der, daß jeder mit jedem auf dem Radiowege frei und ungehindert verkehren kann.

Ebenso klar müssen wir uns aber darüber sein, daß dieser Zustand heute unerreichbar ist. Heute liegen die Dinge vielmehr so, daß

wenn jeder frei funken könnte, unweigerlich ein Chaos entstehen müsste. 

Das Chaos im Äther ist gewiß nicht das, was wir wünschen. Wir wünschen vielmehr das Chaos zu organisieren, wir wünschen aus dem Chaos einen Kosmos zu machen.

Radio dürfe nicht das Monopol einzelner, auch nicht das Monopol einer Partei werden.

Gewiß: Radio muß allen gehören. Aber wie es einrichten, daß diese Erfindung, deren Wesen das Monopolisiertwerden auszuschließen scheint, wirklich allen ohne Unterschied zugute komme? Es ist schwer, hier einen umfassenden, praktischen, befriedigenden positiven Vorschlag zu erhalten.

            Es ist nun einmal so, daß einer praktischen Radiodemokratie im oben definierten utopischen Sinne von vornherein

natürliche Schranken

gezogen sind. Die hauptsächlichste liegt vielleicht nicht einmal in der Natur der Hertzschen Welle, sondern in der Beschaffenheit der menschlichen Seele hinsichtlich ihrer          Aufnahmefähigkeit  für das gesprochene Wort,

eine Tätigkeit, die nicht unbeschränkt ist. Wenn Mannigfaltigkeit der Preßprodukte, wenn eine Vielzahl der Zeitungen wesentlich für die praktische Wirkung der Preßfreiheit ist, so kann das aus dem Wesen der Radiofreiheit schon deshalb nicht als Forderung abgeleitet werden, weil man beim Hören schneller ermüdet als beim Lesen, weil man gedruckte Zeitungen durcheinander lesen, aber

            gesprochene Zeitungen nicht durcheinander hören kann,

zumindest heute noch nicht. Die Regelung des Radiowesens auf eine immerhin mögliche Anpassung unserer Sinnesorgane einzustellen, hätte aber keinen Sinn.

            Aus diesem Sachverhalte geht für die Radiozeitung eigentlich eine überraschende Forderung hervor:

Sie sollte eine kurze, gedrängte, sich auf die möglichst gewissenhafte Meldung der Tatsachen beschränkende Zeitung sein: so objektiv wie keine der gedruckten Zeitungen ist.

Objektivität und Tatsachenfülle scheint uns der eigentliche Stil der Radiozeitung zu sein.

            Aber wir sehen voraus, daß diese Objektivität, so ehrlich sie auch angestrebt werden sollte, immer angezweifelt werden wird (und auch die Zweifler werden möglicherweise ehrlich sein), namentlich, wenn die Herausgeber jener objektiven Zeitung, der Radiozeitung, im Zusammenhang mit irgendeiner Partei, mit irgendeiner Richtung gebracht werden können. Ob diese Frage überhaupt zu denjenigen gehört, die der Radiogesetzgeber einmal gerecht wird lösen können, lassen wir dahingestellt.

[…]

Wer aber soll ordnend, gebietend, verbietend, strafend eingreifen? Wir glauben doch: der Staat. Die anderen Lösungen dürfen wir für den Augenblick außer Acht lassen. Nun gut also, der Staat. Aber welcher Staat?

In: Radiowelt, H. 3, 23.3.1924, S. 1.

Raoul Auernheimer: Die Signatur der Epoche

Ein Sommerbrief aus Wien

Sie sind sehr klug, verehrte Freundin. Was, wenn es erst bewiesen werden müßte und nicht hinlänglich bewiesen wäre durch die Geschicklichkeit, mit der Sie sich allen Schwierigkeiten zu Trotz in zwölfter Stunde eine Einreiseerlaubnis in das heilige Land Tirol zu verschaffen mußten, zur Evidenz hervorginge aus einem kleinen Satz des leider nur so kurzen Briefes, mit dem Sie mich dieser Tage beglückt haben. Denn was ist Klugheit? Man könnte definieren: Selbst einen möglichst kurzen Brief zu schreiben, der den Empfänger veranlaßt, uns in einem sehr langen zu antworten. Darauf aber verstehen Sie in der Mitte Ihrer zwölf Zeilen mit einer so vollendeten Unschuld an mich richten. Ich soll Ihnen, die Sie bereits seit Wochen – Sie Glückliche! – von der Weltgeschichte völlig abgeschnitten leben, in zwei Worten sagen, worin augenblicklich die Signatur der Epoche besteht. Die Signatur der Epoche und in zwei Worten ! Daran erkenne ich die Meisterin, auf deren Schreibtisch sich nicht umsonst so viele literarische Episteln häufen. Ja, Sie wissen, wie man die spröde Feder eines Schriftstellers in Bewegung setzt. Hätten sie einen langen Brief von mir beansprucht, so wäre ich Ihnen, bei aller Verehrung, die Antwort wahrscheinlich ziemlich lange schuldig geblieben. Aber zwei Worte ! Wer wäre so hartherzig, Sie einer guten Freundin abzuschlagen? Unwillkürlich beginnt man, darüber nachzudenken, sic mit der aufgeworfenen Trage zu beschäftigen, die Signatur der Epoche zu studieren, die Ergebnisse seiner Studien zu Papier zu bringen. Und so fängt man sich, zu Ihrem Vergnügen, in Ihrer Schlinge.

Mir wenigstens ist es so ergangen. Denn, wie ich Ihnen offen eingestehen will, im Anfang nahm ich Ihren Auftrag ernst und versuchte ihn buchstäblich zu erfüllen. Ich ging in unserem sommerlichen Wien umher und suchte die Signatur der Epoche, wie die mittelalterlichen Weisen die Quadratur des Zirkels gesucht haben. Ich blieb vor unseren Anschlagsäulen und =tafeln stehen, auf denen die längste Zeit die kommunistischen Aufrufe neben den Anpreisungen unserer neusten Heurigenetablissements zu lesen waren, und ich glaube, sie gefunden zu haben. Ich ging über den Ring, auf dem man jetzt fast nur Ungarisch reden hört und keinem einigen seiner Wiener Bekannten begegnet, obwohl sie nachweisbar alle, bis auf ganz wenige bedauerliche Ausnahmen, noch in Wien sind, und ich hatte dieselbe Empfindung. Ich sah über die von Wagen entvölkerte Ringstraße, über die nur hin und wieder ein zwitscherndes italienisches Automobil rast – die unseren dürfen nicht zwitschern und können nicht rasen – ein seltsam närrisches Fuhrwerk schwanken und ich meinte, wiederum die Signatur der Epoche, unserer Wiener Epoche zumindest, vor Augen zu haben. Denken Sie sich eine auf Räder gestellte turmartige, viereckige Plakatsäule, die auf allen vier Seiten von den Ankündigungen eines neuen Vergnügungsetablissements bunt überzogen ist und die ein ausgemergeltes Pferdchen – so ausgemergelt, daß man ihm alle Rippen zählen kann – mühsam vorbeischleppt, wiederholt kraftlos innehaltend und den blutjungen Kutscher zum Absteigen nötigend. Ist das nicht die Signatur der Epoche, wie wir sie jetzt in unserem halbverhungerten und zur anderen Hälfte so krampfhaft vergnügten Wien durchmachen? Schließlich glaubte ich ihr etwas später, im Weiterwandern, noch einmal zu begegnen, und zwar vor unserem Grillparzer-Monument im Volksgarten. Sie haben Grillparzer – ich meine natürlich sein Denkmal – noch ein seiner guten Zeit gekannt und Sie haben ihn sicherlich noch deutlich vor Augen, wie er inmitten der schön bewegten Reliefdarstellungen aus seinen Werken, bescheiden thronend dasitzt, mit seitlich geneigtem Haupt, in dieser Haltung, die für eine gewisse Art verstorbener Oesterreicher so charakteristisch ist ; denn sie bedeutet zugleich ein Ausweichen, aber auch, indem man ausweicht, ein Sichbehaupten, und beides war Grillparzers Art, die der Bildhauer aufs glücklichste in den Marmor bannte….Nun, Sie würden diesen Ihren Grillparzer, den Inbegriff des Altösterreichertums, aber in unanfechtbar reiner Form, zur Stunde nicht wiedererkennen. Man hat ihn, wie Sie wissen, bübisch bemalt und seither verhüllt. Nun sitzt er da wie eine Niobe, die ihr Peplum trauernd über den Kopf gezogen hätte, oder wie ein unförmiges Marktweib, das in einen Rotzen eingehüllt schläft. Soll man auch darin die Signatur der Epoche erblicken? Ich glaube, es hieße das, unserer Epoche unrecht tun, und einen Bubenstreich, der eben nur ein Bubenstreich ist, unstatthaft verallgemeinern.

Ueberhaupt die Epoche ! Man sagt ihr allerhand nach und nicht nur Gutes; es ist ja auch wirklich nicht alles schön und gut. Aber war das in früheren Epochen anders? Ich las kürzlich in den Briefen des Camille Desmoulins, dieses vielleicht liebenswürdigsten französischen Revolutionshelden, der die Revolution tadeln durfte, weil er für sie gelebt hat und an ihr gestorben ist. Nun, auch bei diesem Revolutionsritter ohne Furcht und – fast – ohne Tadel stößt man auf Sätze, in denen sich eine gewisse Verzagtheit, eine gewisse Hoffnungslosigkeit, jene mélancolie de quarante ans, die die Revolutionäre befällt, wenn die Revolution zu ihren Jahren kommt, ganz deutlich bemerkbar macht. Man kommt nämlich allgemach dahinter, daß Revolutionen – erschrecken Sie nicht, Bürgerin! – an den Tatsachen des Staates nur sehr wenig ändern. „Ehrgeiz an Stelle des Ehrgeizes und Habgier an Stelle der Habgier“, so charakterisiert Desmoulins, gewiß ein klassischer Blutzeuge, nach den ersten vier Jahren das Ereignis der französischen Revolution. Aber er läßt die und sich darum nicht fallen, sondern ermannt sich wieder mit den Worten : „Trotzdem ist der Zustand der Dinge, wie er jetzt ist, unvergleichlich besser als vor vier Jahren, weil es eine Hoffnung gibt, ihn verbessern zu können, eine Hoffnung, die unter dem Despotismus nicht da ist  …“. So sprach auch Mirabeau, die ritterlichste Erscheinung der französischen Revolution, wie Desmoulins die sympathischste, mitten im Sturm der Aufstände das wahrhaft königliche Wort: „Ich bin für die Wiederherstellung der Ordnung aber nicht der alten Ordnung.“

Uebrigens, „weil wir grad vom Schießen reden“, wie ein Onkel von mir zu sagen pflegte, der in seinem Leben nicht geschossen hat: so möchte ich Ihnen noch einiges anvertrauen dürfen, war auf die französischen Zustände Bezug hat, aber nicht die von 1793, sondern auf die weit ungefährlicheren von 1840, über die Heine in seinen französischen Briefen schreibt. Ich bin unlängst beim Durchstöbern meiner Bibliothek auf diese Lektüre gestoßen und ich kann Ihnen versichern, es gibt augenblicklich keine aktuellere. Allein die Titelaufschriften im Inhaltsverzeichnis, unter denen Sie folgende finden: „Der Kommunismus“, „Die soziale Weltrevolution“, „Angst der Bourgeoisie vor dem Kommunismus“, mögen dies beweisen, und um wie viel mehr beweist es der Inhalt. Zumal das Kapitel über die soziale Weltrevolution klingt wahrhaft prophetisch. Heine, der so lange aus der Mode war, weil er sich als Dichter unterstand, auch eine politische Meinung zu haben, und der gerade darum jetzt augenscheinlich wieder in die Mode kommt, sieht die soziale Weltrevolution heraufdämmern nach einem Kriege zwischen Frankreich und Deutschland, „diesen beiden edelsten Nationen“, der damals wie so oft seither als ein schwarzes Gewitter finster drohend am Horizonte stand. Der Krieg selbst, meint Heine, werde nur der erste Akt „des großen Spektakelstücks sein, gleichsam das Wortspiel“. Den Inhalt des zweiten aber werde ausmachen „die Weltrevolution, der große Zweikampf der Besitzlosen mit der Aristokratie des Besitzes, und da wird weder von Nationalität noch von Religion die Rede sein: nur ein Vaterland wird es geben, nämlich die Erde, und nur einen Glauben, nämlich das Glück auf Erden …“. Und da sind wir auch schon mitten drinnen im theoretischen Kommunismus, von dem Heine in seiner die Ideen geistreich personifizierenden Art fragt, daß er „inkognito, ein dürftiger Prätendent, im Erdgeschoß der offiziellen Gesellschaft residiere“. Der Kommunismus, meint er weiter, sei der düstere Held, dem „eine große, wenn auch vorübergehende Rolle beschieden ist in der modernen Tragödie“, von der Heine vorausahnt, daß sie, im dritten Akt, meint einer kirchlichen Restauration und mit der Wiederaufrichtung der „alten absoluten Tradition“ enden könnte, wenn auch nicht enden muß. Einstweilen aber hält dieses Schreckgespenst die reaktionären wie die revolutionären Gemüter in Bann und hilft – im Paris von 1840 – dem braven Bürgerkönig Ludwig Philipp, die etwas wacklig gewordene Königskrone über seinem feisten Haupte zu befestigen. Und um diesen psychologischen Prozeß, der einigermaßen an den Umschwung der Geister bei unseren östlichen Nachbarn erinnert, anschaulich zu machen, erzählt Heine seinen Lesern die Geschichte vom gipsernen Elefanten. Erlauben Sie mir, daß ich sie ihm hier nacherzähle. Ohnehin dürfen Sie in Ihrer Vendée nicht so leicht mit einem kompletten Heine zusammenkommen. Und in einem anderen als in einem kompletten find Sie diese überaus lehrreiche Geschichte nicht.

Im Juli 1842, also in einer gleichfalls sehr hitzigen Zeit, beschäftigte den Gemeinderat von Paris eine sehr wichtige Frage, eine jener Fragen von scheinbar engster lokaler Bedeutung, die aber unter Umständen die Größe eines Symbols annehmen können. Es handelt sich um die Forträumig eines kolossalen Gipsmodells, das, einen Elefanten darstellend, als ein Ueberbleibsel aus der Kaiserzeit auf dem Pariser Bastillenplatz stand. Eine Zeitlang hatte man daran gedacht, es für ein Denkmal zu verwenden, das der Julirevolution geweiht sein sollte. Später kam man davon ab und errichtete die Juliussäule; und nun war jener alte Elefant aus Gips vollkommen überflüssig geworden, ein Verkehrshindernis, nichts weiter. Man hätte das nicht sehr kostbare, altersschwache Werk einfach zerschlagen und die Trümmer vom Kärrner fortschaffen lassen können, wenn nicht ein im Volk umgehender Aberglaube das Gipsmodell schließlich doch vor diesem pietätlosen Verfahren behütet hätte. Das Gerücht behauptet nämlich, daß sich im Bauch des gipsernen Freiheitsriesen im Laufe der Jahre eine ungeheure Zahl von Ratten angesiedelt hätte, die, durch den Zusammenbruch befreit, die angrenzenden Bezirke überschwemmen würden. „Alle Unterröcke zitterten bei dem Gedanken an solche Gefahr, und sogar die Männer ergriff eine unheimliche Furcht vor der Invasion jener langgeschwänzten Gäste.“ Kurz, der Gemeinderat beschloß, aus Furcht vor den Ratten, die „Gipsbestie“ nicht niederzureißen, sondern in Bronze ausgießen zu lassen und das daraus hervorgehende Monument am Eingang der „Barrière du Trône“ aufzustellen. Die Anwendung auf den Kommunismus und die daraus hervorgehende Stärkung der reaktionären Gewalt ist klar…

Mit dieser klugen Geschichte drückte Heine dem Sommer 1842 die Signatur der Epoche auf. Und dieser Sommer, der unsrige ? Ich glaube, es verhält sich bei uns nicht viel anders, obwohl wir in Wien keinen Bastillenplatz, keinen gipsernen Elefanten und vor allem auch kein Geld haben, ihn in Bronze auszugießen. Besonders das Geld fehlt uns und wird uns nach Besiegelung des unglücklichen Friedensvertrages in noch höherem Maße fehlen. Freilich unter Umständen hat jeder Geld, auch wenn er nicht, wie dies unter dem Diktaturschwert Bela Kuns üblich war, völlig ausgeraubt und von allen entblößt aus Ungarn nach Wien geflohen ist. Diese Ungarn, deren Einfluß es zum Teil zuzuschreiben ist, daß Wien zurzeit war nicht der schönste, wie Humoristen in früherer Zeit gern unter Beweis stellten, wohl aber der teuerste Sommeraufenthalt ist, zahlen, wie ich höre alle Preise und verderben dadurch unsere Geschäftsleute, an denen in dieser Beziehung ohnehin nicht mehr viel zu verderben ist. Sie machen es, aus der Schule des Kommunismus kommend, wie Madame Olympe de Gouges zur Zeit der großen Revolution, die, als sie ein Pariser Sansculotte auf der Straße abfing und, ihren Kopf wie ein gefangenes Huhn unter den Arm pressend, lachend ausrief : „Wer gibt mir fünfzehn Sous für den Kopf dieser Frau ?“, unter dem Arm schlagfertig-kläglich hervorwimmerte : „Lieber, lieber Freund, ich gebe dreißig.“ Uebrigens sind wir in diesem Falle, wie unsere Preisbildung in den letzten Monaten beweist, alle zu Ueberzahlungen bereit, und was die Ungarn betrifft, die sich bei uns restaurieren, so bezahlen sie die in Wien genossene Gastfreundschaft nicht nur mit einem im Verhältnis zu ihrem weißen „guten“ blauen Gelde, sondern unter Umständen auch mit harschen Worten, die hinter dem französischen um nichts zurückstehen. So soll unlängst einer beim Ueberschreiten unserer Grenze aus tiefstem Herzen humoristisch ausgeseufzt haben: „Mein Bedarf an Weltgeschichte ist jetzt für längere Zeit gedeckt.“ Das Wort, in dem einer ausspricht, was wir unausgesprochen jetzt alle empfinden, verdiente Flügel zu bekommen uns Sie sollten ihm welche machen, denn ich wüßte nichts, worin sie lesbarer und lapidarer enthalten wäre, wonach Sie mich fragen: Die Signatur der Epoche.

In: Neue Freie Presse, 15.8.1919, S. 1-3.

Friedrich Adler: Brief an Leo Trotzky

Werter Genosse Trotzky!

            Während meiner Haft war ich der Gegenstand mannigfaltiger Kundgebungen. So wurden unter anderem Kasernen und Kinder, Regimenter und Straßen nach mir benannt. Natürlich alles ohne meine Zustimmung, die man ja wegen der Gefängnismauern und anderer Hindernisse nicht einholen konnte. Wenige Tage nachdem ich herauskam, hatte ich aber bereits Gelegenheit, eine weitere solche Ehrung unter Hinweis auf meine Abneigung gegen den Personenkultus zu verhindern, wie Ihnen vielleicht aus meiner Broschüre „Nach zwei Jahren“ bekannt ist.

            Nun melden die Zeitungen, daß mir auf Ihren Antrag eine Ehrung aberkannt wurde, von deren Existenz ich bisher allerdings nichts wußte. Ich erfahre gleichzeitig, daß ich bisher Ehrenmitglied des russischen Sowjetkongresses gewesen und es fernerhin nicht mehr sein soll. Ich weiß nicht, ob die Zeitungsnachricht wahr ist, oder zu jenen 25 Prozent der Meldungen über Rußland gehört, die frei erfunden sind.

            Aber wie immer es mit dieser nicht einmal platonischen Ehrenmitgliedschaft stehen mag, jedenfalls erscheint sie mir recht belanglos, ich hatte niemals Sinn für Titel und Orden. Ich würde auch an sich über die Sache kein Wort verlieren, aber da Sie in dieser schweren Zeit sogar Muße für solche Zeremonien zu haben scheinen, wage ich es, Sie für ein paar Augenblicke in Anspruch zu nehmen, um Sie gerade durch dieses Beispiel – daß nicht einmal mir diese Ehrenmitgliedschaft bekannt geworden war – daran zu erinnern, wie wenig wir voneinander wissen.

            Seit wir im August 1914 Abschied nahmen, als Sie mit dem letzten Zuge vor den Mobilisierungstagen Oesterreich verließen, hatten wir nicht Gelegenheit, uns zu sprechen oder auch nur zu schreiben. Und so wie zwischen einzelnen Genossen die Verbindung abriß, so war es zwischen den Staaten überhaupt, ob sie nun „feindlich“ oder neutral gewesen. Auch heute ist das noch lange nicht überwunden. Wir wenigstens haben das Gefühl, über Rußland nahezu gar nicht Zuverlässiges zu wissen, wir sind noch immer auf Berichte angewiesen, die in ihren Schrecknissen und Verklärungen lebhaft an die Schilderungen der Reisenden über das alte Wunderland Ophir gemahnen, und deren Wahrheitswert durch die politisch Leidenschaft pro oder kontra sicherlich nicht erhöht wird. Gerade in den letzten Tagen hatten wir wieder ein drastisches Beispiel dafür. Eine Gruppe von Georgiern, die vor wenigen Wochen Moskau verlassen haben, passierte Wien auf der Reise in ihre Heimat. Sie bestand aus Bolschewiken und Antibolschewiken. Was die einen weiß schilderten, malten die anderen mit gleichem Temperamente schwarz, und umgekehrt. Welche von beiden Schilderungen der Wahrheit näher kam, vermögen wir absolut nicht zu entscheiden. Wir sind daher nach wie vor in unserem Urteil über die sozialistische Bewegung in anderen Ländern äußerst zurückhaltend, und werden in dieser Vorsicht immer wieder bestärkt, wenn wir erfahren, wie wenig es den Genossen anderer Länder gelingt, die Besonderheiten unserer Lage zu erfassen.

            Neben aller Bewunderung für die Energie und Ausdauer, die Sie und Ihre Freunde auch in den verzweifelten Situationen in den zwei Jahren Ihrer Herrschaft immer wieder bewiesen haben, bestand bei mir stets die lebhafteste Beunruhigung darüber, daß Sie gerade diese Schranken, die der Einsicht in die Verhältnisse anderer Länder durch die Schützengraben gezogen wurden, nicht einzuschätzen vermögen. Am schlimmsten war diese Beunruhigung, als ich von meiner Zelle aus Ihnen zusehen mußte, wie Sie in Brest-Litowsk agierten. Was ich vom Anfang dieser Verhandlungen an befürchtet habe, trat in aller Schrecklichkeit ein. Sie rechneten mit der Reife der revolutionären Entwicklung in Oesterreich und Deutschland, als ob Sie davon etwas wissen könnten, während es doch nur Ihre Wünsche waren, die Sie in Ihre politischen Entschlüssen projizierten. Und ebenso wie Sie die Bedeutung des Jännerstreikes 1918, insbesondere was Deutschland betrifft, falsch eingeschätzt, haben Sie sich immer wieder über das Tempo der Entwicklung den ärgsten Täuschungen hingegeben. Ich maße mir nicht an, zu entscheiden, ob Sie auch bezüglich der Entwicklung in Rußland die Zeitdistanzen nicht abzuschätzen vermochten, was Deutschland und Oesterreich betrifft, sind Sie jedenfalls von einer Illusion in die andere verfallen.

            Sie glaubten Oesterreich zu kennen, weil Sie vor dem Kriege längere Zeit in Wien gelebt haben. Aber bereits Ihre glänzende wenige Wochen nach Kriegsausbruch geschriebene Broschüre enthielt Irrtümer über die Vorgänge in unserer Partei. Und je länger der Krieg andauerte, um so mehr wuchs die Isolation. Ich konnte das sehr anschaulich an dem Verhalten Ihrer Freunde in meinem speziellen Falle erkennen. Nach dem Attentat im Oktober 1916 zeigte sich Lenin vollständig verständnislos für die Situation, aus der es hervorging, und gehörte eigentlich zu dem großen Chor derjenigen, die es verurteilten. Nach meinem Prozeß wieder wollten Ihre Freunde mich durchaus für sich reklamieren, [G. J. ] Sinowjew nach geradezu zum Bolschewiken stempeln. Wie weit das für Ihre Freunde damals taktische Zweckmäßigkeit oder ehrlicher Irrtum war, vermag ich nicht zu entscheiden. Jedenfalls dürfen sie heute nur ihre mangelnde Einsicht und nicht mich anklagen, wenn Sie nun erkennen, daß ich zwar ein revolutionärer Sozialdemokrat bin, aber durch aus nicht die bolschewistische Taktik als alleinseeligmachend anzuerkennen vermag. Daß sowohl das Attentat als der Prozeß richtiger eingeschätzt werden konnten, beweist Martow, der in beiden Fällen den klaren Blick bewies und im Wesentlichen richtig urteilte.

            Aber über diese zwar psychologisch interessanten, aber sachlich belanglosen Irrtümer hinaus glaubten Sie zur Zeit des Umsturzes im November 1918, in die Arbeiterbewegung in Oesterreich eingreifen zu wollen. Sie sandten Geld her. Dagegen ist an sich sicher nichts zu sagen. Auch wir sandten in Betätigung internationaler Solidarität unseren bescheidenen Mitteln entsprechend so oft wir konnten materielle Unterstützung an Bruderparteien ins Ausland. Aber in diesem Falle war es doch anders. Nicht eine Partei suchte Geld, sondern zum Geld wurde eine Partei gesucht. Leider konnten Sie neben dem Geld nicht auch etwas politischen Verstand mitsenden. Und so entstand jene Serie von politischen Fehlern, die man als Tätigkeit der kommunistischen Partei in Deutschösterreich bezeichnet. Mir war von Anfang an klar, daß es unvermeidbar sei, daß sich zu der ökonomischen Basis – nämlich dem russischen und später ungarischen Geld – eine Partei finde, der Absplitterungsprozeß in unserer Arbeiterbewegung infolge Ihres Eingreifens notwendig eintreten müsse. Aber ich habe diesen Prozeß mehrmals gefördert, weil ich ihn nach bestem Wissen und Gewissen für ein Unglück für die proletarische Aktion hielt. Die Leute der neuen Partei kamen damals am 3. November, einen Tag, nachdem ich das Gefängnis verlassen, zu mir mit dem naiven Ansinnen, ich möge ich Führung übernehmen. Ich habe sogleich abgelehnt und wenn ich jetzt alles rückschauend überlege, so kann ich heute wie in jedem Augenblick dieses ganzen Jahres aussprechen, daß es ein großes Unglück für die revolutionäre Entwicklung der Arbeiterklasse gewesen wäre, wenn ich mich von Stimmungen hätte fortreißen lassen und nicht den Weg sozialistischer Pflicht gegangen wäre. Und daß ich diesen großen Fehler nicht gemacht, das ist es, was Sie und Ihre Freunde, die die Dinge hier nicht trennen und durch politische Kinder „informiert“ werden, mir nicht verzeihen. Aber ich brauche nur auf den Friedhof hinübergehen, den Ungarn jetzt darstellt, um vollständig darüber beruhigt zu sein, daß ich zwar nicht Ihren Wünschen gemäß, aber im wahren Interesse der proletarischen Revolution handelte, wenn ich dabei mitwirkte, das Proletariat Deutschösterreichs vor entscheidenden Niederlagen zu bewahren und es kampffähig zu erhalten.

            Ich bin heute in der merkwürdigen Lage, daß meine russischen Freunde aller Richtungen mit mir unzufrieden sind. Aber gerade, daß alle von Axelrod bis Lenin in der Unzufriedenheit mit mir einig sind, gibt mir die Zuversicht, daß vielleicht doch ich es bin, der auf jenem Wege ist, der allein zu einer kraftvollen Internationale des revolutionären Weltproletariats führen kann.

            Meine Ansichten darüber Ihnen im Einzelnen auseinanderzusetzen, übersteigt den Rahmen dieses Briefes. Hoffentlich wird es bald einmal mündlich möglich sein. Vorläufig bestehen allerdings leider noch die Fronten, die Sowjetrußland von der übrigen Welt absperren und mich zwingen, diese anspruchslosen Zeilen zu drücken, damit sie vielleicht doch Aussicht haben, Sie zu erreichen.  

Mit sozialistischem Gruße ihr                       

                                                                                   Friedrich Adler

In: Der Kampf. Sozialdemokratische Wochenschrift, 13.12.1919, S. 805.

Alfons Wallis: Kunst und Sozialismus. Offener Brief an den Herausgeber

                        Sehr geehrter Herr!

            In Ihrer Ansprache an die Fachgruppe der Künstler und Schriftsteller der Sozialistischen Vereinigung geistiger Arbeiter, in der ganzen Diskussion jener Versammlung, schien mir dieses verwirrend vermischt: die neue Einstellung zu einer veränderten Wirtschaftsform, eine Neueinstellung, die der Künstler natürlich wie jeder aus jedem anderen Beruf vornehmen muß: das zweite aber wäre jener Umstand, der mir allein das Recht auf den Titel „sozialistischer Künstler“ zu verleihen scheint; eine sozialistische Geistigkeit, Nerven und Gestaltungskraft, die ihren Motor in einer sozialistischen Kultur haben. Da ich unter den Berühmtesten unserer Zeit so wenige weiß, deren Mentalität sozialistisch ist, fürchte ich, daß Sie auch unter den weniger Berühmten allzu wenige dieser Art finden werden. Diejenigen aber, die eben auch in einem sozialistischen Staat leben wollen, womöglich besser leben wollen, deren Geistigkeit, deren Werk aber etwa aus einer aristokratischen, einer bürgerlichen und namentlich aus gar keiner Kultur stammt, werden offenbar recht zahlreich zu Ihnen gehen. Zum Nutzen des Sozialismus? Keinesfalls zum Nutzen der Kunst.

            So werden wahrscheinlich der Vereinigung sozialistischer Künstler die einzig Wichtigen fehlen: die Künstler, denen Sozialismus innerstes Erlebnis ist, nicht günstige und günstigere wirtschaftliche Tatsache. Erlebnis ist aber ein Metaphysikum, das man wohl schwerlich beschwören kann. So erschien es einigermaßen merkwürdig, als ein Kunsthistoriker in einer Versammlung ernstlichst vorschlug, durch theoretische Vorträge in Vereinigungen von Malern und Musikern Künstler für den sozialistischen Geist zu gewinnen. Wäre es mehr als ein verzweifeltes Wahlmanöver, hätte es etwas mit diesen Menschen in ihrer Eigenschaft als Künstler zu tun? Wer dürfte es wagen, „den Teil der Künstlerschaft, der heute noch dem Sozialismus fernsteht, in unser Lager zu ziehen“? Übrigens wird der Geist der sozialistischen Kultur wie der jeder anderen, seine eigene Kunst schaffen, seinen Künstlern wird er neue Lebensmöglichkeit, neue Vitalität sein, er ist in Gerhart Hauptmann, in Käthe Kollwitz, in manchem anderen Künstler von heute; aber vom Standpunkt der Kunst selbst ist natürlich eine sozialistische keineswegs wertvoller als eine adelige oder bürgerliche. Jede neue Zeit ist der Tod der Kunst des vergehenden Zeitalters: eine Fülle Herrlichkeit versinkt, weil andere Menschen sind, denen sie unnotwendig geworden ist. Die neue Kunst wird aber immer kommen, sobald sie ein Naturbedürfnis ist.

            Während mir dieses Ziel Ihrer Vereinigung, dem Sozialismus fremde Künstler in sozialistische zu verwandeln, weniger gefährlich denn unmöglich erscheint, so sehe ich in der wirtschaftlichen Organisation keine ganz harmlose, übrigens nicht neue Angelegenheit. Unverhältnismäßig viel Gleichgiltiges und Unfähiges wird geschützt, anstatt bekämpft zu werden. Es gilt eben das in diesem Fall Nichtssagendste, rein manuelle: Feder und Pinsel. Was wiegt der Fall auf, daß auf dem Theater zu X ein unerkanntes Genie um 100 Kronen monatlich spielen muß, verglichen mit der Tatsache, daß sich jährlich Hunderte Unfähiger zur Bühne drängen, weil es leichter ist als Postamt und Büro. Und sollte selbst um der wenigen Auserwählten willen der ganzen Masse ein Privileg erteilt werden, so wäre dem Mann, auf den es ankommt, erst recht wenig geholfen: er schriebe noch immer für die Schreibtischlade und wäre unerkannt wie zuvor. Da ist kein Unterschied zwischen einem kapitalistischem und einem sozialistischen Staat, übrigens ist die Not der Künstler wohl durch eine Überproduktion zu erklären. Es ist nicht wahr, daß das Volk nach Mozart schreit und „Torquato Tasso“, nach Schönberg und Spitteler. (Gern nimmt man das als Vorwand bei all den Versammlungen). Wie sollte auch für die Krönung einer Kultur Interesse vorhanden sein, wenn deren Fundamente wanken, wenn nicht ihre primitivsten Voraussetzungen vorhanden sind? Kunst ist das Endprodukt einer Kultur, sie muß aus dem Glück, der Fülle, dem Überfluß einer Klasse, eines Volkes wachsen. So brachte ein reiches Bürgertum kein kleines an Kunst hervor. Was kann der Künstler schon heute fordern vom sozialistischen Staat? (Welch kühnes Vokabel im Feber 1919!) Sein Tag wird kommen, wenn aller Tag kommt. Und bis dahin?

            Es war von einem Kunstministerium die Rede. Einer unserer berühmtesten Musiker sagte in dem Gespräch: „Was könnte ein Staatssekretär für Musik anderes tun, als sich um die bessere Ausnützung der Wasserkräfte für industrielle Zwecke zu kümmern?“

            Wer von den Künstlern dazu Mut und Kraft verspürt, der arbeite mit, nüchtern, sachlich, in der Partei, im täglichen Leben! Die übrigen mögen wie bisher weiterarbeiten: malen, komponieren, dichten. Und schweigen!

In: Die Wage. Eine Wiener Wochenschrift, Nr. 7, 14.2.1919, S. 160-161.

Max Adler: Die Aufgaben der marxistischen Arbeiterbildung

Aus einem Vortrag, gehalten auf der Landestagung der Arbeiterbildungsausschüsse Sachsens in Dresden am 12. und 13. Mai 1926. Der Vortrag erschien vor kurzem als Broschüre im Verlag des sächsischen Landesausschusses für sozialistische Bildungsarbeit. – In Österreich ist die kleine Schrift durch die Wiener Volksbuchhandlung, Wien VI, Gumpendorferstraße18, zu beziehen. [Anm. d. Red.]

Arbeiterbildung muß gesellschaftliches Wissen sein

            Die Arbeiterbildung hat seit jeher ein Hauptinteresse der sozialistischen Arbeiterbildung ausgemacht, ja man kann sagen, daß die Entwicklung des Sozialismus als proletarische Massenbewegung zusammenfällt mit dem Streben des Proletariats, sich aus eigener Kraft zur geistigen Selbständigkeit und Höherbildung zu entfalten. Und daher gehören ja auch die Arbeiterbildungsvereine überall zu den ältesten Organsationen des sozialistischen Proletariats.

            Hiebei tritt aber gleich von allem Anfang an ein bemerkenswerter Umstand hervor, welcher den Bestrebungen der Arbeiterbildung ihren besonderen Charakter gibt und sie sofort scharf von der bloß bürgerlichen Aufklärung und Volksbildung unterscheidet. Es handelt sich nämlich bei den Bildungsbestrebungen des Proletariats überall nicht bloß um die Ergänzung der nur allzu kärglichen Schulbildung, also nicht bloß um die Ausbildung oder Fortbildung in den allgemeinen Schulfächern, sondern gerade um das, was in dem traditionellen Schulunterricht nicht bloß der Volks-, sondern auch der höheren Schulen gar nicht gelehrt wird. Der gesamte traditionelle und offizielle Unterricht kennt bisher die Wissenschaft lediglich als Naturwissenschaft. Und so ist die wissenschaftliche Bildung, die er vermittelt, auch im wesentlichen eine bloß naturwissenschaftliche. Nur die Gesetze des Naturgeschehens kommen als wissenschaftliche Lehren in Betracht; daß es aber auch Naturgesetze des gesellschaftlichen Lebens und des geschichtlichen Werdens und Vergehens gibt, davon ist in dem bürgerlichen Schulunterricht keine Rede. Gerade aber die Sozialwissenschaft interessiert den Arbeiter am meisten. Denn wenn auch die Gesetze, nach welchen die Körper zu Boden fallen, natürlich auch für den Proletarier interessant und wichtig sind, weil sich auf deren Kenntnis erst das Verständnis der Natur und der menschlichen Technik aufbaut, so knüpft doch noch ein viel tieferes Interesse, nämlich das Interesse seines Lebensschicksals, an die Erkenntnis jener Gesetze, welche die Gestaltung der Gesellschaft und ihre notwendige Entwicklung in die Zukunft bestimmen. Die Arbeiterbildung ist daher von allem Anfang an mehr als bloße naturwissenschaftliche oder geographisch-geschichtliche oder ästhetisch-literarische Bildung gewesen. Sie ist vor allem auf die Erkenntnis der gesellschaftlichen Welt, in der das Proletariat lebt, gerichtet gewesen und hat in erster Linie nach sozialwissenschaftlicher Vertiefung gestrebt. Und sie konnte das, weil die großen Begründer des modernen Sozialismus, Marx und Engels, zugleich auch die großen Schöpfer der modernen Sozialwissenschaft geworden sind. Denn der eigentliche Sinn und das eigentliche Ziel der wissenschaftlichen Arbeiten von Marx und Engels ist die Erforschung der Gesetze des gesellschaftlichen Lebens und seiner Entwicklung. Dies führte in spezieller Anwendung auf die heutige Form der Gesellschaft, das heißt auf die kapitalistische Gesellschaft, zur sozialwissenschaftlichen Darlegung des Wesens der kapitalistischen Wirtschaft und ihrer notwendigen Entwicklung zur sozialistischen Gesellschaft.

So ist die Arbeiterbildung im Sinne der sozialwissenschaftlichen Aufklärung und Schulung zu einer Hauptgrundlage des modernen Sozialismus geworden, und mit vollem Rechte haben Marx und Engels diesen daher den wissenschaftlichen Sozialismus genannt. Damit ist zum Ausdruck gebracht, daß einer der Hauptfaktoren der revolutionären Einstellung des Proletariats  gegen die bürgerlich-kapitalistische und nicht bloß die gefühlsmäßige Auflehnung gegen die ökonomische Ausbeutung und politische Unterdrückung ist, sondern ebenso auch die wissenschaftliche Erkenntnis der notwendigen Mängel und Widersprüche der bürgerlischen Gesellschaft sowie der Mittel ihrer Überwindung. Und daher kommt es, daß die Bildungsorganisationen des Proletariats nicht geringere Mittel seines revolutionären Klassenkampfes sind als die politischen, gewerkschaftlichen und genossenschaftlichen Organisationen. Ja man darf sagen, daß in der gegenwärtigen Lage des Sozialismus die Bedeutung der Bildungsorganisationen immer mehr anwächst und gar nicht hoch genug veranschlagt werden kann.

Deshalb ergibt sich als dringendste Forderung des Tages die marxistische Bildung der Arbeiterklasse zu vertiefen und zu verbreiten. Das ist also die erste große Aufgabe der marxistischen Arbeiterbildung, den Proletarier  in den wissenschaftlichen Geist des Sozialismus einzuführen, hiedurch das proletarische Denken über die eigentlichen Interessen und Ziele der Proletariats  aufzuklären und das proletarische Fühlen zu stärken und damit das revolutionäre Klassenbewußtsein in der Arbeiterschaft allgemein zu machen.

Klassenkampf ist Kulturentwicklung

Es wird eine der großen Aufgaben der marxistischen Arbeiterbildung sein, den weitverbreiteten Vorwurf von Kulturlosigkeit, ja Kulturwidrigkeit des Klassenkampfes als das zu erweisen, was er wirklich ist, ein durchaus bürgerliches Vorurteil und Unverständnis. Freilich, wenn man sich unter Klassenkampf nichts anderes vorstellen mag als bloßes Toben und Wüten gewalttätiger Durchsetzung von Klasseninteressen, bei dem nur der Zufall der brutalen Übermacht entscheidet, dann ist es kein Wunder, daß bei einer solchen Anschauung der Klassenkampf als etwas durchaus Kulturfeindliches erscheinen muß. Aber diese Anschauung ist vom Standpunkt des Marxismus aus einfach lächerlich. Sie haftet bloß an der oberflächlichen Außenseite des Klassenkampfes, die allerdings noch zumeist den Mantel der Gewalt getragen hat.

Aber trotz dieser Unvermeidlichkeit von Gewalt im Klassenkampf bleibt der Klassenkampf selbst doch in seinem Wesen etwas durchaus Geistiges. Es handelt sich in erster Linie bei ihm um einen Bewußtseinsumwälzung bei den Menschen der aufsteigenden Klasse, es handelt sich darum, daß sie zum Träger einer neuen Gesellschaftsordnung, eines neuen gesellschaftlich-moralischen Prinzips werden, wo wie dies bereits ein anderer großer Lehrer des Proletariats, Ferdinand Lassalle, als das eigentliche Wesen der Revolution geschildert hat. Denn Revolution und revolutionärer Klassenkampf bedeuten nicht, wie Lassalle gespottet hat, die Spießbürgervorstellung von Barrikaden, Guillotine und an die Laterne geknüpften Gegnern, sondern diese Worte bedeuten den Einzug eines neuen Prinzips in die Köpfe und Herzen der Menschen , durch welches die alten  Vorstellungen und Zustände von Grund aus verändert werden. So betrachtet und so verstanden – er kann aber gar nicht anders richtig verstanden werden – , verliert also der Klassenkampf ganz und gar seinen brutalen und ungeistigen, ja kulturwidrigen Anschein. Er wird vielmehr jetzt ein Stück ringender Kulturentwicklung selbst und dabei zu einer Gewähr eines sicheren Fortschritts in der Geschichte.

Der proletarische Klassenkampf muß revolutionär sein

Diese Auffassung vom Klassenkampf in den Gemütern des Proletariats lebendig zu machen, wird eine Hauptaufgabe der marxistischen Arbeiterbildung sein. Sie muß die Erkenntnis verbreiten, daß der Klassenkampf ein revolutionärer sein muß, sie muß das Klassenbewußtsein des Proletariats zu einem revolutionären  Bewußtsein ausgestalten. Denn auch das ist wichtig: Nicht schon jeder Klassenkampf des Proletariats, nicht schon jede energische Vertretung seiner Klasseninteressen ist revolutionärer Klassenkampf. Revolutionär wird er erst, wenn eben jenes neue Gefühl des Denkens und Fühlens, von dem Lassalle sprach, also ein neuer Geist des Kampf des Proletariats beherrscht, welcher mit allen den Einrichtungen und Vorstellungen des alten kapitalistischen Welt von Grund aus brechen will.

Der Proletarier, der von solchem revolutionären Geiste durchdrungen ist, der ist selbst bereits innerlich von der alten Gesellschaft losgelöst, in der er äußerlich noch leben muß, er ist ein neuer Mensch geworden, der die alte Gesellschaft haßt und nicht ruhen kann, bis sie vernichtet ist. So bedeutet der Klassenkampf im marxistischen Sinn erst dann etwas Revolutionäres, wenn nicht bloß für die Besserung der Klassenlage des Proletariats gekämpft wird, sondern für die Beseitigung derselben. Und die Freiheitsbewegung des Proletariats beginnt nicht schon dort, wo bloß um politische und gewerkschaftliche Freiheiten gekämpft wird, sondern erst, wo darüber hinaus die Befreiung von dem Joche der Klassengesellschaft und der Aufbau einer neuen sozialistischen Welt erstrebt wird. Den Sinn für diese neue Gesellschaft in den Proletariermassen zu verbreiten, die geistigen und moralischen Energien  in ihnen zu wecken und zu fördern, welche notwendig sind, um das Alte zu überwinden und das Neue aufzubauen, das macht das innerste Wesen des revolutionären Klassenkampfes aus. Er ist, wie wir jetzt zusammenfassend sagen können, der stete Erneuerer der menschlichen Gesellschaft, weil er immer wieder die neuen Menschen schafft, welche die Gesellschaft erneuern wollen und müssen.

Die marxistische Arbeiterbildung schafft neue Menschen

Wenn wir alle die großen Aufgaben der marxistischen Arbeiterbildung in einen Gedanken zusammenfassen wollen, so ergibt sich dafür kein besserer und hinreißenderer Ausdruck als der, den der junge Marx für sein eigenes revolutionäres Gedankenwerk gefunden hat: „Reform des Bewußtseins.“ Schon am Anfang seiner gewaltigen Geistesarbeit schrieb er es nieder, daß das, was uns bitter not tue, eine Reform unseres Bewußtseins sei, das heißt, die Arbeiterklasse müsse sich ein neues Bewußtsein verschaffen, zu welchem sie durch die Erkenntnis von der Gesellschaft und den Gesetzen ihrer Entwicklung gelangen werde. Diese Erkenntnis wird, davon war Marx fest überzeugt, in den Arbeiterköpfen kein totes Wissen bleiben, sondern sich notwendig in zielbewußte, befreiende Tat umsetzen müssen. Eine solche Erkenntnis zu verbreiten und eine solche Tat mögliche zu machen, die kein zufriedenes Ausruhen gestattet auf dem Schatz erworbenen Wissens, sondern unablässig hinaustreibt, die gesellschaftlichen Konsequenzen  dieses Wissens zu ziehen und mit Entschlossenheit zu verwirklichen. Diese Konsequenzen führen zum Sozialismus. Und so wird das Licht des Marxismus nicht nur in unseren Köpfen die Helligkeit verbreiten, die jede Wissenschaft erzeugt, es wird auch in unseren Herzen das Feuer der Begeisterung erwecken und die Kraft entzünden, die immer unwiderstehlicher die alte Gesellschaft hinwegfegen und die neue heraufsteigen lassen wird.

In: Bildungsarbeit, Nr. 1 (Jänner) 1927, S. 1-3.

Hermann Bahr: Katholische Musik

Österreich, unser altes Österreich, ist zur Zeit nur noch als Musik vorhanden; in seiner Musik bleibt es unsterblich. Ja, rein erkennen lernen wir ihre letzten drei großen Erscheinungen, Bruckner, Hugo Wolf und Mahler erst jetzt.  Als Vorzeichen, Verheißungen, Beginner von etwas, das erst kommen sollte, galten sie, Zukunft schienen sie zu bedeuten, in die Zukunft immer zu deuten, aber sie waren das Ende, sie waren der letzte Gruß, mit dem Österreich zärtlich Abschied nahm, Abschied von sich selbst, sie waren die Todesverklärung.

            Ihrer Zeit stießen alle drei ja zunächst wie Wagner, ihr gemeinsamer Meister, auf denselben erzürnten Haß des liberalen Bürgertums. Dieser Haß hatte seinen guten Grund; nur gab er falsche Gründe vor. Er gab vor, das „musikalisch Schöne“ zu schützen; er gestand vielleicht nicht mal sich selber ein, daß es ihm um Schutz vor Musik überhaupt ging, vor dem Wesen der Musik, durch das sich das Geldbürgertum in dem seinen bedroht sah.

            Man hat Baukunst erstarrte Musik genannt und so kehrt, was einst Fischer von Erlach und Hildebrand in Stein erstarren ließen, unter Mozarts wachküssendem Anhauch wieder ins Element der Töne zurück: fließendes Barock ist unsere Musik von Anbeginn; indem barocker Augenschein zur Ohrenlust wird, entsteht sie, sei’s im Volksmund, sei’s nun kunstbewußt.

Dies geschieht eben zu der Zeit, als Österreich schon leise sich selbst zu verleugnen beginnt: das Barock fühlt seine Welt wanken, da rettet es sich in Musik. Musik ist die letzte Zuflucht des alten, des rechtgläubigen, des heroischen Österreich; in Musik verborgen hofft es sich noch aufzubewahren, darum kam auch der junge Mozart dem Kaiser Josef gleich so verdächtig vor. In Gluck noch voll Stolz und erhabener Macht, rauscht es in Schubert schon stiller, wie Sterbensdrang, und diese Wehmut klingt ahnungsvoll bis in Strauß und Lanner hinein. Inzwischen ist ihm ein Todfeind erwachsen: dem metaphysisch gesinnten Barock, das in den vorübergehenden Gestalten dieser Welt das Bild der ewigen Wahrheit nur trüb gespiegelt sieht, tritt der Geldbürger entgegen, der für wahr nur anerkennt, was sich bar vorzählen läßt, der Mensch der Ziffern, der Mensch der völligen Abstraktion, des Absehens und Weghörens von allem, was nicht in Ziffern zu verwandeln ist. Dieser große Falschmünzer des Lebens, Unkünstler und gar Unmusiker von Geburt, bedient sich nun aber der Methode, was er seinem Wesen nach verneinen muß, immer zunächst zu „beschützen“, ja zu tun, als wenn jetzt er erst es seiner wahren Bestimmung zuführen würde. So hat er die Geschichte des Abendlands, das Mittelalter, die Renaissance, unsere klassische Dichtung, Goethe vor allem, und den Geist der deutschen Philosophie so von Grund aus umgefälscht, bis zuletzt alles nur auf ihn zu zielen, die ganze Weltgeschichte nur ihn vorzubereiten, ja der Weltgeist im Geldbürger zu gipfeln und mit dem Geldbürger der Sinn aller Zeiten erfüllt schien. Und so macht er uns auch eine Musik eigener Art, seine, des geborenen Widermusikers, Musik vor, die sich zu wahren verhält wie das Ringstraßenpalais zur Baukunst. Die großen Wahrheiten zunächst niemals zu leugnen, sondern sich ihnen anzubiedern, hinterrücks aber in aller Stille Gift ins Herz zu spritzen, war überall seine Methode. Nur der ungeheuren Seelenkraft Wagners gelang es, die deutsche Musik zu retten; war man doch damals schon eben dabei, selbst Beethoven geldbürgerlich umzudirigieren, ganz wie man jetzt, seit Mahler tot und Bayreuth stumm ist, es wieder mit Wagner selber versucht (und schon mit der Wirkung, die Jugend, die ja nirgends mehr Wagner, den wirklichen, hören aber sehen kann, ihm abzuwenden). Als nun in Bruckner, Hugo Wolf und Mahler der alte Geist unserer österreichischen Musik, ja geradezu das Barock selber auferstand, trat ihnen der Geldbürger, der Unmusiker, in der Marke des Hüters eben jener Musik entgegen, von der er sich und sein innerstes Wesen, seine Wesenlosigkeit, durch sie bedroht sah: seiner List gelang, die Musiker als Verräter, Schänder, Zerstörer eben des Heiligtums, dessen leibhaftige Zerstörung er selber war, und die Wiederkehr der österreichischen Musik für ein Revolte verrückter Einbrecher auszugeben, und mit einer so perfiden Beharrlichkeit, daß jedermann irre wurde, zuletzt sogar sie selbst. Das Verfahren hat sich also glänzend bewährt und man wird es immer wieder anwenden, wenn die Gefahr eines Musikers droht, eines echten, aus dem der Himmel klingt.

            Nein, die drei waren kein Anfang, sie waren die letzten Stimmen Österreichs. In Bruckner ist Österreich, das barocke, das rechtgläubige, das weltweite, das seit Josef zugeschüttet war, in Bruckner ist es wie durch ein Wunder auf einmal wieder da, sich fröhlich die hellen Augen auswischend von dem bösen Traum der letzten hundert Jahre, wieder ganz jung, wieder ganz fromm. In Hugo Wolf ahnt es dann leise schon den Tod, aber es will ihn nicht, es gibt ihn sich nicht zu, sondern setzt noch einmal den ganzen Trotz seines ungeheuren Lebenswillens ein. In Mahler entsagt es schon, es hat nur noch einen letzten schmerzlichen Liebesblick zur Erde hin, es hört schon den Himmel offen. Es ist der Todesweg Österreichs, den die drei gehen: Bruckner, dessen Musik noch ganz unbefangen katholisch ist, Hugo Wolf, bei dem sie vom katholischen nur noch den gebietenden Ernst der strengen Form hat und Mahler, in dessen Inbrunst sie wieder katholisch wird.

            Indem wir jetzt allmählich aus der liberalen Geistesdämmerung erwachen, enthüllt sich das Antlitz der drei letzten Musiker erst dem befreiten Blick. Als Bruckner lebte, konnten sich die Herren von der Kunst gar nicht genug wundern, wie denn ein frommer Katholik, worunter man damals noch etwas zurückgebliebenes, sozusagen Prähistorisches verstand, ein vergessenes Stück des „finsteren Mittelalters“, überhaupt zu seiner immerhin unleugbaren Musik kam; sie hätten eher fragen müssen, woher denn ein Ungläubiger eigentlich Musik nimmt, da doch alle Musik des Abendlands ein Geschöpf unseres Glaubens ist. Jetzt aber stellt Ernst Decken, dem wir schon die schönste Biographie Hugo Wolfs verdanken, in seinem kraftvoll gedrungenen Buch über Bruckner (bei Schuster und Löffler in Berlin verlegt) ihn selbst wie sein Werk durchaus als ein Kind unserer Kirche dar: wie beiden, der Mensch wie das Werk, ganz still aus unserem Glauben emporwachsen und gleichsam nur seine Gaben dankbar erwidern in der eigenen Tat.

Die Kirche lehrt ihn den rechten Gebrauch seiner angeborenen Kraft, dann hat ihn nur noch das Wagnererlebnis zu schütteln und es fallen in Fülle die reifen Früchte: dies macht im Grunde den ganzen Bruckner aus. Vielleicht kein zweiter Künstler unserer Zeit ging so sicheren Schritts geradewegs auf sich zu, nur immer seiner Sendung nach, aber auch bis an ihr Ende, durchaus. Kein zweiter Künstler dieser Zeit war sich so bewußt, daß sich ganz erfüllen, auch in der Kunst, sich ganz aufopfern heißt. Es ist das hohe Verdienst Deckens, daß er uns den priesterlichen Sinn dieser gottgeweihten, so rührenden als erhabenen Existenz erblicken läßt, und ohne die Komik, mit der sie vom Wiener Spott überklebt worden ist. Dem schien natürlich dieser fromme Symphoniker ein leibhaftiger, nur aus Versehen stehen gebliebener Anachronismus; heute sehen wir, daß nicht Bruckner ein schlechter Witz war, sondern jenes liberale Wien.

            Daß auch die Kunst Hugo Wolfs, dem dies keineswegs bewußt war, in unserem Glauben wurzelt, legt Hermann Hefele dar, in einem höchst merkwürdigen Abschnitt seiner zuweilen befremdenden, überall bedeutenden Schrift über „Das Gesetz der Form“ (bei Eugen Diederichs in Jena). Hefele ist selbst Katholik und ein sehr bewußter, wenn auch ein unromantischer, ein durchaus ultramontaner, ein antimystischer, ein eigentlich auch antibarocker, ein vor allem benediktinischer, ein römisch-hellenistisch willensstark auf Gesetz und Ordnung pochender Katholik (er hat ein überaus kluges Heft über den „Katholizismus in Deutschland“, bei Otto Reichl in Darmstadt, verfaßt, in dem unsere Politiker die Schilderung der guelfischen Stadtstaatsform beherzigen sollten!) So zieht er vielleicht unwillkürlich Hugo Wolf etwas gar zu sehr zu sich hinüber; er sieht ihn jedenfalls heller, härter, als er im Leben war. Vielleicht aber hört er gerade darum reiner, was seine Musik ist, als wer noch die Person gekannt hat, deren Überwindung gerade vielleicht der tiefste Sinn dieser Musik war. Das „schwere Gewicht seiner überlegenen Geistigkeit!“ rühmt er an Wolf, „der die Musik mit dem Geistig-Formalen zu verketten wagte, der nicht mehr Gefühle und Stimmungen wiedergeben wollte, sondern Typen des Geistes und Richtungen der natürlichen Anlage, die großen Tatsachen der geistigen und die gewordenen und geformten Komplexe ihrer Entwicklung“, dessen Werk „die Lösung der Musik aus den Banden der Subjektivität und ihre Überführung in das Reich des Objektiven, des Allgemeinen und Geltenden“ war, dessen Musik „die Schwester der griechischen und italienischen Kunst, des römischen Rechts und der klassischen Bildung“ ist. Es mag sein, daß, was dem Schaffenden oft begegnet, nämlich Intention schon für die Tat selbst zu nehmen, hier einmal einem Empfangenden widerfährt, aber auch ein nicht so willig nachhelfender, nicht so dankbar mitschaffender Hörer wird Wolfs leidenschaftlichen Willen zur großen Form, seinen reinen Sinn fürs Gesetz, ja die Macht der strengen Bindung als sein tiefstes Urerlebnis, wodurch er recht eigentlich erst produktiv geworden, anerkennen müssen. Katholische Kultur, ihm selber in wachen Stunden kaum mehr recht bewußt, klingt in seiner Kunst wider.

            Bei Mahler umgekehrt. Musiziert in Wolf sein katholisches Erbe noch nach, so musiziert Mahler auf unseren Glauben geradezu hin, der Jude Mahler, hat sich den Katholiken erst ermusizieren müssen. Er gehörte zu den Menschen, denen das Metaphysische so selbstverständlich und von Anfang an mit solcher Evidenz ganz unmittelbar gewiß ist, daß sie nur Mühe haben, doch allmählich immerhin auch ein Physisches anerkennen aber wenigstens zugeben zu lernen, das für sie stets etwas höchst Zweideutiges, Unwahrscheinliches und jedenfalls eher Irrtümliches behält. „Wenn ich nicht wüßte“, rief er einst stampfend aus, durch die Skepsis eines Spötters erregt, „wenn ich nicht wüßte, merken Sie sich: wüßte, wüßte! daß meine Seele unsterblich ist, würde ich mich augenblicklich aufhängen!“ Und nicht etwa das Bedürfnis, sich dieser angeborenen Evidenz Gottes erst noch vergewissern, sie sich erst noch beglaubigen zu müssen, hat ihn produktiv gemacht, sondern das Verlangen nach Gestalt, durch die das wogende Gewühl der inneren Verzückung nun auch noch zur festen Erscheinung, das im Flug Erraffte zum ruhigen Besitz, Ahnung zur Erkenntnis wird. Dieser Prozeß vom subjektiven Empfinden, Betasten, Ergreifen des Objektiven zur immer reineren Objektivierung des allmählich erst aus der aufbrechenden subjektiven Schale feierlich enthüllten objektiven Kerns ist das ewige, das einzige Thema seiner Musik: sie läßt uns hören, wie er katholisch wird. In Wien, wo die Musiker meistens unkatholisch sind und die Katholiken jetzt meistens unmusikalisch, ist das freilich die längste Zeit kaum bemerkt worden. Erst Hans Ferdinand Redlich in seiner erstaunlich reifen, nur zuweilen durch eine Vorliebe für Dämmer und Dunkel des Ausdrucks, der das Wahre durch einen Zusatz des Geheimnisvollen erst ganz zu bewähren meint, die neueste Generation verratenden Schrift über Mahler (Verlag Hans Karl, Nürnberg) hat das Ohr dafür. Er erkennt in ihm den „letzten Romantiker“; gläubig in eine Welt des Unglaubens ausgesetzt zu sein, deren Augenschein durchaus der eigenen inneren Gewißheit widerspricht, das ist ja das Erlebnis, wodurch der Romantiker entsteht: aus Heimweh nach seiner da draußen überall verleugneten Wahrheit. Daher auch der wilde Sohn in Mahlers Musik. „Er war“, sagt Redlich, „der erste, der Ironie in Musik umsetzte.“ Doch Mahler beruhigt sich im Ironischen nicht: „Mahlers Musik ist metaphysisch, sie setzt sich immer mit dem Kosmos auseinander, ist der Behälter, in den er seine transzendentalen Erkenntnisse, die erst musikalisch erkämpft werden mußten, goß.“ Das scheint mir der entscheidende Satz dieser Schrift, hier zum ersten Mal eine Formel gefunden, die den ganzen Mahler enthält. Kampf ist seine Musik, aber nicht Kampf um den Glauben, sondern Kampf um die reine, die volle Gestalt des Glaubens. Einen „der erst wiederum zum Kinde Gottes geworden ist“, nennt ihn Redlich. Dies hören wir aus seiner Musik, wie wir aus der Musik Hugo Wolfs einen hören, der nicht vergessen kann, daß er einst ein Kind Gottes gewesen ist.

In: Das Neue Reich, 16.05.1922, S. 541-542.

Hermann Bahr: Katholische Romantik.

Auf der religiös-wissenschaftlichen Tagung des Verbandes der Vereine katholischer Akademiker in Heidelberg erstattete Hermann Bahr ein Referat, das wir hier in seinen wesentlichsten Ausführungen wiedergeben.

Romantisch nennen wir ein Stück Natur, das auf uns wirkt, wie wir das sonst nur von Werten der Kunst gewohnt sind. Romantisch ist, was, um ideal zu wirken, um seiner Idee zu genügen, fast keiner Nachhilfe, weder durch Kunst, noch durch unsere Phantasie bedarf. Erfahrung bleibt ja fast immer hinter ihrer Idee zurück, sie decken sich fast nie.

            Das Gefühl dieser Insuffizienz ist es recht eigentlich, dass den Künstler hervorruft und produktiv macht. Je weniger nun ein Stück der Natur, um sich mit der Idee zu decken, erst einer Beihilfe des Künstlers braucht, je mehr ein Naturstück sich selber schon dem Kunstwerk nähert, desto „romantischer“ wirkt es.

            Das ist der Sinn, mit dem das Wort vor etwa zweihundert Jahren im Sprachgebrauch auftaucht. Und leise klingt in dieses Wort auch noch die Mahnung hinein, wenn wir eine höhere Wirklichkeit, als uns das bürgerliche Leben gibt, finden wollen, sie am besten beim Volke zu suchen. Damit haben wir nun das Wort Romantisch mit seinem vollen Gehalt und haben damit aber auch schon den gesamten Sinn der Romantik in allen seinen Schwingungen. Die Romantik holt sich aus dem Wort Romantisch ihr Programm. Mit ihr erscheint eine Jugend, die jenes Gefühl der Insuffizienz aller Erfahrung, wenn man sie an der Idee mißt, so stark erlebt, daß ihr die Gegenwart unerträglich wird: sehnsüchtig blickt sie von dieser schalen, leeren, unzureichenden Wirklichkeit, in die sie sich eingezwängt sieht, weg auf das höfische Zeitalter zurück, das ihr von einer selber schon zu Poesie so gesteigerten und erhöhten Wirklichkeit scheint, daß der Poesie daran nichts mehr zu tun übrig blieb, als sie einfach abzuspiegeln. Keineswegs Flucht aus der Wirklichkeit will die Romantik also, sondern Flucht aus der Unwirklichkeit des Daseins, von dem sie sich umgeben sieht, in Wirklichkeit, in eine volle, ja exaltierte Wirklichkeit, die der Poesie. Auf das Erleben von Poesie kommt’s dem Romantiker an, sein eigenes Dichten ist nur ein Griff nach der Poesie des Lebens, und wenn uns heute noch der bloße Namen der Romantik bezaubert, dankt sie das nur ihrer Erscheinung, aber keinem ihrer Werke. Nur eins ist von ihr lebendig geblieben, bis auf den heutigen Tag: ihr innerlich tiefes, reines gewaltiges Lebensgefühl.

            Schon im ersten Manifest der Romantik, in Friedrich Schlegels berühmten Aufsatz über den Wilhelm Meister, wird gefordert, „Inhalt und Form des Werks aus dem eigenen Leben zu nehmen“, auf erlebte Form wird gedrungen, jede nachempfundene, gar aber eine der Antike nachempfundene zurückgewiesen.

            Die Romantik selber wußte nicht, daß eine solche verwegene Lossage von der Antike schon einmal versucht worden war, schon an den Toren der deutschen Renaissance: von der Spätscholastik nämlich, die uns erst durch Duben und den Marburger Philosophen H. Heimsoeth verständlich geworden ist. Aber dieser Versuch der Spätscholastik, die christlichen Wahrheiten aus ihrer Gebundenheit an die strengen festen Denkformen der antiken Ueberlieferung zu schälen, hat ein ganz unerwartetes Ergebnis: kaum sind die Bindungen der antiken Denkformen gelockert, entweicht die Wahrheit und schon drängt Irrtum an Irrtum vor, Willkür bricht ein. Gesetz wird vergessen. Es sieht fast aus, als könnte der Mensch des Abendlands, um in der Wahrheit festzustehen, des Stabs der antiken Denkform nicht entbehren.

            Wie jene Denker der Spätscholastik, so glauben sich nun auch die Dichter der Romantik einer eigenen Form mächtig und bedürftig der Antike. Das Erlebnis der französischen Revolution, von der sich nach dem Strohfeuer der ersten Begeisterung Deutschland mit Entsetzen abwendet, bestärkt sie darin und durch die höchste Gestalt der Revolution, Napoleon diesen leibhaftigen Revenant der Antike, fühlt sie sich berechtigt ja fast sittlich verpflichtet dazu. Der Augenblick, einen eigensinnigen Ausdruck deutschen Wesens zu wagen, scheint da. Jeder Form, auch der reinsten, droht Erstarrung. So können wir den romantischen Trotz gegen die Antike verstehen. Er wurde der ganzen deutschen Ueberlieferung gefährlich, erst dadurch, daß der einen der romantischen Gruppen von vornherein ein Haß aller Form im Blut lag. Durch J. Nadler kennen wir die zwei Lager der Romantik und ihren Doppelsinn, daß sie nämlich den Altstämmen etwas ganz anderes bedeutet als den Neustämmen. Jenen, Rheinfranken und Alemannen vor allem, geht es ihr um Restauration ihres schon durch die „Aufklärung“ geschwächten, nun auch noch durch die französische Revolution bedrohten geistigen Erbes, während den Neustämmen, den Kolonisten des Ostens, überhaupt erst Gelegenheit gegeben ist, das Erbe des Mutterlandes anzutreten. Ein altes Volk sieht den Sinn seiner ganzen inneren Existenz gefährdet und, um sich wiederzufinden, um sich wiederherzustellen, beschwört es das Bild seiner Vergangenheit zur Hilfe herauf: das ist die Romantik der alten Stämme. Auswanderer, die eine neue Heimat gefunden haben, suchen wieder eine Verbindung mit der alten und dazu müssen sie sich rasch aneignen, was dort, seit sie fort sind, inzwischen geistig geschehen ist: das meint die Romantik des Ostens. Dieselben Worte haben darum im Mund eines jeden von beiden einen ganz anderen Sinn. Jene im Westen wollen, von verwegen neuem Geist bedroht, sich auf ihr altes Wesen besinnen. Diese im Osten müssen, um an diesem alten Wesen teilzunehmen, selber erst etwas ihnen ganz Neues werden. Ja sie müssen dazu noch erst einen geheimen Widerspruch im eigenen Blut überwinden: „unserer Nation ist mit der sarmatischen amalgamiert“, hat Zacharias Werner einmal gesagt: „Die Kolonisten sind nicht unvermischt geblieben und eben aus einer geheimen Furcht vor diesen fremden Wallungen im eigenen Blut wenden sie sich ins alte Vaterland.“ Die Altstämme haben sich nur wieder recht auf sich zu besinnen, die Neustämme müssen erst werden, was jene sind: jenen gehts um Restauration, diesen um Regeneration, sie müssen selber erst zu vollen Deutschen wiedergeboren werden. Daher können jene sichs leicht erlauben, gegen die Antike zu rebellieren: Sie sind ja fortwährend immer wieder antikisiert worden, durch den Romanismus der karolingischen Renaissance, den Romanismus der Hochscholastik, den Romanismus der deutschen Renaissance und ganz zuletzt noch eben jetzt wieder den Romanismus Weimars. Aber für die Neustämme hat jene Lossage von der Antike ganz einen anderen Sinn, hier gerät durch sie der Wille der ganzen Bewegung in Gefahr, der Wille, heimzukehren ins alte Vaterland, das Erbe der deutschen Vergangenheit anzutreten, einer doch von der Antike ganz durchwachsenen Vergangenheit, die zerrissen würde und auseinander fällt ohne die Antike!

            Ja noch mehr: Die Neustämme hätten sich, wäre dieser dumpfe Drang nach Lösung von der Antike durchgedrungen, damit ausgesperrt vom Abendland und in den gestaltlosen Osten verbannt. Denn das Abendland kann, um sich Form zu geben, die Hilfe der Antike nicht entbehren.

            Wir berühren hier ein Geheimnis der abendländischen Völker, das ihnen selber unbegreiflich ist und immer wieder zu Zeiten unerträglich wird. Alle großen Epochen dieser Völker beginnen mit einer Revolte gegen den Zwang zur Form der Antike, um immer wieder mit einer neuen Eingebung in diesen Zwang zu enden. Denken wir die Form der Antike!

            In „Begreifen“ ruht die Leistung der griechischen Wissenschaft, wie der griechischen Kunst. Im Bilde, im Begriffe hält der Grieche die fortstürzenden Erscheinungen an, er glaubt, sie zum Stehen zu bringen, das Werden zu sistieren, ein beruhigtes Sein gewonnen zu haben. Ja noch mehr: An diesem Sein, in das er das Werden bildend bannt, glaubt er ahnungsvoll zugleich auch schon ein Abbild jenes anderen, des großen, hinter allem entrinnenden Schein des Werdens verborgen ruhenden Sinns zu berühren, das vor allem Werden immer schon war und auch wenn einst alles entworden ist, immer noch sein wird: „aute he usia“! Grieche sein heißt, im Schein des Werdens schon ein Jenseits davon ahnen: ein Sein, und sich nun Zeichen dieser Ahnungen machen, das Zeug zu solchen Zeichen des Seins sich freilich wieder aus dem Schein des Werdens holend, die darum niemals das Sein erreichen können; sie deuten nur hinüber, aber sie bringen ihn nicht hinüber, er kommt nicht zur Wahrheit, er kommt nur bis zum Mythos. Wir aber, wir abendländischen Christen, sind wirklich das Gegenteil des Griechen, wir können uns keine Mythen mehr bilden, weil wir keine Mythen mehr brauchen können, denn uns trennt vom Griechen ein ungeheures Erlebnis: das Sein selber ist unter uns erschienen, die Wahrheit hat in Person unter uns gewohnt, das Wort ist Fleische geworden und ist im allerheiligsten Sakrament unter uns geblieben, so daß wir jetzt mitten im Werden schon unmittelbar teilnehmen können am Sein. Der Grieche rette sich ins Bild, wir retten uns ins Sakrament; er wandelt im Bilde, wir wandern in der Gegenwart Gottes!

            Aber dadurch ist das Bild doch keineswegs entwertet: sein Wert hat nur fortan einen anderen Akzent. Dem Griechen ist das Bild ein Zeichen seiner Ahnung eines verborgenen Seins, uns ist es ein Abzeichen unserer Gewißheit des uns offenbarten Seins. Auch wir, wenn auch der Beruhigung des Ewigen teilhaft, müssen ja dann doch immer wieder in die Zeit zurück, an unser irdisches Werk herab: Hier können wir uns über das Himmlische nicht unmittelbar, sondern nur durch eine Zeichensprache verständigen. So haben denn die jungen Völker des christlichen Zeitalters, sobald sie das Bedürfnis nach Zeichen ihres neuen Denkens, ihres neuen Fühlens, ihres neuen Daseins empfanden, einfach die griechischen übernommen und diese durch den neuen Gehalt unablässig von Jahrhundert zu Jahrhundert christianisiert. Was wir heute griechische Form nennen, sei es im Denken, sei es im Bilden, ist griechischer Abstammung zwar, aber es ist längst nicht mehr ein reines Griechisch, es ist ein getauftes Griechisch. Das Christentum hat seine Kraft am schönsten durch die schonende Geduld gezeigt, mit der es von den alten Völkern jede keimende Wahrheit zart in Obhut und Pflege nahm. Nicht zerstörend, sondern erfüllend kommt das Christentum zu den Völkern, und wo nur immer Erkenntnis glimmt, facht es den Funken an. Aber eben indem das Christentum die geistige Mitgift der Völker in seine Hut nimmt, schafft es sie wesentlich um, es verwächst mit ihr, und so völlig, daß man sie nun nicht mehr wieder von ihm ablösen kann, ohne damit auch es selber zu verletzen. Jeder Versuch, sei es der christlichen Wissenschaft, sei es der christlichen Kunst, von den antiken Bindungen loszukommen, hat bisher immer nur wieder Irrtum und Formlosigkeit ergeben: Die Romantik, die trotz reinsten Willens, rechter Einsichten, klarer Absichten, mit ihrem erstaunlichen Reichtum an Begabung nichts zu wirken vermag und ein Chaos zurückläßt, aus den bisher noch keine der abendländischen Nationen wieder zur Form zurückgefunden hat, ist das letzte warnende Beispiel.

            Unsere Zeit erinnert an die der Romantik so sehr, daß sie fast eine grobe, sinnlos übertriebene Karikatur von ihr scheint. Alles um uns und in uns wankt, Ungesetz, Willkür und Frevel walten frei und wieder sehen wir die Ratlosigkeit einer aufgescheuchten Menschheit, ausgenützt von Abenteurern und Betrügern, überall wird mit Magie hausiert, der Sinn fürs Heilige wird durch alberne Fälschungen gefoppt, und wieder ist es jener alte Hang kimmerischer Schwärmer zum Trüben, Ungestalten, in dem die Gier falscher Propheten und windiger Religionsgründer, Religionsschieber am liebsten fischt. So hätten auch wir jetzt wieder eine tiefe Selbstbesinnung not: eine Romantik, aber eine, die nicht, wie jene damals, in der bloßen Forderung des Romantischen stecken, nicht Fragment, nicht ein bloßes Spiel mit frommen Wünschen bleibt, sondern die Kraft hätte, das Romantische zu verwirklichen durch eine Lebensform, in der Erfahrung sich der Idee so nähert, daß sie sie fast erreicht, daß wir hier im strömenden Werden uns schon des ewigen Seins vergewissern, daß wir im täglichen Leben auf Schritt und Tritt Zeugnis geben von der währenden Gegenwart Gottes mitten unter uns, Zeugnis davon geben durch unsere Tat; den Aktivismus einer katholischen Romantik hätten wir not.

            Jene Lebensform war im Abendland bis ans Ende des Barock wirksam.

            Unsere Literatur hat von ihr einen klassischen Ausdruck aufbewahrt: in der Makarie der Wanderjahre. Diese geheimnisvolle Gestalt ist hier auf Erden schon des Jenseits ganz unmittelbar, ja sie glaubt, an ihm zuweilen teilzunehmen, sie wechselt zwischen hier und dort hin und her: „Bald gibt sie bei frisch aufleuchtendem Inneren sich der seligsten Ruhe hin“, bald wieder, wenn ihr der Blick hinüber entzogen und sie in unseren trüben Zustand zurückgesenkt wird, benützt sie, „bei gedämpftem inneren Licht“ die Pause zu wohltätiger Wirksamkeit unter den Menschen. Goethe hat hier nach dem Leben gezeichnet: es ist die Lebensform des heiligen Ignatius, der heiligen Therese, des heiligen Philippus Neri, die Lebensform des Eucharisten. Wer das allerheiligste Sakrament empfängt, berührt das ewige Sein. Das allerheiligste Sakrament bringt uns in die Wahrheit hinüber. Und kehren wir dann aus ihr in den Schein, aus der Ewigkeit in die Zeit, aus dem Sein wieder ins Werden zurück, wir bleiben doch in der Gegenwart Gottes und können sie bezeugen durch unsere Tat. Der Grieche konnte sich dem „Prototypon“ nur durch Abbilder seiner Ahnungen davon, durch Wunschbilder nähern: wir, des Urbildes selber unmittelbar gewiß, trachten es in unserem irdischen Tun, jeder durch sein Tagewerk, nachzubilden. Unser ganzes irdisches Dasein, ob wir wachen oder schlafen, denken und dichten aber handeln und herrschen, frohlocken oder wehklagen, ganz einzustellen in den Flammenhauch der Eucharistie, das wäre katholische Romantik der Erfüllung.

In: Reichspost, 21.9.1922, S. 1-3.

Leo Lania: Maschine und Dichtung

            Siebzig Jahre der europäischen Dichtung, erfüllt wie wenige Epochen vorher von Unruhe, rastlosem Streben nach Neuem, nach Sprengung der Form, Umsturz des Inhalts, Beute jäh auftauchender, scheinbar nur vom Zufall abhängiger Moden – diese letzten siebzig Jahre des Naturalismus, des Im- und Expressionismus, des Symbolismus, Futurismus, Konstruktivismus, der neuen Romantik und der neuen Sachlichkeit, sie stehen in Wahrheit von Anbeginn an nur unter dem einen Zwang: ein klares, richtiges Verhältnis zu finden zur Maschine. Die ist in das soziale und das individuelle Leben eingebrochen wie ein unerbittlicher Eroberer, hat sich den einzelnen, das Volk, die Kontinente unterjocht, gleichsam in das Bett unseres Lebensstromes Basaltblöcke gestürzt, an denen sich dieser immer wieder bricht, Und immer wieder den Anlauf nehmen muß, die Hindernisse zu überwinden: sei es, indem er sich in weitem Bogen umfließt oder unterspült, sein eigenes Bett verbreitert oder in wildem Jauchzen über sie triumphiert.

Als die Maschine geboren wurde, da gab es wohl niemanden, der bereit gewesen wäre, sie mit Jubelhymnen zu begrüßen. Untergang und Verderben schworen ihr die Weber ebenso wie die Fuhrleute, die Teppichknüpfer ebenso wie die Dichter. Die Maschine wurde zum Leben erweckt, aber der Tod schritt auf ihren Spuren: Hunger, Arbeitslosigkeit, verschärftes Elend und unbarmherzige Fröste, in den die ‚blaue Blume’ verdorrte und die Märchennachtigallen starben. Wenn schon die Maschine in ihren Flegeljahren solche furchtbares Medusenhaupt zeigte, welch schreckliche Geißel würde sie, erst groß und mächtig geworden, für die Menschheit sein! Und während sich also verzweifelte Arbeiter zusammenrotteten und mit Hämmern und Aexten auszogen, das Teufelswerk zu vernichten, saßen die armen Dichter in den Dachkammern und flüchteten in die Idylle des Handwerks und des Kleinbürgertums, und die weniger armen Dichter beschworen in eleganten Salons eine ferne Zukunft grauenhafter Sklaverei. […]

Es waren nicht viele, die fähige und gewillt waren, dieser durchdringenden Stimme zu lauschen.  Scharfe Augen mußte man haben, gute Ohren, einen klaren Kopf und ein weites Herz, vor allem aber die Entschlusskraft, sich einzuordnen in das gewaltige Heer der Armen und Kleinen, auf jede Sonderstellung zu verzichten und sich als Dienender zu fühlen, als ein bloßer Soldat der großen Arbeiterarmee.

Sehen was ist, aussagen, was ist, keine Herrin anerkennen neben der Wahrheit – das war das Ziel. Den Dingen ringsum ihre letzten Geheimnisse abzulauschen, die Maschine immer wieder abzutasten und zu durchleuchten, der Weg dorthin. Emile Z o l a  fuhr in die Gruben en und wanderte zu den Hochöfen hinaus, V e r h a e r e n  strich durch die Gassen der werdenden Großstadt und die Hallen der Fabriken und die beiden entdeckten auf diesen Streifzügen zum ersten Mal die Maschine für die Dichtung, indes Hauptmann, Ibsen und die anderen Bannerträger des europäischen Naturalismus ihre Entdeckungsreisen durch die S e e l e des Menschen noch nicht den Blick freigaben auf jene Stätten, wo der einzelne  seine Sonderstellung verliert und nur Leben und Bedeutung, Licht und Schatten empfängt als Diener am gemeinsamen Werke, als Arbeiter an der Maschine.

Daß die Maschine zuerst und am stärksten die französische Dichtung eroberte, daß die deutsche verhältnismäßig spät diesen Stoff aufgriff, ist natürlich kein Zufall. Die Arbeitsteilung im Zeichen des Fachmannes, in Deutschland zum leitenden Prinzip der Lebensorganisation des ganzen Volkes erhoben,  sperrte das große Gebiet der Technik und Industrie gleichsam hermetisch ab vor den profanen Blicken der Dichter, die sich selbst nur für die seelischen Gebilde zuständig erklärten. […]  Und so blieb es in Deutschland den Männern der Technik vorbehalten, den Ingenieuren wie Max E y t h und Arthur F ü r s t, der Maschine den Weg in die Dichtung zu bahnen […] Auf der anderen Seite waren es die Arbeiter selbst, die eine Industriedichtung schufen. Alfons Pe t z o l d, Max B a r t e l, Karl B r ö g e r, Heinrich L e r s c h, Paul Z e c h sind hier zu erwähnen.1 – aber es ist wieder kein Zufall, daß diese Dichter das Erlebnis der Maschine fast ausschließlich lyrisch zu bewältigen suchten,  also extrem persönlich, daß aus der Arbeiterdichtung das Epos der Maschine, das Drama der Industrie nicht erblühte. Um dieses zu gestalten, fehlte den Arbeiterdichtern die große Verbundenheit mit den allgemeineren Problemen der Zeit.

Diese innere Unverbundenheit der deutschen Dichtung mit der Maschine bereitete erst jene Bewegung vor, die, aus einem Extrem in das andere umschlagend, aus der billigen A e c h t u n g  der Maschine zu ihrer schrankenlosen A n b e t u n g führte. Der Siegeszug der Technik wurde nicht mehr in seinen inneren Voraussetzungen geprüft, die Maschine zum Selbstzweck erhoben […] Die Ekstase der expressionistischen Industriedichtung – mag sie nun auf der einen Seite in den Hymnen auf die Erlöserin Maschine, auf der anderen in der Tragödie Gas Georg K a i s e r s gipfeln – sie ist nur ein neuer Zweig am alten Baum der Romantik. Johann R. Bechers  Maschinenrhythmen nehmen eine Sonderstellung ein.

Der ‚Amerikanismus’ Deutschlands, heute schon so sehr Schlagwort, daß man sich meist der Mühe enthoben fühlt, damit einen klareren Begriff zu verbinden, ist kaum mehr als die Summe gewisser Aeußerlichkeiten, die ebenso wenig den Wesensinhalt Amerikas wie Deutschlands bestimmen. Amerikanismus, auf eine einfache Grundformel gebracht, ist gewiß nicht nur Anwachsen des Verkehrs, Verschärfung des Arbeitsrhythmus und Tempos, Sportbegeisterung, Rekordfieber und Jazz, sondern vor allem das sichtbare Wirken eines Kollektivbewußtseins, das aus den Quellen eines starken überschäumenden Lebensgefühls gespeist wird. So betrachtet, ist heute nur ein Land ‚amerikanisch’ – R u ß l a n d. Gewiß, ein Amerikanismus mit umgekehrten Vorzeichen, aber in seinem Verhältnis zur Technik, zur Maschine, zu den Dingen des täglichen Lebens, die nicht aus zweiter Hand durch die romantische Brille überkommener  Anschauungen nach dem Schema von einmal erprobten Erfahrungsgrundsätzen reguliert, sondern immer von neuem und immer neu erlebt werden – in seiner Weite und Traditionslosigkeit ist Sowjetrussland amerikanisch. In einem seiner geistreichen Essays schildert Ilja E h r e n b u r g den Taumel der Begeisterung für die Maschine, der Russland in den Monaten des Hungers und des Bürgerkriegs erschütterte: „Der Krieg war nötig, die Revolution, Hunger, Blockade und Typhusläuse, das Agonieröcheln von Transportzügen und auf den Rückseiten alter Rechnungen ausgefertigte Mandate, damit in dem finsteren heroischen Moskau die Poesie der Sache geboren wurde […] Majakowsky, der bedeutendste Vertreter des russischen Futurismus, der seine Begeisterung schüchtern hinter Ironie verbarg, verherrlichte die elektrodynamomagische Stadt, und bei Meyerhold, dem großen russischen Regisseur, vergaßen die Moskauer beim Anblick richtiggehender Lifts auf der Bühne die erschütternde Bedeutung der Heldenmonologe.“ Der russische Konstruktivismus war die Flucht in die Romantik einer Welt, die es nicht gab.

Mittlerweile hat die Realität des Lebens dieser Romantik das Lebenslicht ausgeblasen. Der Roman ‚Zement’ des jungen Gladkow ist jenseits alles Dichterischen vor allem bedeutsam als Dokument des russischen Alltags, des russischen Menschen von heute.2 Hier wird das Zementwerk einer Fabrik, zum Helden des Romans gemacht, die Maschine ist nicht mehr Hintergrund, sondern der eigentliche Träger der Handlung. Aber gleichzeitig wird dieses Werk mit allen seinen Bindungen und sozialen Voraussetzungen gestaltet; wie die Fabrik aus den Ruinen des Bürgerkriegs durch das kollektive Schaffen der Arbeiter zu neuem Leben erweckt, gegen alle Widerstände der Bureaukratie, gegen alle Sabotage der Zweifler und den offenen Kampf der Gegner ertrotzt wird. Hier sind die Schleier der Romantik gefallen, aber der Dichter bemüht sich auch nicht mehr mit der bloßen wahrheitsgetreuen Schilderung der Fassade, die S e e l e  d e r  M a s c h i n e  wird enträtselt und es zeigt sich, daß in dieser Seele der elektrische Strom der Technik mit den geheimnisvollen Strömen des sozialen Organismus zu einer Einheit zusammenfließt.

Man könnte Sinclair L e w i s’ Benzinstation ein Gegenstück zu Zement nennen, obwohl hier scheinbar nicht die geringsten Beziehungen bestehen. Aber wie Sinclair Lewis das Auto zum Helden seines Romans macht, es gleichsam als lebendes Wesen gestaltet, sachlich, überlegen, das illustriert besser als Hunderte von gelehrten Abhandlungen das innere Verhältnis, das jenseits des Ozeans das Volk in seiner Gesamtheit zur Technik und zur Maschine gewonnen hat. Zwischen dem zolaistischen Naturalismus Upton S i n- c l a i r s und der neuen Sachlichkeit Sinclair L e w i s’, zwischen König Kohle, dem Sumpf und der Benzinstation liegt die Epoche des Ford-Autos und der Siegeszug der amerikanischen Industrie.

Deutschland hat in seiner Epik der neuen Sachlichkeit eines Sinclair Lewis und eines Gladkow vorläufig nichts Aehnliches entgegenzusetzen. Womit gewiß kein Werturteil gefällt werden soll, sondern bloß eine soziale Erscheinung registriert sei. Ist doch dieses Verhältnis der Dichtung zur Maschine nichts anderes als ein Barometer, von dem die Z e i t g e m ä ß h e i t der Dichtung und ihr Einfluß auf die Formung der sozialen Probleme abzulesen sind. 

In: Arbeiter-Zeitung, 22.10.1927, S. 17f.


  1. Alfons Petzold (1882-1923): stammte selbst aus einer Arbeiterfamilie, seit 1910 literarisch tätig, gefördert u.a. durch Josef Luitpold Stern; verfasste v.a. Lyrik, aber auch zwei Romane: Erde (1913) und Das raue Leben (1920), litt und starb an Tuberkulose. Max Barthels ( 1893-1975), aus Arbeiterfamilie, früh in sozialistischen, ab 1919 in kommunistischen Organisationen tätig; Hg. der Internationalen Arbeiterhilfe; 1923 gemeinsam mit Willi Münzenberg in der Sowjetunion, mehrere Russland-Bücher in den 1920er Jahren, auch Romane, veröffentlicht, große Resonanz mit dem Bd. Arbeiterseele (1920); 1933 auf den Nationalsozialismus eingeschwenkt, sichtbar im Roman Das unsterbliche Volk und in Veröffentlichungen im Völkischen Beobachter; Propagandaarbeit für verschiedene NS-Einrichtungen, nach dem Krieg Flucht aus der SBZ (späterer DDR); Karl Bröger (1886-1944): ebf. bekannter Arbeiterdichter im Umfeld der SPD, Druchbruch mit Die singende Stadt (1914), pazifistische Lyrik während des Ersten Weltkriegs; in der Weltkriegserz. Die Flamme (1920) Akzent auf neue Technologien; stets auf Distanz zum NS, aber von ihm wiederholt vereinnahmt worden.
  2. Zur Wirkung dieses Romans auf die zeitgenöss. österreichische Diskussion vgl. auch: Maria Lazar: Tendenz und Propaganda. In: AZ, 6.11.1927, S. 21 oder Ernst Fischer: Wandlung des russischen Geistes. In: Der Kampf 1927, 499-507, bes. S. 503.

Rudolf Lothar: Der Dadaismus

Kubismus? Längst überwundener Standpunkt. Futurismus? Kunst von vorgestern, beinahe schon Philistergeschmack. Wir stehen schon viel weiter. Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag. Es sind die Ufer einer neuentdeckten Märcheninsel, und die Sonne, die sie bescheint, ist nicht etwa die gute, alte, brave, goldgelbe Sonne, sondern ist grün oder blau oder violett. Die Märchen aber, die auf der Insel erzählt werden, sind vorläufig noch allen Profanen unverständlich. Nur die Entdecker, die Eingeweihten, die Priester und Eroberer zugleich sind, deuten die Wunderrätsel.

Es ist zweifellos, daß der Dadaismus, der in Zürich seine Hochburg hat, vom Futurismus ausgegangen ist. Die ersten Gemälde, die man mit den Dadaistenausstellungen sah, bemühten sich, der Geometerie pittoreske Eindrücke nach futuristischem Rezept zu entlocken. Aber bald stürmten die Dadaisten über die bunte Fauna der aufs malerische angewendeten Geometerie hinaus und hißten das eigene Banner des Nochnichtdagewesenen. Vom Nochnichtdagewesenen kann man im Grunde genommen beim Dadaismus noch nicht sprechen. Denn die Wurzeln des Dadaismus – das muß man ihm einräumen – stecken in jedem Menschenleben.

Man kann es ohne Übertreibung sagen, daß jeder Mensch einmal ein Kind gewesen ist und als solches einmal „Dada“ gesagt hat. Nur blieb es der Zürcher Gemeinde vorbehalten, in diesem „Dada“ das Symbol heiligster Kunstäußerung zu erblicken. Der Dadaismus stellt sich uns also vor als die wahre Rückkehr zur äußersten Ursprünglichkeit, zur idealsten Primitivität. Lasset uns sein wie die Kinder! Im kindlichen Spiel erblicken die Dadaisten ehrfurchterschauernd die heiligsten Offenbarungen der Kunst. Und darum sind die Gemälde, Holzschnitte und Zeichnungen, die man in den dadaistischen Zeitschriften und auf den dadaistischen Ausstellungen sieht, nur den Malereien und Zeichnungen eines Kindes vergleichbar, das zum ersten Mal Tinte, Bleistift oder Farbe in die Hand bekommt. Ich habe lange darüber nachgedacht, welcher kindlichen Kunstäußerung die zehn Holzschnitte gleichen, mit denen H. Arp die „25 Gedichte von Tristan Tzara“ illustriert hat. Nun weiß ich es. Es ist die Technik der Klecksographien mit denen ein Justinus Kerner sich einst vergnügte. Man macht Tintenkleckse auf Fließpapier und legt dann das Blatt zusammen. Auf diese Weise kann man ein Raffael der Dadaisten werden. Die Dadaisten haben übrigens eine sehr entwickelte Kunsttheorie. Sie wollen die Überlieferungen der Negerkunst, der alten Ägypter und Byzantiner fortsetzen und vor allem die atavistische Empfindlichkeit ausrotten, die uns aus den hassenswerten Tagen der Renaissance im Blute stecken geblieben ist.

In erster Linie führen sie in ihrem Schrifttum einen erbitterten, ja geradezu berserkerhaften Kampf gegen Syntax und Interpunktion. Sie haben das prachtvolle Schlagwort vom „Antisyntarismus der freigelassenen Worte“. Und damit kommen wir dem Wesen ihrer Dichtungen nahe. Fort mit dem Unsinn der sinnvollen Sätze, fort mit der Schnürbrust des Satzbaues, fort mit den Eselsbrücken der Interpunktion! Worte, Worte, Worte in Freiheit! …  Ich könnte hier ins Unendliche fortschreiben, ohne meinen verehrten Lesern auch nur den leisesten Begriff dadaistischer Kunst beibringen zu können. Darum lasse ich die Dichter der dadaistischen Schule selber sprechen: Im September 1916 erschienen die „phantastischen Gebete“ von Richard Hülsenbeck. Das schmächtige Bändchen beginnt mit folgender Hymne:

Ebene

Schweinsblase Kesselpauke Zinnober cru cru cru

Theosophia pneumatica

Die große Geistkunst = poème bruitiste aufgeführt

zum ersten Mal durch Richard Huelsenbeck DaDa

oder oder birribum birribum saust der Ochs im Kreis herum oder

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Vorstehund damo birridamo holla di funga qualla di mango

damai da dai umbala damo

brrs pffi commencer Abrr Kpppi commence Anfang Anfang

sei hei fe da heim gefragt

Arbeit Arbeit

brä brä brä brä brä brä brä brä brä

sokobauno sokobauno sokobauno

Schikaneder Schikaneder

Schikaneder

Man darf aber ja nicht glauben, daß dieses Gedicht einen Höhepunkt der neuen Poetik bilde. Da kenne ich ganz andre Höhepunkte! Ich möchte am liebsten das ganze Büchlein zur Erbauung des Lesers abschreiben! Eine ganze Flut von neuen Bildern stürmt auf uns ein. Wortbildungen schießen vulkanisch aus den Hirnen der Dadaisten. Und man muß gestehen, in ihrem Bilderreichtum übertreffen sie alles, was Menschenkunst je geschaffen hat. Paraffinflüsse fallen aus den Hörnern des Mondes, der See Drizunde liest die Zeitung und verspeist dabei ein Beefsteak, über den Spiegel deines Leibes saust der Jahrhunderte Geschrei, zwischen den Intervallen deines Atems fahren die bewimpelten Schiffe, Luftschlangen und Flittergold sind in den Runzeln deiner Stirne, Larven von Wolkenhaut haben die Türme vor die blendenden Augen gebunden, Zylinderhüte riesige o aus Zinn und Messing machen ein himmlisches Konzert, usw. . . . Und wie überraschend in ihrer Plastik sind die Verse:

                vom Himmel fä-ällt das Bockskatapult, das

Bockskatapult

wir blasen das Mehl von der Zunge und schrei’n

und es wandert der Kopf auf dem Giebel

Aber in diesen „Gebeten“ ist immerhin noch eine Spur von Wortverbindungen. Es ist, als ob der Fluch des Satzbaues von der neuen Kunst wie eine Eierschale abgestreift werden müsste. Das ist restlos gelungen in dem unvergleichlichen Chorus Sanctus.

            a a o                      a e i                        i i i                          o i i
                u u o                      u u e                      u i e                       a a i       

ha dzk                   drrr bn                 obn br                  buß bum

ha haha                hihihi                    lilili                        leiomen

Dieser Chorus ist offenbar vierstimmig gedacht. Als Schlachtgesang der Dadaisten gilt aber, wie ich mir sagen ließ, der Cantus: Die Primitiven. Er lautet:

Indigo indigo

Trambahn Schlafsack

Wanz und Floh

Indigo indigai

Umbaliska
Bumm DADAI

Der richtige Dadaist dichtet in allen Kultursprachen. Mit Hülsenbeck um die Palme ringt ein junger französischer Poet Pierre Albert = Birot, der in Nr. 2 der Dadaistenzeitschrift einige Verse „Pour Dada“ veröffentlicht hat. Sie lauten:

AN         AN         AN          AN         AN         AN         AN         AN

AN         AN         AN

IIII          I              I

POUH-POUH POUH-POUH                          RRRA

si                            si                             si            

drrrrr                                                                   oum                      oum

AN         AN         AN          AN

Aaa                        aaaa                      aaa                        tzinn

UI                           I I I I

HA          HA          HA          HA          HA          HA          HA

rrrrrr      rrrrrrrrrrrrrrrrrrrr

Auf den Vortragsabenden der Dadaisten soll dieses Gedicht von Birot ganz besondere Wirkung geübt haben. Denn natürlich sind alle diese Verse, die ich eben zitierte, nicht nur für das Lesen im stillen Kämmerlein, vor dem Kamin und im blühenden Garten bestimmt, sondern, sie werden auch bei den Zusammenkünften der Dadaisten von Rhapsoden kunstvoll vorgetragen. Ich bin nur ein Laie im Dadaismus, und trotz aller Bemühungen ist es mir noch nicht gelungen, alle Feinheiten dieser Buchstabenlyrik und Begriffsphantastik zu enträtseln. Aber auch auf meine Philisterseele wirken die Verse Hülsenbecks, die unter dem Titel „Schalaben Schalabei Schalamezomai“ erschienen sind. Ist Tristan Tzara der Goethe der neuen Richtung, so ist Hülsenbeck das Haupt ihrer Romantik. Auch aus diesem Büchlein muß ich ein paar Verse anführen. Sie gehen mir nicht aus dem Kopfe, seitdem ich sie gehört habe. Und ich setzte sie hieher, auf die Gefahr hin, daß sie auch meine Leser nicht loslassen und sie bis in ihre Träume verfolgen werden:

der Phosphor leuchtet im Kopf der Besessenen

schalamezomai

und die Säue stürzen in den See der Lamana

heißt

schlage an deine Brust die aus Gumme ist laß

flattern

deine Zunge über die Horizonte hin
wedele mit deinen Ohren so die Eisgrotte zerbricht
ich sehe die Leiber der Toten über die Teppiche zerstreut

die Toten fallen von den Kirchtürmen und das

Volk

schreiet zur Stunde des Gerichts
ich sehe die Toten reiten auf den Baßtrompeten

am Tage des Monds

rot rot sind die Köpfe der Pferde die in der

Ebene schwimmen.

Mein lieber alter verstorbener Freund, der Dichter Heinrich Bulthaupt in Bremen, hatte einen Talisman gegen jeden Aerger. Es waren vier Verszeilen, die er dann vor sich hinsagte: „Con el ay, con el marabay, con el u, con el marabu.“ Ich habe das Rezept selbst oft angewendet und es hat seine Wirkung nicht verfehlt. Nun aber bin ich im Zweifel, ob nicht die Zauberformel Hülsenbecks noch bessere Dienste leistet:

Schalaben schalabai schalamezomai.

Man sage sich diese Formel, wenn man sich ärgert, ein paar tausendmal laut vor, und die aufgeregten Wogen des Gemütes werden sich glätten.

Die Dadaisten haben in Zürich ihre Zeitungen und Zeitschriften, sie veröffentlichen Bücher und halten Vorträge, sie veranstalten Bilderausstellungen. Es scheint, daß die Gemeinde sehr groß ist, denn manche dieser Bücher sind vollkommen vergriffen. So zum Beispiel das erste Heft der Monatsschrift „Dada oder La première aventure céleste de Mr. Antypirine“ von Tr. Tzara. Die Dadaisten dichten in mehreren Sprachen. Französisch, italienisch und deutsch. In Frankreich und Italien erscheinen auch Bruderorgane, Revuen, Wochen- und Monatsschriften. Sie alle kämpfen für die von Syntax und Kultur befleckte Reinheit der Buchstaben und Worte. Es wäre jammerschade, wenn man nicht auch in Wien von dieser Bewegung Kunde hätte. Die Zeiten sind düster und schwer, und ich weiß kein besseres Mittel, sich über das Chaos des Tages zu erheben, als eine Lektüre dadaistischer Kundgebungen.

In: Neues Wiener Tagblatt, 3.10.1918, S. 2-3.