Fritz Beck: Zehn Jahre Foxtrott
Als im Jahre 1911 argentinische Gauchos (Viehhirten) ihre Kaschemmentänze einem attraktionslüsternen Publikum vorführten, ahnte noch immer niemand, daß damit bereits der erste Auftakt zu jenem Umschwung in der Tanzmode gegeben war, der sich vor genau zehn Jahren in seiner ganzen Ausdehnung und Bedeutung vollzog: Alle die 1918 aufgekommenen Modetänze waren nämlich in Schritt und Bewegung, wenngleich in jeweils anderem Rhythmus eingeordnet, dem alten Tango argentino entlehnt, und erst später nahm jeder Modetanz seine ganz bestimmte Richtung für sich an… Weit gefehlt wäre es indessen, den beispiellosen Erfolg des Tango argentino lediglich auf das Konto irgendeines gefinkelten Pariser Tanzprofessors zu buchen, verband sich doch von 1912 bis 1918 mit der Tanzmode, im Sinne des Tanzes, zugleich auch ein Umsturz in der Kleidermode, und vollzogen sich in weiterer Folge auch im Bilde unserer Gesellschaft gleichsam u m s t ü r z e n d e Veränderungen!
Die Ursache dieses ganz plötzlichen Eindrucks neuer, überraschender, zuweilen ungemütlicher Strömungen, die in engsten und weitesten Kreisen nich nur äußerliche, sondern auch ›innere‹ Umorientierungen erforderten, hätte gewiegten Seelenforschern bedeutsamen Anlaß zu tieferen und tiefsten Betrachtungen geben können: Wie die Weltgeschichte lehrt, sind es stets gewaltige w i r t s c h a f t l i c h e und p o l i t i s c h e Ereignisse, die sich naturgemäß auch innigst mit Umwälzungen in der Kleider– und Tanzmode zu verbinden pflegen; sie müssen aber nicht immer gerade als eine Folge von einschneidenden politischen Veränderungen einhergehen, sie können leicht begreiflich auch solchen voraneilen, gewissermaßen als untrügliches Anzeichen bevorstehender ›großer Dinge‹.
Die so rasch durchgreifende Beliebtheit der modernen Tänze, besonders nach Kriegsende, ist unschwer als Bruch mit allem Alten zu erkennen, und nichts legt heute mehr Zeugnis von heuchlerischer, verlogener und verschrobener Gesinnungsart ab, als das krampfhafte Festhaltenwollen an verflossenen Tänzen und Moden… Gewisse völkische und klerikale Kreise lehnen heute noch mit geradezu krampfhafter Aengstlichkeit und der Entrüstung kleinlicher, kurzsichtiger Beschränktheit die modernen Tänze (ebenso Bubikopf und kurze Kleidermode) ab, weil sie unausgesetzt ganz besonderen sittlichen Unrat wittern; sie ahnen nicht oder wollen nicht wissen, daß das sinnliche, geschlechtliche Moment bei den modernen Tänzen weit mehr zurückgedrängt ist als beim Walzer. Die Ausführung der modernen Tänze erfordert nämlich vor allem in vollstem Maße die Aufmerksamkeit der Tanzenden, und so wurde aus dem heutigen Gesellschaftstanz schon längst ein Mittelding zwischen Spiel, Sport und Kunst. Die Bezeichnung der modernen Tänze mit Tanzsport hat also sicherlich ihre vollste Begründung!
Wenn indessen ältere Leute, die sich heute ebenfalls zu den modernen Tänzen bekannten, mit Wehmut und etwas Trauer an den alten Walzer zurückdenken, so verbindet sich damit bloß die traute Erinnerung an verflossene goldene Jugendzeit, bei der leicht begreiflich das Tanzvergnügen stets eine große Rolle zu spielen pflegt. Spricht man da von einer ›guaten alten Zeit‹, so sind darunter wahrhaft nicht die großartigen wirtschaftlichen oder politischen Verhältnisse von einst gemeint, sondern bloß die poesieumwobenen Tage eines flott und heiter verbrachten Jugendabschnittes…
Nichts verrät mehr die heutige, praktische, nüchterne, sachliche Einstellung zum Leben als die modernen Tänze! Der Foxtrott ist getanzte neue Sachlichkeit; der ungekünstelte Gehschritt, aus dem sich bekanntlich alle weiteren modernen Tanzschritte entwickeln, liegt der Natur des Menschen am allernächsten; das menschliche Geschöpf hat ja zwei Beine, Gehschritte gehören also zu seinen selbstverständlichsten, wesentlichen Bewegungen, der Zweivierteltakt entspringt daher gleichsam seiner innersten Natur! Der Zauber einer Marschmusik, der jede Müdigkeit verscheucht und die schlaffsten Gemüter wie elektrisiert aufpulvert, übertraf an Macht seit je den wiegenden Dreivierteltakt. Die österreichischen Militärmärsche sind es auch, die, so seltsam und geradezu unglaubwürdig es klingen mag, an der Entwicklung der amerikanischen Tanzmusik den größten Anteil haben: Sousa, der bedeutendste Marschkomponist Amerikas, verwendete nämlich zum Aufbau seiner Kompositionen das System der österreichischen Märsche als Muster; und der amerikanischen Tanzmusik wieder dienten Sousas Marschkompositionen als Vorbild zu ihren Schöpfungen, und die modernen Tanzschlager bestehen ja bekanntlich – wie es bei den österreichischen Märschen auch der Fall ist – im Prinzip aus Vorspiel und Trio, respektive Chorus (Refrain)…
Viel wurde wieder in letzter Zeit auch von einer Wiederkehr des Walzers gesprochen, und was hierbei besonders bezeichnend ist: immer wieder kommen diese Nachrichten gleichsam aus dem Lager der Reaktion, die mit Wiener Tanzlehrern gar nicht spärlich beschickt ist! Natürlich ist für ein ›Modernwerden‹ des Walzers derzeit weniger Aussicht vorhanden als sonst; der Walzer ist tot: so tot wie die einstige k.k. österreichische Monarchie! Der moderne Tanz, der die breitesten Massen beherrscht, bleibt weiterhin Beherrscher des Tanzparketts, nicht nur Oesterreichs, sondern der ganzen Welt, und mögen hiergegen unsere wackeren ›Teutschvölkischen‹ und sittsamen Klerikalen noch so sehr wettern und der Linzer Bischof serienweise seine lächerlichen Hirtenbriefe an seine Schäfchen adressieren…
In: Arbeiter-Zeitung, 12.2.1928, S. 8.
Béla Balázs: Das Radiodrama
Es war vorauszusehen. Das Radio wird den Menschenkindern eine neue Kunstgattung. Denn eine neue Technik, die etwas auf sich hält, kann sich nicht damit begnügen, bescheiden der Verbreitung und Vermittlung alter Künste, so da sind Musik und ihre Rezitation, zu dienen. Sie will ihre eigene Muse ins Parlament auf dem Parnaß entsenden. Das gehört auch zum guten Ton. Wie ein neuer Reicher solange gesellschaftlich nicht ganz arriviert ist, bis in seinem Salon keine Literaten und Künstler verkehren, so wird auch einer neuen Technik nur die Verbindung mit einer eigenen Kunst die notwendige mondäne Eleganz verleihen.
Nun ist das Radio so weit. Es hat sich seine eigene, neue Spezialkunst erschaffen, die bald Mode und mit der Zeit sogar Volksbedürfnis werden kann, wie das Kino. Die Erfindung der Kinematographie brachte die Filmkunst; die Darstellung des Lebens nur fürs Auge. Das Radio bringt die neue, die nur hörbare Kunst: das akustische Drama. Die Darstellung des Lebens, nur für das Ohr. Wie in der Zeitschrift ‚Die Radiowelt’ zu lesen ist, hat eine Sendestation einen großen Preis für so eine ‚Tondichtung’ ausgeschrieben, die irgend eine Handlung, eine Geschichte mittels Tönen und Geräuschen deutlich und spannend darstellen soll. So wie sie ein Blinder erleben würde. Also keine gesprochene Beschreibung, in der etwa gesagt wird: „Sie kamen ans Meer. Da brach ein Sturm los.“ Sondern ein unmittelbares Drama, in dem bei dieser Stelle das Brausen der Wellen und das Pfeifen des Windes zu vernehmen ist.
Denn das Radio ist in der Lage, wie der Film, auch die Natur auf seine Art darzustellen. Die sichtbaren Kulissen der Bühne werden sozusagen ins Akustische übersetzt. Wir hören das Knarren einer Türe, das Rücken eines Stuhles, das Ticken einer Wanduhr und hören die intime Stimmung einer stillen Szene im Zimmer. Dann hören wir den Lärm der Straße einer Großstadt, der die Worte zerreißt. Dann hören wir die Dorfglocke läuten, den Hahn krähen, die Schafe blöken und wir sind auf dem Lande. Dann nähern sich Schritte durch den dumpf widerhallenden Korridor, ein Schlüsselbund klirrt, ein Schrei, ein Schuß und es wird still.
Ja, es ist möglich. Das Radiodrama wird eine eigene Kunst werden und sich, wie der Film durch Kitsch, triviale Rohheit und Stumpfsinn, einmal zu hohen poetischen Möglichkeiten emporringen. Das Radiodrama muß sich zu einer bedeutenden Kunst entwickeln, weil es – wie der Film – aus technischen Gründen eine billige und allgemeine Volksunterhaltung werden kann. Es wäre schade, wenn die berufenen Anwärter der Kunst auch diesmal zu spät kämen. Denn die Technik geht voran. Die Kunst ist überhaupt nur eine Begleiterscheinung. Der Kinematograph wurde nicht erfunden, um der Asta Nielsen die Möglichkeit zu ihren mimischen Offenbarungen zu schaffen. Die Möglichkeiten werden erst im nachhinein erkannt und verwertet. Vielleicht wurde auch der Pinsel erst zu anderen Zwecken erfunden und dann kam man auf die Malerei. Bei der Kunst ist es eben so, sondern daß man die Suppe erfindet, weil es schon Löffel gibt, mit denen man sie essen kann.
Also nach dem Film, nach der Kunst für Taube, kommt das Radiodrama: Kunst für Blinde. Eigentlich ist das nichts Neues. Die Künste waren ja von jeher Krüppelperspektiven. Die Malerei ist nur für das Auge und die Musik nur für das Ohr. Kunst entsteht überhaupt nur durch das Ausschalten einiger Sinne, und jedes Mal war noch das Gesamkunstwerk ein dilettantisches, unerfreuliches Unternehmen. Die Welt ist irgendwie zu viel für den Menschen und leitet seine Empfindung in die Breite, wo sie verflacht. Man kann nicht in ein Gebäude durch fünf Tore auf einmal und nicht durch fünf Sinne auf einmal eingehen in die Welt. Für die Seele sind die Fünfe nur zur Auswahl da. Denn die Dinge sind zwar zu sehen und zu hören, zu riechen, zu tasten und zu schmecken. Aber – und das ist das Geheimnis – was wir hören und was wir sehen, ist nie dasselbe Ding. Doch dieses Geheimnis soll jetzt nicht gelüftet werden.
In: RadioweltIllustrierte Wochenschrift für Jedermann. Wien 1924-1938 Erscheinungstag: Sonntag, Wiener Radioverlag, Schriftleiter/Re.... Illustrierte Wochenschrift für Jedermann (Wien), Nr. 14, 1924, S. 14 (ED gem. Angabe der RW in der Ztg. Der TagTageszeitung 1922-1938 Materialien und Quellen: Eintrag über Redaktionsverantwortliche bei OeAW: https://www.oeaw.ac.at...)
Fritz Beck: Zehn Jahre Foxtrott (1928)
Fritz Beck: Zehn Jahre Foxtrott
Als im Jahre 1911 argentinische Gauchos (Viehhirten) ihre Kaschemmentänze einem attraktionslüsternen Publikum vorführten, ahnte noch immer niemand, daß damit bereits der erste Auftakt zu jenem Umschwung in der Tanzmode gegeben war, der sich vor genau zehn Jahren in seiner ganzen Ausdehnung und Bedeutung vollzog: Alle die 1918 aufgekommenen Modetänze waren nämlich in Schritt und Bewegung, wenngleich in jeweils anderem Rhythmus eingeordnet, dem alten Tango argentino entlehnt, und erst später nahm jeder Modetanz seine ganz bestimmte Richtung für sich an… Weit gefehlt wäre es indessen, den beispiellosen Erfolg des Tango argentino lediglich auf das Konto irgendeines gefinkelten Pariser Tanzprofessors zu buchen, verband sich doch von 1912 bis 1918 mit der Tanzmode, im Sinne des Tanzes, zugleich auch ein Umsturz in der Kleidermode, und vollzogen sich in weiterer Folge auch im Bilde unserer Gesellschaft gleichsam u m s t ü r z e n d e Veränderungen!
Die Ursache dieses ganz plötzlichen Eindrucks neuer, überraschender, zuweilen ungemütlicher Strömungen, die in engsten und weitesten Kreisen nich nur äußerliche, sondern auch ›innere‹ Umorientierungen erforderten, hätte gewiegten Seelenforschern bedeutsamen Anlaß zu tieferen und tiefsten Betrachtungen geben können: Wie die Weltgeschichte lehrt, sind es stets gewaltige w i r t s c h a f t l i c h e und p o l i t i s c h e Ereignisse, die sich naturgemäß auch innigst mit Umwälzungen in der Kleider– und Tanzmode zu verbinden pflegen; sie müssen aber nicht immer gerade als eine Folge von einschneidenden politischen Veränderungen einhergehen, sie können leicht begreiflich auch solchen voraneilen, gewissermaßen als untrügliches Anzeichen bevorstehender ›großer Dinge‹.
Die so rasch durchgreifende Beliebtheit der modernen Tänze, besonders nach Kriegsende, ist unschwer als Bruch mit allem Alten zu erkennen, und nichts legt heute mehr Zeugnis von heuchlerischer, verlogener und verschrobener Gesinnungsart ab, als das krampfhafte Festhaltenwollen an verflossenen Tänzen und Moden… Gewisse völkische und klerikale Kreise lehnen heute noch mit geradezu krampfhafter Aengstlichkeit und der Entrüstung kleinlicher, kurzsichtiger Beschränktheit die modernen Tänze (ebenso Bubikopf und kurze Kleidermode) ab, weil sie unausgesetzt ganz besonderen sittlichen Unrat wittern; sie ahnen nicht oder wollen nicht wissen, daß das sinnliche, geschlechtliche Moment bei den modernen Tänzen weit mehr zurückgedrängt ist als beim Walzer. Die Ausführung der modernen Tänze erfordert nämlich vor allem in vollstem Maße die Aufmerksamkeit der Tanzenden, und so wurde aus dem heutigen Gesellschaftstanz schon längst ein Mittelding zwischen Spiel, Sport und Kunst. Die Bezeichnung der modernen Tänze mit Tanzsport hat also sicherlich ihre vollste Begründung!
Wenn indessen ältere Leute, die sich heute ebenfalls zu den modernen Tänzen bekannten, mit Wehmut und etwas Trauer an den alten Walzer zurückdenken, so verbindet sich damit bloß die traute Erinnerung an verflossene goldene Jugendzeit, bei der leicht begreiflich das Tanzvergnügen stets eine große Rolle zu spielen pflegt. Spricht man da von einer ›guaten alten Zeit‹, so sind darunter wahrhaft nicht die großartigen wirtschaftlichen oder politischen Verhältnisse von einst gemeint, sondern bloß die poesieumwobenen Tage eines flott und heiter verbrachten Jugendabschnittes…
Nichts verrät mehr die heutige, praktische, nüchterne, sachliche Einstellung zum Leben als die modernen Tänze! Der Foxtrott ist getanzte neue Sachlichkeit; der ungekünstelte Gehschritt, aus dem sich bekanntlich alle weiteren modernen Tanzschritte entwickeln, liegt der Natur des Menschen am allernächsten; das menschliche Geschöpf hat ja zwei Beine, Gehschritte gehören also zu seinen selbstverständlichsten, wesentlichen Bewegungen, der Zweivierteltakt entspringt daher gleichsam seiner innersten Natur! Der Zauber einer Marschmusik, der jede Müdigkeit verscheucht und die schlaffsten Gemüter wie elektrisiert aufpulvert, übertraf an Macht seit je den wiegenden Dreivierteltakt. Die österreichischen Militärmärsche sind es auch, die, so seltsam und geradezu unglaubwürdig es klingen mag, an der Entwicklung der amerikanischen Tanzmusik den größten Anteil haben: Sousa, der bedeutendste Marschkomponist Amerikas, verwendete nämlich zum Aufbau seiner Kompositionen das System der österreichischen Märsche als Muster; und der amerikanischen Tanzmusik wieder dienten Sousas Marschkompositionen als Vorbild zu ihren Schöpfungen, und die modernen Tanzschlager bestehen ja bekanntlich – wie es bei den österreichischen Märschen auch der Fall ist – im Prinzip aus Vorspiel und Trio, respektive Chorus (Refrain)…
Viel wurde wieder in letzter Zeit auch von einer Wiederkehr des Walzers gesprochen, und was hierbei besonders bezeichnend ist: immer wieder kommen diese Nachrichten gleichsam aus dem Lager der Reaktion, die mit Wiener Tanzlehrern gar nicht spärlich beschickt ist! Natürlich ist für ein ›Modernwerden‹ des Walzers derzeit weniger Aussicht vorhanden als sonst; der Walzer ist tot: so tot wie die einstige k.k. österreichische Monarchie! Der moderne Tanz, der die breitesten Massen beherrscht, bleibt weiterhin Beherrscher des Tanzparketts, nicht nur Oesterreichs, sondern der ganzen Welt, und mögen hiergegen unsere wackeren ›Teutschvölkischen‹ und sittsamen Klerikalen noch so sehr wettern und der Linzer Bischof serienweise seine lächerlichen Hirtenbriefe an seine Schäfchen adressieren…
In: Arbeiter-Zeitung, 12.2.1928, S. 8.