1924 | Frank Wedekind: Franziska

Aus: Der Tag, 21.12.1924, S. 8

Nachfolgend finden sich sechs Besprechungen zu Frank Wedekind Drama Franziska, das Ende 1924 im Wiener Raimundtheater aufgeführt wurde.

  1. Alfred Polgar: „Franziska“, ein Mysterium von Frank Wedekind im Raimundtheater
  2. Béla Balázs: Wedekinds Franziska auf Thairoffs entfesseltem Theater und Karlheinz Martin der Regisseur
  3. Erwin H. Rainalter: Wedekinds „Franziska“. Zur Erstaufführung im Raimundtheater
  4. Otto Koenig: „Franziska.“ (Zur Erstaufführung des Mysteriums im Raimund-Theater.)
  5. Hanns Margulies: (Raimund-Theater)
  6. Emil Kläger: Frank Wedekinds Mysterium „Franziska“

Alfred Polgar: „Franziska“, ein Mysterium von Frank Wedekind im Raimundtheater.

Hier tritt Wedekind als Indianer unter die Blaßgesichter. Bunt bemalt, mit allen Zeichen seiner Grimmigkeit, seiner Idolatrie, seines kriegerischen Handwerks behängt. Die Erscheinung wirkt so spaßhaft, wie bedrohlich.

In dieser sonderbaren Komödie – halb Passion, halb Fasching – die mit dem „Faust“ ihren Analogie-Ulk treibt, ziehen Hauptthemen Wedekindschen Dichtens, Lebens und Leidens im flatternden Gespensterzug vorüber. Die Fratzen, die die Welt ihm zeigte und die welche er ihr schnitt, mischen sich im Gedränge. Es ist eine sehr stürmische Grimassenversammlung.

Unter den problematisch Anwesenden bemerkt man das Weib und die Möglichkeiten seiner Verdammnis oder Erlösung durch den Mann, gegen den Mann, ohne den Mann. Eros in vielen tragischen und komischen Masken. Die Kultur mit großer Lügen-Schleppe, getragen vom Sittengesetz. Das heilige Trio Freiheit, Wahrheit, Nacktheit. Den Dichter mit ausgefransten Hosen. U. v. a.

Faustine-Franziska, durch Himmel und Hölle geschleift, landen, das Kind im Arm, im Arm des Mannes, der an Güte glaubt. Sie gibt den verwegenen, mit mancherlei Helfern unternommenen Versuch, ein Maximum an sinnlich-übersinnlichem Lust-Ertrag aus dem Leben zu schinden, auf, in Heim und Mutterschaft die Grenzen ihrer Welt und ihrer Begabung erkennend. Ob dieser friedevolle Abschluß vom Dichter durchaus ernst gemeint ist, wird nicht ganz klar. Man sieht ihn vor dem Bild der Madonna Franziska – unten herum hat es einen verdächtigen Kranz von Rosen „ein kleines Zugeständnis an den Geschmack des Publikums“ – man sieht ihn vor dem Bild die Lippen bewegen. Wer weiß, ob Gebet ist, was er spricht. Die Regie des Raimund-Theaters entschied sich eindeutig für die ganz und gar ironische Lesart.

Das Werk hat Stellen hoher poetischer Kraft und Schönheit, seine geistige Spannweite ist mächtig, seine Formlosigkeit vermutlich Ausdruck eines inneren Tempos, das keine Bleibe hat. Dennoch zählt „Franziska“ kaum zu den großen Nummern Wedekindschen Schaffens. Hier wird mehr Hokuspokus gemacht, als den Geistern, die dann erscheinen, gebührt, viel Leeres mit dem Zeremoniell des Genialischen zugedeckt, viel Kraft angewandt, um über ihr Fehlen hinwegzutäuschen. Dieses Mysterium mit rationalistischem Boden ist eine Arbeit unschöpferischer Stunden, gezeichnet von deren Qual und Wut. Kaltes bestreitet hitzig, daß es kalt sei, Empfindung, der sich dramatische Wucht versagt, tut schnoddrig-zynisch (man kann das „aus der Not ein Laster machen“ nennen). Leben, das sich nicht gestalten will, gibt sich spukhaft. Freilich fehlt auch das Wedekindsche Genie-Zeichen nicht; aber eben hiedurch wird fühlbar, wie sehr die Dichtung, sozusagen, über ihre geistigen Verhältnisse lebt. Sie gibt mehr als sie hat. Sie treibt einen Aufwand an Genialischem, der ihrem wirklichen Besitz kaum entspricht.

Sprache und Gehaben der „Franziska“ sind echtester Wedekind. Ein trockener, geruhiger, höflicher Fanatismus trägt sich in Sätzen vor, deren Bau zur Übertragung ins Lateinische einlädt. Die Phantasie steckt in einer Art Mieder von Exaktheit, der Humor macht ein todernstes Gesicht, die Leidenschaft redet Satzschriften, das Übersinnliche wählt den Tonfall der reinen Mathematik. Auch wo der Witz stumpft, ist das Lachen, das ihn begleitet, scharf und schneidend: und kein Scherz, der sich nicht auf Schmerz reimte. Wahrlich, diesem Dichter war Dichten mehr als Harlekinsprung. Haßerfüllte Zärtlichkeit, mit der er Welt und Menschen begehrte und verwarf, durchtränkt sein Werk. Keine Zeile, die er schrieb, aus der nicht die Galle seiner bitteren Liebe schmeckte.

*

Der Regisseur des Raimund-Theaters, Karlheinz Martin, läßt das Mysterium auf einem besonderen Gerüst spielen, das auch die Höhendimension des Raumes gut ausnützt, mit einer Wendel- und einer Freitreppe sowie einer schiefen Ebene behaftet ist und die Darsteller tüchtig Bewegung zu machen zwingt. Die Welle der Schauspielerei pflanzt sich da wie das Licht nach allen Richtungen fort. Diese „Raumbühne“, – hier nicht die alte Szene ersetzend, sondern im gewohnten Bühnenrahmen ein Schaustück für sich – hat ihre Reize. Sie gestattet ungemein lebendige und vielgestaltige Menschengruppenbildung, Schauplatzwechsel im nusten Nu, eine neue Plastik des Bühnenbilds, Hohn und Schmach wider das Pathos des alten, ehrlichen Theaters. Sie ist ein prinzipielles Stück Welt (Allerwelt), ein System von Sparren und Rippen, Holz- und Eisensehnen, das mit jederlei Haut und Kleid und Namen leicht zu behängen ist. Da sie holde Täuschung durch Dekoration, wie sie einstens war, ausschließt, mit dem bißchen Kulisse stets zugleich auch ein hinter den Kulissen gibt, scheint ihr eigentlichstes Gebiet die Groteske, die demaskierende Maskerade des Lebens, das Puppenspiel, das Theater der Skepsis, das Schauspiel auf Draht, das Fleckchen- und Fetzchen-Drama. Ein richtiges Schauspiel, was man bisher so darunter verstand, müßte an diesem zerrissenen und zerreißenden Gerüst überall hängen bleiben, käme nie zu großem Wurf und Fall.

Hier wird die Unabhängigkeitserklärung des Theaters ausgesprochen. Es gibt, marxistisch orientiert, nicht mehr die Wurzen des Dichters ab. Es tritt gleichberechtigt neben, vorerst im Ungestüm der revolutionären Tat, auch noch ein bißchen auf ihn. Es phantasiert frei über Themen, die der Dichter anschlug, es singt zu dessen Noten eine zweite Stimme, wobei es ihn gern überschreit. Die Dinge könnten sich sehr leicht bis zu einem Primat des Theaters entwickeln, so zwar, daß der künftige Regisseur, nach eigenen Eingebungen und Launen, erst szenisch etwas komponieren und dann der Dichter zu dieser Komposition das Drama liefern würde, zum Stück Theater das Theater-Stück.

Martins entfesselte Regie, voll Erfindung, Witz und Einfall, preßt mit unnachgiebigem Fanatismus der szenischen Minute ein Stärkstes an Ausdruck ab. (Wo es um ein Zartestes an Ausdruck ginge, hat diese Regie weniger Glück.) Die Paraphrase „Nachtlokal“ ist eine Varieténummer größten Stils, so hinreißend wie beklemmend in ihrer Mischung von Gesichtern und Fratzen, Tod und Leben, fleischlicher und geistiger Prostitution, Spott und Pathos, Menscherei und Kobolderei. Ein wahres Walpurgisnachtlokal. Was da gesprochen wird, was in dem Hexenkessel summt, ob der „Handschuh“ von Schiller oder „Donnerwetter“ von Wedekind, ist natürlich ganz gleichgültig. Nach den heftigen Reizen dieses szenischen Prachtstückes wirken die friedlicheren Teile der Regiedichtung ein wenig stumpf, doch haben auch sie ihre besonderen Verwegenheiten, Spukhaftigkeiten, Humore. Der Geist klopft: selbst die Ungläubigen merken, daß er da ist (ich meine den Geist Martins, nicht den Wedekinds).

An diesem merkwürdigen Abend sah man das Theater wie es einhergeht auf der eigenen Spur, die freie, tief verderbte, jedoch äußerst amüsante, mit allen Essenzen ihrer Zeit gewaschene, das Büchel verschmähende Tochter der Kultur. Ich bin nicht dafür, daß man sie von der Kunst-Polizei einfangen und reglementieren läßt. Es sind unruhige Zeiten, das Alte stürzt, das Neue Gottseidank auch, Amerika ist nicht an einem Tag entdeckt worden und navigarre necesse est.

Ja, die Schauspieler hätte ich bald vergessen. Bei soviel Regie rundum sind sie was Nebensächliches oder zumindest Sächliches, „bewegliche Requisiten“, wie ein Theoretiker der neuen Kunst sie nennt. Frau Durieux gibt der spröden Sprechpuppe Franziska was ihr taugt: die Emphase des Geschlechts, den schönen Klang und Geist tragenden Ton. Veit Kunz stelle ich mir schärfer, schwefelsaurer vor als Herr Werner-Kahle, ein Energie-Spieler hoher Klasse, ihn sprach. Veit Kunz ist ja wohl, seinem geistigen Format nach, mehr Leicht- als Schwerathlet. Unter den sonstigen beweglichen Requisiten des Abends gab es ein paar sehr reizende, z.B. das spitz-graziöse Frl. Wessely, das empfindsame Fräulein Busch, Frl. Kupfer, sanft und naturnah wie die Pflanze. Frl. Bauroff, frei von höheren Absichten – wer einen Körper hat wie sie und so tanzt wie sie, braucht auch nichts Metaphysisches umzunehmen – tanzte bezaubernd. Sie war gleichsam der Schwan unter dem vielen herzigen Martins-Geflügel.

In: Der Morgen, 22.12.1924, S. 3.

Béla Balázs: Wedekinds Franziska auf Thairoffs entfesseltem Theater und Karlheinz Martin der Regisseur.

Zeitgenossen!

* Es drängt mich, heute zu sprechen, wie ein Redner spricht, denn mir scheint, wir haben Zeitwende erlebt, wenn es auch nur die Zeit zwischen sieben und zehn Uhr abends betrifft. Immerhin sind wir Zeugen eines Umsturzes gewesen, der in der „Theaterstadt“ Wien nicht ohne Folgen sein wird und gemeinsame Zeugenschaft ist zeigende Gemeinschaft. Wir sind im Raimund-Theater – von sieben bis zehn – Zeitgenossen geworden. Seien wir uns damit im klaren, daß das Theater, dessen Entfesselung für Wien Karlheinz Martin gestern besorgt hat, nie mehr ganz in seine alten Bande zu schlagen sein wird. Soll denn nur die Kritik in ihren alten Formen bleiben?

Vor allem: wie wichtig Zeitgenossenschaft ist, das hättet ihr an diesem Abend eigentlich erleben sollen. Ihr habt es doch sehen müssen, daß es in Wedekinds Zeiten diese umfassende Organisation nicht gab. Darum sind seine genialsten Stücke alle so miserabel schlecht. Weil es eben Zeiten waren und nicht eine Zeit. Weil in des Dichters Brust selbst Altes und Neues widersprechend durcheinandergeworfen lebte und seine Formenrevolution seinem Inhalt, seiner kleinbürgerlich-beschränkten Revolte gegen die kleinbürgerliche Geschlechtsmoral um dreißig Jahre voraus war. Weil sein geniales, dramatisches Ungestüm im Dienste der Propaganda für den freien Geschlechtsgenuß euch allen doch so vorkommen mußte, als wenn Trotzkis rote Garden etwa für den Wiener Mieterschutz auf die brennenden Barrikaden stürmten. Seht ihr, Wedekind war nicht einmal sein eigener Zeitgenosse.

Und warum konnte er es nicht sein? Weil er allein und darum ohne Kontrolle und ohne adäquate Ausdrucksmöglichkeiten war. Wäre er denn sonst so ein verzweifelter Spötter geworden? Für seinen neuen dramatischen Rhythmus gab es damals keine neue Bühne. Jetzt ist die neue Bühne da, und indem sie seinen jungen Rhythmus bringt, stellt sie seinen veralteten, matten Inhalt bloß. Hier ist ein Genie zwischen die Zeiten gefallen und nahm Schaden dabei.

Denn was ist diese Franziska? Ihr werdet wohl gemerkt haben, daß eine Parodie auf Goethes Faust gemeint ist. Der Mephisto ist ein Impresario. Er verspricht der Fäustin Franziska genannt, die höchste Wollust des Lebens. Dafür soll sie nach zwei Jahren seine Leibeigene werden. Er läßt diese Titanin des Geschlechts, der die Genußgrenzen ihres eigenen Sexus zu eng sind, das Nachtlokal- und Eheleben eines Mannes probieren. Er führt seine Fäustin auch an den Fürstenhof, wo Geister beschworen und in allegorischem Schauspiel die Philosophie der Schönheit vorgetragen wird. Er steigt mit ihr auch in das Schattenreich der Unterwelt, das ein Schmierentheater ist, hinab, wo die Fäustin selbst als Helena den Chor der Choristinnen leitet. Doch Mephisto kommt um seine Beute. Denn so ein Teufel wie der Teufel ist so ein Weib noch zehnmal. Und – hier wesentlich abweichend von Goethe – knickt sie ihren Mephisto – wiewohl bereits geschwängert von ihm -, indem Franziska Faust ihn mit ihren allegorischen Partner Simson betrügt. Wedekinds ganzes krankes und perverses Ressentiment gegen die Körperkraft äußert sich darin daß diese Demütigung einen Mephisto demütig macht. Er will sich sogar aufhängen. Doch Wedekind, der Zweifler, läßt auch den Geschlechtsdämonismus seiner Franziska nicht gelten. Nachdem sie ein Kind gekriegt hat wird sie züchtig und abgeklärt und heiratet einen völkischen Maler, der stille Landschaften liebt. Was nützt es, daß der Regisseur Karlheinz Martin mit der Logik des sicheren Stilgefühls auch diese Heimkehr in die Gartenlaubenidylle der kleinbürgerlichen Familie verspottet? Was nützt es, meine lieben Zeitgenossen, die ihr einen Weltkrieg erlebt habt und dabei seid, eine Weltrevolution zu erleben, was nützt es, frage ich, daß – vielleicht – auch Wedekind selbst diese Schlußszene ironisch gemeint hat? Einen Ausweg, einen Ausblick aus dieser dumpfen Enge zeigt er uns doch nicht. Denn die zügellose Wollust scheint ihm auch keine Erlösung zu sein. Und die Ausschweifung einer Wedekindschen Teufelin – nebbich – die es bis auf drei Liebhaber gebracht hat! Zeitgenosse Haarmann, der vierundzwanzig Knaben den Hals durchgebissen hat, besaß in dieser Richtung eine größere Phantasie!

Wie die Geschichte des goetheischen Fausts ist auch diese seine Parodie nur eine Unterlage für gereimte lyrische Philosophie. Da klingt nun das heiße Herz und der heiße Kopf eines gereizten, trotzigen Genies, das sich an seinen eigenen Schranken blutig raisonnierte. Hier äußert sich seine kosmische Frechheit und sein monumentaler Spott, der seinen Gegenstand nicht erst kompromittieren muß, bevor er ihn blamiert, der jedes Gefühl und jeden Gedanken in voller pathetischer Größe bestehen läßt und so über ihn hinwegspringt. Diese ständige philosophische Symbolik und diese absolute Souveränität der Selbstironie sind es nun, die Wedekind die hergebrachten dramatischen Formen umwerfen lassen.

Hier, meine lieben Zeitgenossen, kommen wir auf das Wesentliche. Aber wir kommen zu spät, um heute noch darüber sprechen zu können. Denn das wesentliche Ereignis des gestrigen Abends, liebe Zeitgenossen, war nicht das Stück, sondern seine neuartige szenische Darstellung, jenes Mayerhold-Thairoffsche entfesselte Theater, das Wedekinds dramatische Gebärde schon seinerzeit gemeint hat und das unser Karlheinz Martin, der ein generationsbewußter Zeitgenosse ist, heute in unserem lieblichen Wien endlich losgelassen hat. Darum werde ich euch noch einmal um Gehör bitten. Denn wir wollen uns klar werden um die große Bedeutung des gestrigen Abends und wollen den Sinn jener neuen Bühne, die uns gestern zum erstenmal gezeigt wurde, erkennen, den Sinn der konstruktiven Bühne, der Vierrichtungsbühne, der atonalen Bühne, die – nun ist es bereits gewiß – bald allgemein gebräuchlich werden wird. Aber es wäre unwürdig, sind von seiner Zukunft überraschen und überrumpeln zu lassen. Auch wollen wir die Arbeit Karlheinz Martins und seiner Mitarbeiter ausführlich würdigen, denn es ist Zeit, uns als Zeitgenossen zu bekennen.

In: Der Tag, 21.12.1924, S. 8.

Erwin H. Rainalter: Wedekinds „Franziska“. Zur Erstaufführung im Raimundtheater.

In einer Zeit, da auf den Trümmern der Theaterkunst der Schwank allein noch blüht, ist das Raimundtheater eine der wenigen Bühnen, die noch ein Experiment wagen. Es kämpft für Dichter und für Männer, die der Mitwelt wenigstens als Dichter erscheinen, es macht die Probe auf die Modernen, um herauszubekommen, was an ihr lebenskräftiger Keim und was Mode ist. Dazu gehört Mut. Und Mut auch ist erforderlich, wenn man Wedekinds „Franziska“, sein Mysterium aus diesen Tagen, gibt und damit eines der heikelsten und skurrilsten, aber auch eines der reichsten und tiefsten Werke der Generation zur Diskussion stellt.

Alles, was im Schaffen dieses Dichters Widerspruch und Gegensatz schien, ist hier in einer einmaligen Synthese geklärt und versöhnt. Wedekind, dem jedes Drama, jede Szene, jedes Fragment zum Bruchstück einer Konfession wurde, gibt hier in wilder, unter kaltem Hohn nur schlecht verborgener Verzweiflung diese ganze große Konfession selbst. Alle Komponenten seines Wesens werden deutlich: Liebe und Haß, Perversität und Gier, Idealismus und Blasphemie. In Veit Kunz, dieser seltsamen Figur, die aus Hirn und Willen besteht und nur in spärlichen Augenblicken greifbare Gestalt wird, steckt Wedekind geradesogut wie in Franziska. Worum handelt es sich in dieser Bilderfolge? Daß ein Weib die ganze Fülle des Lebens an sich reißen will und letzten Endes doch in der biederen Alltäglichkeit landet. Und obwohl Wedekind die Sache der Frau und ihrer Entwicklung zeitlebens zu seiner eigenen Sache machte und gewiß auch eine ganz konkrete Stellungnahme zur Frauenfrage beabsichtigte, weitet sich das Bild doch: der Mensch schlechthin steht vor uns, nackt und bis ins Innerste erforscht, das Geschöpf, in das alle Möglichkeiten, alle Leidenschaften gelegt wurden und das trotzdem am Alltag Schiffbruch leidet. Und Wedekind ist Mephisto und Faust, Lenker und Gelenkter, Schöpfer und Geschöpf zugleich. Der Schöpfer, der Sterne meistern wollte und diese Sterne abstürzen sieht, verzweifelt an sich und seinem Geschöpf. Wessen Schaffenden Schicksal wäre dies nicht? Und wie wenige gestehen es ein! Der Mut, den dieses Bekenntnis erforderte, ist das Wertvollste an dieser Dichtung, die ja sonst reichlich bitter und salzig schmeckt. Wo am Ende des „Faust“ neuer Aufschwung und Aufstieg steht, steht hier die Parodie, die Blasphemie, die anzügliche Verhöhnung. Dieser Dichter, der von allen Hunden gehetzt wurde, ist nie trost- und hoffnungsloser, als wenn er das Idyll eines Familienglückes mit zarten Wasserfarben zeichnet.

Es handelt sich um ein Werk, das wie im Brennspiegel alle Strahlen unsrer Zeit einfängt, und seine Bedeutung wurde richtig erkannt. Man ließ ihm am Raimundtheater eine Sorgfalt angedeihen, die vor allem dieser Bühne selbst Ehre macht. Karlheinz Martin sorgte für eine Inszenierung, der man seine Bewunderung nicht versagen kann. Die kolossale Treppe, die, an die berühmte Rutschbahn erinnernd, rund um die Bühne schwang und das einzig Bleibende in der jagenden Folge der Bilder darstellte, war ein vortrefflicher Einfall. Ansonsten kam man mit sparsamsten Mitteln aus. Trotzdem vergißt man etwa das Bild der Berliner Bar nicht; hier waren wirklich Leidenschaften entfesselt. Massen wurden virtuos beherrscht, und zwar nicht nur die Tanzchöre der Gertrud Bodenwieser-Schule. Aus dem wüsten Chaos des Lebens, dieser Gesellschaft traten Menschen hervor, offenbarten für Sekunden ihr Schicksal und tauchten wieder unter. Und im Vordergrunde blieben nur Franziska und ihr Meister Veit Kunz.

Die Franziska gab Tilla Durieux um eine Idee zu maskulin, sonst aber überzeugend und bedeutend in der Spannweite ihres Gefühles. Als Veit Kunz war Werner-Kahle ganz überlegener Geist und Wille, Witz und Spott, zwischen Tragik und Groteske pendelnd, wedekindhaft in jeder Sekunde. Ausgezeichnet noch Scharwenka als Laurus Bein, Marianne Kupfer als liebliche Gislind, ganz Hingebung und irdische Liebe, und Walter Varndal als Reporter; Lore Busch dagegen zu wenig gretchenhaft, Theo Shall als Herzog ohne rechte Farbe. Im ganzen aber: ein Abend, der in vielen Chargen Ehrgeiz und Begabung zeigte.

Es war ein großer Erfolg, den das Theater einem seltsamen und eigenwilligen Dichter erstritt.

In: Neues Wiener Tagblatt, 21.12.1924, S. 13-14.

Otto Koenig: [Kunst und Wissen] „Franziska.“

(Zur Erstaufführung des Mysteriums im Raimund-Theater.)

Frank Wedekind hat seine „Franziska“, eine dramatische Bilderserie, die er vor 1911 nach tiefster seelischer Depression schuf, ein Mysterium genannt. Das Werk ist beabsichtigt parallel und zum Teil auch beabsichtigt parodistisch zu Goethes „Faust“ gebaut. Franziska ist ein weiblicher Faust, ein Prachtgeschöpf ihres Geschlechtes, das sich selbst übersteigern, das im schrankenlosen Vollgenuß das Menschliche ausschöpfen will. So muß sie, deren Mephisto ein genialer, mit allen Salben geschmierter, mit allen Hunden gehetzter – Versicherungsagent ist, auch „Mann“ sein, Mann spielen. Als Jüngling verkleidet, fordert sie schon zwei Todesopfer, in Auerbachs Keller wie in einer modernen Berliner Weinstube die Grisette „Mausi“, im Gretchendrama mit Sophie, ihrer angetrauten Frau, eben diese, deren Bruder Valentin, nein doch, Oberleutnant Dirkens die Katastrophe herbeiführt. Nicht an eines mittelalterlichen Kaisers Hof führt der Versicherungsagent Veit Kunz seinen weiblichen Faust, sondern an das Höfchen eines jungen Duodezfürsten, der freigeistig und unbedeutend dramatische Aufführungen nach Tizianischen Vorwürfen zur Propaganda der Nacktheit richtet und mimt und dabei von seiner eigen Polizei auf das ergötzlichste gestört wird. Wedekind ist es aber, ähnlich wie in „Hidalla“, blutig ernst mit dieser Komödie des jungen Fürsten, die durch den Selbstmord seiner nackt auftretenden kleingeistigen Geliebten zur Tragödie umgebogen, durch das Auftreten des Publikums als Drache „Schweinehund“, der die „Sittlichkeit“ bewacht, zur Satire gegen die Spießbürgerei und gegen den Serbilismus zugespitzt wird.

Franziska-Faust, deren Mephistopheles Veit Kunz die Hand im Spiele hat, als die höfische, allegorische Komödie zum „nackten“ Selbstmord auf der Bühne wird, spielt an diesem Fürstenhof die zauberhafte, geheimnisvolle Rolle eines den spielerischen Fürsten beratenden Dämons; und nun ist die Zeit der zwei Jahre, da ihr Veit Kunz dienen mußte, um und sie muß nach dem Pakt lebenslänglich die Sklavin ihres ganz modern als „Manager“ gestalteten Führers und Verführers werden. In einer wunderschönen Liebesszene zwischen Veit und Franziska, einer Liebesszene, die von der brennenden Sehnsucht des Dichters nach einer über das Sexuelle hinausgehenden, geahnten Liebe Zeugnis gibt, ist der Höhepunkt der Handlung erreicht.

Der Mephisto ist aber geprellt, die Sklavin nicht und auch das Weib, dem er so fest vertraut, bleibt ihm nicht, eben weil er zu fest vertraut. In einer sardonisch zugespitzten Szene muß er erfahren, daß sich Franziska den schönen, jungen Mannesmenschen Ralf, den Darsteller der Simsonrolle in einem Stück Veit Kunz’, zu orgiastischer Lust erwählt hat. Der geprellte hinkende Teufel versucht sich zu erwürgen, wird aber durch den „Sektöffner“ einer mumienhaften, alten Exzellenz, eines Greises, der wunschlos Franziskas erster Gönner war, vom Ersticken gerettet. Wer diese Szene mit Werner-Kahle, der den diabolischen und unglückseligen Teufel dieses Mysteriums mit allseitigem Erfassen und vielen Finessen spielt, gesehen hat, weiß neu erfahrend, wieviel von sich selbst und seinen kaum zugestandenen Sehnsüchten der kokette, höhnische, frivole, persönlich tief unglückliche und an sich selbst verzweifelnde Dichter in diese Rolle gelegt hat. Franziska-Faust entringt sich als Mutter des Knaben Veitralf, des Kindes sozusagen zweier Väter, sowohl der Gewalt des Geiststarken wie des Mannesstarken. Aber sie bleibt unerlöst, sie gelangt zu keiner Seligkeit und zu keiner Würdigung, sie wird die Gattin eines braven Malers, der „an die Güte glaubt“, eines Madonnenmalers, der nach des Dichters Wunsch den bezeichnenden Namen „Almer“ führt, einen Namen, der keinerlei geistige Größe, keinerlei Höhengefahr vermuten läßt, ein Mann des braven, lieben, goldenen Mittels.

So wäre denn nach Wedekinds Meinung in einer seiner allerernstesten, ja in seiner verzweifeltsten Dichtung das Weib doch die Zikade, die hüpfend springt, und schließlich im Eros ihr altes Liedchen singt. Wäre in dieser Dichtung nicht Ernst, Hohn, Genußbegier und sittliche Sehnsucht so eng vermischt, wäre die, das sei gleich gesagt, höchst respektable Regieleistung Karlheinz Martins am Raimund-Theater die einzig mögliche Darstellungsart, so müßte man diese Meinung des Dichters wohl als sicher annehmen. Aber es läuten ferne weiche Sehnsuchtsklänge aus dieser Dichtung, welche die geistreiche, aber bewußt und aus Theaterinstinkt einseitige Regie Martins zugunsten einer unzweifelhaften, ganz anders gearteten Eigenschaft des Dichters, zugunsten seiner Zirkusfreudigkeit, seiner „Modernität“, seiner Knall-, Lärm- und wahrscheinlich doch pathologischen „Schießlust“ unterdrückte.

Da ist ein Teilchen von Kieslers Raumbühne aufgebaut, mit der technischen, rohen, roten Mennig-Farbe bestrichen, da ist Großstadttempo, Zirkuslärm, jagendes, peitschendes „Jazzband“. Da werden die Dekorationen vom absichtlich dem Blicke des Publikums eröffneten Schnürbodens herabgelassen, als roh bemalte Streifen, da wird die Liebesszene ins brutal Technische hineingesetzt, da wird zum Schluß eine grasgrüne Liebeslaube herabgelassen, und die letzten Worte des Dichters, der sich so gern selbst verhöhnte, mit allen Kunstmitteln ins Triviale verzerrt, ins zwingend Lächerliche hineingezwungen, obwohl kein Regisseur der Welt weiß, ob er in des toten Dichters Sinn gerade damit recht hat. Es ist Furcht vor dem gegenwärtigen Publikum, Furcht vor dem Dichter, dessen ehrliche Zerrissenheit sich komödiantenhaft gebärdete, Furcht, daß Wedekind gerade in seiner dichterischen Wesenheit, in seiner verzerrten und von ihm selbst karikierten Innerlichkeit, unter dem Eindruck von geschickteren Nachahmern erliegen könnte. Die Regie war eine respektable Leistung, aber sie betonte nur eine Seite des Dichters.

Die Darstellung Tilla Durieux’ als Franziska war mehr logisch als leidenschaftlich, voll Größe und künstlerischer Bestimmtheit, wo Franziska-Faust über dem Manne steht. Manchmal verbreitete sie eher ein furchtbares Frieren, wo ein furchtbares Entflammen heißere Wirkung getan hätte.

Helene Lauterböck als maskuline Herzogin, Karl Skraup, Marianne Kupfer als dummes, mit einem kleinen, eitlen Liebeseelchen begabtes Weibchen. Willy Schmieder, die Tänzerin Claire Bauroff, Alfred Neugebauer, Paula Wessely und Walter Varndal, der als Journalist Fahrstuhl allermodernsten Anforderungen, nämlich Lebens- und Seeleninhalt durch Akrobatik auszudrücken, verblüffend entspricht, ferner die Tanzchöre aus der Schule Gertrud Bodenwiesers müssen im Rahmen dieser interessanten und bedeutsamen Vorstellung hervorgehoben werden.

In: Arbeiter-Zeitung, 21.12.1924, S. 11.

Dr. Schr[eyvogl]: Theater, Kunst und Musik. Wedekind.

(Zur Erstaufführung seines Mysteriums „Franziska“ im Raimundtheater.)

Es gibt hier keinen größeren Fehler, als sich in das Stück zu verschauen und auf den Menschen zu vergessen, der Alpha und Omega des „Mysteriums“ ist. Wedekind ist dadurch erst einigermaßen enträtselt, daß man seine Stücke erkennt, wie sie sich vor dem Hintergrund seines Menschentums abspielen. Dieser Mensch Wedekind ist das, worauf das Licht des Begreifens fallen muß, heller als jede Bühnenbeleuchtung, über seinen Stücken, die man durch nichts bedeutungsloser macht, als indem man sie unbedingt gelten lassen will. Der Theatraliker Wedekind ist die umstrittene, rasch verwelkte Sensation einer turbulenten Zeit, als geistiges und moralisches Phänomen aber weitaus mehr. Zuletzt ist schon damals der erste Angstruf vom Untergang des Abendlandes hörbar; ohne historische Perspektiven ein Oswald Spengler im tragisch aufgemachten Kabarett . . .

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             Was macht das Wesen der Generation um Wedekind aus und warum sollen wir durch ihre Verwerflichkeiten bis zu der verzweifelten Traurigkeit hindurchsehen, die sie erschüttert? Weil unsere Zeit sich erst einmal klar werden soll, daß auch das geistige Gerät dieser Vergangenheit längst auf Abbruch abgegeben werden, daß man Wedekind weder erheben noch beschimpfen, sondern überwinden muß.

Es braucht hiezu kein wichtigtuerisches Kommentar. Es gibt eine ewige Ordnung des Vergänglichen; man vernichtet kein Ziel der Menschheit, indem man es vergißt. Die Straßen der Welt, die auf Gott zu gegraben sind, lassen sich ahnungsvoll begehen, wenn man sie auch beim falschen Namen nennt; aber es ist zuletzt nichts mühsamer, als unbedingt die Wahrheit neu zu umschreiben.

Das hat bei Jean Jaques Rousseau begonnen, mit der Aufklärung die zunächst nur eine Umschreibung der ewigen Ordnung sein sollte. Dann blaßte die Ahnung ab, die Straßen verwirrten sich und Wedekind fängt gerade dort zu protestieren, wo die Welt in einer richtigen Sackgasse steht. Das allzu irdische Leben endet im Ekel vor der Erde, und zwar umso folgerichtiger, als dieser Ekel zugleich eine durch keine falsche Beweisführung zu überwindende Sehnsucht nach der Ewigkeit ist. Ein Gefühl der richtigen Heimat, das sich gegen alle aufgezwungenen Zuständigkeiten zur Wehr setzt.

Das ist Wedekind: Empörung, Anklage und zugleich der Aufschrei: der Mensch kann nichts dafür. Unendlich falsch, weil man einen falschen Weg nicht gut macht, indem man jeden verneint, noch irriger, weil man zu Gott nur durch mühsames Schaffen des Wegs kommt, nicht dadurch, daß man ihn mit einem Saltomortale überspringt.

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             Darum, weil er bedingt ist, ist das unbedingte Theater für ihn immer eine Fälschung. Wedekind, der eine einsame Erkenntnis mit der Notwendigkeit eines unbändigen Temperaments theatralisch, also „für alle“ ausdrückt, ist nur im Bewußtsein dieses Zwiespalts verständlich. Jede Zeit, die aufbaut, verneint ihn natürlich, jedes Forum, das unbedingt hören und urteilen will, kommt mit seinem Theater nicht zurecht.

Auf sich allein gestellt, ist es nur bisweilen grandioses Können, anderseits banal, hart am Kitsch und soweit unkünstlerisch, als ein Beharren in der Sackgasse die Perspektiven verrückt. Zudem ist ein Clown, ein Komiker ein Parodist am Werk, dem nur der höhere Zusammenhang den Begriff der grimmigen Ueberlegenheit gibt, sonst bleibt ein Macher, der erste Sketchautor mit Vorgabe einer höheren Mission.

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Die Aufführung ist genial, weil Karlheinz Martin mit der Verwendung der Raumbühne Wedekindsches Wesen ins Herz trifft. Auch diese Raumbühne ist nichts als ein Intermezzo, nur aus der Lage zwischen zwei wesentlichen Epochen der Kunst von Bedeutung.

Leben huscht gespensterhaft und wesenlos gemacht vorüber, immer steht die größere Welt vor Augen; jene aus allen Fugen geratene Welt, in der Jazzband, Zirkus, Eigennutz, Verderbtheit, Parodie und Lyrik durch- und aneinander geraten.

Die Franziska wird von Tilla Durieux gespielt; scharf, klug und virtuos, am besten in der Kälte der Parodie, der Scheinhitze des Taumels. In der Lyrik einer für kurze Augenblicke schönen Liebesszene versagt sie, nicht anders Herr Werner-Kahle, der zur Meisterschaft nur die Ueberschätzung abzustreifen hätte, mit der er notwendig Mittelhaftes in das Zentrum der Darstellung rückt, Manier zur Persönlichkeit machen will. Marianne Kupfer, Lore Busch, Theo Schall, am eindrucksvollsten ein neuer Name Herr Varndal bleiben in der Erinnerung.

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             Absolut genommen ist das Mysterium „Franziska“ eben so wenig überhaupt aufzuführen, als die Groteske seiner Handlung Kritik erheischt. Diese Kritik wäre ein Urteil über eine ganze Welt, weit mehr als es eine Besprechung der Aufführung verträgt.

Die unbedingte Antwort darauf ist einzig der Theaterskandal. Bleibt er aus, so können nur die Kurzsichtigen sagen, daß Wedekind damit siegt. Man nimmt ihn soweit er überhaupt verstanden wird, absolut. Er rückt vom Apostel zum willig geduldeten Theaterstück. Er ist nicht mehr eine geistige Lösung, sein Inventar wird von dem Abbruch nur noch einmal ausgestellt.

Der Skandal ist nicht gekommen. Das heißt vielleicht auch, Wedekind beginnt, überwunden zu sein.

In: Reichspost, 22.12.1924, S. 5.

Emil Kläger: Frank Wedekinds Mysterium „Franziska“.

Erstaufführung im Raimund-Theater.

Ein Wedekind-Rummel, ein Wedekind-Wurstelprater. Man kann es nicht anders bildhaft machen. Ein begabter, handfester Regisseur hat auf Berliner Art mit einer Gewalttat das in Schemen schlummernde gedankliche Mysterium des Dichters zu einem Spektakeltheater erweckt. Bisher schlummerte es in einer der dunkelsten Ecken seines Sammelwerkes. Nur beherzte und erprobte Freunde durchschritten die schattenhaften Gedankengänge ganz, mit scheuer, andachtsvoller Pietät und meist mit ebensoviel Verständnislosigkeit. Nun grellen viele hundertkerzige Bogenlampen auf das aufgescheuchte Mysterium nieder. Spuk steht in der Tageshelle. Der Regisseur wendet die gröbste Gegenständlichkeit an Gespenst und Alp, von denen Wedekind geträumt hat. Jazzband lärmt, jeder Auftritt wird mit Trommelwirbel angekündigt, leuchtende Reklametafeln zischen Licht und erlöschen (Berlin bei Nacht), die Bühne ist in alle ihre Dimensionen aufgerissen. Gestänge, kahle Wand klafft herein, der Schnürboden zeigt sich. Man denkt: Gemeint ist damit Wedekind, der Enthüller. Es sollen nämlich alle Rückseiten gezeigt werden. Eine bis zur dritten Etage reichende Treppe zerschneidet grundsätzlich jeden szenischen Aufbau. Es ist die Treppe, die heute allen Berliner Regisseuren mitten durchs Gehirn geht. Und das Schlimmste: Wedekinds Gesang vom Leid der innerlich unfreien Frau und ihrer schließlichen Entfesselung wird in Bauchtänzen von bis zur Hüfte nackten Mädchen versinnbildlicht. Ein häßliches Attentat auf den Dichter. Er schreibt für den Tanz ausdrücklich graue Schleier vor und läßt eine Figur bedauern, daß so gar nichts von den Schönheiten sichtbar wird. Aber der Spektakel soll auch durch Laszivität gekrönt werden. Mit Geist reißt man den Spießer die Augen nicht auf. Ist es noch Theater, was hier über eine ausgeräumte, halb demolierte Guckkastenbühne gehetzt wird? Man versucht, die Mischung der Schaustellung zu zerlegen: Zirkus und sehr groteske Manegekunst, Tänze von Varieté, weiter: Musik der Bar, Bänkel vom Breil und Nachtlokal, viel Nachtlokal, im Tempo, in der Gier übertrieben. Der schwer zufriedenzustellende, müde Theaterbesucher, der nicht um die Tasche langen will, bekommt so ein Menü nicht alle Tage. Es fängt gleich mit dem Nachtisch an und ist ellenlang. Vom Licht geblendet, von Jazzmusik betäubt, von Tanz und Nacktheit eingefangen. . . . Er spart, wenn er diese Vorstellung besucht. Ein ganzer Nachtbetrieb wird ihm zu Wedekind mitgeschenkt. (Ein Nachtbetrieb allerdings, wie ihn ein ungesunder Mittelschülertraum ausgemalt. In diesem Punkte hat dieser ganz moderne Regisseur mit den harten Händen ganz nach dem Rezept der Courths Mahler gehandelt.) Des Dichters Geist aber irrt verloren mit einigen Sätzen in dem Rummel umher. Er hat in der größten Stille die ihm bewußten Abgründe geöffnet, Höhen aufgebaut, dazwischen Schatten gedacht und nun verhöhnen und erschrecken ihn, den Hohnvollen, die klotzigen, heulenden Grimassen eines Bühnenmenschen, der sie mit Trommeln und infernalischem nach seinem Kopf, nämlich dem eines neuartigen Berliner Regisseurs, fürs Theatergeschäft erschaffen wollte. Ist es Theater, ist es Wedekind?

Zuerst das Werk: Es ist weitläufig, ein Wandelbild, die Geschichte einer Entwicklung. Man hat versucht, Vergleiche mit „Faust“ anzustellen, im Bestreben, Schwierigkeiten des Verständnisses durch Vergleiche im Technischen zu umgehen. Tatsächlich mißt sich Veit Kunz, der Mann, Diabolik bei, will Macht über einen Menschen gewinnen, schließt einen Pakt. Aber seine Teufelskunst ist nicht weit her. Er ist ein großsprecherischer Abenteurer, der kläglich scheitert. Er kann gar nicht zaubern. Er ist selbst ein Verzauberter. Es ist nicht die kalte Macht, die er über Franziska gewinnen will. Er ist Liebhaber, eher selbst Faust, der durch Gretchen wachsen und in einen Himmel kommen möchte. Er ist eher ein armer Teufel. . . . Denn während es den Anschein hat, als ob Wedekind die Möglichkeiten, die Kräfte und seelische Tiefe einer Frau zu ermessen trachtet, arbeitet er doch, mit Willen oder unbewußt, weit mehr daran, das Schicksal des Mannes, der an der Frau schöpferisch werden will, um sie zu seiner Kreatur, zu seinem Eigentum zu machen, zu zeigen. Wedekind. Er mißt die Frau am Manne. In der szenisch, aber nicht dramatisch aufgebauten Betrachtung, die traumhaft stattfindet, mit allem „wenn“ und „aber“, läßt er den abgebrühten und von Mißerfolg verfolgten Veit Kunz ans Fenster der Franziska pochen. Er ist „mit allen Hunden gehetzt“, „in allen Wassern gewaschen“ usw. Wenn es auch nicht ausdrücklich gesagt wird. Veit hat sich in Franziska vergafft, und da ihm ihre Beine gefallen haben, wird er sie – wie anders bei Wedekind? – zur Sängerin ausbilden lassen und einen Star aus ihr machen. Franziska hat eben die Liebe kennen gelernt, sie hat einen Mann verführt, damit sie zum Weibe wird. Der Mohr kann gehen. Sie möchte das Leben und sich selber auskosten. Möchte wissen, wer sie ist, möchte Unerhörtes versuchen, möchte Mann sein. Veit führt die Komödie durch. Er will sie nach zwei Jahren ganz für sich haben, als Gattin, als Eigentum, als Sklavin. Indessen soll sie von allen Giften des Genusses kosten dürfen. Er macht indessen sein Geschöpf aus ihr. So sinnt er. Aber es kommt anders. Der Geist, mit dem der arme Kunz Franziska umspinnt, ist kein starkes Netz. Die erste Gelegenheit zu einem Stelldichein mit einem Kraftmenschen wird skrupellos von Franziska ausgenützt. „Also Sinnlichkeit allein ist der Schlüssel zu den weiblichen Geheimnissen?“ fragt Wedekind im Traum, nachdem er Franziska als Mann versagen gesehen hat. „Das schöne und das wilde Tier?“ wie er es in „Lulu“ gestaltet hat? Nein. Franziska findet zu einer banalen, hausbackenen Hochzeit hin mir irgendeinem kleinen spießbürgerlichen Maler. Nicht Geist, nicht Sinnlichkeit. Veit Kunz zerbricht: also ein Mysterium.

Im Werke sind fast alle bekannten Motive des Schaffens Wedekinds wenigstens in Kostproben vorrätig. Es ist eine Inventur, nicht eben überraschend. Wedekind, der ein guter Hausvater und Gatte war, monogam und Bürger, wenn er nicht gerade Stücke schrieb, hat sie in „Franziska“ vielleicht nur für sie selbst angelegt. Es versprüht viel Genialität, Witz, prachtvolles Temperament, aber das Ganze ist nicht bedeutend, gemessen an seinem Schaffen, von dem flammende Einzelwerke unserer Zeit noch lange erst zu erschließende Wege weisen werden, heraus aus Heuchelei, aus Muckertum. Am längsten klingt aus dem Stück das Wort nach, daß es an einer Frau kein Eigentum geben kann. Sie geht nur eine kleine Weile auch neben dem Schöpferischen her und läßt ihn unerwartet an irgendeiner Wegbiegung allein. „Hat je ein Mann meine Frau gekannt?“ Nicht neu, aber angemessen, daran gelegentlich wieder zu erinnern. Ungewohnt an Wedekind, daß er, der als Feminist gilt, zum Schlusse Franziska mit wehmütiger Ironie in die Banalität eingehen läßt. Wozu anzumerken ist, daß das Werk 1911 erschien.

Von der Inszenierung wurde schon gesprochen. Karlheinz Martin hat „Franziska“, was Aufmachung, Lärm und Licht angeht, etwa für ein Weinlokal der Zehntausend inszeniert. Die Disziplin seiner weiblichen Truppen, die Tanzchöre, beigestellt von der Schule Bodenwieser, bewiesen eine Diszipliniertheit und eine Energie, bis zum Aeußersten zu gehen, um die ihn mancher Nachtunternehmer, der die Kunst nicht als Entschuldigung für sich in Anspruch nehmen darf, beneiden kann. Franziska war Tilla Durieux. Intellektuell, erster Rang, sonst ohne zu packen, zu rühren. Die Rolle gibt eben nur ein paar Striche eines Menschen. Die Frau ist nur ein Wedekind-Gedanke gewesen. In der Schärfe und Kälte vortrefflich. Es hätte aber nicht unbedingt die Durieux gewesen sein müssen. Herrn Werner-Kahles Dämonie als Veit Kunz war nicht leicht erspielt, ein wenig asthmatisch, viel Schauspielerei. Marianne Kupfer, fast nur von aufgelöstem Haar bekleidet, anmutig. Herr Scharwenka als Rotenburger Polizeikommissär und Dichter Laurus Bein ganz ausgezeichneter Charakterspieler. (Der Ton der Aufführung, das Heftige und Grelle, vielleicht auch die nach allen Seiten offene Bühne, brachte es mit sich, daß alle Mitwirkenden ihren Part überkräftig skandierten.)  Einer der wenigen Menschen in der Bühnenmenge Frau Fasser als Mutter Eberhard und ein äquilibristischer Groteskkomiker im Sinne des Dichters, Herr Walter Varndal als Reporter Fahrstuhl.

Die Aufführung war ein höchst unsicherer Wedekind, aber sie wird ein sicheres Geschäft.

In: Neue Freie Presse, 21.12.1924, S. 14-15.