Oskar Maurus Fontana: Antlitz des Krieges.

             Der Krieg war nach einer kurzen expressionistischen Predigt aus dem Gesichtskreis des deutschen Geistes verwiesen worden. Die einen wollten ihn nicht wahrhaben. Die anderen schämten sich seiner. Die dritten wollten schweigen, vergessen. Man richtete sich auf ‚Frieden‘ ein. Man wollte so tun, als wäre nichts geschehen. Aber je länger dieser Zustand dauerte, desto mehr zeigte sich, daß er erlogen, eine Fiktion war, daß unter seiner Schminke immer das, was zwischen 1914 und 1918 gelebt worden war, durchstieß, durchbrannte. Der Krieg war das Erlebnis aller Heutigen. Sich an ihm vorbeizudrücken, ging nicht mehr. Die Seele konnte und kann nicht genesen, ehe sie sich nicht diesem Erlebnis gestellt, es aus Dumpfheit zur Erkenntnis gebracht und sich damit befreit hat. Das ist der Sinn, daß mit einemmal in der Literatur der Krieg so ‚aktuell‘ geworden ist.

             In dieser Rückwendung zu Schützengräben und Hungerjahren geschieht es, was nicht mehr erwartet worden war: die vom Krieg verschüttete Generation, die Frontgeneration, arbeitet sich aus Schmutz und Lehm und Sand und zerschossenem Unterstand heraus und beginnt zu sprechen.

             Darin sehe ich die große Bedeutung des im Verlag der Frankfurter Societäts-Druckerei erschienenen Berichts Krieg von Ludwig Renn. Er ist einer von denen, die um 1890 geboren, als erste in den Krieg geworfen wurden. Die hatten noch die ganze alte Welt durch Erziehung und Erfahrung in sich aufgenommen – die letzten. Die wenigen, die von ihnen wiederkehrten, fanden nicht mehr zurück, sie waren heimatlos in einer durchaus veränderten Welt, fühlten sich als Deserteure des Todes. Ihrem Gedenken ist Ludwig Renns Buch geweiht, auch wenn davon nirgends die Rede ist. Die toten Kameraden geistern um den Überlebenden. Das gibt seinen Schilderungen das Unheimliche, die Schatten eines Zugs von Gespenstern.

             Dieses Buch in ästhetische Kategorien einordnen zu wollen, ist Hochmut literarischer Orthodoxie. Renn weiß und sagt es, daß ihm für die wichtigsten Dinge, also die seelischen, die Worte fehlen. Er kann nur sagen, was er gesehen hat, nicht mehr, nicht seine Einordnung in den Geist, nicht seine Erlösung durch das Gefühl. Nur das Greifbare, nur das Sichtbare ist bei ihm zu finden. Aber in welchem Maß. Mit welcher Prägnanz des Auges. Mit welcher Grauenhaftigkeit unvermittelter, unverbundener Eindrücke. Gewiß – Renn photographiert nur – seine Schilderungen sind wie ein Bündel nächster, allernächster Kriegsphotographien, aber sich erinnernd und erschaudernd fühlt man: So war es, so war der Angriff, so der Rückzug, so der Schützengraben, so die Verwundeten, so die Leichen, so die Latrinen, so die Führer, so die nicht auf den Frieden, nur noch auf den Todesschuß oder die Verwundung Wartenden, so die hilflose Nähe zu allem Geschehen, das geschah, ohne daß man es verstand, ohne daß man nur das Geringste dazu oder dagegen tun konnte.

             Es ist notwendig, den Krieg, der zuerst nur in der Perspektive des Heeresberichtes, dann des revoltierenden ohnmächtigen Gefühls sichtbar war, zu sehen, nichts als zu sehen: seine alltägliche Existenz wie sein Grauen, seinen Stumpfsinn wie seinen fatalistischen Galgenwitz, seine Zermürbung wie seinen Hunger. Man kann die Dinge erst dann bewältigen, wenn man sich über ihre Existenz klar ist. Diese gibt Ludwig Renns „Krieg“. Ein Kunstwerk ist dieses Buch nicht. Dazu aber wäre nötig, innerlich mit dem Krieg fertig geworden zu sein, ihn seelisch liquidiert zu haben.

             Renn ist nicht so weit, kann nicht so weit sein. Er steckt in seinem Erlebnis wie die Schnecke in ihrem Haus. Nicht er allein, die ganze Frontgeneration. Und daß diese in Renns Bericht enthalten ist, ebenso umfassend und genau wie der Krieg, das gibt ihm dokumentarischen Wert.

             Wenn er das Gefühl einer Leere hat, die sich durch kein Erlebnis aufzufüllen vermag, wenn ihm eine Erkenntnis zu fehlen scheint, die ihm alles erklären könnte, so spricht daraus nicht ein Einzelner, sondern eine ganze Generation. Das Grauenhafte inmitten der Grauenhaftigkeit des Krieges wird klar, daß die im Krieg waren, einen Krieg führten, der sie gar nichts anging, den sie in einer großen Kälte des Nichts-über-sich-selber-Wissens, des Nichts-mit-sich-selber-anfangen-Könnens an sich herankommen ließen wie die Erlösung aus Langeweile. Diese seelenlose Neugier, dieses Fühlen, daß alles hohl sei, einschließlich einem selbst, dieses Unvermögen, irgendwo einen Halt zu finden, alle diese negativen Eigenschaften der Frontgeneration werden von Renn nicht verleugnet, sondern bekannt. Deutlich aber werden auch die politischen Eigenschaften: der Wille, einem Ganzen zu dienen (aber niemand führte ihn), die feine, zarte Reaktion auf kleinste menschliche Regungen, der Geist der Kameradschaft, die mehr aus Verantwortungsbewußtsein als aus Rauflust kommende Tapferkeit, auch auf einem verlorenen Posten, nicht nur des Krieges, auch des Lebens auszuharren, seinen Mann zu stellen. Im Urlaub sieht Renn einmal die Jugendphotographie seines toten Vaters. „Es mußte damals etwas an ihm gewesen sein, was ich an ihm nicht mehr gekannt hatte. Vielleicht hatte er auch hochfahrende Gedanken gehabt wie ich, und hat es eines Tages gefunden, daß wir nicht weiterkommen können.“ Das fand diese Frontgeneration im Krieg und nach dem Krieg, das zerbrach sie, das Gefühl: „daß wir nicht weiterkommen können.“ Wie hätte sie es nicht haben sollen? Als der Krieg verloren, die heimatliche Grenzen in langen Märschen wieder erreicht war, wurden alle in Viehwagen verladen. „Wohin wir fuhren, wußten wir nicht, nur daß es nicht gleich nach Hause ging.“ So endet Renns Buch. Kein zufälliger Schluß, ein sehr sinnbildlicher. Denn in diesem Ungewissen stand die Frontgeneration, durch dieses Ungewisse hat sie sich durchzuschlagen, immer mehr vom Gefühl ergriffen, es gebe überhaupt kein Zuhause mehr. Diese ungeheure Verlassenheit, die in Renns Bericht aus jedem seiner Teile fühlbar wird, gibt über alle Schilderung des Gegenständlichen die Tragik einer Zeit, eines Geschlechts.

             Sie ist auch aus Erich Maria Remarques Buch „Im Westen nichts Neues“ (Propyläen-Verlag, Berlin) zu spüren, wenn auch nicht vielfältiger, so doch näher, qualvoller, erschütternder. Denn Erich Maria Remarque besitzt, was Ludwig Renn fehlt: das Wort, das mehr als Photographie gibt – das Wort mit allen seinen, dem Tatsachensinn unmerklichen Schwingungen und Flutungen der Seele, der Atmosphäre, des Unaussprechbaren – kurz, das dichterische Wort. Der Atem stockt einem, folgt man Remarque durch das Inferno des Krieges. Das Grauen ist wieder da, das Entsetzen, das unter dem Schutt der gelebten zehn Nachkriegsjahre noch immer glimmt und nie in uns verlöschen wird, solange uns Atem gegeben ist.

             Die Frontgeneration spricht. In Erich Maria Remarque jene deutschen Achtzehn- und Neunzehnjährigen, die als zweiter Schub, von den Schulen geholt, zum Teil als Kriegsfreiwillige gelockt, in das Feuer der Granaten und Schrapnells geworfen wurden – jene erfahrungslose Jugend, die von den unregelmäßigen Verben ohne Umweg in die Regelmäßigkeit tötender Einschläge geriet – jene unglückliche Jugend, die nicht einmal die Welt gekannt hatte, die nur zerstörte und zerstört wurde, zu nichts anderem als zur Vernichtung getrieben wurde – jene Jugend, die der Krieg für alles verdorben hat. Bei Remarque heißt es einmal: „Wir sind keine Jugend mehr. Wir wollen die Welt nicht mehr stürmen. Wir sind Flüchtende. Wir flüchten vor uns. Vor unserem Leben. Wir waren 18 Jahre und begannen die Welt und das Dasein zu lieben; wir mußten darauf schießen. Die erste Granate, die einschlug, traf unser Herz. Wir sind abgeschlossen vom Tätigen, vom Streben, vom Fortschritt. Wir glauben nicht mehr daran; wir glauben an den Krieg.“

             Wie diese Jugend im Trommelfeuer ausharrt, zurückgeworfen ins Tierhafte, Instinktive, das hier allein zu retten vermag, wie sie um ihre nackte Existenz kämpft, toll, blind, wie sie in der Kameradschaft noch etwas wie ein Licht schönen Lebens sieht und sich daran wärmt, wie sie die Kinder, die nach ihr an die Front in viel zu weiten Uniformen kommen, bedauert und sterben sieht, ohne helfen zu können ( „Auf einen alten Mann fallen fünf bis zehn Rekruten“) und wie sie selbst zugrunde geht, einer nach dem andern, und es noch als Glück empfinden muß, zu sterben, nicht als Verpfuschter weiterleben zu müssen – das ist Remarques Buch. Mehr als einmal kommen einem dabei die Tränen. Mehr als einmal kann man nicht weiterlesen, muß aufstehen, durch die Stube rennen, um nicht von seiner Verzweiflung, seinem Jammer erdrückt zu werden.

             Ein grausames Buch. Ein notwendiges Buch.

             In ihm ist „der Schmerz der Kreatur, die furchtbare Schwermut des Lebens und die Erbarmungslosigkeit der Menschen“. In ihm atmet hastig und keuchend wie ein Zerschossener die Vergangenheit einer Generation in den fortwährend von glühendem Eisen bestreuten Granattrichtern, aus denen es kein Entkommen mehr gibt, zu denen sich alles verwandelt hat: das gegenwärtige und das zu erwartende Leben, das Körperliche und das Seelische. „Man wird uns auch nicht verstehen, denn vor uns wächst ein Geschlecht, das zwar die Jahre hier gemeinsam mit uns verbrachte, das aber Bett und Beruf hatte und jetzt zurückgeht in seine alten Positionen, in denen es den Krieg vergessen wird, und hinter uns wächst ein Geschlecht, ähnlich uns früher, das wird uns fremd sein und uns beiseite schieben. Wir sind überflüssig für uns selbst, wir werden wachsen, einige werden sich anpassen, andere sich fügen und viele werden ratlos sein; – die Jahre werden zerrinnen und schließlich werden wir zugrunde gehen.“

             Aber auch Abrechnung mit den Erziehern, denen man geglaubt und die einen verrieten, ist in dem Buch. „Mit dem Begriff der Autorität, dessen Träger sie waren, verband sich in unseren Gedanken größere Einsicht und menschliches Wissen. Doch der erste Tote, den wir sahen, zertrümmerte diese Überzeugung.“ Auch der Schrei nach Hilfe des Geistes schreit aus Remarques Aufzeichnungen, der Schrei, wie alles dieses möglich, der Tod im Felde und der noch schrecklichere im Lazarett, wenn dem Menschen der Geist gegeben sei.

             Dann aber in aller Verzweiflung hebt sich der Mut der vom Krieg Verschütteten als ein ungeheurer Schatten über alle Zukunft. Ein unheimlicher Chor droht, der Chor der Frontgeneration: „Die Tage, die Wochen, die Jahre // hier vorn werden noch einmal zurückkommen und unsere toten Kameraden werden dann aufstehen und mit uns marschieren, unsere Köpfe werden klar sein, wir werden ein Ziel haben, und so werden wir marschieren, unsere toten Kameraden neben uns, die Jahre der Front hinter uns: – gegen wen, gegen wen?“

             Die Frontgeneration marschiert hin und her, kreuz und quer – in allen Ländern, durch alle Straßen des Lebens. Was wir in den zehn Jahren nach dem Krieg erlebt, ist nichts anderes als der ruhelose Marsch der Frontgeneration. Ihre Unruhe ist die Unruhe der Welt. Und ein Dichter wie Erich Maria Remarque erster Frühschein eines Friedens – auch der Seele.

In: Der Tag, 20.1.1929, S. 17-18.

Ernst Fischer: Ungeduld der Jugend (1931)

Aus einem demnächst im Verlag Hetz und Komp. erscheinenden Buch „Krise der Jugend“.

             Von Jahr zu Jahr wächst in der Jugend das Gefühl, daß alles Bestehende versagt hat, daß alle Parolen, die man ihr gibt, Betrug und Schwindel sind. Was bis zum Zusammenbruch einer Welt im Trommelfeuer des Krieges, im Giftgasangriff der Massenarbeitslosigkeit, der Massenhoffnungslosigkeit gegolten hat, gilt heute nicht mehr. Die Jugend hat genug von allen Erklärungen, Versprechungen, Redensarten, sie will, daß endlich etwas Entscheidendes geschieht. Das Jugend hat genug von der zögernden Klugheit, von der wartenden Vorsicht, sie ist der Meinung, daß man zu lange gezögert, zu lange gewartet hat, sie will sich nicht länger mit dem tödlichen Stillstand abfinden, den man den Gang der Ereignisse nennt. Und wenn sie sich abfindet, geschieht es um einen übermäßigen Preis: um den Preis aller Ideale, aller Opferfreudigkeit und Zukunftsbereitschaft. Eine Jugend, die revoltiert (gegen alles Bestehende meinetwegen, gegen alle gültigen Weltanschauungen), ist nicht verloren; aber verloren ist eine Jugend, die sich abfindet, verloren für jede Bewegung, die das Neue will. Zehntausende junge Menschen lassen heute die Schultern hängen, die Fahnen fallen, ziehen sich in den Winkel eines fragwürdigen Privatlebens zurück, finden sich ab mit der allgemeinen Erstarrung, die man den Lauf der Dinge nennt. „Alles Bestehende hat versagt, alle Ideen sind zur Phrase, zur unverbindlichen Redewendung geworden!“, das Gefühl zernagt wie Rost die Seelen, entfremdet die junge Generation immer mehr der alten.

             Ist es wahr, daß alle Ideen zur Phrase geworden sind? Hat nicht nur eine ganz bestimmte Ideologie, eine ganz bestimmte Lebenshaltung versagt? Und welche Ideologie, welche Lebenshaltung ist es, die heute durchaus anrüchig, durchaus unglaubwürdig geworden ist?

             Was die Jugend heute klar oder unklar fühlt, ist der Widerwille gegen die Vernünftigkeit, die Wissenschaftlichkeit, den Fortschrittsoptimismus des neunzehnten Jahrhunderts. Was wir heute erleben, ist eine ungeheure Revolte gegen den Nationalismus.

             Dieses neunzehnte Jahrhundert hat sich eingebildet, mit seinen Maschinen und seinen Apparaten, mit seinen wissenschaftlichen Methoden und seinen technischen Konstruktionen, mit seinen immer besseren Instrumenten und immer exakteren Erkenntnissen, mit seiner wachsenden Wirtschaftlichkeit und Vernunft alle Probleme ordentlich lösen und einen dauernden Wohlstand der Menschheit heraufbeschwören zu können. Die Idee des gediegenen und unaufhaltsamen Fortschritts war der Polarstern, an dem sich alle orientierten, die Unternehmer und die Arbeiter, die Kapitalisten und die Sozialisten, die Bürger und die Feinde der Bürgerwelt. Man hat diese ganze Welt als eine große Fabrik gesehen, deren Produktivität man durch Investitionen, Verbesserungen und Verbilligungen stetig erhöhen, stetig den Bedürfnissen anpassen kann, man war bestrebt, alles Irrationelle auszuschalten und mit Vernunft und Ruhe jede Stockung und Störung zu überwinden. Ja, die Vernunft war geradezu das Rauschmittel dieses Jahrhunderts: die Technik wurde wie eine Gottheit angebetet, der Wissenschaft traute man Unwahrscheinliches zu, von der Allmacht des Menschengeistes war man überzeugt. Daß Wissen Macht sei, wurde wie ein unumstößliches Dogma gepredigt, daß gegen jede Krankheit ein Kraut gewachsen sei, glaubte man unbedingt, daß die Gesellschaft sich einem dauernden Frieden, Reichtum und Humanitätsideal entgegenentwickelte, war man rückhaltlos überzeugt.

             Dann kam die Katastrophe, triumphierte die Unvernunft des Massenmordes über alle Grundsätze der Vernunft. Und als man einige Jahre später meinte, nach diesem Zwischenspiel fortsetzen zu können, was so schnöd unterbrochen worden war, als man die Vorkriegsideale herausholte, als habe das Blut und Gas der großen Zeit ihnen keinen Schaden zugefügt, siehe, da war alles anders geworden, und was einst überzeugend klang, tönt nun so hohl und gespensterhaft, wie aus Gräbern.

             Der Fortschrittsoptimismus der alten Generation wird von der neuen nicht mehr verstanden. Daß die Welt sich, kraft innerer Gesetzlichkeit, dem Guten und Schönen entgegenentwickle, glaubt die Jugend nicht mehr; daß man diesen Prozeß gewaltsam unterstützen müsse, davon ist sie durchdrungen. Und wenn man ihr erzählt, daß ja doch so manches besser geworden sei, daß es vor dem Krieg die jungen Leute viel schlechter gehabt hätten, oh, dann lächelt diese Jugend scharf und ironisch: Ja, was geht uns das eigentlich an, warum erzählt ihr uns Ammenmärchen aus der Vergangenheit? Wollt ihr uns etwa einreden, unser Leben sei gar nicht so schlimm, wie wir meinen? Wie uns das imponiert, wie uns das überzeugt! Wollt ihr uns etwa zumuten, Dankbarkeit sei unsere Pflicht? Wir haben keinen Grund, dankbar zu sein; wofür auch? Dafür, daß wir keine Arbeit finden, nirgend hingehören, in der Welt nicht aus und ein wissen? Nein, wir haben keinen Grund, dankbar zu sein; war ihr damals für uns getan habt, mag ja ganz ordentlich und anständig gewesen sein – aber heute? Was tut ihr heute für uns? Wie sieht diese Welt aus, mit der wir uns abfinden, mit der wir Geduld haben sollen? Begreift ihr denn überhaupt, daß wir nicht so leben können, daß wir verkommen und verkümmern müssen, wenn nicht endlich etwas für uns geschieht? Ihr habt leicht reden; ihr nährt euch von der Vergangenheit, materiell und ideologisch, für uns gibt es keinen Platz in der Welt, und daß es von selbst einmal besser wird, glauben wir nicht.

             Nein, das glaubt die Jugend nicht. Der Zweifel ist ihr Element. Der Zweifel ist gut und produktiv, wenn er zur Waffe wird, die das Bestehende zerstört. Er ist schlecht und verhängnisvoll, wenn er nicht zur Aktion, zum Aufruhr werden kann, wenn er nach innen bohrt und gräbt, ohne nach außen wirken zu dürfen. Dazu aber, zu solchem unproduktivem Zweifel, ist die Jugend verdammt.

             Immer problematischer wird die Technik, die von der alten Generation blindlings vergöttert wurde; daß man über den Ozean fliegt und Riesenluftschiffe baut, gefällt den jungen Menschen gewiß, sie sind entzückt von diesem Heroenmythos der Gegenwart, von diesem Aufschweben, Aufglänzen der Materie. Aber daß man mitten in den Wundern der Technik, in einer elektrisch illuminierten, mit Verkehrsmitteln, Radioapparaten, Telephonen, mit laufenden Bändern und riesigen Panzerkreuzern ausgestatteten Welt verhungert, das erlebt diese Jugend. Daß die Technik den Menschen überflüssig macht, daß sie ihn hinausdrängt ins Nichts der Arbeitslosigkeit und der Hoffnungslosigkeit, daß sie zwar imstande ist, das Überflüssige, nicht aber das Notwendige zu erzeugen, das ist der ungeheuerliche Eindruck, den die Jugend von dem Fortschritt der Rationalisierung gewinnt. Freilich: es ist der Kapitalismus, der die Technik mißbraucht, der die Vernunft in Wahnsinn verwandelt, aber das zu begreifen, ist manchmal nicht leicht und die unmittelbare Reaktion gegen den unerträglichen Zustand ist eine Reaktion gegen den rationalisierten Wirtschaftsapparat, ist ein Gefühl, das dem der Maschinenstürmer ungemein ähnlich ist. Die Maschine, von den einen zum Gott erhoben, wird im Empfinden der andern zum Dämon zum Schicksalsgötzen, der alles zermalmt, den zu preisen der bitterste Hohn gegen seine Opfer, gegen die aus Produktion und Lebensberechtigung ausgeschalteten Proletarier ist. Kommen wir wirklich weiter, wenn wir uns zu dem Fortschritt der Technik, zu dem Rationalisierungsprozeß bekennen? Sollten wir nicht vielmehr dagegen Stellung nehmen, diese Tollheit mit allen Mitteln bekämpfen? Das ist eine Frage, die man immer häufiger hört; aus den Tiefen des Zweifels steigt diese Frage empor, des Zweifels am Wert und Nutzen der Technik.

             Die Tiefe des Zweifels aber ist damit nicht ausgeschöpft; nicht nur an der Technik, an dem ganzen System des Rationalismus, der selbstbewußten und selbstgefälligen Vernünftigkeit, zweifelt die Jugend.

             Daß man mit der Vernunft etwas ausrichten könne, wird ernsthaft in Frage gestellt; ach, die Menschen, die verantwortlich sind für das Schicksal der Völker, diese Staatsmänner und Diplomaten, diese Minister und Parteiführer, diese Nationalökonomen und Sozialwissenschaftler sind alle bemerkenswert vernünftig, sie wissen viel, sie können alles erklären, mit hundert Argumenten beweisen sie, warum die Dinge so und nicht anders sind, und das Gefühl der Jugend schlagen sie mit der Überlegenheit der Statistik, der Wirtschaftskenntnis und der Geschichtsbetrachtung zu Boden. Schließlich muß der junge Mensch, der kleinlaut vor soviel Gelehrtheit kapituliert, zu der Überzeugung gelangen, es sei das Wesen der Vernunft, klipp und klar darzulegen, daß man um keinen Preis etwas tun dürfe. Ausgezeichnete Theorien, ausgezeichnete Reden, ausgezeichnete Lehrsätze – und das Ergebnis: Nichts. Weiterwursteln. Weiterberaten. Weiterverhandeln. Das ist das Schauspiel, das seit zehn Jahren vor der europäischen Jugend aufgeführt wird; wundert man sich, wenn diese ganze Gescheitheit den jungen Leuten eines Tages zu dumm wird? Wenn ihr Mißtrauen gegen staatsmännische Weisheit und wissenschaftliche Vernunft unüberwindlich wird? Wenn sie sich die Frage vorlegen: Wäre es nicht besser, gar nichts zu wissen, dafür aber kühn und entschlossen vorzugehen? Wundert man sich, wenn diese Frage äußerst gefährliche Formen annimmt? Wenn sie etwa lautet: Kann man überhaupt nach Vernunftgründen leben, handeln, Politik machen? Ist nicht vielmehr der Instinkt, die Gewalt, die Genialität eines Führers entscheidend? Ist der Geist, von dem man quatscht, nicht ein Unfug, kommt es nicht vielmehr auf Blut und Eisen, auf ein großes und wildes Hasardspiel an? Wundert man sich, wenn solche Fragen zu fascistischer Antwort, zu romantischen Aberglauben drängen? Nein, man darf sich nicht wundern, daß die Revolte gegen den Rationalismus losgebrochen ist, daß unzählige junge Menschen entschlossen sind, keinem Argument mehr zu glauben, sondern nur dem Beweis der Kraft, dem Erfolg?

             Hundertfach zeigt sich diese Revolte, diese Sehnsucht nach dem Romantischen, das völlig anders ist als alles Bestehende. Die Alchymie kommt wieder zu Ehren, die mittelalterliche Goldmacherkunst; das Geld ist zum leeren Phantom geworden, her mit dem Zaubergold! Mit rationellen Methoden kommt man nicht zu Geld, helfe daher, was helfen kann, das Wunderrezept, die schwarze Magie. Die Quacksalberei kommt wieder zu Ehren; die medizinische Wissenschaft, die allen zu helfen versprach, wie wenigen hat sie geholfen! Helfe, was helfen kann! Der weiße Käse, der elektrische Zauberstab, der suggestive Zuspruch eines wundertätigen Charlatans, oder irgendein Naturheilverfahren auf eigene Faust, oder die Geheimlehre irgendeiner Sekte! Die Wissenschaft hat enttäuscht, alles ist unsicher geworden, vielleicht geschieht ein Wunder. Es ist eine wachsende Ungeduld zu spüren, niemand will seine Angelegenheiten auf die lange Bank schieben, für das kurze Verfahren, für den radikalen Umschwung ist man privat und öffentlich. Man hat zuviel gewartet, zu lange gewartet in dieser Welt.

In: Arbeiter-Zeitung, 1.5.1931, S. 17.

Lajos Kassák: An die Künstler dieser aller Länder!

Die in ihren Gedanken unverstandenen, in ihren Handlungen allein handelnden Künstler einer Klasse, die sich zum Menschentum erlösen will, rufen wir mit brüderlichen Worten an. Höret uns! Aus unseren Stimmen empören sich blutfarbene Frage- und Rufzeichen und was sich davon zum Sinn verdichtet, ist unser unwandelbarer Glaube an die ewige Revolution. Für uns gibt es nur ein Gesetz: Ein fortwährendes Vorwärtsdrängen im großen Leben, alles andere wäre ein Verkriechen vor dem feigen Selbst oder ein entsagungsvolles Warten auf den Tod. Und wir fürchten uns nicht vor uns und wollen nicht auf unser Leben verzichten. Unser Leben ist die Revolution, unsere Revolution ist das heiligste Bekenntnis zur Liebe.

1920 sind wir bereits über das romantische Emporsehnen hinausgewachsen, mit allen blutenden Wurzeln sind wir zum Absoluten herausgerissen worden, wir haben ein Recht auf das gestenlose Wort.

Wir haben das Leben erkannt, in uns ist das Gesetz.

Wir haben keine Wurzeln in der Vergangenheit, keine Zügel, die in die Zukunft führen.

Unser einziger Weltruf ist das unserem Leben entströmende Blut: Mensch, wo bist du?

Das Wesen der neuen Kunst ist das Aufspüren der tragischen Gegenwart und ihr Aufleuchten in der kreißenden Zeit. Die Bestimmung des neuen Künstlers ist das Zu-sich-Erwecken der Menschheit, [die] einerseits der Dummheit der Unterdrückten, andererseits der Krämerspekulation der Herrschenden verfallen ist.

Also keine individuelle Verklärung und keine Massenkunst im Sinne der Volkstribunen. Darüber müssen wir uns im klaren sein. Denn nur durch diese Erkenntnis führt der Weg zur Wahrheit der Gegenwart, zur einzigen Wahrheit, zum Leben, zu mir, zu dir, zur Einheit.

Das ist unsere Forderung sowohl an die Schöpfer, wir auch an die Empfänger der Kunst. Und dadurch machen wir mit einem Handgriff den Gebenden und den Nehmenden gleich. Denn wie einst die Bedienenden und die Bedienten verschwinden werden, sollen auch die Verklärten und die Erniedrigten verschwinden. Die Parole heißt: Der Mensch. Und wir sind Menschen in unserer Kunst und wie wir in der der Vergangenheit nicht die Diener der Bourgeoisie waren, wollen wir auch in der Zukunft keiner Klasse dienen, – auch dann nicht, wenn diese Klasse „Proletariat“ heißt. Wir glauben, daß die Dienstbarkeit für irgendeine Klasse nur eine neue Variante der heutigen sklavenhaften Gesellschaftsform vorbereitet. Wir wollen keiner neuen Klasse an die Stelle // der alten Klasse emporhelfen. Wir verkünden im Gegensatz zu jeder Klassenherrschaft die siegreiche menschliche Gemeinschaft, im Gegensatz zu jeder Staatsmoral die kollektive Ethik. Und von da aus strahlt die Wärme und der Glanz unserer Bruderworte. Unsere Wege führen in das Reich der Brüderlichkeit und unsere Fahne ruft die Verkündigung der Tat aus. Nicht die des Hasses, sondern die der Erlösung.

Nur diese kann die gerechte Stimme des Heute sein.

Brüder! Wenn wir von historischem Boden euch Signale zurufen, dann suchen wir in euch zu Revolutionen mit Streitäxten bewaffneter Vernichter und Baumeister mit erhellten Köpfen. Wir werben aus den von Bitternissen überschäumenden Massen die Pioniere des befreienden Gedankens. Aus diesen Massen, die noch immer nichts als ihren Magen werten, und an welchen wieder alle gute Hoffnung zu zerschellen scheint. Die Energien des sich empörenden Proletariats sind für Leben und Tod an das Geleise gebunden und über der bremsenden Welt erschallen die Glocken der Todesstunde.

Klar sollen die Sehenden sehen!

Die Revolution kann nicht zur Lösung einer einzigen Frage, eines einzigen Motivs dienen. Die die Revolution ist nicht ein Mittel zur Eroberung des Lebens: die Revolution ist das Ziel selbst: Das Leben.

Verstehen wir uns: das gegenwärtige Beben bedeutet noch nicht den Beginn einer neuen Welt, vielmehr nur den Abschluß der alten. Es bedeutet nicht das gemeinsame und individuelle Leugnen der Herrschaft, sondern die Eroberung dieser durch Kraftgenossenschaften. Nicht die sinnvolle Überentwicklung der bürgerlich gefärbten Sozialdemokratie, sondern bloß deren Entwicklung zur vollkommenen Form: der terroristischen Sozialdemokratie.

Doch das alles ist immer noch Politik.

Kampf einzelner Parteien um die Macht durch das Bewegen der Massen.

Positionswechsel mit Positionseifersucht.

Doch schon klaffen uns die Perspektiven entgegen!

Die tragischen Individuen, wie verwunschene Engel der Mythologie tragen schon in ihrer Seele und heben wie eine Monstranz über uns die einzig sichere Bürgschaft der Revolution: das aktive Selbstbewußtsein.

Und jetzt ist unsere und eure Zeit gekommen, Brüder, die wir auf der Basis des historischen Materialismus die Seele des Menschen in Brand stecken wollen. Im Gegensatz zu jeder Klassenmoral heben wir jetzt die ewige Stabilität der Ethik ans Licht. Denn sie ist der Sinne aller Kräfte. Die Betonung der materiellen Umgestaltung genügt nicht zur Lösung der menschlichen Lebensmöglichkeiten. Die Massen haben genügend gedarbt, um zu einer Meuterei immer bereit zu sein, dadurch ihr Schicksal momentan zu verbessern; – jetzt heißt es aber, wie vorher noch niemals, die instinktive Meuterei zu einer bewußten Revolution zu vertiefen und zu stabilisieren. Mit der Befreiung der realen Kräfte müssen auch die abstrakten Begriffe umgewertet werden.

Zur gleichen Zeit, in der der belastende Morast abgestreift wird, muß auch das einzige Ziel beleuchtet werden. Denn nur das ewige Vorwärtsgehen kann uns im Kampfe mit dem Augenblick festigen. Denn nur die befreite Seele allein kann den befreiten Körper vor einer neuen Unterjochung schützen.

Brüder, aus deren traurig-fröhlicher Seele das nach dem gleichen Ziele strebende Leben der Wissenschaft, Technik und Politik emporströmt, ihr wißte es so gut wie wir, – es ist nicht anders möglich! Wir wissen, daß es wirtschaftliche Gründe sind, die den ersten Stoß (den Stoß zur Form) der revolutionären Bewegung geben, aber ihre unwandelbaren, dauernden Stützen sind doch die erwachten seelischen Kräfte, das reine einheitliche Bewußtsein. Und jetzt ruft dieses in unserer Seele neugeborene Bewußtsein euch an. Ihr neuen Künstler! Reicht euch im Chaos der Revolution die Hand, auf daß die Harmonie der Revolution als Blut desselben Blutes in uns zusammenklinge. Hinaus über die Klasseninteressen für die universalen Interessen der gesamten Menschheit. Über die Diktatur der Klasse, – für die Diktatur der Idee.

Und weg mit den auf den Fahnen geschriebenen Namen, mit dem Scheinhumanismus und mit dem individuellen Imperialismus!

Kein Stehenbleiben!

Brüder, verbrüdert euch zum Aufbau des neuen Menschen, des kollektiven Individuums!

Denn unter den Fahnen des Kommunismus, des reinsten Glaubens, kann kein anderes Interesse bestehen, als das mächtige Lebensinteresse der Menschheit, von der sowohl Du als ich gleiche Teile sind ein und desselben Stammes!

Die Verwirklichung dieses Interesses unter der Diktatur der Idee kann einzig und allein durch die Revolutionierung der Seelen geschehen.

Diese Revolution kann nur durch moralische und zweckmäßig kulturelle Erziehung des Proletariats als für die Zukunft einzig gesunden Rohmaterials gesichert werden.

Also Kultur! Und wieder Kultur!

Das Proletariat rüttelt unaufhaltsam an der Macht der unterjochten Väter; – unsere Pflicht ist es gegen die Herrschaft der erstgeborenen Brüder den Kampf aufzunehmen.

Nieder mit der mit Menschenblut kalkulierenden Politik! Nieder mit den Talmudisten der Revolution!

Die Logik der Advokaten, der Mechanismus der Administratoren, die langweiligen Reden der Redner reichen bei weitem nicht aus.

Es lebe die gegen jede Tradition kämpfende Revolution! Es lebe das verantwortliche kollektive Individuum! Es lebe die Diktatur der Idee!

Im Namen der ungarischen Aktivisten

Wien, am 15. April 1920.

In: MA, H. 1/1920, S. 2-4.

Kurt Münzer: Diktatur der Jugend

Die folgenden Ausführungen Kurt Münzers stehen sicherlich nicht in Widerspruch mit den Bestrebungen, die eine stärkere Heranziehung und Förderung des wirklichen jungen Talents beinhalten.

Altern – einmal fast die Sehnsucht der Verständigen, selbst der Stürmischen – altern, also ernten, überblicken, resümieren: heut ist es Gespenst geworden. Die Frauen, einst ihren weißen Haaren, grauseidenen Roben, Enkeln und Lehnstuhl am Fenster glücklich entgegenalternd, kürzen heut mit jedem Jahrzehnt ihren Rock, halten entschwindende Wangenröte übertrieben fest, tragen die Haare à la Bubi, ziehen an, was den Töchtern zu jugendlich ist, flirten mit Fünfzig in Hotelhallen, auf Schiffdecks und Aussichtsterrassen. Sie lernen Black-Bottom und machen aus dem Schwiegersohn einen flotten jungen Herrn.

Künstler, einmal ihrer Reife froh, gesättigte Alterswerke gelassen vollendend, ihre Dichtung logisch zur höchsten Stufe der Entwicklung führend, ihre Bilder klassisch die Anfänge ihrer Jugend verklären lassend: heut fürchten sie, überwunden zu sein, altmodisch, abgeschmackt, von gestern. Sie lernen um, wo sie einst Lehrer ihrer Errungenschaften wurden. In den Jahren der Meisterschaft werden sie wieder Lehrlinge, sie bemühen sich um den neuen Stil, um die Mode des Jahrhunderts oder Jahrzehnts oder des Jahres, sie verleugnen ihre Götter und tanzen, dennoch altersschwach, um die Götzen des Tages, sie brechen mit sich selbst, brechen sich selbst die Treue, werfen sich in das Gewühl der Jugend, den Kampf der Werdenden, die Ekstasen der Dilettanten.

Man schämt sich, alt zu werden. Man fürchtet, erkannt zu werden als Generation von damals, als Traditioneller, als stetig sich Vollendender. Man marschiert unter fremden, andersweltigen Fahnen: die Menge läuft ja mit. Zurückbleiben? Warten, bis die Einsichtigen um uns wiederkehren? Was glauben sie, zu versäumen? Die Zeit… Ach, die Zeit! Ist das Werk nicht wichtiger? Und haben wir es nicht erlebt? Sie kehren um und wieder! Einmal geht die Sonne über den herrlichsten künstlichsten Lichtern auf, einmal verfault die Erfindung doch in der Glut organisch gewachsenen Seins. Alles zerstiebt, alle zerstreuen sich. Das Große, das Gewordene bleibt und zieht an.

Und dennoch: Wir laufen ihr nach! Ach, wie verirrt müssen wir sein, daß wir von der Jugend uns führen lassen! Und da es Jugend ist, ist es nur Verführung, übermütige Irreführung der Gutgläubigen, der Ratlosen. Niemand leugnet ihre historische Notwendigkeit, ihren schöpferischen Stachel, ihre revoltierende Aufrüttelung. Wir brauchen der Jugend alles enthaltendes Chaos, ihre stürmische Kritik, ihre anarchistischen Widerstände. Aber was nur ein Element der Zeit sein darf, ein Teil des Schöpfungsstoffes, macht sich zurzeit selbst zum allein gültigen schöpferischen Prinzip; und die alten Dichter und Weisen stehen frierend im Winkel.

Herrlich, Freunde, ist die Jugend, ihre Grausamkeit bezaubernd, ihr Übermut göttlich, sie ist zu lieben auch in ihrer Ausschweifung, anzubeten auch in ihren Stürzen Aber – darf sie uns Führer, Tyrann, Gott selbst sein? Bezaubernd sind ihre Unternehmungen, mögen sie sich in Kunstsalons, Theatern, auf Wiesen, Wanderungen, Festen abspielen. Bezaubernd fast noch ist selbst ihre Art, das Alte zu entthronen, ihre Frechheit, mit dem Ewigen abzurechnen, ihre Unbedenklichkeit, sich zu inszenieren, sich zu proklamieren, ihren Imperialismus unbeschränkt zu bekennen. Und haben sie nicht recht? Der Diktator, der sich durchsetzt, die zu dem sie schwören, ist im Recht. Hat er es auch nicht: die Menge gibt es ihm.

Seht euch um: Welcher Theaterdirektor wagt es, ein Programm ohne Zwanzigjährige zu gestalten? Welcher Verleger fürchtet nicht, ausgeschaltet zu werden, wenn er nicht stammelnde Unreife eines Abiturienten in Pappe, Leinen und nummeriertem Leder bringt? In Symphoniekonzerten, die sich zu Bruckner entschließen können, winseln atonale Halluzinationen von Lehrlingen und an den Wänden der Ausstellungen hängen gegenüber von Munch, Degas und Liebermann Kinderzeichnungen. Jugend wird zum Meister erhoben, Stilübung zum Werk; täppisches Lallen ist die neue, die vollendete Sprache, ungehemmte Klänge die neue Musik.

Ihr habt die Jugend verwöhnt, wie ihr einen Meister verwöhnt habt. Nun ist sie abscheulich verzogen. Sie krittelt bis zur Dummheit, sie verwirft alles, was nicht von ihr kommt. Sie vergißt, daß sie auch im Wachsen ist, und macht – mit eurer begeisterten Zustimmung – die Flegeljahre zum Ziel der Entwicklung.

Durchgangstadien, die man früher scham- und rücksichtslos verschwieg, produzieren heut die Kunst des Tages. Alles ist verkehrt, auch das Schamgefühl. Einst redete man nicht von der Pubertät, man wartete das Ergebnis ihrer Krisen ab. Heut sind die Krisen in Büchern festgehalten, in Bildern gemalt, in Dramen ausgeführt. Die Qual, die Unappetitlichkeit, die Zwitterhaftigkeit und Peinlichkeit des Werdens ist künstlerisches Objekt, das Gereifte, Harmonische, Geklärte ist veraltet, lächerlich und fluchwürdig. Nicht mehr das Geborne, sondern die Geburt ist Sinn und Ziel, die Schwangerschaft wertvoller als die reife Frucht.

Ja, ich weiß wohl: Jugend ist das beste und einzige Mittel gegen die Verkalkung des Weltgeistes, der Herzarterien der Menschlichkeit. Aber sie ist nur ein Mittel. Jetzt läßt man es um seiner selbstwillen gelten und schlürft es wie himmlischen Trank.

Alte Weiber zeugen die besten Söhne. War Jugend jemals, kann Jugend in großem Sinne schöpferisch sein? Die Werke unserer Klassiker, die sie mit zwanzig schufen… Ach, ihr Lieben, das ist ja wohl das Merkmal des Genius, daß er schon in der Jugend die wunderbare Reife hat, daß schon die Jugendarbeit die Fügung der Altersweisheit und höchsten Kunsteinsicht hat, während die zwanzig Jahre dem vollendeten Ganzen nur den Flaum, den Duft geben.

Wo haben wir heute das Werk eines Jungen, das die Jünglinge von 1930 noch lesen werden? Ist nicht, was vor fünf Jahren den harmlosen Mitmenschen auf den Kopf stellte, heut schon vergessen, begraben? Über dem Brio eines Werkchens übersehen wir die Leere des Gehaltes. Im Tempo vergessen wir, daß das Thema ein Nichts ist. Das, was an einem Jugendwerk positive Leistung ist, ist immer über Jugend hinaus Gereiftes, ist Altersanwandlung, Vorglanz späterer Meisterschaft.

Sieht die Jugend die Welt nicht falsch an? Ausschließlich vom Standpunkt ihrer saftigen Beine, mit dem Kraftgefühl ihrer trainierten Arme, mit dem Lustgefühl ihrer erlaubten Sinneskräfte? Der Boxer ist Heros und der Ingenieur Weltüberwinder. Der Kanalschwimmer wird von Königen und Präsidenten begrüßt. Der Chauffeur bekommt Banketts und der Läufer Denkmäler. Und der Geist?… Motoren und Maschinen zermalmen ihn schnell. Die Tänzerin schreibt ihre Memoiren und der Filmstar bekommt seine Literatur, denn er kann nicht selber schreiben und zufällig hat er nicht, wie die Tänzerin, einen Dichter, der ihn liebt und ihm das Manuskript liefert. Alles dreht sich. Zurzeit stehen wir auf dem Kopf.

Sie hassen die Jugend. Glauben Sie mir: die meisten hassen sie. Sie sehen ein: auf die Dauer können sie doch nicht mit ihr mithalten. Man verleugnet sich; aber so was kann nicht Dauerzustand werden. Es kommt das Capua der Mitläufer. Oder: wird die Jugend noch früher innehalten, sich bewußt werden, einsichtig werden sich auf ihre Sonderrechte beschränken und höflich Platz machen vor grauen Haaren und wankendem Gebein? Wird sie?

Warum – o, warum, warum schämt man sich, alt zu sein? Innerlich ihr abgewandt – ach, wie unehrlich ist der öffentliche Mensch! – bekennt man sich zur Jugend um selbst noch zu ihr zu gehören. Man will sich nicht „alt“ schelten lassen. O, daß es ein Schimpf geworden ist, fünfzig zu sein! Ich – ich gebe für ein Buch Wassermanns die ganze Bibliothek unserer Zwanzigjährigen her und für ein Finale Bruckners, ein Scherzo Mahlers die ganze erdachte Musik unserer Komponistensäuglinge.

Nichts ist beglückender – und gerade für das Alter – als Jugend zu erleben, ihren Überschwang, ihren Übermut, ihre anfeuernde Torheit und Begeisterung, aber nicht ihre unverständige Tyrannis. Unser Schoßkind macht sich zu unserem Diktator. Und wir werden erliegen, wenn wir es nicht bald wieder in unseren Schoß niederzwingen. Holen wir die versteckte Rute hervor. Schämen wir uns nicht. Weisheit, geläuterter Wille, erprobtes Können, der größere Horizont, weitere Einsicht und also gereinigte Schöpferkraft ist nur bei den Älteren. Denn die haben das ewige Leben, die Jugend aber nur das unaufhörliche Erlebnis.

In: Neue Freie Presse, 15.5.1927, S. 31.

Frida Rubiner: Die Kunst dem Volke – durch die Revolution

             In den »Erinnerungen an Lenin«, die uns Clara Zetkin übermittelt hat, spricht Lenin auch über die Kunst in Sowjetrußland. Dabei spricht er folgende Sätze aus: „Das Erwachen, die Betätigung von Kräften, die Sowjetrußland eine neue Kunst und Kultur schaffen wollen, ist gut. Das stürmische Tempo dieser Entwicklung ist begreiflich und nützlich. Die chaotische Gärung, das fieberhafte Suchen nach neuen Lösungen und Losungen, „Hosiannah“ für bestimmte Kunst- und Geistesrichtungen heute, das „kreuzigt sie“ morgen, all das ist unvermeidlich. Die Revolution entfesselt alle zurückgehaltenen Kräfte und treibt sie aus der Tiefe an die Oberfläche. Wichtig ist nicht, was die Kunst einigen Hundert, ja einigen Tausend von einer Bevölkerung gibt, die nach so vielen Millionen, wie die unsrige zählt. Die Kunst gehört dem Volke. Sie muß ihre tiefsten Wurzeln in den breiten schaffenden Massen haben. Sie muß von diesen verstanden und geliebt werden. Sie muß Künstler in ihnen erwecken und entwickeln.“

Diese Worte Lenins zeichnen ein Programm vor, das die Oktoberrevolution getreulich durchgeführt hat.

Eine alte russische Sage, eine Byline, erzählt von Ilja Murometz, der dreiunddreißig Jahre auf einem Flecke mit starren Gliedern dasaß, bis eines Tages ein Wanderer ihm einen Trank reichte; von da an erhob sich Ilja, empfand Riesenstärke und vollzog Heldentaten. Wie der märchenhafte Ilja Murometz, so wurde das russische Volk, das jahrhundertelang unter dem Zarismus, starr und gelähmt verblieben war, durch die Oktoberrevolution geweckt und mit ungeahnten Riesenkräften erfüllt. Im politischen Leben nicht allein, in den „Kultur- und Lebensäußerungen“ zeigte der Riese Proletariat, Führer der Massen, seine schöpferische Kraft.

Es gab eine Zeit, wo viele (in ein Verkennen des wahren marxistischen Sinnes der Lehre von der Kultur als dem ideologischen Überbau) glaubten, daß am Tage nach dem Sieg des Proletariats eine neue „proletarische Kultur“ und „proletarische Kunst“ wie Venus aus dem Kopfe des Zeus fix und fertig entspringen würde. Lenin aber hatte stets darauf hingewiesen, daß das proletarische Rußland noch in der allgemeinen Kultur weit hinter der Europas zurückstände. In einem seiner letzten Artikel vor der Erkrankung sagt er wörtlich: „Während wir über Proletkult geschwätzt haben, ist das Analphabetentum nicht zurückgegangen.“ Das künstlerische Schaffen der breiten Massen mußte zuerst die materiellen Voraussetzungen für es schaffen. In dem zitierten Gespräch mit Genossin Clara Zetkin sagt Lenin:

„Damit die Kunst zum Volk und das Volk zur Kunst kommen kann, müssen wir erst das allgemeine Bildungs- und Kulturniveau heben. Wie sieht es damit in unserem Lande aus? Sie (Clara Z.) schwärmen von dem ungeheuren Kulturwerk, das wir seit der Machtergreifung verrichtet haben. Nun ja, ohne ruhmredig zu sein, können wir sagen, daß von uns viel in dieser Hinsicht geschehen ist, sehr viel … Riesengroß steht vor uns das erwachte und von uns angestachelte Bedürfnis der Arbeiter und Bauern nach Bildung und Kultur … Und wir sind ein armes Volk, ein bettelarmes Volk! … Während in Moskau vielleicht heute zehntausende und morgen wieder zehntausende sich an einer glänzenden Aufführung im Theater berauschen, schreit das Bedürfnis von Millionen nach der Kunst, buchstabieren, den Namen schreiben und rechnen zu lernen, schreit nach der Kultur, zu erfahren, daß die Erde eine Kugel und nicht eine Scheibe ist, daß Naturgesetze und nicht zusammen mit dem „himmlischen Väterchen“ Hexen und Zauberer das Weltall regieren.“

(Arbeiterliteratur I-II S. 69 ff.)

In den neun Jahren der Sowjetmacht hat die leninistische Partei am Staatsruder ein großes Stück auf diesem Wege zurückgelegt: Die Kunst zum Volke und das Volk zur Kunst zu bringen. Wenn heute, neben der riesigen Arbeit zur Liquidierung der Unkultur bereits neue Formen der Kunst in den Massen der Werktätigen sich regen, so sind diese nicht in den Köpfen einzelner Genies zu suchen, sondern in den Massen selbst. In den Theateraufführungen der „Dramatischen Zirkel“ in den Arbeiterklubs, in den Kunstateliers der Betriebe, in den Dichtungen von Arbeiter- und Bauernkorrespondeten finden wir bereits neue Ausdrucksformen, die die Keime einer neuen proletarischen Kunst sind. Noch sind diese Formen im Keimzustand, aber sie sind da.

Wenn wir von „Kunst“ reden, meinen wir im allgemeinen nicht die Wurzeln, sondern die Spitzen des Baumes. Was hat die Sowjetunion mit der „alten“ bürgerlichen Kunst getan? Lenin war es, der unaufhörlich die Notwendigkeit der kapitalistischen Erfahrungen für den Aufbau des Sozialismus betonte: „Wir stellen uns nicht anders den Sozialismus vor, als auf Grund aller Lehren der großen kapitalistischen Kultur.“ (Werke Band 15, Seite 244.) Was für den Aufbau der Wirtschaft gilt, trifft auch für den Bau der neuen proletarischen Kunst zu. Die Sowjetmacht hat das Theater, die Malerei, die Dichtung, das ganze Kunstgewerbe, das sie von der alten, von ihr zerschlagenen bürgerlichen Gesellschaft übernommen hat, nicht einfach vernichtet und zum alten Eisen geworfen, sondern hat sie übernommen, sich weiter entwickeln lassen, hat es in den Dienst des Proletariats gestellt und in neue Wege geleitet. So sehen wir, daß das russische Theater unter der Sowjetmacht, an der Spitze der gesamten Europäischen Bühnenkunst marschiert. Wenn das Theater Meyerhold kein proletarisches Theater ist, so steht es in seiner Kunst dem Proletariat doch nahe. Dabei: das Künstlerische Theater „Tairoff“, ja die alte hebräische Bühne „Habima“ – alle diese Kunstbestrebungen würden auch die Zierde jedes bürgerlichen Staates bilden. Sie finden die größtmöglichste Förderung seitens der Arbeiter- und Bauernregierung- sie entfalten sich frei im proletarischen Staate, und wenn sie ihrem Inhalt nach jetzt nicht direkt dem Proletariat dienen, so werden sie als fortschrittlicher Faktor in die Gesamtkultur des Proletariats an der Macht eingehen.

Aus Sowjetrußland kommen bereits die ersten literarischen Werke, die aus dem Schoß der Revolution geboren sind. Es sei hier z.B. auf den Roman von Gladkow „Zement“ hingewiesen, ein Werk der Revolution. Sowjetrußland hat gerade in der Literatur neue Formen aufzuweisen, die nur im proletarischen Staate möglich sind. Außer der proletarischen Presse der Arbeiterkorrespondeten, die in der Sowjetunion einen ausschlaggebenden Faktor des öffentlichen Lebens darstellen, sei noch auf die neue Form der Journalistik hingewiesen, wie sie im Sosnowsky, Kolzow, Soritsch usw. vertreten ist. Das sind die „Feuilletonisten“, die nicht nur „dichten, sondern die zugleich in das soziale Getriebe eingreifen und aktiv mitwirken.

Die russische Revolution hat gezeigt, daß die alte Parole aller „Kultursozialisten“: „Die Kunst dem Volke!“ – verwirklicht werden kann, und zwar nur verwirklicht werden kann – durch die Revolution.

In: Rote Fahne, 10.11.1926, S. 6.

Ludwig Meidner: An alle Künstler. Dichter. Musiker

Damit wir uns nicht mehr vor dem Firmament zu schämen haben, müssen wir uns endlich aufmachen und mithelfen, daß eine gerechte Ordnung in Staat und Gesellschaft eingesetzt werde.

             Wir Künstler und Dichter müssen da in erster Reihe mittun.

             Es darf keine Ausbeuter und Ausgebeuteten mehr geben!

             Es darf nicht länger sein, daß eine gewaltige Mehrheit in den kümmerlichsten, unwürdigsten und entehrendsten Verhältnissen leben muß, während eine Minderheit am übervollen Tisch vertiert. Wir müssen uns zum Sozialismus entscheiden: zu einer allgemeinen und unaufhaltsamen Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die jedem Menschen Arbeit, Muße, Brot, ein Heim und die Ahnung eines höheren Zieles gibt. Der Sozialismus muß unser neues Glaubensbekenntnis sein!

             Er soll beide erretten: den Armen aus seiner Schmach der Knechtschaft, der Dumpfheit, Rohheit und Gehässigkeit – und den Reichen will er vom erbarmungslosesten Egoismus, von seiner Habgier und Härte erlösen für immerdar.

             Uns Maler und Dichter verbinde mit den Armen eine heilige Solidarität! Haben nicht auch viele unter uns das Elend kennen gelernt und das Beschämende des Hungerns und materieller Abhängigkeit?! Stehen wir viel besser und gesicherter in der Gesellschaft als der Proletar?! Sind wir nicht wie Bettler abhängig von den Launen der Kunst sammelnden Bourgeoisie!

             Sind wir noch jung und unbekannt, so wirft sie uns einen Almosen hin oder läßt uns lautlos verrecken.

             Wenn wir einen Namen haben, dann sucht sie uns durch Geld und eitle Wünsche vom reinen Ziele abzulenken. Und wenn wir längst im Grabe, dann deckt ihr Protzertum unsere lauteren Werke mit Bergen von Goldstücken zu. – Maler, Dichter, Musiker, schämt euch eurer Abhängigkeit und Feigheit und verbrüdert euch dem ausgestoßenen, rechtlosen, gering bezahlten Knecht!

             Wir sind keine Arbeiter, nein. Rausch, Wonne – Verglühen ist unser Tagewerk. Wir sind leicht und wissend und müssen wir Führer-Fahnen vor unsern schweren Brüdern wehen.

             Maler, Dichter….. wer sonst sollte für die gerechte Sache kämpfen als wir?! In uns pocht noch mächtig das Weltgewissen. Die Stimme Gottes in uns facht immer von Neuem unsere Empörerfäuste an.

             Seien wir auf der Hut!

             Wird nicht schon morgen wieder die Bourgeoisie die Staatsgewalt in ihre Hände reißen durch Putsche, Bestechung und skrupellose Wahlpraktiken? Wird dieses neue Deutschland der herrschenden Bourgeoisie nicht noch unverschämter menschliche Arbeitskraft ausnützen, den Armen noch brutaler ducken? Wird es nicht in allen geistigen Dingen noch arroganter und frecher triumphieren wollen, als es je das kaiserliche Deutschland getan?!

             Denn dieses, mit seiner aufgetakelten Macht von Kanonen, Kasernen und Eisenschiffen, ABC-Schulen, Polizisten und falschen Pfaffen, war zu plump und träg und unwissend, um ernsthaft in den Bezirken des Geistigen großen Schaden anrichten zu können. Wo aber der despotische Bourgeois aufkommt – wo der in den edlen Räumen des Geistes mit seiner wüsten Tatze hintritt – da wächst kein Gras mehr nach.

             Maler, Dichter! Scharen wir uns mit unseren eingeschüchterten wehrlosen Brüdern um den Geist!

             Der Arbeiter achtet den Geist. Er bemüht sich mit kräftigem Eifer um Erkenntnis und Wissenschaft.

             Der Bourgeois ist ehrfurchtslos. Er liebt nur Spielerei und ästhetisch verbrämte Stupidität und haßt und fürchtet den Geist – denn er fühlt, daß er von ihm entlarvt werden könnte.

             Der Bourgeois kennt nur eine Freiheit, seine eigene – d.h. die Anderen ausbeuten zu können. Das ist der bleiche Terror, der geht schweigend und Millionen sinken hin und verwelken früh.

             Der Bourgeois kennt keine Liebe – nur Ausnutzung und Übervorteilung.

             Auf, auf zum Kampfe gegen das häßliche Raubtier, den beutelüsternen, tausendköpfigen Kaiser von morgen, den Gottesleugner und Anti-Christ!

             Maler, Baukünstler, Skulptoren, denen der Bourgeois hohe Löhne für eure Werke zahlt – aus Eitelkeit, Snobtum und Langeweile – höret: an diesem Gelde klebet Schweiß und Blut und Nervensaft von tausend armen, abgejagten Menschen – höret: das ist ein unreinlicher Gewinn.

  • Ach, wir wollen ja nur leben können und unsere Werke tun zum Preise Gottes!

Maler, Dichter und alle Künstler, alle aufrichtigen Freunde der Künstler, Kameraden

alle; wir müssen uns stark machen: es geht um den Sozialismus. Wir wollen keinen blutbefleckten Lohn mehr. Wollen frei sein, zu unserer und der Menschheit Lust uns hinströmen.

             Kameraden, höret weiter: wir müssen Ernst machen mit unserer Gesinnung. Wir müssen uns der Arbeiterpartei anschließen, der entschieden unzweideutigen Partei. Wir müssen wahrhaft sozialistische Kämpfer werden, den Brüdern helfen, den Bürger stellen und brandmarken, wo wir ihn treffen. Wir müssen uns unter die Armen mischen, belehrend wirken, unterrichten, aufklären, anfeuern, eifern, hetzen, schüren und wenn die Stunde kommt – mit angetreten in Reih und Glied gestellt – mit der Flinte gegen den Feind – O, einen blutheißen Leiberwall der Herzen und Geister gegen den Feind!

             Ich bin organisierter Sozialdemokrat gewesen seit fünfzehn Jahren, aber ich habe die Jahre nutzlos vertan, die Zeit vertrödelt, verträumt. Nun muß ich mich in Gewühle stürzen, meine Liebe, meinen Haß zu verströmen, wie mein Blut! – O, entfachte einen nimmersatten Haß – um der Gerechtigkeit willen schüret diesen Haß in euch.

             Was nützt uns Reichtum und üppiges, parasitäres Schwelgen?! Ist’s nicht der Ruin eines jeden Talentes gewesen? Wie habt ihr Maler vor dem Kriege gepraßt und gesoffen und hirnlos eure Kraft verpufft!! Machet euch frei, so weit es geht, vom gleißnerischen Bourgeois. Und nicht mehr scharwenzelt in der Salons und die reichen Schmarotzer umwedelt. Arm sein mit den Armen! Die Hauptsache, es reicht auf den Suppen- und Farbentopf.

             Jetzt heißt es: Emanzipation der Arbeiterklasse. Aber auch: Emanzipation der Künstler und Dichter. Wir wollen keine Spaßmacher mehr sein für die gute Verdauung der reichen Narren, Snobs und Fanfarons!

             Hinan, hinan! auf die Tribünen – auf die Bastionen der kommenden Menschheit: für Menschenwürde, Menschenliebe, Gleichheit und Gerechtigkeit. Ja, wir sind alle gleich. Vom einen Ursprung sind wir ausgeschickt. Wer will sich über seinen Bruder erhöhen?!

             Entschließen wir uns zum Menschheitskampfe, wir Maler! Wir werden einen herrlichen Gewinn davontragen –: unser Werk wird tiefer werden, die Linien edler, das Pathos sublimer. Denn die Werke sind immer aufs Haar Ausdruck unseres Denkens und Tuns. Wir müssen unsere Trägheit meistern, uns anschließen den kämpfenden sozialistischen Reihen. O, uns leite an diesem dunklen Tag die göttliche Stimme: Gerechtigkeit und Liebe.

             Mit Leib und Seele, mit unseren Händen müssen wir mittun. Denn es geht um den Sozialismus – das heißt: um Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit und Menschenliebe – um Gottes Ordnung in der Welt.

In: Der Anbruch, H.1/1919, o. S. [1]

Max Brod: Die Generation des Krieges (1928)

1918, 1928 – wir befinden uns in Erinnerungsluft, die durch das Dezimalsystem bestimmt wird. Die Frage, welche Generation durch den Krieg am meisten gelitten hat, drängt sich inmitten verschiedenartiger Jubiläen und Reminiszenzen auf.

Das Schlimmste hat zweifellos die Reihe von Jahrgängen erlebt, die im Feuer gestanden ist. Viel beklagt wurde auch das Los derjenigen, die knapp nach dem Krieg zur jugendlichen Entfaltung kam – das heißt: nicht kam, denn das Nachkriegschaos betrog sie um das wahre Freudenlicht der Jugend, machte ihren Lebensanfang zu einem abnorm schweren, ja kaum zu gewinnenden Krieg.

Von diesen beiden Generationen wurde schon viel geschrieben und gesprochen. Das Schicksal der Nachkriegs-Jugendlichen stand eine Zeit lang im Vordergrund literarischer und pädagogischer Diskussion. Wenig beachtet wurde eine dritte, ältere Generation: die, welche bei Beginn des Krieges eben fertige Männer geworden waren, die ihr Weltbild und ihre bürgerliche Position eben in den Grundzügen festgelegt hatten – und dann kam der Krieg und warf alles um.

Es sind die Menschen, die heute vierzig Jahre alt oder etwas älter sind. Dem Buchstaben nach. Faktisch sind sie viel älter, steinalt. Sie sind schnell gealtert. Denn sie haben zu viel erlebt. Ihre Entwicklung wurde gewaltsam zerbrochen. Sie näherten sich gerade der Höhe des Menschenlebens, festigten ihre Anschauungen, rangen um Klarheit auf einem ganz bestimmten Weg. Auf einmal war der ganze Weg falsch. Ungeheuerliches geschah. Es mußte von vorn angefangen werden. Und zwar nicht in ganz jungen Jahren, in denen man gern täglich ganz von vorn anfängt. Sondern in einem späteren Zeitpunkt, in dem man nur noch mit Anstrengung, ganz ernsthaft, ganz aus der Tiefe her zu revidieren vermag.

Im geistigen Sinne hat der Krieg diese Generation am schwersten getroffen. Denn er hat sie in ihrer Vollreife getroffen. Man kann daher die Generation der heute Vierzig- bis Fünfzigjährigen im wahrsten Sinn die „Generation des Krieges“ nennen.

Daß sie selbst nicht allzu viel Aufhebens damit machen, nicht so laut schreien wie die Nachkriegs-Jugendlichen: das gerade ist das charakteristische Merkmal und führt schon mitten ins Krankheitsbild dieser Generation hinein. Sie fürchtet sich nämlich, alt zu erscheinen. Sie will krampfhaft jung bleiben. (Analogon: heutige Frauenmode.) Sie ist widerstandslos gegen alles Neue, macht glatt jede aktuelle Konvention mit. Nur möge man um Gottes willen nicht auf den Gedanken kommen, daß die Elastizität dieser Halb-Alten nachlasse und auch nur um eine Gran hinter dem zurückbleiben, was das sogenannte Tempo der Zeit fordert! Früher war man bockbeinig, starrsinnig. Der seltsame Bruch, den der Krieg in den Geistern der „Kriegsgeneration“ angerichtet hat, zeigt sich darin, daß sie bereitwillig jedes neue Diktat annehmen. Nie sind literarische, malerische Moden so schnell vorbeigerauscht wie jetzt. Dem Naturalismus folgte eine wilde Expressionismus-Woge. Man wollte die Dinge nicht mehr sehen, nur sich selbst, das eigene autonome Gefühl. Jemandem sagen, daß er mechanistisch denke, rational und analytisch vorgehe, war (man lese das etwa bei Rathenau nach) ärgste Beschimpfung. Mit einemmal wird die Betonung des freien unkonstrollierbaren „Ich“ von der Unterstreichung des „Es“ abgelöst. Das Individuelle und Irrationale gilt als erledigt. Kollektiv, mechanisch, rational, sachlich – vor wenigen Jahren Schimpfworte – sind jetzt Ausdrücke höchster Lobeskritik. Nicht daß der Geschmack, das Schlagwort wechselt (der wahre Strom der Dichtung zieht und zog ohnehin immer weit fern von solcher Schlagwortschlacht), – sondern daß der Wechsel so schnell, so kampflos vor sich geht, in so weichem, gegenseitigem Einvernehmen, das ist das Bemerkenswerteste – und ist die Schuld der „Generation des Krieges“, die feig und resigniert, im Innersten gebrochen kein Beharrungsvermögen aufbringt, die nach jedem Lüftchen auslugt, ausfühlt, um sich nur ja recht augenblicklich danach umzustellen. Fragte man diese Menschen aber auf Ehre und Gewissen, wo ihr eigentlicher Ernst liegt, – so fände man ihn nicht in diesen flüchtigen spielzeughaften Moden, sondern in einer eigenartigen Bewußtseinsspaltung. „So war es vor dem Kriege – so ist es jetzt“ – das sind die beiden Kategorien, mit denen sie denken. Wer heute zwanzig Jahre alt ist, ja selbst der Dreißigjährige hat kein Bild der scheinbar festgegründeten Ordnung, in der jene aufgewachsen sind, in der sie sich bis zu einer gewissen, schon durchaus profilierten Geisteshaltung entwickelt haben. Er hat diese Ordnung (und konnte sie mit gutem Grund) vergessen. Aber der Mann von vierzig Jahren – er, das eigentliche Kriegsopfer im geistigen Sinne – überall Vergleichsmöglichkeiten haben, jedes Ding in zwei aufschlitzen, in den Zustand „vor dem Krieg“ und „nachher“ – es gehört schon unendlich viel Nervenkraft und Charakterstärke dazu, um nicht in allgemeine Skepsis, in den müden Glauben an die Relativität aller Dinge unterzutauchen. Die besten dieser Generation haben in dieser Gefahr, die sie genau sehen, eine besondere Wachheit erlangt, an der sie einander gegenseitig erkennen. Außerhalb dieses strengen Geheimbundes plätschern die Karrieristen, die Immer-Zeitgemäßen, die auf jung und aktuell geschminkten Kriegsinvaliden des Geistes, die jede neue geistige Bewegung im Moment mitmachen, weil ihnen im tiefsten Grunde durch die eine große Bewegung, die sie wirklich mitmachen müßten, durch den Kriegsbruch ihrer Erfahrung alle anderen noch zu machenden Erfahrungen lächerlich unwichtig und gleichgültig geworden sind.

In: Prager Tagblatt, 8.7.1928, S. 5.

W [Victor Wittner? ]: Valuta und Prostitution. (1920)

Wer mit Sorge in die Zukunft unseres Vaterlandes blickt, den mag die wirtschaftliche Not, die auf uns lastet, fast noch weniger beängstigen als der sittliche Niedergang der Wiener Gesellschaft, der sich mit trauriger Offenkundigkeit vollzieht. Die Angehörigen der Wiener Mittelschichten wissen insgesamt, daß sie nicht leben können – und sie leben dennoch. Sie wissen, dass sie selbst und ihre Nachbarn und ihr ganzer Bekanntenkreis von dem bürgerlichen Einkommen, das sie haben, schlechterdings nicht die notwendigsten Bedürfnisse bestreiten können und dennoch geht man gleichmütig aneinander vorbei, begrüßt sich, seufzt ein wenig über die schlechte Zeit, ist aber noch leidlich anständig gekleidet und ist, statt nach allen Gesetzen der Logik zu verhungern, bisher auf rätselhafte Weise am Leben geblieben. Jeder ist für seinen Nachbarn ein Rätsel: Wie existiert der Mensch mit seiner Familie? Und jeder betrügt den Nachbar und umgekehrt. Sie betrügen einander mit geputzten, frisch aufgebügelten, gewendeten Kleidern, mit übermäßig gebürsteten Hüten, mit Stiefeln, die so geflickt und gewichst sind, daß „man es nicht merkt“. Es soll der Eindruck erweckt werden, daß man’s noch aushält, daß man noch Reserven hat. Ein namhafter Teil des Wiener Bürgertums – und nicht der schlechteste – sucht auf diese Weise mit äußerster Kraftanstrengung zu verbergen, daß er bereits proletarisiert ist. Ein anderer Teil freilich hat nichts zu verbergen, sondern zeigt ganz offen, daß es ihm gut geht. Das sind die Leute, die in ihren Geschäften betrügen und daraus die Mittel ziehen, in ihrem gesellschaftlichen Auftreten ungeniert zu protzen, während die anderen in ihrem Berufsleben rechtschaffen bleiben und daher als arme Teufel genötigt sind, zur Wahrung des sozialen Scheins mit umgedrehten Hemdkragen und ängstlich konservierten Bügelfalten zu hochstapeln. Diese verhältnismäßig unschuldigste Betrugsform wird von anderen Formen im privaten wie im geschäftlichen Leben hundertfach überboten.

Im Wiener Handel, besonders im Kleinhandel, haben wohl seit jeher ein wenig orientalische Usancen geherrscht. Aber eine so schamlose Willkür der Preisbestimmung, eine so souveräne Verachtung aller Gesetze einer soliden kaufmännischen Kalkulation, eine so brutale Vergewaltigung der wehrlosen Kundschaft, ist noch niemals dagewesen. Waren schon während des Krieges die herkömmlichen Bezugswege und Preisberechnungsmethoden außer Gebrauch gekommen, so hat der Kurssturz der Krone im letzten Jahre die kaufmännischen Traditionen vollends begraben. Nun gibt es keinen Halt mehr. Das Offert von gestern stimmt morgen nicht mehr – wozu also überhaupt kalkulieren? Man bezieht die Waren, man weiß nicht woher, man verkauft sie, man weiß nicht wohin, die Herkunfts- und Absatzbeziehungen sind verändert und ändern sich mit jedem neuen Tag, und so wird der Handel zum Glückspiel, in dem sich der Händler die Gewinste selber zumißt. Jeder Geschäftsabschluß ist eine Trefferziehung. Kann man sich über die Ausschreitungen der Börsenspekulation wundern, da der sogenannte solide Handel täglich die gleichen Ausschreitungen begeht? Jeder Warenpreis ist gegenwärtig ebenso willkürlich und aus der Luft geholt, wie die Börsenkurse. Man kann mit Tuch, Messing, Holz oder Zucker geradeso „spielen“, wie mit Skoda oder Alpinen.

Die Börse ist nur der für alle Welt offene Markt, während man bei den anderen Warenmärkten doch irgendwie Anrainer sein muß. Freilich genügt auch eine sehr entfernte Anrainerschaft. Es gibt Spezereiwarenhändler, die mit Telegraphendraht und Optiker, die die mit Stiefelsohlen Handel treiben. Keiner bleibt auf dem geraden Wege seines Berufes. Vor den obersten bis in die untersten Schichten hinab sucht jeder eine Nebenbeschäftigung, die möglichst mühelosen Gewinn abwirft und wird der ruhigen Übung und hergebrachten Ehrbarkeit seines eigentlichen Berufes entfremdet. Die Korruption ist tief in das öffentliche Beamtentum, noch viel tiefer in gewisse Kreise des Privatbeamtentums eingedrungen. Mann verkauft die Machtbefugnisse oder die vertraulichen Kenntnisse des Amtes. Aus allen Finanzinstituten heraus wird ein schwunghafter Handel mit Börsentipps getrieben. Die „Wissenden“ florieren. Kleine Bankbeamte geben ihre Gehälter als Trinkgelder an die Bureaudienerschaft ab, weil ihnen das Börsenspiel gestattet, auf größtem Fuß zu leben. Auf den Gängen der Bankgebäude treiben sich Schleichhändler herum, die hier für die erlesenste Ware leichten Absatz finden. Wie dieses Treiben auf die zahlreich weibliche Angestelltenschaft der Bank und der Kaufmannshäuser wirkt, braucht nicht gesagt zu werden. Die Sitten der Wiener Weiblichkeit von heute sind ein Kapitel für sich, wohl das schmerzlichste von allen. Wenn man die Preise auch nur der mittleren, der durchschnittlichen Konfektionsware in Rechnung zieht und auf der Straße die Kleider und Schuhe der jüngeren und reiferen Damenwelt mustert, so weiß man genug. Und wer unsere zahllosen, täglich sich mehrenden und täglich überfüllten Bars und Konzertcafés kennt und dort Beobachtungen und statistische Berechnungen anstellt, wird zu Schätzungen der Wiener Prostitution aller Gattungen kommen, deren nüchterne Ziffern man lieber für grauenvolle Phantasie halten möchte. Nie und nirgends hat es Verhältnisse gegeben, in denen der bestimmende Einfluß des wirtschaftlichen Unterbaues der Gesellschaft auf ihren sittlichen Überbau so augenfällig geworden ist, wie in dem Wien unserer Tage. Wenn man in Springers österreichischer Geschichte nachliest, wie da die demoralisierenden Wirkungen des Staatsbankerotts der napoleonischen Kriegszeit geschildert werden, findet man eine schlagende Übereistimmung zwischen einst und jetzt. Nur daß die engen Verhältnisse des Wien von damals, der von Festungswällen eingeschnürten, in idyllische Dörfer hinausquellenden Weltstadt, jetzt ins riesenhafte vergrößert sind – vergrößert der Umfang des Schauplatzes, vergrößert die düstere Intensität des Sittenbildes. Mit dem Schwanken und Sinken des Geldwertes schwanken und sinken die Grundlagen, auf denen eine scheinbar selbstherrliche Kultur sich in Generationen aufgebaut hat. Die Zusammenhänge zwischen Valuta und Preiswucher, zwischen Valuta und Sittenverderbnis, zwischen Valuta und Prostitution liegen für jeden, der sehen will, klar zutage.

Auch der Verwalter unser[er] Staatsfinanzen müßte dafür ein offenes Auge haben. Jeder Schritt, den er täte, um unseren Geldwert zu festigen, brächte uns auch der sittlichen Gesundung näher: jeder Schritt, den er unterläßt, bedeutet ein tieferes Hineintauchen in den Sumpf der Verkommenheit. Niemals hat ein österreichischer Ressortminister eine schwerere materielle und moralische Verantwortung getragen.

In: Der Morgen. 19.1.1920, S. 5.

Gisela Berger: Die Schicksallosen.

             Zu den vielen Tausenden wandeln sie heute umher, die Peter Schlemihle im weltpsychologischen Sinn, die gleichsam keinen Schatten des Schicksals werfen. Ein ganzer generationaler Typus der letzten Neuzeit ist dies, der durch das Leben hinirrt, hingaukelt, sinnlos, planlos, grundlos, glücklos, leidlos, charakterlos – und schicksallos. Eine Art von Larven- und Lemurengeschlecht, dem das rote Blut des Lebens abhanden kam.

             In der Tat ist es eine sonderbare psychologische Wahrnehmung, die bei näherem Hinblick rings sich aufdrängt. Es gab niemals so wenig Schicksal in der Welt wie heute. Oder eigentlich nie so wenige Menschen, die ein Schicksal haben. Oder – um mit einer paradoxen Antithese das Unverständliche verständlich zu machen: Es gab nie so viele Menschen, die – ihr eigenes Schicksal nicht haben. Die ihr eigenes Erleben nicht erleben. Und ihr eigenes Lebensresultat nicht repräsentieren.

             Das Schicksal ist die Reibung der Persönlichkeit mit der Welt. Die heutige Zeit aber ist eine Zeit des Debakels der Persönlichkeit. Eine Zeit, die im Zeichen der Feindschaft der Persönlichkeit steht, deren Einflüsse und Strebungen die Persönlichkeit zersetzen, zerstümmeln und negieren, und die selbst dort, wo sie anscheinend die Persönlichkeit sucht und ersehnt, sie in unbewußt elementarer Abneigung verwirft, sobald sie sie findet. Denn alle Prinzipien und Charaktere der heutigen Zeit laufen jener festumschlossenen und eigenrichtigen Erscheinung zuwider, die man Persönlichkeit heißt. Wie durch den großen sozialen Makrokosmos der Welt, so geht parallel durch den inneren Mikrokosmos des Menschen jene tiefe, allgemeine Umsturztendenz, die alles eigenstehende Kunstwerk des Daseins aufheben, egalisieren und auflösen will und alle große Dominante des Lebens in Vielheit zerreißt. So wird auch hier das Königtum jener inneren Wesensprägung, die man Persönlichkeit nennt, als eine überlebte, unmoderne und unzweckmäßige Institution von ihrem Piedestall herabgestürzt, um einer gleichberechtigten Demokratie der Triebe, Sinne und Neigungen Platz zu machen, die bloß von der Vernunft, Zwecknutzen und weitmaschigstem bürgerlichen Ehrbegriffe nachsichtig und schlaff geleitet wird.

             Konjunktur, wie dieser, gleich einer handschweißferttigen Banknote von allen schmutzigen Fingern abgegriffenen Terminus technicus heiß, der heute, über sein zu Recht ihm gehörendes Gebiet des Geschäftslebens weit hinausreichend, schamlos den gemeinsten Betrachtungsgesichtspunkt für alle größten und kleinsten Dinge des Lebens bestimmt – Konjunktur ist heute die Parole der ganzen Welt geworden bis in ihr tiefstes sittliches Wesen hinein. Man stirbt nicht mehr für eine Sache. Man folgt ihr bis zum Höchstkurs empor, schlägt sie los mit Tausendgewinn und dient einer andern. Heute schwindet aller unbedingter Wert in der Welt. Konjunktur ist alles, und die heimliche Kursziffer steht auf der händlerisch gewordenen Menschheit heiligsten Güter. Zweidimensional ist der Mensch von heute geworden. Das Stereoskopische fehlt ihm, das er durch das Tiefmaß der Ethik allein erhält. Ein Flachbild ist er, eine Silhouettengestalt, nach Höhe und Breite nur ausgedehnt, und eine Lüge, eine Illusion, ein Nichts in die Tiefenausdehnung hinein. Charakterlos darum und schicksallos. Denn Schicksal ist dort wo Unbedingtheit ist. Der ganze Mensch ist der Mensch von heut‘, der sich selbst verlacht, aber ohne Genialität. Nicht, weil er über sich selbst steht, sondern weil er nicht einmal zu sich selbst hinanreicht und darum nur Seinsmöglichkeiten in jener inhaltslosen Selbstbezweiflung findet, die das Ingrediens der phantasielos skeptischen Weltanschauung der heutigen Tage ist.

             Aus dem Echtmenschen ist ein Imitationsmensch geworden, eine Art von künstlichem Fälschungsexemplar, ein Homunkulus, der nur die Geste des Lebens tappt. Der anstatt der Tat nur die Gebärde hat, anstatt der Gesinnung das Wort, anstatt des Herzens die Gier der Eitelkeit und anstatt des Blutes das Geld. Ein Popanz, eine Puppe ist dieser allgemein gütige und in Umlauf befindliche Mensch, der keine Schicksalslinie in der Hand trägt, der schicksallos ist, weil ihm die tiefere Identifizierung mit der Welt und mit sich selber abgeht.

In: Wiener Zeitung, 25.8.1920, S. 3.

Paul Szende: Der Schieber als Sinnbild der heutigen Wirtschaftsordnung.

             Der Schieber ist ein Kriegsprodukt und verdankt sein Dasein der Warenknappheit. Er überdauerte den Zusammenbruch, die Revolution und Gegenrevolution, trug zuletzt einen glänzenden Sieg über die bolschewikische Theorie in Rußland davon. Er behauptet sich trotz Verachtung, Schlagworten und Gesetzen überall. Was sind die geistigen Fähigkeiten dieser Menschengattung? Worin besteht ihre Überlegenheit? Versuchen wir dies festzustellen.

1. Schnelle Anpassungsfähigkeit.

Der Schieber war und ist der Registrierapparat der Konjunktur, der alle Bewegungen des wirtschaftlichen Körpers genauest aufzeichnete und augenblicklich verwertete. Er ist in jeder Branche zu Hause, keine Ware entgeht seiner Aufmerksamkeit. Ebenso blitzartig ist seine politische Anpassungsfähigkeit. Obzwar er für die alte Ordnung schwärmt, das Schwinden der hergebrachten Autorität und Disziplin beklagt, findet er sich in alle politischen Systeme hinein; ob Monarchie oder Republik, Reaktion oder Demokratie, er ist in allen Sätteln gerecht, er liefert ebenso gern für Horthy wie für die russische Sowjetrepublik.

2. Rücksichtslosigkeit und Grausamkeit.

Doch gleicht diese Anpassungsfähigkeit mehr der des Aasgeiers, der in der höhe schwebend den Kadaver mit Scharfblick erforscht und sich in blitzschnellem Sturzflug auf ihn wirft. Der Schieber war im Kriege der Frontkämpfer des Hinterlandes, und er führt den Stellungskrieg gegen die konsumierende Bevölkerung ohne die Gefahren des Frontdienstes noch immer fort.

3. Intuitive Erfassung der Eigenart der neuen Wirtschaftsordnung.

Der Schieber hat sofort nach dem Kriegsausbruch erkannt, daß die Zurückhaltung der Waren – im Frieden nicht nur ein gegen das öffentliche Wohl verstoßendes, sondern zugleich privatwirtschaftlich unökonomisches Verhalten – die ausgiebigste Quelle großer Gewinne sein kann. Die Störung des Gleichgewichtes zwischen Produktion und Verbrauch, zwischen Einfuhr und Ausfuhr dauert noch heute in den besiegten Ländern unvermindert an. Ebenso intuitiv hat er erschaut, daß seit dem Kriege die Epoche des risikolosen Geschäftsganges hereingebrochen ist; derjenige, der von seinen Skrupeln getrübt ist, kann sein Geschäft ohne Wagnis führen. Das ist eben der springende Punkt, denn das geschäftsmäßige Risiko liebt der Schieber ebensowenig wie der Teufel den Weihrauch.

4. gründliche Kenntnis der staatlichen Machtverteilung und des politischen Getriebes.

Die Schieber wurden sich sofort dessen bewußt, daß in dem bestehenden Klassenstaat das System der Zentralisation, der Höchstpreise und der Rationierungen naturnotwendig zur Korruption führen wird. Sie wußten, daß alle diese Gesetze und Verordnungen auf dem Papier bleiben müssen, da ihre ehrliche und rücksichtslose Durchführung in erster Linie die Interessen derjenigen mächtigen Faktoren schädigen müßte, die in jedem Staat über die Gesetzgebung oder die Verwaltung verfügen. Sie legten daher ein sorgfältig durchdachtes, sogar geniales Kanalnetz der Korruption an, in welches von allen Seiten die Waren hineinströmten.

5. Gefühl der Sicherheit.

Dieses Gefühl stammt von der Feststellung, daß alle führenden Schichten an der Kriegskonjunktur in vollstem Maße teilgenommen haben. Die Schieber hätten niemals ihr Werk verrichten können, wenn nicht die „legitimen“ Agrarier, Industriellen und Kaufleute ihnen die Waren zugeschoben, zur Verfügung gestellt hätten. In dieser Gesellschaft hatten sie nichts zu befürchten.

6. Gefühl der Unentbehrlichkeit

Ohne den Schieber wären diese vornehmen Klassen nicht imstande gewesen, die Kriegs- und Nachkriegskonjunktur gehörig auszunützen. Ihre Tätigkeit ist mehr kontrollierbar, die öffentliche Aufmerksamkeit ist zu sehr auf sie gelenkt. Das Schiebertum ward in ihren Händen zu einem willkommenen Instrument, das sie den Heiligenschein wahren ließ und doch die Teilnahme an der Konjunktur gewährte.

8.  Der Schieber ist ein überlegener Lebensphilosoph.

Er durchschaut das ganze wirtschaftlich-politische Gewebe, ihm sind alle Geheimnisse erschlossen. Er nützt die Heuchelei und Doppelmoral der herrschenden Klassen zum eigenen Nutzen aus. Den Vornehmen gegenüber, welche dasselbe Geschäft, nur verschämt, betreiben, empfindet er einen gewissen Stolz. Er weiß, daß diese von ihm durchaus nicht entzückt sind, denn das unverhüllte Treiben des Schiebertums bringt dem Publikum zu sehr vor die Augen, wie die großen Vermögen entstehen, wie unbeschränkt die Ausplünderungen der Wehrlosen vor sich gehen kann. Er lächelt verständnisvoll und duldet, daß er als Sündenbock hingestellt wird, doch läßt er sich dafür hohe Entschädigungsprämien zahlen, selbstverständlich nicht von seinen Dienstgebern, sondern von der konsumierenden Bevölkerung.

In: Arbeiter-Zeitung, 9.5.1922, S. 5.