Stein E. K.: Ein Gespenst geht durch Europa…

Ich habe an die Kommunistische Partei Deutschösterreichs folgendes Schreiben gerichtet:

„Angesichts der sonderbaren Haltung gewisser ‚linksradikaler Sozialdemokraten‘ zu den Ereignissen des blutigen Sonntags drängt es mich, Ihnen das Bekenntnis abzulegen:

Das größere Unglück dieses Sonntags war es, daß die Räteregierung nicht ausgerufen werden konnte; für dieses Unglück sind vor der Weltgeschichte jene Führer des Proletariats verantwortlich, welche die Massen Ihrem Unternehmen fernhielten. *)

Vor der Geschichte werden Sie und jene wahrhaft kommunistischen Sozialdemokraten, die mit mir in der Ablehnung der augenblicklichen Ausrufung der Räterepublik eine ungeheure Verfehlung der sozialdemokratischen Führer erblicken, als die besseren, einsichtigeren Vertreter der proletarischen Interessen gelten.

                                                                                                                                                                                 Mit proletarischem Gruß

                                               E.K. Stein


*) Aus dem Aufruf des Kreisarbeiterrats vom 15. Juni: „Die Wiener Arbeiterschaft in ihrer überwältigenden Majorität…wird daher heute den kommunistischen Veranstaltungen fernbleiben. … Bleibt den gewissenlosen Veranstaltungen (sic!) der Kommunisten fern!“

In: Die Wage. Eine Wiener Wochenschrift. Nr. 26, 27.6.1919, S. 609.

Hans Suschny: Manifest

Ich spreche vor allem zu allen jungen produktiven Menschen meines engeren Werkkreises Österreich. Ich spreche zu all jenen, die bereit oder auf dem Wege sind, in ihr Hirn einzugreifen und ihre Gehirnzellen umzuschichten.

Wir müssen vor allem den Kampf gegen unsere eigene Natur aufnehmen.

Wir müssen als geschichts- und weltbewußte Individuen den Selbstmord unserer Passivität begehen.

Als solche müssen wir uns auch gegen die äußere Natur, gegen die Elemente, die diese unsere Passivität bedingen, auflehnen.

Ich spreche zu all jenen, die sich befähigt fühlen, auf welchem Lebensgebiete immer, dem heute bestehenden Chaos gegenüberzutreten und es mit festen Händen und zähen Nerven in seine Teile aufzulösen oder seine Elemente neu zu organisieren.

Wir sind zum Großteile in versteinerte Formen eingeschlossen und in Pyramidengräbern erstickt.

Wenn unser Hirn gleichfalls verkalkt ist, lebt es sich ein, oder besser, stirbt es hinein in dieses Steinmassiv.

Wenn wir aber freier leben, gelangen wir zur Wahrnehmung der in Vermischung vegetierenden Elemente und zur Erkenntnis der Organisationsfähigkeit dieser sei es in unserem Hirne dialektisch oder in der äußeren Welt freigewordenen Elemente.

Wir leben, wenn wir jede auftauchende Frage in unseren Gedankenorganismus einbeziehen, unsere Sinne neuen Fragen eröffnen und Lösungen versuchen.

Wir werden zu produktiven Menschen, wir schaffen, wenn wir diese Frage lösen.

Jedes Kunstwerk sei ein gelöstes Problem, und je mehr es dieser Forderung entspricht, umsomehr befriedigt es den Aufnehmer.

Wer aber in der Versteinerung althergebrachter Formen eingeschlossen ist, welche Formen insgesamt gelöste Probleme bedeuten, für den sind eben alle Probleme gelöst, für ihn ist kurzhin alles gelöst, er fühlt kein Bedürfnis nach neuen Lösungen, denn er sieht keine neuen Probleme.

Ihm fehlt aber auch die Aufnahmsfähigkeit neuer Lösungen, das heißt auch neuer Kunstwerke, er steht ihnen fern, fremd und blind gegenüber, sie sind ihm vor allem zu einfach, – welche Eigenschaft ihnen auch wirklich zukommt, da sie eben Lösungen sind -.

Er liebt jedoch die Widerkäue längst gelöster Fragen, er liebt sie in leicht zu hebende ‚zarte‘ Schleier gehüllt, er liebt sie in Symbolen ausgedrückt, in welchen er mühelos den Sinn zu entdecken vermag, seine Langweile ‚sehnt‘ sich nach Komplikationen und er verstrickt sich und zerbröselt immer mehr ihm Chaos.

Wer aber in der Gegenwart die Fragen der Gegenwart erschaut und auffühlt, wer sie zu lösen versucht und wem die Lösung gelingt, der ist ein einfaches, unkompliziertes Individuum einer einfachen, zum Teile noch ihrer Kollektivität unbewußten Gemeinschaft, das darum nur wieder einfache oder nach Einfachheit verlangende Menschen anspricht.

Wir hassen die Problematik und Symbolik im Kunstwerk.

Wir lieben den reinen Stoff, der uns Mittel zur Lösung ist.  

Wir lieben jene Mitmenschen, die von uns Lösungen erwarten, und hassen jene, deren Nerven vom Künstler gekitzelt werden wollen. Hierin liegt auch der Sinn und die Erklärung für unser Verbundensein mit dem Proletariat einerseits und der Technik andererseits.

Der Kampf des Proletariats ist das Ringen nach Problemlösung.

Jedes Werk der Technik ist Problemlösung und daher selbst unproblematisch wie die reife Frucht, wie jeder in sich geschlossene einheitliche Organismus.

Unsere Werke sind ebensolche Organismen.

Sind die in eine neue, vollkommene, reale Einheit gebrachten und nach dieser Einheit verlangenden Elemente des Chaos.

Die verschiedenen Kunstrichtungen unserer Epoche haben sich vergeblich bemüht, eine neue Schaffensbasis zu finden. Was ihnen zum Teile gelang, war die Sprengung der inaktuellen Formen, die Befreiung der Elemente und Elementarformen, aber den neuen Schaffensgrund konnten sie nicht finden. Als Beispiel erhoben sie Malerei und Dichtung im Banne der Musik zur musikalischen Komposition. Erst dem Konstruktivismus gelang es, malerische Formen in ihrem Eigenwerte zu erkennen, die dichterischen Begriffe in ihrem Vollwerte zu denken und daraus neue Organismen zu bauen, zu konstruieren.

Wir schufen den Grundriß und fanden den Spitzbogen [gesperrt gedr. im Orig.]

Damit ist das Werk des Konstruktivismus beendet. Damit begräbt sich der letzte

–Ismus. Wir treten in eine neue Epoche, in die –ismenlose des universellen Schaffens, begeben uns auf die Suche nach einer neuen Hirneinheit. Auf Grundriß und Spitzbogen – den Bau! [gesperrt gedr.]

Österreicher! In den Ländern um euch zerbrechen die Kalkmauern. In den Hirnen ringsum platzen die klassischen Vorurteile. Nur in Wien werden noch immer die Häuserwände mit ‚lieblichen‘// Stukkaturen beklebt, die Zimmer mit violetten Akten und blühenden Landschaften verunstaltet, die Plakatwände mit Pornographien, sentimentalen Liebespaaren und ‚ästhetischen‘, stilisierten, weichfarbigen Reklamen beschmutzt.

In den Konzert- und Theatersälen wird in ätherischen und Trancezuständen traumgeschwitzt.

In den Schulen umklammern Polypenarme die Hirne der Jugend und sie erstickt oder entwindet sich resigniert.

Wer aber seine Muskeln spürt, kommt mit uns.

Wer freiere Luft atmen möchte, geht mit uns.

Ich grüße Ludwig Kassák als den Arm, der mir aus dem Sumpfe half.

Ich grüße Ludwig Kassák als den Kopf und die Füße unserer Bewegung und in seinem Namen all jene, die bereit sind, sich der Erfüllung unserer großen Aufgabe anzuschließen.

Unter den Ventilatoren technischer Ökonomie und wissenschaftlicher Dialektik, unter den Scheinwerfern elementarer Gestaltung und proletarischer Einfachheit.

                                                                                   [Hans Suschny]

In: MA 10 (1925), H. 2, S. 6-7.S

E. K. Stein: Ansprache an sozialistische Künstler

(Gehalten am 28. d. M. in der gründenden Versammlung der Fachgruppe der Künstler, Schriftsteller der „Soz. Vereinigung geistiger Arbeiter“.)

            So wie der Zusammenschluß der „Geistigen Arbeiter“ zu einer besonderen Organisation innerhalb der Sozialdemokratie keine Scheidung, aus Überhebung etwa, vom Handarbeiter darstellen sollte; vielmehr diese Sonderorganisation eben als wirksamstes Mittel gewählt wurde, um der Sozialdemokratie aus der Gesamtheit der „geistigen Arbeiter“ möglichst großen Zuwachs zu sichern; so führte auch die Künstler nicht Dünkel und Überhebung zur gesonderten Organisierung innerhalb der „geistigen Arbeiter“. Auch wir sehen in solchem engeren Zusammenschluß zunächst nur das geeignetste Werkzeug, auch den Teil der Künstlerschaft, der heute noch dem Sozialismus fernsteht, in unser Lager zu ziehen.

            Als Arbeiter bekennen wir uns alle: das Band, das uns alle eint, ist das Lob der Arbeit; wie es uns scheidet von den Anderen, die den Segen der Arbeit nur in seiner fluchwürdigen Verwandlung, dem goldgemünzten Schweiß und Blut der Arbeiter preisen mögen.

            In zwei große Lager scheint sich so die Menschheit zu scheiden: Die Arbeiter und die Arbeitsscheuen. Da ich zu Künstlern spreche, die so gerne – mit mehr oder weniger Wohlwollen – von ihren „Gönnern“ als das „arbeitsscheue Gesindel“ hingestellt werden, muß ich kaum ausführlicher dartun, daß gerade der Künstler, der – im Geiste – immer Rege, bis zur Besessenheit Rege ist; er wahrhaftig kann die Arbeit nicht scheuen, nicht fliehen, da sie mit ihm verwachsen ist. So ist sein Platz im Lager der Arbeiter, der Regen.

            Diesem feindlich, tut sich drüben das andre Lager, das der Trägen, auf; wollen sie doch von der Regsamkeit der Anderen leben; müssen sie doch darum sich die Herrschaft über die Regen erzwingen und sichern; feindlich darum.

            Wie aber konnte es kommen, daß Trägheit über Regsamkeit die Herrschaft gewann? Die überlegene Masse, wir Alle kennen sie: das Kapital. Denn nicht Arbeit und Schaffen verleiht Herrschaft oder auch nur Freiheit; nicht dem Arbeitenden und Schaffenden selbst dienen diese: immer nur dem Kapital; der Burg der Trägheit; Bürger heißen sie darum, denen unsere Regsamkeit die Sicherheit ihrer Trägheit verbürgt.

            Der Bürger wurde vom Künstler zu allen Zeiten verhöhnt und verulkt; dennoch blieb dieser der geistige Sklave, bestenfalls der Hofnarr des Bourgeois. Und als die Armee der Millionen Arbeitssklaven sich endlich zum Widerstande auflehnte, da blieb der Künstler abseits stehen: seine Abhängigkeit vom Kapital war so endgiltig geworden, daß er allein unter all den Sklaven zitterte, seine Nahrung, sein Lebensunterhalt könne mit dem Untergang der Bourgeoisie und des Kapitals, von deren Brosamen er bisher gelebt, verschwinden.

            Wie aber konnte es dahin kommen, daß der Künstler so allen Zusammenhang mit dem Volke verloren hatte, aus dem allein seine Kunst, sein Schaffen die geistige Nahrung ziehen durften, daß er daran verzweifelte, bei ihm die leibliche Nahrung zu finden?

            Die Kunst hatte immer mehr die Fratze ihrer Brotgeber aufgedrückt erhalten; sie war volksfremd ins Innerste geworden. Der Geist, den Elend und Verfolgung nicht in Banden schlagen konnten, er war der Lockung des Goldes, der Trägheit erlegen. Der Geist, des Blut und Atem Freiheit ist, er hatte sie verkauft; das himmlische Recht der Erstgeburt des Geistes, es war ihm feil, wenn der Kapitalismus ihm den Fraßtrog rüstete.

            Der Kapitalismus hatte den Geist gekauft: oft, um sich damit zu schmücken; dosiert auch, um die Trägheit seiner Verdauung anzuregen; immer aber, um die Regsamkeit in die Fesseln der „gut bürgerlichen Ordnung“ zu schlagen: wehe, wenn sie losgelassen! das war der Bürgerschreck!

            So kam die Weltkatastrophe: der Weltkrieg. Der verratende und gefesselte Geist versagte; die Künstler aller Völker, die berufenen Priester der Menschheit, auch sie segneten wie die Pfaffen die mörderischen Waffen; fast ausnahmslos. Der Stolz dieser Stadt wird es bleiben, daß unter den ganz Wenigen, die dem Geiste treu geblieben waren, der Name eines Wieners, Karl Kraus, steht.

            Aus dem fürchterlichsten Debakel der Menschheit soll die neue Zeit erstehen, der neue Geist sich gebären. Fünfzig Monate bestialischen Mordens sollen vom Frieden abgelöst werden. Was ist Friede? Kann es jener Zustand sein, dem „unser“ Krieg entwuchs, entwachsen mußte? Ist darum Friede auf Erden, weil an die Stelle der 42er Mörser jetzt wieder – im sozialen Kampf, nennts die bourgeoise Phraseologie – die „friedlichen“ Waffen, die Milliarden-Trusts treten? Weil die kriegerische „Hungerblockade“ nun abgelöst wird durch Hungerlöhne?

            Wie die Arbeit das Element des Regsamen ist, so ist der Krieg, der ja immer auf Unterjochung abzielt, der soziale wie militärische, das Element des Arbeitsscheuen. Wir wollen schaffen und arbeiten in Frieden und Freiheit. Deshalb scharen wir uns um die Zeichen des Sozialismus, die Frieden und Freiheit verheißen.

            „Der Geist marschiert!“ tönt uns da höhnend ein Schlagwort entgegen; der Künstler, der Geist könne sich nicht organisieren; das widerstreite seinem innersten Wesen.

            Nun: es scheint mir immerhin einer weitreichenden Abrüstung nahe zu kommen, wenn der „Geist“, der widerspruchslos, wenn nicht antreibend, sich in Reih und Glied der Kriegshorden fügte, oder ärger noch, vom sicheren Pfühl sie zum Marschieren aneiferte: wenn er zunächst einmal, um den Schießprügel in Trümmer zu hauen, eine Vereinigung der Kräfte sucht; wenn er – jetzt ohne Schießprügel – „marschiert“, um sich und seinem Volke den Frieden zu sichern und seiner Arbeit Früchte.

            Wir wollen nichts von Kriegskunst wissen, nichts auch von jener Kunst, die auf den Blutäckern des sozialen Krieges blüht. Wir wollen den Völkerfrieden, aber auch den sozialen, den Menschheitsfrieden; in diesem Tale des Friedens allein kann die wahre Kunst gedeihen; dort erst kann der Geist schaffen und walten; dort wartet des Geistes seine wahre Bestimmung: in friedlichem Wettstreit die Individualität zu pflegen, Führer und Priester seinem Volke zu sein!

In: Die Wage. Eine Wiener Wochenschrift, Nr. 5, 31.1.1919, S. 97-99.

Felix Salten: Nervenprobe

Wie gern würde nun jedermann seine Gedanken zu anderen Dingen senden und sie dort festhalten.  Oder sie sorglos durch den Raum schweifen lassen. Von einer entzückenden Gegend in der Sommersonne zu einem geliebten oder verehrten Menschen; von einem bahnbrechenden Buch zu einem beglückenden Kunstwerk, oder zu einem Musikstück, daraus Seligkeit und Aufschwung strömt. Wie eifrig müht man sich, das Gespräch in andere, weit weg führende Gebiete zu lenken, wo sich weite Ausblicke öffnen, irgendwohin, gleichviel wo. Es wäre wohltätige Beruhigung, wäre notwendiges Labsal. Aber noch geht das nicht. Noch nicht. Die eben erst durchlebten Tage lasten zu schwer auf den Nerven. Was immer man auch versucht, es bleibt unmöglich, etwas anderes zu denken, von etwas anderem zu reden, als von dem Ereignis dieser Tage. Deshalb soll man die vergebliche Mühe auch gar nicht aufwenden. Sich ruhig aussprechen, so ruhig wie eben zulässig, ist doch die einzig wirksame Entspannung. Entspannung aber brauchen wir, weiß Gott, alle miteinander.

            Ein starker Eindruck war es, ein stärkender Eindruck zugleich, wie jede Arbeit trotz des heftigen Kampfes ihren ungestörten Fortgang nahm. Alle waren an ihren Stellen. Die Arbeiter in ihren Fabriken und Werkstätten, die Beamten in den Bureaux. Die Lieferung der Lebensmittel wurde nicht gestört. Und – ein Beweis großen Vertrauens – zahlreiche Kaufladen hatten offen, als sei nichts passiert und als könne nichts passieren. Während Anno achtzehn der Novemberumsturz über unser zermürbtes, zerstörtes Vaterland hinfegte, wurde hier an dieser Stelle gesagt: „Partei, das ist die Unfähigkeit, eine rein menschliche Angelegenheit rein und menschlich zu betrachten.“ Die musterhafte Art, in der sich das Volk von Wien jetzt verhalten hat, ist eine rein menschliche Angelegenheit. Angesichts einer hoffentlich bald überwundenen Gegenwart, die sogar die Schulkinder politisieren wollte, so daß sie eine Besinnung und ein Urteil sich zumuteten, bevor sie das Leben überhaupt kannten, angesichts dieser, wie gesagt, hoffentlich bald überwundenen Gegenwart darf man das rein menschliche Verhalten der Wiener wohl einmal rein menschlich würdigen.

            Mag auch behauptet werden, die Leute seien alle nur deshalb bei ihrer Arbeit und Pflicht geblieben, weil jeder sich sagte, daß der kleinste Platz, der frei wird, Hunderte von stellungslosen Bewerbern findet, die Anerkennung, die solch einem Ausharren gebührt, kann dadurch nicht gemindert sein. Nerven gehören zu solchem Ausharren. Geduld, sehr viele, sehr gutmütige Geduld muß man haben. Und neben der angenehmen, neben der sympathischen Dosis Leichtsinn doch kluge Einsicht und im Grund verantwortungsbewußten Daseinsernst.

            Man erwäge, was die Wiener seit zwanzig Jahren durchgemacht haben. Erwäge ferner, daß Tausende von ihnen vor zwanzig Jahren Kinder waren, Tausende Halbwuchs, daß weitere Tausende vor zwei Dezennien erst zur Welt kamen. Man rechne die Zahl derjenigen dazu, die vor zwanzig Jahren als reife Menschen behaglich ihre Tage genossen haben und seither vom härtesten Existenzkampf ausgehöhlt sind. Dann wird man begreifen, wie unendlich viel diese glänzend überstandene Nervenprobe bedeutet. Das Wiener Volk ist während des ganzen, ungeheuer langen Krieges vom Donner des Krieges verschont geblieben. Die paar Gewehrsalven in der Umsturzzeit erregten heftigste Bestürzung und das Schießen nach dem Brand des Justizpalastes weckte starres Entsetzen.

Was ist das heute, gegen die Vorgänge der letzten Tage? Beinahe gar nichts. Die Ansätze zu Feuergefechten in der sogenannten Revolution sind Ansätze geblieben, mußten Ansätze bleiben, weil die Wiener, zu sanft, zu liebenswürdig, zu mildherzig, keine Neigung für das Tragische zeigen und weil sie damals zu müde, zu verzweifelt waren, um in wildem Jähzorn aufzuschäumen. Der staatsrechtliche Umsturz vollzog sich in Wahrheit, ohne daß es notwendig gewesen wäre, daß die Gewehre knallten. Dieser Umsturz geschah durch Zwang von außen her, durch die Konjunktur, die ihnen gegeben und die von der tiefen Entmutigung der bis dahin Regierenden gefördert wurde. Der Brand des Justizpalastes mit seinen Todesopfern stellt sich schon längst als das ebenso dilettantische wie nichtswürdige Unternehmen von ortsfremden Hetzern dar.

            Jetzt aber das dumpfe Dröhnen der Geschütze. Mitten in volkreichen Bezirken. Das tödliche Schwätzen der Maschinengewehre. Oesterreicher gegen Oesterreicher. Keiner von den heute Lebenden vermag sich zu erinnern, er habe Kanonenfeuer in Wien gehört. Diesmal brüllte die furchtbare Stimme der Artillerie durch Tage und Nächte. Die Fenster klirrten, die Häuser bebten von dem Luftdruck. Und im drückenden Bangen um das nächste Geschehen, um das gestern und heute Geschehene bebten die Nerven, bebten die Gemüter der Menschen. Eine ungeheure Fassung, ein frommes Sichfügen braucht es, da die Tagesarbeit zu verrichten und des Nachts nicht völlig zu verzagen. Dann der Gedanke an alle die Toten, an die blutigen Opfer, Oesterreicher alle zusammen; der Gedanke an die zahllosen vernichteten Existenzen, an junge Leute, die verwirrt und mit der Inbrunst der Jugend ihr Leben einsetzten, an unschuldige Kinder, die nicht ahnen, wieso und warum plötzlich die Hölle über sie hereinbricht. Der Gedanke an die Männer der exekutiven Gewalt, die hingebend und heroisch ihre Pflicht erfüllen, die das Aeußerste in ihrer Unerschrockenheit, in ihrer mutigen Bravour wagen. Begreiflich, daß zu solcher Zeit das Verbreiten von Gerüchten unter Strafe gestellt wird.

Aber ebenso begreiflich, daß dennoch Gerüchte von Mund zu Mund fliegen. Jeder will etwas wissen und jeder will etwas gehört haben oder etwas hören. Aber selbst da zeigten sich die Wiener geradezu musterhaft. Als hätten sie mit feinem Taktgefühl verstanden, daß diese Tage zu ernst, zu schwer, zu entscheidend waren, um Sensationsmache und Wichtigtuerei zu gestatten, ließ sich kaum ein Gerücht in die Runde tragen. Und das Telephon war doch frei. Wenn die Leute trotz des Gewittersturmes, der sie umtobte, treu bei ihrer Arbeit blieben, wenn sie trotz allem, was sie wußten, und mehr noch, trotz allem, was sie erfahren konnten, ihre Nerven behielten, so trat damit ihre Abkehr von der Politik auf das deutlichste in Erscheinung, die Abkehr von der kannegießenden, phrasendreschenden, professionellen Politik. Die Menschen wollen in Wirklichkeit Ruhe haben. Sie wollen Frieden und eine gesicherte Existenz. Der weitaus überwältigenden Mehrheit sind das die wichtigsten, die höchsten und heiligsten Güter. „Sicherheit und Ruhe, Ordnung und Freiheit“, läßt Goethe den Chorus des Volkes im Egmont-Drama sprechen. Goethe ist es, der in seiner „Italienischen Reife“ einmal sagt, der Mensch sei doch „eine gutmütige und geduldige Bestie“. Geduldiger als sich diesmal das arbeitende Wien benommen hat und gutmütiger wird man so leicht in der Welt keine zweite Stadt finden. Das arbeitende, das ums tägliche Brot sorgende, das unpolitische Wien.

            Die Fremden, die in Wien sind, brauchen nicht abreisen. Die Aengstlichen, die abgereist sind, können getrost zurückkommen. Und wer im Ausland den Plan hegte, nach Wien zu fahren, soll ihn nicht aufgeben. Eine Großstadt, die derartige Erschütterung so unerschüttert überdauert hat, ist schon deshalb einen Besucht wert. Von anderen Köstlichkeiten für heute ganz zu schweigen. Man hat seit zwanzig Jahren sehr viel in Wien erduldet. Sehen wir zu, was ja keiner leugnet, dieses jüngste Ereignis ist das ärgste gewesen. Allein, was gleichfalls nicht geleugnet werden kann, überall in allen Teilen dieser schönen Erde hat der Mensch seit zwanzig Jahren Ungeheures erdulden müssen. Und da war es hier, an der Donau immer noch am besten, am wohnlichsten, am geschütztesten. Eine wahnsinnig gewordene Zeit. Vielleicht. Schwer, in dieser Zeit zu leben und aufrecht zu bleiben. Aber eine unerhört interessante, eine fabelhaft spannende, eine hochdramatische Zeit.

            Wir können heute noch an nichts anderes denken, können von nichts anderem reden, als von dem Ereignis des blutigen Wiener, des österreichischen Faschings, der am Aschermittwoch sein trübseliges, sein gutes Ende nahm. Noch beschäftigt alle die Sorge, wie die Wunden, die geschlagen wurden, die geschlagen werden mußten, zu heilen sind. Noch spähen wir bang in die dunklen Wetterwolken, ob nicht ein erster Schimmer der Gnadensonne hervordringt. Er wird kommen. Gewiß. Wir wären nicht in Wien, nicht in Oesterreich, wenn dieser Schimmer ausbliebe. Wenn wieder Milde und Versöhnlichkeit waltet, woran kein Zweifel besteht, wenn jetzt gescheiterte Existenzen wieder aufgerichtet und der Gemeinschaft wieder neu gewonnen werden, wenn wir die Witwen und Waisen vor Not beschützt wissen – dann beginnt ein schüchternes, ein befreites Aufatmen. Immer tiefer wird dieses Atemholen werden, immer leichter und befreiter. Dann wird es wieder möglich sein, an andere, angenehme Dinge zu denken, wieder möglich, von anderen, wichtigen und schönen Dingen zu reden.

            Eines Tages, der hoffentlich nahe ist, mag sich dann das so heiß ersehnte Gefühl der Sicherheit wieder einstellen, das so lang entbehrte Empfinden der Beruhigung. Der Preis den wir alle dafür schon bezahlt haben, ist hoch genug. Nicht bloß die Politiker und die parteimäßig Gerichteten. Wir alle ohne Ausnahme. Denn das harmloseste, abseitigste Einzelschicksal ist mit hineingerissen in den Wirbelsturm der Gegenwart. Gefühl der Sicherheit jedoch bildet die Grundlage für jegliches Blühen der Wirtschaft. Empfinden der Beruhigung bildet den Boden, auf dem das Gedeihen erst möglich wird. Und nichts anderes, bei Gott!, wirklich nichts anderes hat Oesterreich so dringend nötig, wie das Gedeihen seiner Wirtschaft.

In: Neue Freie Presse, 18.2.1934, S. 2-3.

Lutz Weltmann: Alexander Tairoffs theatralische Sendung

Zum bevorstehenden Wiener Gastspiel des Moskauer Kammertheaters.

Alexander Tairoff, der Direktor und Regisseur des Moskauer Kammertheaters, ist der Max Reinhardt Rußlands. Das klingt paradox. Auf den ersten Blick erscheint er eher als ein Gleichstrebender Jeßners, der Mary Wigman, Charlie Chaplins. Aber schon diese Zusammenstellung zeigt, daß diese Verwandtschaft nichts unbedingt Persönliches, vielmehr Ausdruck eines gemeinsamen Zeitstiles ist. Gliederung des Bühnenbildes, organische Anpassung der Kostüme und der Bewegung der Darsteller dazu – das schlägt alles in die gleiche Kerbe wie eine Jeßnersche Inszenierung. Seiner Mentalität nach und als theatergeschichtliche Erscheinung ist Tairoff der Erbe Reinhardts. (Tairoff verhält sich zu Stanislawsky wie Reinhardt zu Otto Brahm.)

            Reinhardt wie Tairoff lösten das Theater aus den Fesseln der Literatur, proklamierten das théâtre pour le théâtre. Beide zu einer Zeit, als die dramatische Produktion zu stagnieren begann. Shakespeare, Lenz, Büchner, Tolstoj, Beer-Hofmann dienten Reinhardt als Vorwand zur Entfaltung zauberischer Theaterkünste. Aber Ballett, Pantomime und Operette taten es auch. Und programmatisch genug eröffnete er seine beiden letzten Theatergründungen, das Josefstädter Theater in Wien und die Komödie in Berlin, mit Goldonis comedia dell’ arte „Der Diener zweier Herren“. Und was der Berührungspunkte mehr sind. Tairoff verficht im Grunde genommen die gleichen Ideen. (Und scheint im Begriffe, Max Reinhardts europäische Geltung zu erwerben.) Tairoffs Stoßkraft ist stärker. Er ist Programmatiker. Begründet seine Ideen theoretisch und historisch. Und seine Situation ist geklärter, umrissener, als zu den Zeiten von Reinhardts Hervortreten. Zwischen Stanislawsky und Tairoff liegt die russische Revolution. Deren Umwälzung auf literarischem Gebiete nicht minder groß war als auf politischem. Mit der bolschewistischen Idee riß die Verbindung mit der bürgerlichen Tradition ab. Die Gestalten des russischen Dramas hatten ihre Symbolkraft für die Mitglieder der Sowjetrepublik verloren. Den Russen fehlte das Reservoir der Klassiker, aus dem (wie lange noch?) die deutschen Bühnenleiter schöpfen. Der dramatische Nachwuchs ist noch spärlicher als bei uns: Jevreinoff mit seiner pirandellesken „Quintessenz“, Leo Lunz mit seiner – wohl eigens für Tairoffs Bühne erdachten – Regiepartitur „Vogelfrei“ marschieren an der Spitze.

            Nun macht der Theoretiker Tairoff aus der Not eine Tugend. Er entsinnt sich, daß es Zeiten gab, in denen das Theater sehr gut ohne Literatur auskam. Denkt an den Mimus der römischen Kaiserzeit, den Vorläufer der Oper und Operette und – in der äußeren Struktur: den Wechsel von Vers und Prosa, Lied und Tanz – Shakespeares. Tairoff arbeitet am konsequentesten an der Wiedergeburt des Mimus mit, die sich seit den letzten Jahren überall ankündigt: beim Drama im Zug zum Volksstück und zur comedia dell’ arte, beim Theater wenn Barnowsky „Wie es euch gefällt“ ganz auf das Schäferspiel stellt, Jürgen Fehling „Viel Lärm um Nichts“, Ludwig Berger „Der Widerspenstigen Zähmung“ ganz auf das Fastnachtspiel, Reinhardts Offenbachiade „Orpheus in der Unterwelt“ und Jeßners Wedekind-Inszenierungen nicht zu vergessen. (Dramaturgische Bearbeitungen wie sie Kalidasa durch Paul Kornfeld, Goldoni durch Otto Zoff, Calderon durch Hugo von Hofmannsthal erfuhren weisen in die gleiche Richtung.

            Aber Alexander Tairoffs theatralische Sendung ist keine theoretische, sondern eine praktische. Sie ist die Disziplin seines Ensembles. Das sind trainierte Körper, zu jeder Akrobatik und Exzentrik fähig, schmissige Tänzer mit federnden Gelenken und beherrschter Mimik – bis zum Chor voll Musikalität in den Fingerspitzen. Man hat das Gefühl, daß jeder Chorist, jedes Chormädel im nächsten Stück eine Hauptrolle übernehmen kann.

            Vorbildlich ist Tairoff durch die Suggestivkraft seiner Persönlichkeit, die sich bis zum kleinsten Statisten mitteilt und die gleichmäßige Durchdringung von Bühnenraum, Kostüm und Geste mit seiner Phantasie. Wenn Giroflé auf dem Oberschenkel des knienden Liebhabers sitzt und mit ihrem Fuß rhythmisch die Küsse begleitet, wenn Vater Bolero den Kopf mit dem wehenden Haupthaar in seine Halskrause schneckengleich einziehen kann (zwei Beispiele für beliebig viele), so ist der tänzerische Ausdruck dem bewegten Bühnenbild bis ins Letzte angepaßt: eine Klappe öffnet sich und das Zimmer verwandelt sich in ein Schiff, zwei Schiffsluken werden plötzlich zu Fenstern des Hauses – hier ist die Technik so sublimiert, so ganz und gar nicht Apparat, daß sie dienend mitspielt.

            Tairoff fand bereits deutsche Nachahmer. Von Berthold Viertels „Kaufmann von Venedig“-Inszenierung, die aus „Giroflé-Girofla“ den Kopfputz übernahm, bis zu Kieslers „Raumbühne“ und Karlheinz Martins „Franziska“-Aufführung stets äußerlich oder mißverstanden. Vorbild ist Alexander Wesnins Bühnenmodell zu Tairoffs Inszenierung des Mannes der Donnerstag war. Aber es ist ein Irrtum, wenn man aus dieser Bühnenkonstruktion ein Prinzip macht. Tairoffs Bühnenarchitektur zu „Sechs Detektivs suchen einen Anarchisten“ (wie Chestertons bekannter Roman bei Tairoff heißen könnte) ist aus dem Stücke selbst hergeleitet; gleichsam ein Einheitsbühnenbild, das die Atmosphäre der Großstadt wiedergibt, die Vision Großstadt. Nur durch das Inbeziehungsetzen der Spieler zu Raum und Musik bekommt diese Bühnenkonstruktion ihre Berechtigung. Flimmernde Lichtreklame und gehetzte Zeitungsrufer – die Straße. Kämpfende Autohupen – die Verfolgung, während gleichzeitig eine schräge Markise sich senkt und mit Tisch und Stühlen ein Teil der Bühne zum Kaffeehaus wird. Stets variiert bis zur Schlußsteigerung, wenn das Zeitungsblatt den Königsmord verkündet.

            Häufig rankt Tairoff seine Einfälle spielerisch um ein Nichts. Aber er versteht es auch, sie für dramaturgische Regie produktiv zu machen. Er proklamiert die zeitungebundene, voraussetzungslose Schauspielkunst. Aber er macht sie zur Wegbereiterin eines neugeborenen Dramas. Das ist nicht der unbeträchtlichste Teil von Alexander Tairoffs theatralischer Sendung.

In: Die Bühne, Nr. 31/1925, S. 14f.

Jakob Wassermann: Auflösung der Form

Wenn die Literatur ein Zeiger ist, der die geistig-seelische Verfassung einer Epoche meldet, so gibt sie den europäischen Völkern heute Signale, deren Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt. Es hat den Anschein als sei man der Geschlossenheit aller gültig gewesenen Formen überdrüssig geworden; man will sich nicht mehr an Gesetze binden, die man für veraltet hält, und anerkennt weder ein Metier, noch glaubt man an seine Erlernbarkeit ; man tritt fertig auf den Plan, mit zwanzig Jahren schon, und prätendiert, daß alles, was man macht, auch fertig sei. Es gibt unter jungen Autoren und Kritikern ein bequemes Schlagwort, das immer kräftiger zu lesen ist: es heißt bürgerlich und wird selten anders als in abschätziger Bedeutung angewendet. Aber es macht mich heimlich lachen, weil ich sehe, daß das sogenannte Bürgerliche bei allen Umkehrungen und Umstürzen am Ende obenauf bleibt wie die Ölschicht in einer Flasche mit Wasser. Außerdem kann ich nicht ganz vergessen, welche Galerie unsterblicher Werke diese bürgerliche Welt aufzuweisen hat, überflüssig, sie herzuzählen. Die Jugend erklärt aber, sie wolle sich diese Bevormundung durch Meisterwerke nicht mehr gefallen lassen, sie habe es nicht nötig, sie wünsche sich davon zu befreien, sie statuiere weder Meister noch Geselle noch Lehrling, jeder hab sich nach seiner Erfahrung, seiner Erkenntnis und dem Zustand seines Herzens zu äußern und gemäß den ihm innewohnenden Kräften zu behaupten. Was aber darnach zutage tritt, ist kläglich und hat so wenig Leben und Dauer in sich, daß die Offenbarungen von gestern immer schon die Makulatur von morgen sind. Sonderbare Verschwendung an Glut und Gut und Wille. Kein Zweifel, daß jede Übergangsepoche solche Stimmen kenn, ein- bis zweimal in jedem Jahrhundert kommt es dazu, daß selbst die konservativen Geister eine skeptische Bilanz der Zeit ziehen, warum sollten da die rebellischen nicht ihre Autodafés veranstalten ; die Menschheit hat einen großen Verbrauch in ihrer Wirtschaft, die zunehmende Verdichtung der Gesellschaftsgruppen bedingt eine Vermehrung der Abfallprodukte, mit derselben Regelmäßigkeit und Notwendigkeit wie die Städte verrottetes Eisen, Asche, Lumpen und schmutziges Papier ausscheiden, Ergebnis ihres gewaltigen Verdauungsprozesses, entledigen sich Nationen und Berufsklassen der Ideen, die ihnen gedient haben, der Werke, die in ihrer Mitte entstanden sind und deren sie von einem Tag zum andern nicht mehr bedürfen.

Aber das Tempo dieser Verdauung wird allmählich etwas zu stürmisch, und man fragt sich, ob dabei die Blutgefäße noch Säfte verarbeiten und der Magen noch einigermaßen funktioniert. So viel Absonderung fordert sehr viel Speise; daran mangelt es ja nicht; während noch vor fünfzig, vor dreißig Jahren der geistige Konsum auf bevorzugte Klassen und vorgebildete Schichten beschränkt war, gibt es solche Scheidungen heute kaum mehr, alle verzehren alles, aber die Flüchtigkeit der Aufnahme ist beinahe so groß wie die Mittelmäßigkeit des Aufgenommenen und die Vergeßlichkeit der Aufnehmenden. Dies ist keine Jeremiade, sondern Feststellung; es ziemt auch keinem einzelnen, sich darüber in Klagen zu ergehen, da er auf seine Weise teil hat an der Bewegung des Ganzen, und wenn er seine Kräfte zu fruchtlosem Wiederstand verwendet statt zur Bewältigung und Hilfe, wird er mitzermalmt und selber zum Kehricht geworfen. Wir stehen vor einer ungeheuren Veränderung des gesamten sozialen Organismus, und ob der Prozeß, der vor hundertvierzig Jahren begonnen hat, bereits zu seinem Höhepunkt gediehen ist, wage ich nicht zu sagen; die doppelt so lange Ära des Humanismus hat dem Gesichte Europas die Züge verliehen, durch die es dreimal vorher schon, in der Antike, im römischen Kaiserreich und in der Renaissance, sein individuelles Gepräge erhielt: nun ist es alt geworden und sein Träger tritt den in der Geschichte ewig wiederholten Gang zum Jungbrunnen an. Amerika war stets nur Abbild und Widerspiel dieser Kultur; anfänglich schien alles ein Zufallswesen und innere Verarmung, was dort in kolonialer Abhängigkeit von den Mutterländern geschah, plötzlich hat sich erwiesen und wird mehr und mehr zur historischen Tatsache, daß die zersprengten Teile wie ein einem Völkerglühofen zu neuer Einheit, neuer Gesellschaft und neuen Gesellschaftsidealen mit neuen Staatsgedanken zusammengeschmolzen sind, denn ich glaube, alles bei uns landläufige Urteil über Amerika ist Vorurteil, Unkenntnis und alexandrinischer Hochmut. Die östliche Welt aber war bis vor kurzem nur von esoterischen Plänklern und kühnen Geographen in unseren Gefühls- und Wissenskreis einbezogen worden. Asien, das schlummernde Rätsel, für ahnungsvolle Geister ein halb lockender, halb beunruhigender Traum, Rußland das große dunkle Tor, aus dem verführerische und prophetische Stimmen herüberdrangen und hinter dem visionär-verschwörerisch die ersten Versuche gemacht wurden, den ehrwürdigen Bau der christlich-germanischen Weltordnung in die Luft zu sprengen.

Indessen ist alles in Fluß geraten, wie wenn ein riesiger Zauberer im Weltraum den Planeten mit seinem Stab angerührt hätte; sogar der Kontinent, der durch Jahrtausende nie den Charakter als Appendix herrschender Kulturen und Imperien verloren hatte, Afrika sogar zeigt sich von eigenstrebenden Kräften belebt und steht auf und weist unbezahlte Schuldenrechnungen vor, die eines Tages eingelöst werden müssen, ob friedlich oder mit Blut, das wird ein Teil unseres Schicksals und ein besonderes Buch der Geschichte sein. Es ist kein Anlaß, zu erschrecken, es geht um anderes als um dein und mein Glück, wir sind nicht dazu geboren, um wie Kinder unterm Weihnachtsbaum jährlich eine Portion Versprechungen und Hoffnungen von der Weltregierung einzustreichen, damit wir uns dann arglos daran ergötzen können, es handelt sich um Verantwortlichkeit. In einer Gemeinschaft, deren Vitalität und geistige Zielgebung vornehmlich darin besteht, daß Formen zerstört werden, die nicht zurücklassen als Zersetzungsstoffe, das heißt Gärungs- , da heißt Aufruhrkeime, wo also unverhehlter Raubbau an allem überlieferten Besitz getrieben wird, verringert sich die Verantwortlichkeit in demselben Maße, in dem der lebendige Vorrat an geistigen, seelischen, religiösen Gütern zum Petrefakt wird, ein Zusammenhang, der zu jeder Stunde, durch jedes Geschehnis im öffentlichen wie im privaten Leben beweißbar ist, von den Gewaltmethoden der politischen Parteien bis zur Veräußerlichung und Verwahrlosung der Handwerke und Künste. Eine Sache können heißt, sich mit Freiheit der Formen bedienen, durch die sie zur Wirkung oder zur Erscheinung gelangt. Nicht anders ist es im Moralischen; wenn der  handelnde Mensch sich der Formen entschlägt, die die Arbeitsfrucht von Generationen sind, und zugleich ohne daß er es merkt, die Grenzen seiner Persönlichkeit ausmachen, wird sein Tun und sein Werk ursach- und folgenlos und steht unheimlich leer im Raum. Das ist das Tragische an so vielen Existenzen heute, das Leerstehen im Raum. Zu frühe Freiheit, zu frühe Befreiung, zu früher Verzicht auf Bindung, daher die Isolation, die so nah der Verzweiflung und dem Sturz ist. Inneres Gesetz wächst wie die Pflanze, kann nicht nach Willkür und Bedünken gezeugt oder gezüchtet werden; je tiefer die Wurzeln ins Erdreich gehen, je höher reckt sich der Gipfel, je mehr Vorleben einer in den Geschlechtern hat, je mehr Selbstleben hat er, je mehr Nachleben, es sei denn, Kern und Säfte seien erkrankt. Zu frühe Freiheit, das ist es; verbrauchte Form fällt von selber ab, doch dann ist die neue auch schon da : wie der Baum seine Ringe, die Natur ihre Gezeiten, so hat der Geist seine Erneuerungen und das Leben der Nationen seine auf- und niedersteigenden Perioden. Niemand kann aus eigener Machtvollkommenheit organisches Werden veranlassen, alles Dasein beginnt und endigt im Geheimnis und besteht durch die geschaffene Form.

Woher rührt eigentlich das rebellische Verlangen nach Lösung und Frucht von Formen, das vor keiner Errungenschaft mehrt Halt machen will, auch vor dem geheiligtesten Bestand nicht? Sind so viele eben dieses Bestandes müde geworden? Müde von dem, was man das Hergebrachte nennt (eine Bezeichnung mit einem wunderlichen Beigeschmack von Trägheit und Fäulnis), dieses großen Reservoirs von Bräuchen, Sitten, Moden, Regeln, Schulen, Zeremonien, Verträgen und Gesetzen, das den ungeduldigen Enttäuschen zu getrübt erscheint, als daß sie es noch länger der Verwaltung eines kraftlosen Regimes anvertrauen möchten? Müde der Kluft zwischen Wissen und Handeln, müde der vergeblichen Erfahrungen, der Institutionen und der Verheißungen? Müde der Juristenjustiz, der Künstlerkunst, der Priester- oder Kirchenreligionen, der Geschichtslügen und der Gesellschaftslügen? Unsicherheit ist das Gefühl, von dem sie am stärksten ergriffen sind, Zeit-, Welt- und Lebensunsicherheit. Das eigene Tun, der eigene Wert, der eigene Charakter sogar hat in ihren Augen keine Konsistenz und keine Kontinuität mehr. Ich verstehe es gut. Lichtenberg schreibt einmal: „Ich kann nicht sagen, ob es besser wird, wenn es anders wird, aber so viel kann ich sagen, es muß anders werden, wenn es besser werden soll.“ Das ist wohl die herrschende Meinung bei allen heute, die von einer Aufgabe und Idee getrieben werden, freilich auch bei denen, die nichts im Sinn haben als Ruinen hinter sich zu lassen. Lichtenberg konnte sich so einen Ausspruch leisten, denn in ihm war so viel vom Empörer wie vom Reaktionär, und nur durch die Resultante aus diesen beiden Kräften wird die Welt in Gang erhalten. Es ist kein Unglück, wenn das Ab- und Ausgelebte beiseite geworfen wird, wohl aber ist es eins, wenn die Kärrner den Königen ins Handwerk pfuschen, die Kühe, die Milch geben sollen, den Melkern den Bauch aufschlitzen und die Maschine ihren Erfinder und Erbauer zum Sklaven macht. Und ein weit größeres, wenn die aus dem Chaos sich lösende neue Form keine Spiegelung, kein Gleichnis mehr in den Menschen hat, die durch Verzerrungen geängstet und durch Ausschweifungen des Auges und der Phantasie entnervt, nicht mehr sehen was sie sehen und nicht mehr hören was sie hören. So ekel die Phraseologie der trägen Beharrung ist, so gefährlich und giftig ist die der Bilderstürmerei. Man muß die Form begreifen als ein Ausbruch der Gottheit, als das Symbol des in sich geschlossenen Ringes, der den einzigen Schutz darstellt gegen das Grauen der Ewigkeit und die auf allen Seiten hereinragende Finsternis des Todes. Anders zu leben ist unmöglich.

In: Neue Freie Presse, 1.1.1926, S. 1-3.

Paul Wertheimer: Georg Kaisers „Gas“

(Erstaufführung des ersten und zweiten Teils an einem Abend im Raimund-Theater)

Das Raimund-Theater hat den von Georg Kaiser selbst gebilligten Versuch unternommen, die beiden Teile des sozial-revolutionären Dramas „Gas“ zu einem Abend zusammenzuschließen, zu ballen wie man in der Expressionistensprache sagen müßte. Auf der Bühne rasen die Explosionen, die äußeren und die inneren, stürmen in überhitzt glühender Atmosphäre fieberhaft erregte Menschen durch sieben Akte gegeneinander, gegen jede Gewaltherrschaft, auch gegen die der Natur – beklommen, angeregt und erregt, menschlich und künstlerisch zweifelnd und zuletzt widersprechend, sieht man vor diesem Getöße, ohne darum die dramatische Stoßkraft vieler dieser Szenen und die Bedeutung des ganzen Werkes zu verkennen, die Bedeutung eines wichtigen künstlerischen Zeitsymptoms.

Ein Werk, nicht wie „Die Weber“, oder selbst noch Tollers „Die Maschinenstürmer“, geboren aus Strömen der Gestaltenfülle oder aus mitleidigem Weltverstehen, vielmehr, selbst chaotisch-ideologisch, kraft- und willensbewußt, aus dem Chaos einer gärenden Zeit. Ein Werk, das sich eine über alle klaren Theatermöglichkeiten hinausgreifende Doppelaufgabe gesetzt hat; die soziale Revolution soll mit den Errungenschaften der künstlerischen auf dem Theater aufgezeigt, ja, das soziale Problem soll mit dem künstlerischen zugleich in einem mehr gedachten, als geformten Werk gelöst werden. Ein Versuch, unternommen mit den Mitteln einer großen Begabung, als die wir Georg Kaisers schätzen – er ist doch wesentlich anders als seine Mitläufer im Expressionistischen und bei allem Kalt-gedanklichen seiner Art doch nicht bloß ein „Hirnhund“, wie sich seine Genossen selbst verzweifelnd nennen. Gestützt wird dieser Versuch durch einen scharf intellektuellen, zu jedem kühnsten Experiment aufgelegten und dabei praktisch bühnenkundigen Regisseur, wie es Dr. Rudolf Beer ist. Dennoch konnte ein solches Wagnis nicht zur Gänze gelingen, weil abstrakte Gebilde, seien sie noch so mutig gedacht, auf dem Theater trotz aller explosiven Heftigkeit uns nie innerlich aufwühlen, weil sie doch nur wie gewalttätige Schemen an uns vorüberziehen.

Man erinnert sich aus der Darstellung des ersten, stärksten Teiles dieses Dramas im Deutschen Volkstheater an die Umrisse des Geschehens. Umrisse, die wie aus einem feurigen Gedankennebel auftauchen. Georg Kaiser hat den „Milliardärssohn“, dessen Geschicke im ersten Teil seines Schauspiels „Gas“ gezeigt werden, aus seiner Tragödie „Die Koralle“ übernommen. Dort sieht man den zu ungeheurem Reichtum hinaufgeklommenen Emporkömmling. Dessen Sproß  ist eben jener Milliardärssohn mit dem sozialen Gewissen. Er ist Herr über einen Riesenbetrieb, in dem er sich selbst nur als Arbeiter betrachtet. Der Gewinn wird gleicherweise verteilt, ohne daß darum die Anklagen, Leidenschaften, Wünsche rings zur Ruhe gebracht werden.  Da ereignet sich während des Hochzeitsfestes seiner Tochter mit einem Offizier die Katastrophe, jene Explosion im Gaswerke. Wer ist daran schuld? Der Ingenieur, dessen mathematische Formel ohne Zweifel richtig gewesen ist? Irgend ein Zufall? Nein, die Natur selbst, nicht immer durch eine Formel zu binden, hat gegen ihre Versklavung aufbegehrt, wie es diese Menge gegen den Erfinder der Formel, den Ingenieur, unternimmt. Der Milliardärssohn deckt seinen Helfer vor den Ausbrüchen der Waffe. Ihm, diesem unbeirrbaren, wenig klaren Ideologen, ist nun ein anderer Plan aus der Schule Tolstois oder Henry Georges gekommen: die Arbeiter sollen Bauern werden. Doch jener Ingenieur reißt die Menge durch seine hymnischen Lobpreisungen der Arbeit mit; sie helfen das Werk wieder bauen. Inzwischen ist der Krieg aufgeflammt, der Staat verlangt das Werk für sich: der Milliardärssohn sieht solcherart auch seinen Beglückungsplan zerstört, er bricht in dem Augenblick zusammen, da die Tochter heimgekehrt ist. Ihr Gatte, der Offizier, hat sich wegen schimpflicher Schulden erschossen, ein letzter Traum lockt und narrt den phantastischen Unternehmer: das Kind, das die Tochter im Schoße trägt, soll der neue Menschenheiland werden….

Dieses Kind, zum Mann herangewachsen, steht im zweiten Teil des Dramas „Gas“ im Mittelpunkt der ungewissen Ereignisse. Jener Krieg, dessen blutige Schatten Kaiser in den ersten Teil seines Werkes warf, ist in dem zweiten noch nicht zu Ende. Der staatliche Betrieb, dem das Gaswerk jetzt untergeordnet wurde, bringt nur Enttäuschungen hervor. Georg Kaiser ist doch zu sehr Dichter und darum Individualist, um das sozialistische Programm vorbehaltlos anzuerkennen. Er zeigt oder deutet viel mehr nur skizzenhaft an, wie sich auch hier sehr rasch Uneinigkeiten und Streits entwickeln. Der Milliardärarbeiter, Enkel jenes ersten Besitzers, wird Führer der Waffe, in Weltbrüderschaft will er sich mit dem bisherigen Feind zu einem Menschheitsbund vereinen. Aber der Feind selbst besetzt das Werk und bestellt den Großingenieur, der es bisher geleitet hat, zum Bürgen für die Kriegsschuld. Als Frondienst wird die Arbeit nunmehr unter ehernem Kriegsgebot – Arbeit noch dazu den Feind – betrieben. Kaiser ist auch hier Dichter und Individualist genug, um das nationale Element gegenüber der sozialistischen These nicht zu verkennen. Neuer Unfrieden, neuer Haß, neue Debatten und, wie sein Großvater der Milliardärssohn, steht jetzt dessen Enkel, der Milliardärarbeiter, zwischen der Waffe, und rät, eine Giftgasbombe, die der Großingenieur konstruierte, gegen die feindliche Besetzung zu schleudern und so die hier Eingeschlossenen und, symbolisch, die Welt zu befreien. Aber sein Ruf bleibt ohne Widerhall. Nun greift er selbst nach der Bombe und schleudert sie gegen sich. In Dampf und Feuer lodert das Werk: der Tod schreitet über der vernichteten Welt….

Diesem zweiten, ganz gedankenhaften Teil, sind nicht mehr die erregenden Kräfte des ersten eigen. Was hier geschieht, sind nur Gedankenkämpfe, Debatten, die trotz der hitzigen Explosionsatmosphäre nur doktrinär ausgefochten werden. Und künstlerisch-doktrinär erweist sich hier die expressionistische Technik, die anfangs mit ihrem Telegrammstil, den stoßweisen Worten, den in hitzigen Ekstasen aufgetürmten Bildern steckt. Aber eine Ermüdung des Interesses tritt bald, zumal in dem zweiten Teile, in jeder Weise ein. Auf dem Theater, modern oder nicht, mit jeden „Ismus“ oder davon befreit, wie wir für die Zukunft erhoffen, immer gibt es hier nur ein Gesetz: alles ist erlaubt, wenn es sich nicht wiederholt. Aber hier wiederholt sich alles: die Debatten, in das Endlose geführt, das Nebulose der Weltbeglückungspläne, die Atmosphäre bleibt die gleiche. Hier steht alles, so heftig auch die Worte prasseln, dramatisch still, und selbst die Detonation zum Schluß erschüttert oder entsetzt nicht mehr, weil sie ja nur Wiederholung ist, benutzte Wiederholung diesmal. Wie anders hat sie einmal bei Björnson in „Ueber unsere Kraft“ gewirkt, wo man grauenhaft ihr Herannahen fühlte. Wie selbst noch in diesen ersten Szenen dieses Schauspiels „Gas“, in dem zuletzt Schemen statt Menschen durch Dampf und Rauch und Gedankennebel irren. So ist das Spiel, die Waffe dramatisch zu packen, trotz redefrohen Antagonisten nicht erreicht.

Dennoch bleibt dieser ersten Wiener Aufführung der beiden Teile des Kaiserschen „Gas“ der Eindruck eines Ereignisses von einer gewissen theatergeschichtlichen Wichtigkeit. Dieses Schauspiel bedeutet den Gipfelpunkt einer ganzen Richtung, einen Gipfel, der bereits zum Abstieg führt. Heute ist, wie jeder praktische Theatermann weiß, der Expressionismus, dieser Schrei des Theaters von morgen, bereits eine Formel von gestern geworden. Nur das Dichterische auch an den Werken dieser Epoche hat Bestand. Aus einem Werk wie „Gas“, so stark man auch daraus die nervös zuckende Faust eines Dramatikers – eines Dramatikers von preußischem Zuschnitt trotz der Revolutionsgeste – spürt, erwächst doch nur die Sehnsucht nach Menschen und ihren Schicksalen, nicht nach Schemen und explodierenden Ideen. Aus diesem Nebelland geballter Zeitgedanken wird auch Georg Kaiser den Weg in das Menschenland, mit dem er vielverheißend begonnen, zurückfinden. Er hat ihn bereits in Werken, die „Gas“ nachfolgten, gefunden.

Regie und Darstellung sahen sich hier vor einer nicht geringen Aufgabe. Das unheimliche Tempo mußte bewahrt und dabei der Eindruck der Gehetztheit vermieden werden. Er ist im zweiten Teil, der dadurch ungewollt zu einer leichten künstlerischen Persiflage des ersten wurde, nicht ganz, trotz Dr. Beers wieder höchst kluger Führung, vermieden worden. Die Darstellung hatte die eine Aufgabe, sich auf Stil, den expressionistischen Stil, zu stellen. Der Eindruck des linienhaft Typischen, nicht das Individuell-Menschliche, mußte im Gesamtbilde dieses Abends festgehalten werden – man sieht, daß diese auf Schrei und seelische und Wortexplosion gestellte expressionistische Kunst auch den Schauspieler typisieren und um sein Eigentümlichstes, das persönliche Gestalten, bringen muß. Hans Ziegler, Rudolf Zeife, Richard Duschinsky, Hermann Wail, Louis Böhm, Grete Witzmann, Lilly Karoly, Lina Loos, Karl Ehmann, Heinrich Schnitzler, Friedrich Rosenthal, Wolf B. Kersten, Eduard Loibner, Rosa Fasser, Alfred Neugebauer,  und Karl Skraup wußten stilecht zu typisieren und fast, immer verständlich, „gebrüllt“ zu sprechen. Der Heftigkeit der Wirkungen entsprach die Heftigkeit des Erfolges. Die Beifallsdetonationen begannen auf der Galerie und setzten sich, freilich zuletzt sehr wesentlich abgeschwächt, nach unten fort.

In: Neue Freie Presse, 9.3.1924, S. 14f.

Helene Tuschak: Die neue Frau.

Nicht durch die Fortentwicklung der Kultur, vielmehr durch den grausamen Rückschlag des Krieges ist die Frau dorthin gelangt, wo sie sein wollte: zur Selbstständigkeit. Man weiß es längst, daß ihr künftig alle Berufe offen stehen werden. Sie wird auch Juristin, Ingenieurin und Handwerkerin sein, sie wird wählen und gewählt werden, man wird ihre Stimme in der Volksvertretung hören – das ist alles nur mehr eine Frage der Zeit, deren geschlossener Weibestypus jedenfalls die intellektuelle, die vergeistigte Frau darstellt.

            In ihrer Vollendung liegt aber schon die Ueberwindung. Man blickt dieser kaum fertig gewordenen Frau in die ernsten Züge und empfindet, daß sie eigentlich nicht glücklich ist. Sie mag zufrieden sein mit jenem inneren Lohn, den Arbeit stets verleiht, vielleicht sogar froh, aber irgendwo scheint es zu fehlen. Es ist, als lebte sie über sich selbst hinweg. Sind Bildung und Wissen ihr zur Hemmung geworden? Hat die dadurch verlernt, das Leben zu seiner naiven Ursprache zu erfassen? Bei all ihrem geistigen Reichtum scheint etwas in ihr leer zu bleiben. Ihr Wesen ist eingedunkelt. Und diese abhanden gekommene Helle mangelt auch ihrer Umgebung, bewußt oder unbewußt.

            Man findet so oft, daß die Männer dieser tüchtigen, klugen, geistigen Frauen sich dem nichtssagenden, oft wertlosesten Uebermut einer andern zuneigen, in der sie etwas von dem verlorengegangenen Licht wiederzufinden wähnen. Und wenn man diese Tatsache auch keineswegs überschätzen will, wissend, daß unter allen Umständen das andre reizt und daß ehedem auch der Gatte der ungeistigen Frau oft zu der geistigen seine Zuflucht nahm, so muß man sich doch fragen, ob diese scheinbaren Gegensätze sich nicht binden ließen, ob nicht aus der Frau von einst in ihrer Entwicklung durch die Frau von heute eine Wesensart entstehen könnte, eine „neue“ Frau, die sich trotz ihres Intellektes den Reiz und den Wert des instinktiven Seins bewahrt hat.

            Von solch einem idealen Frauentypus spricht Fanni Künstler in einer bemerkenswerten „Untersuchung der geistigen Wesenheiten unsrer Gegenwart“, die sie „Die Kulturtat der Frau“ nennt (Wilhem Braumüller, Wien und Leipzig). Sie erblickt in der Frau unsrer Epoche nur einen Uebergangstypus. Gewiß galt es in erster Linie, die Stufe der Geistigkeit zu erreichen. Sie war Vorbedingung für den sozial notwendigen Kampf um Freiheit und Gleichberechtigung, den man als Frauenemanzipation bezeichnet hat, ein Wort, das jetzt überholt, beinahe veraltet klingt. In diesem Streit hat es anfangs eine Aera der kurzen Haare und der vermännlichten Kleidung gegeben, die rasch überwunden wurde. Was davon im Wesen noch nachwirken mag, wird ebenfalls bald aufgesogen sein. Und in dem Maße, in dem diese Härten sich mildern, dieser ein wenig auftrumpfende Verstand zur Selbstverständlichkeit geworden sein wird, dürfte auch das durch die Unruhe der inneren und äußeren Werdenot gedrosselte Instinktbewußtsein der Frau, die Intensität ihres Fühlens wieder durchbrechen. Dann wird sie Geist und Herz besitzen, aber „der Impuls wird das Primäre sein, das Sekundäre der Intellekt – als Ordner!“

            Das Zentrum der Frau ist und bleibt das Gefühl. Niemals wird sie durch den Verstand das erreichen, was ihr dank ihrer Instinktsicherheit zufällt. Darin liegt ihre Macht und ihre Stärke. Wie oft geschieht es, daß der Mann seine logischen Gedankenreihen baut, um irgendeine Sache oder einen Menschen geistig zu erfassen. Die Frau hingegen spürt nur, worauf es ankommt, und das Urteil, das sie aus dieser Empfindungserkenntnis schöpft, ist nicht selten sicherer als das des Mannes. Und je feiner ihre Instinkte sind, um so wertvoller ist sie selbst, um so wohltuender wird ihre Nähe sein, für alle Menschen, namentlich aber für die geschärften Sinne der Unglücklichen, die deutlich fühlen, daß ihnen etwas Warmes, Gütiges entgegenkommt, etwas, das ihnen gern helfen möchte.

            Unwillkürlich sagt und tut die Frau das, was gerade das Richtige ist. Ihr Instinkt macht sie in jeder Lebenslage anpassungsfähig. Man hat oft mit Staunen gesehen, wie innerhalb der kürzesten Zeit aus einem Kleinbürgermädchen eine große Dame, oder aus einer ungebildeten Frau die kluge Gefährtin eines geistig hochstehenden Mannes wurde. Auch was man gleichermaßen mir Unrecht wie mit Recht das „Komödiantentum“ der Frau nennt, ist im Grunde nichts andres als ihr ungeheures Vermögen des Einfühlens. Sie kann heute Gretchen, morgen Messalina sein und kommt sich selbst, der eigenen Empfindung nach, beidemal echt vor, so sehr ist sie das, was sie sein will, namentlich dann, wenn ihr Gefühlsleben stark beteiligt ist, wenn sie spürt, daß der Mann, den sie liebt, sie gerade so und nicht anders haben will.

            Aber selbst wenn man von dieser Art des Wesensspieles absieht, das den Begriff vielleicht verwirrt, hat nicht gerade die Gegenwart bewiesen, wie intensiv die Frau imstande ist, sich in allen Lagen zurechtzufinden? Sie ist jeglichem Geschäfte ferngestanden und hat plötzlich gelernt, einen Betrieb zu leiten; sie hat nur im Hause gewirkt und wurde zur organisatorischen Begabung.

            Diese Fähigkeit erwächst ihr, wie Fanni Künstler sehr richtig erläutert, aus dem vollkräftigen Durchdringen der Daseinstatsachen. Sie steht der Materie, dem Leben überhaupt weit näher als der Mann, nicht nur in ihrer körperlichen Bestimmung, sondern, daraus folgend, in ihrem ganzen Wesen.

            „Der Mann ist das fruchterzeugende Prinzip Idealität = Geist.

Die Frau ist das fruchtbringende Prinzip Materie = Wirklichkeit.“

            Darum ist sie zur Helferin berufen. Das ist ihre beste und tiefste Aufgabe. Deshalb soll die Frau nicht selbst nach Rang und Macht, nach Ruhm und Reichtum streben, sondern den Mann, dem diese Güter zukommen, dahin geleiten. „Der Mann soll von der Frau geführt seinen Weg gehen.“ In ihrer Nähe sollen seine besten Empfindungen sich regen, an ihrer Harmonie, ihrer inneren Ausgeglichenheit muß sein ins Schwanken geratenes Gleichgewicht sich wieder aufrichten. Wie in einem Spiegel soll der Mann in der Frau sein Selbst verklärt und geadelt finden. Dann wird es ihr möglich sein, ihn nach sittlich großen Zielen zu lenken und die Welt dadurch um ein Stück vorwärts zu bringen dem nächsthöheren menschlichen Standpunkt zu, den es in jeder Entwicklung zu verfechten gilt.

            Das ist „Die Kulturtat der Frau“, von der Fanni Künstler mit jener Leidenschaftlichkeit des Charakters spricht, in dem sie die Voraussetzung der wertvollen intuitiven Frau erkennt. Um diese Kulturtat zu vollbringen, muß die Frau aber, wie bekannt, erst den Intellektualismus überwinden oder, besser gesagt, ihn so zur Selbstverständlichkeit werden lassen, daß er ihr eigenstes, ihr instinktives Sein nicht unterjocht, sondern läutert. „Denn im tiefsten Grunde erschaut und erfaßt, bedeutet es für das Wohl der Menschheit nicht hauptsächlich, daß die Frau als Persönlichkeit verstanden wird, sondern, daß sie – als gotterfüllte Wesenheit – alle andern erfaßt und versteht und führt.“

            Sie soll Meisterin, Künstlerin, mehr als das, Seherin auf seelischen Gebiete sein – das ist die Sendschaft der neuen Frau.

            Fanni Künstler hat ihr Buch vor dem Kriege geschrieben. Aber die Wirren der Welt stoßen ihre Erkenntnis nicht um, sondern vertiefen sie. Die Neuregelung des Lebens, die wie alle erwarten, bedarf der Instinktsicherheit, der geistig gehobenen seelischen Kraft der Frau ganz besonders, und wenn sie uns auch nicht in der hehren Verkörperung werden kann, von der die geistvolle Philosophin träumt, so müssen wir uns mit dem Streben danach bescheiden in jenem Idealismus des wirklich Möglichen, in dem die Daseinsweisheit der Frau wurzelt. Denn „nur das höchste Ideal ist auch am vollsten real“.

In: Neues Wiener Tagblatt, 10.10.1918, S. 2-3.

Elsa Tauber: Neu-Oesterreich und die Frauen

Umgestaltung, wohin man blickt und hört. Alles Alte ist unbrauchbar geworden, der Umsturz hat kommen müssen, nicht weil ihn einzelne oder selbst ganze Völkerklassen gewollt haben, sondern weil er ein Zwang der Notwendigkeit war. Alle traditionellen Begriffe von Herren und Dienern, von niedriger und höherer Bevölkerungsschichte haben ihre Geltung verloren, das Volk läßt sich nicht mehr regieren, will nicht mehr blindlings gehorchen müssen, wenn man das Blut seiner Kinder für imaginäre Werke von ihm fordert. Selber will es sein Schicksal bestimmen und nur seine  seine eigenen Beschlüsse sollen maßgebend sein für die Gestaltung seiner Zukunft. Das Volk – es besteht aus Männern und Frauen. Schon ist an bedeutungsvoller Stelle das Wort ausgesprochen worden, ein von Männern und Frauen gewählter Rat soll Oesterreichs Geschicke steuern. Ob  auch ein von Männern und Frauen zusammengesetzter Rat? Es liegt kein Grund vor, an dieser Annahme zu zweifeln. Der heilsame Sturm, der jetzt durch das Bestehende fährt und alte Traditionen umreißt, daß sie an ihrer Morschheit krachend zusammenbrechen, wird hoffentlich auch die unsinnigen und und unbegründeten Vorurteile gegen die offizielle Bestätigung der Frauen hinwegfegen.

Seien wir ehrlich: Schlechter hätte es auch dann nicht kommen könne, wenn Frauen schon bisher ein mitbestimmendes Wort zu reden gehabt hätten. Auch sie hätten nicht kurzsichtiger und verständnisloser den unausweichlichen Anforderungen des Tages gegenüberstehen können, als es gewiegte österreichische Staatsmänner taten. Wenn es froh macht, nicht mitverantwortlich an schlechten und falschen Maßnahmen zu sein, dann können Oesterreichs Frauen heute jubeln. Aber sie sind viel zu lange schon politisch reif, als daß sie sich darüber freuen könnten, unbeteiligt an dem gegenwärtigen Debacle zu sein. Denn diese Frauen sind auch Hausfrauen, die jetzt mit vorwurfsvollsten Zweifeln fragen: Wäre es so weit mit unserer Ernährung gekommen, wenn wir im Rate der Gemeinde und des Staates eine Stimme gehabt hätten? Diese Frauen sind Mütter, deren verzweifelte Anklage dahin geht, daß sie ihre Söhne widerspruchslos für längst entwertete Phantome opfern mußten.

Das alte Oesterreich ist tot. Niemand wird dem, was damit starb, eine Träne nachweisen, es sei denn jene Kaste, der nun die Führung aus den längst altersschwachen Händen genommen wurde. Aus den Ruinen soll neues Leben entstehen und nun harren die Frauen, ob sich die Erkenntnis Bahn brechen wird, daß auch sie ihren Platz in der Oeffentlichkeit verdienen. Die Erkenntnis besteht eigentlich längst. Aus ihr stammt die immer lauter zum Ausdruck gelangende Sorge, die Frauen würden sich mit dem bescheidenen Platz in der Häuslichkeit nicht mehr begnügen, nachdem sie einmal im Erwerbsleben ihre Kräfte erprobt haben. Nur Böswilligkeit kann der Frauenarbeit Unzulänglichkeit nachsagen. Und wenn nicht jede einzelne ihren Platz musterhaft ausfüllte, so liegt dies daran, daß nicht jeder Mensch ein Muster an Pflichterfüllung ist, die Männer genau so wenig wie die Frauen. Der Beweis aber, daß der Durchschnitt der Frauen ihre Arbeit schlechter versieht als der Durchschnitt der Männer bei gleichem Alter und gleicher Bezahlung – dieser Beweis wäre erst zu erbringen.

Jene Demokraten, die Oesterreichs Verwaltung jetzt hoffentlich in die Hand nehmen und zum allgemeinen Heile durchführen werden, schätzen Frauenarbeit und Frauenverständnis schon lange richtig ein. In ernster Stunde sei es aber in Erinnerung gebracht, daß die Frauen nicht mehr und nichts anderes sein wollen, als das was sie sind. Den Frauen ist es nicht darum zu tun, den Mann vom Arbeitsmarkt zu verdrängen und sich dadurch jede Aussicht auf eine gutfundierte Ehe zu zerstören. Sie will nur nicht als Hausfrau in die vollständige Abhängigkeit vom Manne geraten, und weil die richtige Wertschätzung der Frau offiziell noch nicht besteht, versuchen die meisten instinktiv oder bewußt, sich im Kleinkampf persönlich die Stellung zu erwerben, die ihnen zukommt. Eine politische Anerkennung der Frauenrechte würde daher nicht, wie häufig befürchtet, eine Vernichtung aller vielgerühmten weiblichen Eigenschaften, sondern deren neuerliche Entfaltung bringen. Der Besitz überhebt des Kampfes darum, und eine Selbstverständlichkeit, wie es die anerkannten politischen Frauenrechte in absehbarer Zeit hoffentlich sein werden, verursacht nicht einmal Aufmerksamkeit, geschweige denn Beachtung.

Es widerstrebt beinahe heute schon, die Widersinnigkeit der Verknüpfung politischer Rechte mit dem Geschlecht an dem Analphabeten irgendwo in einer Dorfhütte des Hochgebirges und der akademisch graduierten Frau zu beweisen. Dieses Beispiel hat jedoch im Laufe der letzten Jahre nur an Schlagkraft gewonnen, denn immer größer wird die Anzahl der Frauen, deren geistige Entwicklung steigt, immer größer wird leider auch die Zahl derer, die nicht mehr damit rechnen können, in der Ehe Schutz und Zuflucht zu finden, sondern den Kampf ums Dasein auf eigenen Füßen stehend ausfechten müssen. Sie alle haben ein Recht darauf, als vollwertige Staatsbürger endlich auch in anderer Weise anerkannt zu werden, als dadurch, daß sie die volle Steuer plus 10% für Alleinstehende zu entrichten haben. Sie dürfen in einer Volksvertretung einen Platz für sich fordern, ebenso die Frauen, die in ihren Haushaltspflichten aufgehen, und alle anderen, die einer Kategorie von Männern mit politischen Rechten entsprechen. Das Dienstmädchen, das zur Wahlurne geht, bietet dem logischen Denker nicht mehr Stoff zur Verspottung wie der Hausknecht im gleichen Fall, und schon oft hat eine Sache von der Karikatur in den Witzblättern aus ihren Siegeszug durch die Welt genommen.

Ueber die politischen Forderungen der Frauen wird übrigens schon lange nicht mehr gelacht. Sie sind gewissen Kreisen höchstens so unangenehm gewesen wie die Forderungen der Demokraten. Mit diesen zugleich werden sie hoffentlich jetzt anerkannt werden.

In: Neues Wiener Journal, 26.10.1918, S. 4.

N.N.: Der Tatlinismus.

Der neueste Kunstwahnsinn.

Daß die russische Kunst unter der Herrschaft des Bolschewismus besonders modern und revolutionär sich entfaltet hat, ist bekannt. Aber die Weiterentwicklung dieses Stils, der für uns im wesentlichen durch den bereits vor dem Krieg aufgetauchten Expressionismus Chagalls und Kandiskys repräsentiert wird, war bisher in Dunkel gehüllt. Nun dringen Nachrichten aus Berichten russischer Reisender und neuesten Moskauer Kunstblättern herüber über die jüngste Bewegung, und Frank Thieß erzählt von dieser neuesten russischen Kunst in der „Freien Deutschen Bühne“. Der Hauptmeister und Mittelpunkt dieser Malerei ist Wladimir Tatlin, der in den ersten Kriegsjahren mit seinen Arbeiten an die Oeffentlichkeit trat. Um ihn hat sich eine große Schule gebildet, die Schule der Tatlinisten, die mit Leidenschaft das neue Evangelium der Schönheit, den Tatlinismus, predigen. Diese „Kunst“, der sich neuerdings auch Dichter und Musiker angeschlossen haben, geht über die Forderungen des Expressionismus weit hinaus und will überhaupt die gesamten Grundlagen aller bisherigen Kunst forträumen. Nach // den Angaben scheint es sich dabei um einen Stil zu handeln, der auch bei uns [] von einigen kühnen Neuerern in der Form der „Merzbilder“ angewendet wird. Der Tatlinismus erklärt nämlich „die souveräne Herrschaft der Objekte, des maschinellen, des Materials“. Das Material, der tote Stoff, welcher unser Leben beherrscht, hat auch die Kunst zu beherrschen. Die Kunst hat nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, dieses Material zu ihrem „Material“ zu machen, muß sich also des Holzes, des Eisens, des Glases, der Schrauben, der elektrischen Drähte und der mathematischen Formeln genau so bedienen, wie sich die Zeit ihrer selbst bedient: Alle Dinge der Außenwelt haben Heimatsrecht in der Kunst, welche dem Geist die Wohnung zu kündigen hat, um die Maschine an seine Stelle zu setzen. Der gegenstandslosen „Kunst“, welche die Tatlinisten höhnisch in Ausführungszeichen setzen, tritt die radikale gegenständliche Maschinenkunst entgegen, die sich aller Dinge zu gleichen Rechten bedient und jedem, auch dem belanglosesten Objekt, gestattet, auf der Bildfläche zu erscheinen. Der Tatlinismus ist der Schrittmacher der „totalen Materialisiertheit“ unseres Lebens und opfert – ähnlich wie die Dadaisten in Deutschland und die Männer um die Zeitschrift „Valori Plastici“ in Italien dem „rational“ meßbaren Ding die „Irrationalität“ des Geistes und der Seele.

In: Neues Wiener Journal, 13.4.1920, S. 4-5.