1929 | Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper

Im Frühjahr 1929 fand die vielbeachtete erstmalige Aufführung von Bertolt Brechts Dreigroschenoper auf österreichischem Boden statt. Ausgewählte Rezensionen zur Inszenierung am Raimundtheater finden Sie nachfolgend.

  1. David J. Bach: Musikalisches Theater. „Die Dreigroschenoper“ im Raimund-Theater
  2. Felix Salten: Feuilleton. „Die Dreigroschenoper.“ Raimund-Theater
  3. Hans Liebstoeckl: Theater
  4. Ferdinand Scherber: „Die Dreigroschenoper.“ („The Beggars opera.“)
  5. Friedrich Lorenz: Feuilleton. „Die Dreigroschenoper.“
  6. Elsa Bienenfeld: Die Musik Kurt Weills
  7. Hedwig Kanner: Theater der Woche. Brecht und Weill spielen auf. „Die Dreigroschenoper“.
  8. M. S.: Theater, Kunst und Musik. Die „Dreigroschenoper“ in Wien

David J. Bach: Feuilleton. Musikalisches Theater. „Die Dreigroschenoper“ im Raimund-Theater.

Das Raimund-Theater ist gestern der Schauplatz eines theatergeschichtlichen und musikhistorischen Ereignisses gewesen. Daß uns Berlin darin vorangegangen ist, wird man, wie die Dinge liegen, wohl schon als selbstverständlich empfinden; aber wir wollen froh sein, daß die „Dreigroschenoper“ nun doch auch nach Wien gekommen ist. Dieses Werk ist es, mit dem nach mannigfachen Vorbereitungen und Experimenten ein neues Kapitel in der Geschichte des Theaters anhebt.

Es mag musikalisch wie dichterisch anspruchsvollere Werke geben, pomphaftere, tiefsinnigere, schwierigere, von dem Unverständnis der Gegenwart in das Verständnis der Zukunft sich flüchtende Werke; aber keines, das so entschlossen wie die „Dreigroschenoper“ sich an die Bedürfnisse der Gegenwart wendet und bei allem Bruch mit der Vergangenheit, bei aller Verwurzelung in der Gegenwart Neues, Zukünftiges aufbaut. Die Zukunft der Oper als Kunstform ist fraglich geworden. Höfischen und gelehrten Ursprungs, hat sie sich zwar kraft der Eigengesetzlichkeit und Eigenbewegung aller geistigen Gebilde weiterentwickelt, doch ohne jemals den Zusammenhang mit ihrem Ursprung vollständig zu verlieren. Die in ihr mehr oder minder vollzogene Vereinigung verschiedener Künste, der Musik, der Dichtkunst, auch der Malerei und Architektur, hat ihr immer wieder den Zugang zum allgemeinen Volksbewußtsein auf verschiedenen Wegen eröffnet und ihr auf dieselbe Art immer wieder neue, lebendige Quellflüsse verschafft. Aber diese Vermischung verschiedener Elemente, welche die Oper als Kunstform bedeutet, beruht auf einer Uebereinkunft, auf einer Konvention, und nicht alle Zeiten sind gleichermaßen geneigt, diese Konvention anzuerkennen, und für wahr zu halten, was sich auf der Bühne als Wirklichkeit abspielt. Eine Zeit und eine Gesellschaft, der die Geschichte von Königen, Feldherren, edlen Rittern und tugendsamen Frauen wichtig ist, kann sich auch ästhetisch damit abfinden, daß der Held seine Liebe nicht anders als mit Hilfe des hohen C darstellt und daß die Heldin nicht anders als unter Koloraturqualen stirbt. Der Wert der Musik, die an solchen Vorgängen verbraucht wird, mag über vieles hinweghelfen, die Unmöglichkeit des Vorganges vergessen machen; doch es kommen Zeiten, wo umgekehrt die Unmöglichkeit des Vorganges die Aufnahme der Musik erschwert. Die alte Oper sagt einer neuen Generation immer weniger und weniger; man kann dies bedauern, aber man muß die Tatsachen sehen, ihre Ursachen ergründen, bevor man hoffen kann, erfolgreiche Mittel anzuwenden, um wertvolle Kulturgüter, wie eines auch die Oper als Kunstform ist, nicht untergehen zu lassen. Eines der Mittel ist, den Wert der Musik, der Gefühle, der Ideen, die durch sie einen höheren Ausdruck erhalten, erkennen zu lehren. Dies ist nur zum geringen Teile eine Frage der ästhetischen oder intellektuellen Vorbereitung. Aber jede Musik enthält das Spannungsmoment ihres Ethos, das heißt ihrer tieferen Sittlichkeit, in einem künstlerischen, nicht moralischen Sinn. Wenn dieses Spannungsmoment verlorengeht, ist alles verloren. Warum ist heute Meyerbeer in den meisten seiner Werke unerträglich, unmöglich, obwohl er wahrhaftig ein Meister der Operntechnik gewesen ist? Der Prozeß, dem ihm nun schon bald vor hundert Jahren Richard Wagner gemacht hat, wird von Zeit zu Zeit revidiert, indem man den Pomp der Musik, den Pomp der Geschehnisse auf der Bühne noch zu steigern versucht. Allein dieser Pomp, dessen Entfaltung schon wirtschaftliche Grenzen gesetzt sind, ist rein äußerlich und fällt um so leichter zusammen, je mehr er aufgeblasen wird. Der Prozeß aber, einmal in Gang gebracht, bleibt keineswegs bei Meyerbeer stehen und nicht bloß die Theorie oder das Schaffen der Künstler führt diesen Prozeß, sondern das Empfinden einer neuen Zeit.

Die „Dreigroschenoper“ erklärt sich selbst mit eigenen Worten: „Sie werden heute abend eine Oper für Bettler sehen. Weil diese Oper so prunkvoll gedacht war, wie nur Bettler sie erträumen, und weil sie doch so billig sein sollte, daß Bettler sie bezahlen können, heißt sie die ‚Dreigroschenoper‘.“ Sie handelt von Bettlern, Zuhältern, Dirnen, Polizeichefs und anderm Lumpenpack. Dieses Milieu hat sie, nicht ohne Verschärfung, übernommen aus der alten englischen Bettleroper, die zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts eine neue Aera in der englischen Oper einzuleiten schien. Es war ein Singspiel gewesen unter Verwendung volkstümlicher Musikelemente; diese Musik konnte natürlich nicht auf englische Könige und Barone angewendet werden, die vordem in biblischer oder mythologischer Verkleidung aufgetreten waren. Auch das deutsche Singspiel hat seine Rolle in der Geschichte der Oper. Mozarts „Zauberflöte“ kommt von Singspiel her, und von Papageno zum David der „Meistersinger“ führt ein unschwer aufzeigbarer Weg. Die „Dreigroschenoper“ nun stellt das Singspiel unserer Zeit dar. Das Lumpenproletarische, in dem sich seine Handlung bewegt, ist nichts als eine Möglichkeit, sich den Problemen unserer Zeit, den Tatsachen des sozialen Lebens zuzuwenden. Daß solche Stücke geschrieben werden, in Dichtung und Musik, beweist, daß die Künstler der neuen Generation, ganz gleichgültig, ob sie politisch denken und wie sie politisch denken, sich den sozialen Problemen nähern, die unsere Zeit erfüllen, sich mit ihnen auf irgendeine Art abfinden müssen. Bert Brecht, der Dichter der „Dreigroschenoper“, dürfte, wie seine bisherige dichterische Produktion beweist, sicherlich ein linksorientierter Mann sein, ohne daß man ihn deswegen einer bestimmten Partei zuschreiben müßte. Sein Textbuch, in dem auch Chansons andrer Autoren verwendet werden, ist realistisch gehalten. Doch auf der Bühne ist keine armselige Wirklichkeit vorgetäuscht, sondern die Wahrheit der Empfindungen, die sich aus einem bestimmten Milieu ergeben, im Guten wie im Bösen, in der Liebe wie in ihrer Käuflichkeit, im Heldenhaften einer Räuberromantik, im Bewußtsein des Unrechts, das an den armen Leuten geübt wird und das sie mit Ungesetzlichkeit vergelten, in dem Bewußtsein ihrer Unterwerfung unter das Gesetz der Reichen und Mächtigen, dem sie ausgeliefert sind, und in ihrer kindlichen Hoffnung auf ein glückliches Ende: „Damit das Publikum sehe, daß wenigstens in der Oper Gnade vor Recht gehe“, heißt es am Schluß. Und so kommt mit der unwahrscheinlichen und darum doch nicht weniger erwarteten Gnade ein nicht weniger unwahrscheinliches, künstlerisch aber sehr wohl begründetes Opernfinale.

Die Handlung ist so geführt, daß sie jedesmal im rechten Augenblick in Musik mündet. Schon durch diese Form ist der Widerspruch zwischen Text und Musik beseitigt, der dem Opernstil so leicht anhaftet. Ueberdies entspricht auch die Musik, für sich allein betrachtet, den Bedürfnissen einer neuen Zeit. Keineswegs etwa im Aesthetischen oder nur in diesem. Der Komponist Kurt Weill ist schon mit mehreren modernen Orchesterwerken und mehreren kleineren Opern hervorgetreten, die man, fast selbstverständlich, in Wien gar nicht kennt. Aber in der „Dreigroschenoper“ sind die Ergebnisse moderner Kompositionsweise geradezu popularisiert. Diese soziale Musik, die sich der rhythmischen Formen und der instrumentalen Möglichkeiten der Jazzmusik bedient, wird von jedermann verstanden werden und die Schlager dieser „Dreigroschenoper“ werden bald ebenso gesungen und gespielt werden wie so viele Nummern aus Operetten und Revuen. Die „Dreigroschenoper“ ist kein Ersatz dafür, sie bringt nicht einen neuen Operettenstil, sondern sie bringt die Möglichkeit eines neuen musikalischen Stiles für Theaterzwecke. Sie wendet sich an ein Publikum, dem die große Oper bisher aus wirtschaftlichen Gründen ebenso verschlossen war wie aus den Gründen, die im Ursprung dieser höfischen Kunst liegen. Wenn das Publikum nicht in die Oper geht, ins musikalische Theater kann es gehen. Die „Dreigroschenoper“ sprengt ein Tor und verschafft jedermann Zugang zu neuer Musik. An ihr werden sich viele Tausende erfreuen, ohne lange darüber nachzudenken, wodurch sich diese Musik von andrer unterscheidet. Sie werden ihre lebendige Frische, ihre echte, unserer Zeit entsprechende Volkstümlichkeit empfinden und sich ihr gern hingeben.

Durch die Aufführung der „Dreigroschenoper“ im Raimund-Theater ist Direktor Beer zu seinen ersten ruhmreichen Bestrebungen, das Neue zu bringen, die er später gelegentlich immer wieder erneuerte, mit Begeisterung und Erfolg zurückgekehrt. Die von Karlheinz Martin geleitete Aufführung ist der Wichtigkeit des theatergeschichtlichen Ereignisses würdig. Alfred Kunz hat die Bühnenbilder so entworfen, daß sie den Erfordernissen des Werkes selbst und den Einfällen des Regisseurs vollkommen entsprechen. Unter den Darstellern steht Harold Paulsen als Räuberheld obenan. Er ist nicht nur Tänzer und Sänger, er ist ein bedeutender Darsteller, wie unter anderm seine Szene im Käfig, vor der Hinrichtung, beweist. Die Kunst des Coupletvortrages beherrscht ganz ausgezeichnet Kurt Lessen, der als Bettlerkönig durch die Deutlichkeit und Schärfe seiner Charakterzeichnung wirkt. Neben ihm tritt Herr Brandt als Polizeipräsident besonders hervor. Unter den weiblichen Darstellern hat Frau Hohenberg die größte Rolle inne. Sie sieht sehr hübsch aus, singt ganz nett, aber sie spricht so falsch wie eine Soubrette, ohne die Unbekümmertheit einer Soubrette zu besitzen. In andern Rollen zeichnen sich Frau Kramer-Glöckner und Elisabeth Markus aus. Thea Braun-Fernwald ist zu blond und zu „fein“ für die Seeräuber-Jenny, ein zu braves Hürchen. Die Herren Fischer, Marich, Skraup und Ehmann mögen noch genannt sein. Das Jazzorchester leitete Norbert Gingold mit vieler Musikalität, die den Mangel an Routine wettmacht. Der Beifall war sehr stark, es gab viele Hervorrufe. Der Erfolg wird noch steigen, wenn die richtigen Leute das Haus füllen, die Jedermann.

In: Arbeiter-Zeitung, 10.3.1929, S. 5-6.

Felix Salten: Feuilleton. „Die Dreigroschenoper.“ Raimund-Theater.

Unter Leuten, die sich für gebildet ausgeben, ja, die es manchmal sogar wirklich sind, brauchte man von dieser geringfügigen Einzelheit nicht erst zu sprechen. Denn da muß höflicherweise angenommen werden, daß sie die nette Geschichte kennen.

Warum auch sich anstrengen und gelehrt tun? Eigentlich hat doch John Gays „Beggars Opera“ nur sehr, sehr wenig mit Bert Brechts „Dreigroschenoper“ zu schaffen.

John Gay muß ein sehr witziger Kopf gewesen sein. Ich wäre versucht, ihn genial zu nennen, aber Bert Brecht hat auf drei Jahrhunderte zurück und auf drei Jahrhunderte voraus alle Genialität für sich allein beschlagnahmt, deshalb lege ich nur bezüglich Gays eine gewisse Reserve auf. Genug, er schrieb seine „Beggars Opera“ vor etwa zweihundert Jahren.

Das war, als die Kurfürsten von Hannover Karriere gemacht und den Thron von England bestiegen hatten. Ein Jahrzehnt vorher mußten sie noch knierutschend vor dem habsburgischen Kaiser den Kurfürstenhut erbitten. Nun wurden sie plötzlich Könige von Großbritannien, man redete sie Eure Majestät an und dabei verstanden weder sie noch ihre hannoveranischen Maitressen auch nur ein einziges Wort Englisch. Zunächst war ihnen das neue Königtum bloß eine günstige Gelegenheit, sich und ihre Kebsweiber zu bereichern. Das gab wieder ihren englischen Ministern ermunternden Anlaß ein gleiches zu tun. Alsbald zeigte sich die ganze königlich englische Beamtenschaft, die ganze britannische Justiz derart bestechlich, das Straßenräuberunwesen nahm in solchem Maße überhand, daß John Gays Verspottungswerk wie eine Bombe einschlug.

Außerdem sollte damit auch die pompöse italienische Oper, die damals das Theater schrankenlos beherrschte, lächerlich gemacht werden.

Heute haben wir keinen Opernstil, weder einen italienischen noch sonst einen, der so alleinherrschend und so raumverdrängend wäre, daß sich die Notwendigkeit ergäbe, ihn der Lächerlichkeit preiszugeben.

Wir haben, auf deutscher Erde auch keine Dynastie, keine sprachkundige und keine landfremde, deren Geldgier die Beamtenschaft in Korruption reißen könnte. Die Schwerverbrechen, die begangen werden, sind freilich zahlreich, aber nicht übertrieben zahlreich und sie sind sogar geringfügig, wenn man sie an den Schwerverbrechen mißt, die ein Volk am andern begeht. Auch werden die Diebe, Räuber und Mörder von einer modern geschulten, trefflich disziplinierten Polizei meistens sehr schnell erwischt. Wir haben, alles in allem, nur Republiken, die zum Teil, leider, leider! noch landfremd genannt zu werden verdienen.

Nirgendwo gäbe es also einen aktuellen Anlaß, John Gays „Beggars Opera“ zu bearbeiten, wenn nicht von jeher schon Bearbeitungen an sich einen hinreichenden Anlaß für Bearbeitungen böten. Es ist eine eigene Sache um dieses Genre. Unter den schöpferischen Jupiterhänden Shakespeares sind aus Bearbeitungen unsterbliche Dichtungen geworden. Goethe, Schiller haben, wie oft bearbeitet, vielmehr sie haben alten, altersschwachen Stoffen neuen Lebensatem eingehaucht. Und wie oft erblicken wir in unseren Tagen solches Bemühen. Die „Elektra“ wurde von Hofmannsthal wieder erweckt, und hätte sie Richard Strauß nicht für die Musik hinweggerafft, sie würde noch heute über die Schauspielbühne wandeln. Hofmannsthal hat „Everyman“ wieder ins Dasein zurückgerufen und sein „Jedermann“ paßt in die Gegenwart wie er in der Zukunft noch taugen wird. Es ist sein „Jedermann“, ganz seine Schöpfung, wie der „Graf von Charolais“ Richard Beer-Hofmanns geistiges Eigentum bleibt und wie Stefan Zweig als Neuschöpfer von „Volpone“ gelten darf. Manchmal mißglücken solche Versuche, wie ja erst kürzlich die Bearbeitung von Molières „Bourgeois gentilhomme“ glatt daneben gelungen zu sein scheint. Es kommt unter anderm doch darauf an, wer stärker ist, das Original oder der Bearbeiter. Ein schwieriges, ein unmögliches Unterfangen, Shakespeare oder Goethe oder Schiller bearbeiten zu wollen. Sogar Molière ist wohl noch derart mit eigener, lebendiger Wirksamkeit geladen, daß er, wie ein Zitterrochen, Bearbeiter durch die Kraft seiner elektrischen Schläge zu Boden streckt. Im übrigen kommt es natürlich gar nicht darauf an, ob einer zu seinem Werk ein Erlebnis, einen Einfall oder ein schon vorhandenes altes Buch benützt. Wenn er den formenden Griff hat, die zeugende Glut dichterischer Erregung, bleibt Erlebnis, Einfall oder altes Buch in seinen Händen nur legitimes Rohmaterial.

John Gays „Beggars Opera“ mag für Bert Brecht Erlebnis und Eindruck gewesen sein, künstlerisch enthusiasmierend. Bei der Lektüre des alten Buches hat im Motor von Brechts Geist die Zündung prächtig funktioniert. Und Brecht ist ein Dichter. Trotz seiner unfreundlichen, mitunter größenwahnsinnig wirkenden, barocken Manieren muß das in aller Ruhe festgestellt werden. Denn diese barocken Manieren sind Privatsache und hinter ihnen versteckt sich, vielleicht (ich kenne ihn persönlich nicht, weiß es also nicht) eine warme, unsichere Menschlichkeit. Aber seine Arbeiten, seine Stücke, besonders seine schönen Balladen sind dem öffentlichen Urteil freigegeben und sie beweisen, daß er ein Dichter ist.

In der „Dreigroschenoper“ gelang ihm ein Werk, das mit dem Original, aus dem er es holte, nur sehr wenig mehr gemein hat. Die Personen, den Eisenbalken der Haupthandlung, sonst nichts. Ein merkwürdiges, ein interessantes, ein problematisches Werk. Ein absoluter Einzelgänger von einem Stück, darin sehr starke Theaterwirkungen rumoren, sehr schwere, aber unendlich dankbare Aufgaben für die Darsteller verlockend sind, sehr viele Momente mißtrauische, empfindsame Gemüter abzustoßen, und sehr viele Wahrheiten, die gewinnen. Ein Stück, das Nachtreter und Nachahmer verführen wird. Doch das Scheitern aller dieser Nachfolger läßt sich jetzt schon voraussagen, weil nämlich die „Dreigroschenoper“ sämtliche Wirkungen, die es auf ihrem Gebiete gibt, vorwegnimmt. Sie ist in Genre für sich. Und sie ist innerhalb ihres eigenen Genres das einzige Stück, das darin Platz hat.

Die Figuren dieses seltsamen Stückes sind mitten in die Gegenwart geschleudert und obwohl ihr Erleben und ihr Tun im Heute keinen Anhalt, keine zu Vergleichen, zu Bespielen oder zu radikalen Gesinnungen dienende Stütze finden, stehen diese Figuren doch alle ganz fest auf ihren Beinen. Sie können auch morgen und übermorgen und nach übermorgen noch fest auf ihren Beinen stehen. Denn die Triebe, von denen diese Figuren bewegt werden, sind so zeitlos menschlich wie etwa das Leben und Sterben des „reichen Mannes“ in Hofmannsthals „Jedermann“. Diese Figuren spielen das nach Abenteuern gierige Menschentum in einem starken Manne vor, der in seinen überschäumenden Kräften und in seiner unerlösten Phantasie zum Verbrecher wird.

Sie zeigen die Menschlichkeit, die in den Herzen gefallener Frauen noch vorhanden ist. Sie enthüllen das ewige Fremdsein, das zwischen Bettlern und Almosenspendern nie getilgt werden kann. Diese Figuren sind scherzhaft gezeichnet, bekennen sich vom ersten Moment an, da der Vorhang aufgeht, zu ihrer eigenen Unwirklichkeit, zu ihrer bloß theatralischen Existenz. Doch je mehr sie der Marionettenreiz des Unwirklichen umflimmert, desto stärker strahlen sie Wahrheit und Sinn des Lebens aus.

Peachum, der Bettlerkönig von London, erklärt: Wenn man das Unglück eines Krüppels zum erstenmal sieht, schenkt man ihm gern zehn Penny, beim zweitenmal nur fünf Penny und später übergibt man ihn, abgestumpft, der Polizei. Im zweiten Dreigroschenfinale wird gesungen: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ Und Mackie, der Straßenräuber, singt: „Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm.“ So bündig, so essenzhaft wird hier das Problem des Daseins ausgesprochen, daß diese Aussprüche fast schon banal erscheinen. Und so unbestreitbar richtig sind sie, wie etwa der Schluß in „Jedermann“, daß der Mensch allein und von seinen Nächsten verlassen ins Grab steigen muß.

Die Texte der Gesänge und die Melodien, nach denen sie gesungen werden, sind einfach nicht zu trennen. Das Stück und seine Musik bilden eine organische Einheit, an der man nicht vorüber kann. Schön äußerlich kommt das zur Geltung, weil ja das Orchester, als Orchestrion verkleidet, hinter den Hauptdarstellern auf der Bühne sitzt. Mir liegt es selbstverständlich ganz fern, dem zuständigen Musikkritiker ins Wort zu fallen oder seinem fachmännischen Urteil zu widersprechen. Aber die vollkommene Einheit Brecht-Weill vermag ich nicht zu ignorieren und darf nach meinem künstlerischen Gefühl wohl sagen, daß mir die Musik des jungen Weill so charakteristisch scheint, wie die Sprache von Brecht, in ihrem Rhythmus so elektrisierend, wie die Verse, so gewollt und gelungen trivial und voller Anklänge, wie die dem Volkstümlichen angenäherten Reime, so witzig in der Jazzführung der Instrumente, so heutig, übermütig und von Laune wie von Angriffslust sprühend, wie der Text, der sich gelegentlich in leicht vermeidbaren, noch leichter entbehrlichen Brutalitäten überschlägt.

Mancher Exzeß dieser Art wurde in der Wiener Aufführung gemildert. Karlheinz Martin, ihr Spielleiter, hat mit dieser Inszenierung ungefähr das Beste geleistet, was man seit Wedekinds „Franziska“ hier von ihm zu sehen bekam. Er brachte es fertig, das Ganze mehr ins Unwirkliche zu rücken, was gleich vom Anfang an, in dem Bild der „Moritat“ überraschend zutage trat. Es läßt sich nicht leicht in eine Gruppe von Bettlern, Krüppeln und Elenden denken, die, musik- und gesangüberströmt, einen so harmonischen, beinahe erfreulichen Eindruck übt, die so lebendig wirkt und so an Marionetten erinnert. Die Platte, die während Mackies Lied zweimal sichtbar wird, jene drehende Platte, auf der Mackies Plattenbrüder einen wachsfigurenhaften Reigen von Verbrechen vorführen, ist ein vortrefflicher, die Nerven der Zuschauer treffender Einfall des Regisseurs.

In dieser gepflegten Aufführung, die das Grelle taktvoll dämpft und das Wirksame glücklich steigert, sind die Frauen einmal wieder tatsächlich das schwächere Geschlecht, um nicht zu sagen: das schwache. Fast keine weibliche Rolle ist in diesem Stück, die man sich nicht besser gespielt denken könnte. Einige davon waren am Schiffbauerdamm denn auch besser dargestellt zu sehen. Wer die Straßendirne in Berlin war, weiß ich nicht mehr. Doch ich weiß, daß sie die Tragödie dieses Mädchens gab, das einst von Mackie geliebt, dann von ihm verlassen wurde und ihn nun der Polizei überliefert, um sich zu rächen, hernach aber den Verrat bitter bereut. Von alledem war hier kaum etwas zu merken. Frau Hohenberg war die Polly und ging als ein immer noch und immer wieder unerfülltes Versprechen auf der Bühne umher. Sie ist nicht ohne Anmut, nur bleibt alles an ihr zu schwach, ihr Dialog, ihr Singen, ihr Pointieren, ihr Mienenspiel. Das reicht etwa für ein Haustheater, aber nicht für das wahre Theater, das räumlich wie künstlerisch größere und große Ansprüche stellt. Für die Polly braucht es eine weibliche Vollnatur, die Leidenschaft im Blut hat. Die Persönlichkeit der Frau Hohenberg schien diesmal über ein puppenmäßiges Miniaturformat nicht hinauszulangen, ursprüngliche Leidenschaft glaubt man ihr nicht und sie verzichtet auch drauf, das zu mimen. Degagiertheit mag man ihr zusprechen. Es ist das höchste Lob, das der Dilettantenvorstellungen vergeben wird. Neben ihr erschien die Lucy des Fräuleins Markus von elementarer Leidenschaft. Frau Glöckner war eine unterhaltsame Frau Peachum. In dieser Rolle hat Rosa Valetti freilich das Höchstmaß gegeben und hat wie ein Dämon der Tiefe gewirkt. Man wurde von kalten Schauern überlaufen, wenn diese einzigartige Künstlerin sprach und sang. Frau Glöckner erschien fast ehrbar, jedenfalls eher spießbürgerlich, und von der Trunksucht, die sie zeigte, ging kein Erschauern, sondern jenes Behagen aus, in das diese vorzügliche Schauspielerin ihr Publikum immer zu versetzen weiß.

Die Männer sind die große Stärke dieser Aufführung. Da ist der baumlange, korpulente Herr Brandt, der den Londoner Polizeihauptmann wie ein ungeheures, dickes Baby spielt, der die Korruptheit dieses Kriminalbeamten humorvoll zur kindlichen Naivität wandelt. Da ist Mackies Bande, aus der Herr Skraup mit einer skurril gezeichneten Figur, einprägsam in Maske, Gebärde und Ton hervorragt. Da ist Kurt Lessen, dem der Peachum als eine unheimliche Gestalt glückt und der im Gesangsvortrag durch die Plastik seines pointierten Sprechens wie durch seine Ruhe tieferen Eindruck übt.

Und da ist vor allem Harald Paulsen als Mackie. Ein Mensch, gehetzt vom Unband seines Temperaments, vom Andrängen seiner Sehnsucht, von der Glut seiner Begierden. Einer, der sich eiskalt stellt und inwendig von den Flammen seiner Seele verbrannt wird. Harald Paulsen hat die Intensität, das glaubhaft zu machen, er hat die Besessenheit, die oft gezügelt, die manchmal krankhaft, die aber immer auf eine erschütternd schmerzliche Art anmutig ist. Er hat die große Bravour des Körpers, der Mienen, des Sprechens, des Gesanges, eine Bravour, die unwiderstehlich hinreißt. Wenn man seinen Mackie im Uebermut sieht, spürt man einen vom Schicksal umschatteten Menschen. Sieht man ihn dem Käfig des Gefängnisses entspringen, fühlt man eine herrlich lebenstüchtige Energie! Wenn er aber, kurz vor dem Galgen, in Qualen der Todesangst weint, wirkliche Tränen weint, wird man aufgewühlt vom vergeblichen Kampf einer in die Irre geratenen Jugend. Zuletzt bewundert man den Schauspieler Harald Paulsen, der wie wenig andere das kann, das heute gefordert wird: Gymnastik, Tanz, Gesang; komische und tragische Kräfte meisterlich beherrscht; bewundert den Darsteller, der sich wie wenig andere, Abend für Abend, restlos, leidenschaftlich und fieberisch seiner Aufgabe hinschmeißt, sich an seine Aufgabe verschwendet.

Als vor nun bald einem Jahrhundert Aubers Oper „Die Stumme von Portici“ aufgeführt wurde, entfachte die Pariser Premiere unmittelbar eine Revolution. Die Pariser hatten kaum ein Menschenalter vorher zum erstenmal Revolution gemacht und sie hatten noch Freude daran, sich auf diesem Gebiete zu betätigen. Als vor zwei Jahrhunderten „Beggars Opera“ zu London erschien, dachte kein Mensch daran, Barrikaden zu bauen. Die Engländer hatten schon viel früher einen König geköpft und lachten jetzt zu John Gays Satire. Sir Walpole, der damalige Premier, der am meisten von dieser satirischen Anklage getroffen war, besaß den geistesgegenwärtigen Zynismus, ein scharfes Couplet zur Wiederholung zu verlangen. Weder in Berlin noch in Wien gibt es persönlich Angeklagte, wie vor hundert Jahren zu Paris und vor zweihundert Jahren zu London. „Die Dreigroschenoper“ klagt auch niemanden an, weder eine bestimmte Regierung noch eine einzelne Partei oder eine Klasse der Gesellschaft. Sie beklagt nur das allgemeine Menschenschicksal. Sie beklagt es ohne Gejammer und ohne aufreizende Hetze, sondern lächelnd, kurzweilig, wenngleich mit jenem ernsten Unterton, der selbstverständlich mit dazu gehört. Deshalb hat dieses Werk in Berlin und überall anderswo einen beispiellosen Erfolg gehabt. Ob sich dieser Erfolg in Wien einstellen wird, bleibt abzuwarten. Nach den Beifallstürmen, die gestern Abend den Saal durchfegten, darf eine solche Wirkung auch hier vermutet werden.

Man hat ein Werk vor sich, daß von Tradition und alter Herkunft getragen wird, das uns mit Menschlichem und Allzumenschlichem anspricht, das nach Heute und Morgen riecht, das von Talent und Jugend umwittert ist. Dieses Werk den Wienern in einer so guten Aufführung gezeigt zu haben, war jedenfalls Pflicht, war vielleicht sogar ein Wagnis und es bleibt unter allen Umständen ein Verdienst.

In: Neue Freie Presse, 10.3.1929, S. 1-3.

Hans Liebstoeckl: Theater.

Im Raimundtheater steht jetzt allabendlich ein Werkelmann im Foyer und spielt den Besuchern einer alten Bettleroper auf, die Herr Brecht ausgegraben hat, um Kurt Weill Gelegenheit zu geben, seine Auffassungen über Musik in die Tat umzusetzen. Die alte Bettleroper, die seinerzeit selbst den großen Händel in den Schatten drängte, enthält ganz naive Motive aus der Verbrecherwelt des alten London, im Kolportagestil ersonnen. Sie tut ganz primitiv und nimmt in keiner Weise Partei für die Unglücklichen, die dieser Oper Leidtragende sind. Das ist vielleicht zugleich das Merkwürdigste an der ganzen Sache, daß man Neues zu machen glaubt, indem man das Alte erneuert, mit Zutaten schmückt und unsere moderne komplizierte Natur als Aufguß über Primitivitäten von vorgestern gießt. Ein seltsames Geschlecht, das den Menschen als Masse preist und am liebsten als Maschine denkt, das aber dabei just die alte Oper aufs Korn nimmt, in der der Mensch als Chor auftritt und durchaus maschinelle Bewegungen macht. Dieses Geschlecht verhöhnt sich eben selbst; es belacht sein eigenes Spiel. Die „Dreigroschenoper“ ist von einer grenzenlosen Hochachtung für Diebe, Bettler, Huren und Mörder erfüllt. Dabei sind die Bettler gar nicht Bettler und die Mörder so liebe Menschen, daß man gar nicht glaubt, sie hätten so viel Dunkles auf dem Kerbholz. Um alle diese Personen, die hier traumhaft vorüberwirbeln wie das Ensemble eines Stückes von Strindberg, webt ein Heiligenschein, der schlimmer ist, als man glaubt. Das Schlechte und Niedrige, hier wird es zur erhabenen Sache. Immerhin: „Der Mensch ist gut“. Mehr wollte die alte „Dreigroschenoper“ nicht sagen. In der Bearbeitung Brechts wird das aufs neue behauptet, aber es ist ein unreiner Klang dabei, der das bißchen Liebe einer alten Oper im Nu in modernen Klassenhaß verwandelt.

Das zweite Finale ist beinahe ein kommunistisches Manifest, und die Abschiedsrede, die der Verbrecher um Galgen hält, wird von Gedankengängen durchzittert, an denen nichts wahr ist als die Wut, mit der sie vorgetragen werden. Da macht Harald Paulsen, ein idealer Schauspieler, einen Fehler, den zu machen der Regisseur hätte verbieten müssen. Ist dieser Abschied vom Galgen her eine feinselige Abrechnung mit den Mächten dieser Welt oder ein letzter hoher Augenblick, der selbst den verstocktesten Verbrecher zwingt, alle um Verzeihung zu bitten, die durch ihn gelitten haben? Für welche Auffassung müssen sich edlere Naturen entscheiden: für das einfache, schlichte Bekenntnis, das die Nähe des Todes selbst dem Härtesten auf die Zunge drängt! Je schlichter und anspruchsloser Herr Paulsen diese Stelle spräche, die er, von Weillscher Musik geplagt, mit geblähten Nüstern vor sich hin keucht, desto höher, friedlicher und reiner wurde die Luft, die den Schluß umweht, die den Boten des Königs herbeiführt und alles zum Guten wendet. Soll das Ganze aber ein Traum sein, dann erst recht, denn im Traume ist man wohl unglücklich und traurig, aber der Zorn kommt selten darin vor. Unter den Darstellern dieser Komödie erregt die Lieblichkeit Luli Hohenbergs die angenehmsten Gefühle. Sie ist so hübsch, daß sie gar nicht zu spielen braucht, was ihr selbst ja am leichtesten fällt. Am allerwenigsten geeignet war diesmal der kluge und feine Schauspieler Kurt Lessen; er wußte nicht, was er mit seinem Geschäft, Bettler zu Bettlern zu machen, anzufangen hätte und half sich durch leichtes Jüdeln aus dem englischen Abenteuer. Die Bilder sind nicht weniger bunt und bewegt als die Musik Kurt Weills, die gänzlich dem Kopf entspringt, aber sicherlich auch Beweise einer originellen Begabung nicht missen läßt; sowohl Brecht als Weill erzählen jedem, der es hören will, daß sie das Drama und speziell das Musikdrama reformieren wollen. Es paßt ihnen nicht, und sie möchten etwas „ganz Neues“ an die Stelle setzen. In Wahrheit etwas ganz Altes! Die Primitivität von einst hatte Melodie. Hier hat sie nur Klang und Farbe. So gibt es denn in der „Dreigroschenoper“ mehr zu schauen als zu empfinden und das liegt zur Gänze im Charakter dieser Zeit, die das Schauen dem Fühlen und das Wollen dem Denken vorzieht . . .

In: Wiener Sonn- und Montagszeitung, 11.3.1929, S. 4.

Ferdinand Scherber: „Die Dreigroschenoper.“ („The Beggars opera.“).

Ein Stück mit Musik in drei Akten nach dem englischen Original des John Gay, übersetzt von Elisabeth Hauptmann. Deutsche Bearbeitung von Bert Brecht. Musik von Kurt Weill.

Aufgeführt im Raimundtheater am 9. März.

Das ist ein seltsames Zeitalter immer aufgeregter Exaltation, die unserem kommerziellen Rationalismus und unserer modernen Sachlichkeit alle Augenblicke auf der anderen Seite unseres Daseins ein Schnippchen schlägt. Kaum daß ein pfiffiger Autor heutzutage eine absonderliche, wirkungsvolle Idee für die Bühne hat und Erfolg in seine Kasse trägt, so entdeckt man gleich hinterher, ohne nur einen Moment ruhig nachzudenken, mit blitzartiger Geschwindigkeit einen „neuen Stil“, Befreiung von der natürlich langsam alt werdenden Vergangenheit. Wie oft ist schon mit Böllerschüssen und Vivatrufen in den letzten Jahren die Geburt eines neuen Stils begrüßt worden! Einer der letzten „neuen Stile“ dürfte die „Dreigroschenoper“ sein, obwohl bei den unaufhörlichen Anmeldungen neuer Stilpatente die Übersicht nicht leicht ist. Der selige John Gay hat in einem Motto seine zugkräftige „Bettleroper“ als ein Nichts bezeichnet, an dem man aber doch seine Freude haben könnte. Was 1729 ein Nichts ist, wird leicht 200 Jahre später mit aufgegriffenem Munde als „neuer Stil“ angestaunt.

Georgy Calmus hat 1912 die alte „Bettleroper“ gewissermaßen für die Allgemeinheit neu entdeckt und mit einer historischen Einleitung herausgegeben. Felix Dörmann machte das Sujet zu einer Operette („Der Liebling von London“ mit Musik von H. E. Heller), ohne Glück damit zu haben. Dieses Glück haben Brecht und Weill jedesfalls gehabt. Die „Dreigroschenoper“ ist einer der stärksten Theatererfolge in Berlin.

Der Text von Brecht lehnt sich mehr an das Original an, als es beim ersten Blick den Anschein hat. Karikatur, Räuberromantik, Kriminalgeschichte, Liebesabenteuer und Opernparodie sind nach Calmus die Bestandteile des Gayschen Buches und sie sind es auch des Brechtschen. Natürlich neuzeitlich ausstaffiert. Einige Tropfen sozialen Öls sind ein beliebtes und in solchem Falle auch billiges Schmiermittel, dazu eine Sprache, die weit derber ist als die des Originals, die jedesfalls nach dem Losungsworte früherer Ästheten den Spießbürger verblüffen wird. In einem Durcheinander werden Kabarett, Posse, Operette, Volksstück herumgeworfen. Aber dieses Durcheinander hat etwas von einer Rarität an sich, es ist toll, lebendig, oft auch lustig.

Der neue Stil ist, wenn wir den neuen Stilfachverständigen glauben wollen, hauptsächlich in der Musik zu suchen. Der Komponist erklärt selbst in fast offizieller Feierlichkeit, daß das letzte Finale keineswegs eine Parodie sei, sondern daß hier der Begriff „Oper“ zur Lösung eines Konfliktes herangezogen worden wäre. Aber ebensowenig wie man mit dem Begriffe Geld eine Rechnung bezahlen kann, sondern nur mit dem, was damit zu verstehen ist, ebensowenig kann man mit dem Begriff Oper was lösen, sondern nur mit dem, was man unter einer Oper versteht, kurz gesagt, mit der Form der Oper. Immerhin: wenn der Komponist die Opernform als einen wichtigen Bestandteil seines Werkes betrachtet, sich gegen eine Parodie verwahrt, die Aufführung aber doch eine Parodie daraus macht und gerade dadurch der Erfolg entscheidet, so sollten die neuen Stil-Entdecker sich die Sache noch einmal überlegen. Mein Gott, einen neuen Stil findet man bald. Es handelt sich nur darum, ob er auch wirklich da ist.

Der Komponist hat in einem Blues als erster Gesangsnummer eine Art Motto seiner Partitur vorangestellt. Das Stück ist tonal, hat den Charakter eines eingängigen Schlagers. Die populäre Melodie bleibt herrschend, sie wird manchmal etwas verrenkt, auf ziemlich bissige atonale Begleitung gelegt. Diese populäre Melodie erlaubt den Vortrag durch ungelernte Sänger, sie ist die Versicherung für die Gunst des Publikums. Die Formen der Jazzmusik dominieren. Ganz klar ist es nicht, ob sich der Komponist nicht über die Jazzmusik lustig macht, über das Publikum oder ob er die Jazzmusik atonal modernisieren will, was bei dieser Musik keine großen Schwierigkeiten bereitet. Aber mit fast journalistischer Behändigkeit, Lebhaftigkeit und Sinn für Aktualität ist das Ganze gemacht. Darin und in den populären Melodien liegt wohl das Geheimnis des Erfolges der Musik der „Dreigroschenoper“. Witzige Beweglichkeit, die hier notwendige gute Stimmenbehandlung entschädigen für manche Bizarrerie.

Als Gentlemanverbrecher ist Harald Paulsen ganz ausgezeichnet. Er singt, spielt mit starkem Temperament, kann auch gelegentlich seine akrobatische Gewandtheit zeigen. Kurt Lessen vermag aus einer flüchtig gezeichneten Revuefigur eine Charakterfigur von eindringlicher Wirkung zu gestalten. Vielleicht sieht er die ganze heitere Geschichte zu ernst an. Vortrefflich Walter Brandt als riesiger knabenhafter Polizeichef, halb Frau halb Knabe, vortrefflich die Banditen Fischer-Marich, Karl Ehmann, Skraup, Simmerl. Luli Hohenberg sieht herzig aus, singt stellenweise gut charakterisierend. Der Rest ist charmante Andeutung, Zusage für die Zukunft. Josefine Glöckner bringt einen gemütvollen Wiener Volksstückton in das groteske Stück. Kleinere Rollen finden in Elisabeth Markus, Thea Braun-Fernwald, die zeigt, daß sie auch in Dessous das Licht der Scheinwerfer nicht zu scheuen braucht, sehr gute Darstellung.

Die Regie von Karlheinz Martin flüchtet sich manchmal unter die Flügel des „blauen Vogels“, hat aber auch einige aparte Lösungen, trifft vor allem den Stil des Werkes sehr gut, selbst in kleinen Details.

Ein Lob verdient wohl auch das Wiener Jazzsinfonieorchester unter Leitung von Norbert Gingold, das in den Hintergrund der Bühne gedrängt wird, zumeist in den Rücken der Darsteller hineinspielt, ohne Kontakt mit ihnen ist, also keine leichte Aufgabe hat.

Das ungewöhnliche Stück hat im Raimundtheater jedenfalls eine ungewöhnlich gute Aufführung.

Man braucht nicht gleich von neuem Stil zu schreien. Eine sonderbare, lebendige, interessante Sache, diese „Dreigroschenoper“, deren Vorzüge nur mit der Zeit monoton werden, weil sie zu grell sind. Da stellt zum Schluß sich die Opernparodie als Rettung ein. Glücklicherweise nicht der Begriff, sondern die lustige Parodie selbst. Die Wirkung ist übrigens erprobt.

Ende lustig, alles gut.

In: Wiener Zeitung, 12.3.1929, S. 1-2.

Friedrich Lorenz: Feuilleton. „Die Dreigroschenoper.“ Nach dem englischen Original des John Gay von Bert Brecht. (Raimund-Theater).

Moral hat immer einen doppelten Boden. Hatte es zur Zeit John Gays, der, als er gegen die starre Händelsche Opernform mit seiner „Dreigroschenoper“ zu Felde zog, zugleich die Schlacht gegen eine verbrauchte, abgegriffene Moral gewann, und sie hat es heute, da Bert Brecht in die Fußstapfen des englischen Kollegen tritt. Es ist eine Moral, die man von innen nach außen kehrt, wie Taschen, deren Inhaltslosigkeit man dokumentieren will.

John Gay hat es erfaßt und Bert Brecht hat es begriffen, daß die wahre Theaterkunst nicht im Dienste der Heilsarmee stehen darf. Wecket das verstockte Herz der Reichen, soviel ihr wollt! Aber zeigt zugleich, wie es in Wahrheit um die Bettler steht, die da an eurem Mitleid nagen. Liefert die Gauner an den Strick! Aber vergeßt nicht, zuerst ihren Mut zu zeigen, ihren unergründlichen Ehrenkodex, vergeßt nicht, sie liebenswert zu machen und nur ganz nebenbei zu erwähnen, daß Mackie Messer recht beachtliche Moritaten auf dem Gewissen hat. Wo sich die Moral um die Achse dreht, muß doch das Herz auf dem gleichen, dem rechten Fleck bleiben. Wo die Grundfesten der der Wohlanständigkeit wackeln, muß man lieben können, bewundern, ja vielleicht auch tanzen, um nicht seekrank zu werden. Und auf diesem so sympathischen Umweg begreift man, daß die Bettlermoral John Gays, die Gaunerromantik Bert Brechts gar kein antibürgerliches Vorzeichen hat. Sie ist bloß aufgebaut auf dem Grundsatz: Unter Blinden ist der Einäugige König, unter Gaunern also der Bettler.

Dieser Bettlerkönig heißt Jonathan Jeremias Peachum. Man muß in sehen, wenn er heuchelt, geizt, betrügt, erpreßt; man muß ihn kennenlernen, wenn er den Impresario des Londoner Elends mimt, den Reklamechef einer Bettlergilde, den Manager des arbeitslosen Einkommens, der selbst mit fünfzig Prozent beteiligt ist. Und man muß ihn als streng soliden Vater sehen, Kleinbürger bis in die Knochen, wenn er der Tochter Polly Vorwürfe macht, daß sie es abgelehnt hat, sich anständig zu verheiraten, daß sie Mackie Messer, den Gauner, genommen hat. Triumph der doppelten Moral, des Nebeneinanders der Dinge, die man tut – der Kampf ums Dasein ist schwer – und die man von seinen Kindern fordert. Und Polly selbst, diese höhere Tochter aus dem Sumpfe der Großstadt, dieses proletarisch königliche Pensionatsmädel, die es im Blute hat, daß sie lieber Mackie will als einen von denen, die den Angestellten ihres Vaters Almosen reichen. Und Mackie schließlich, auf dessen blonden Scheitel der Dichter alle Missetaten häuft, die noch halbwegs Gnade vor den Frauen finden können: Mord, Einbruch, Schändung, Heiratsschwindel. Man darf vor allem die Sympathie der Frauen nicht verlieren. Man darf es mit mehreren halten, aber man muß doch jeder soviel geben, daß sie ein Leben daran zu tragen hat. Und das tut dieser Mackie Messer, der sich die Tochter des Bettlerkönigs raubt, in einem Pferdestall Hochzeit macht, einen Priester und den Polizeichef von London zu Zeugen seiner verschütteten Sehnsucht nach Bürgerlichkeit nimmt, dieser Mackie Messer, der sich keine neue Moral gezimmert hat, sondern nur durch die Löcher der alten schlüpft. Er nutzt nur aus, was ist: den Reichtum der Männer, die Liebe der Frauen, die mit Beteiligung an seinen Taten erkaufte Freundschaft des Sheriffs, er nutzt die Treue seiner Untergebenen aus und schließlich sogar die Operettenchance, die ihm der hergebrachte Theaterstil liefert: da der reitende Bote naht und ihm Begnadigung vom Strick und Erhebung in den Adelsstand verkündet.

Daß Mackie Messer seinen Liebes- und Verbrechertaten Songs unterlegt, die Brecht mit Ironien, Anspielungen, Rührungen und knüppeldicken Wahrheiten gepfeffert hat, was will das dem gegenüber besagen, daß er doch ein Kerl ist, der nicht philosophiert, sondern handelt? So macht sich Brecht, dessen Stärke von jeher in seinen lyrischen Aphorismen lag, eigentlich als Moralist von seinem Helden selbstständig. Da ist eine Strophe, die lautet: „Man schlage ihnen ihre Fressen mit schweren Eisenhämmern ein. Im übrigen will ich vergessen und bitte sie, mir zu verzeih‘n.“ Das schmeckt verteufelt nach Zweideutigkeit! In diesen Songs, die von Temperament überschäumen, die aufwühlen und aufputschen, Musik und Moral zugleich sind, in diesen Songs kulminiert das Stück und seine bezaubernde Heuchelei. Liebe wird Couplet: auch der Aufschrei des gefolterten Menschen, der zum Galgen geschleift wird; da wird musikalisch gebettelt und geheiratet, allen verziehen und auf die gewettert, die ihr Huhn im Topfe haben; da wird das Rebellentum gegen die Ordnung gepriesen und doch – mit süßsaurer Saxophonbegleitung – ein träumerischer Blick in die Welt geschickt, wo man weder zu stehlen noch zu betteln braucht. So sind diese Songs, wie die Menschen sind, die ihre wilden und ihre sentimentalen Augenblicke haben, die zwar morden, aber doch auch tanzen und küssen wollen.

Ein Schauspiel? Eine Oper? Rhythmus begleitet das fiebrige Leben Mackie Messers. Selbst dann, wenn er zu den Freudenmädchen geht und von ihnen an die Polizei verraten wird. Ist nicht Harald Paulsen, der den Mackie spielt, selbst so eine Zwischenstufe zwischen den Kunstformen des Theaters, ein Rhythmus? In dieser Rolle tanzt er nicht einmal. Einmal improvisiert er auf Tellern eine Jazz, ein andermal wieder – wollüstig gurgelnd – ein Saxophon. Am Galgen läßt er einen Opernton höhnisch rollen. Im allgemeinen aber singt er nicht eigentlich. Sondern er entwindet der Musik ihre Töne, um sie schauspielend auflodern zu lassen, umgeformt in Wort und Gebärde. Paulsen hat Momente, da er ein guter, blonder Junge scheint, wenn auch immer auf dem Panthersprung zum Mord, zur Flucht, zur Liebe. Dann aber flammt er plötzlich in einem Feuer auf, das entweder liebenswürdig ist oder tödlich, je nach Bedarf. Und wenn er vor seiner Galgenfahrt die Ballade hinwirft, „in der allen verziehen wird“, scheint er besessen von einem Dämon, der sich über blutleere Lippen, aus zuckenden Lidern einen Weg in das All bahnt. Eine schauspielerische Leistung bietet Paulsen, die alle möglichen Kunstfertigkeiten umfaßt und dennoch so einheitlich ist, daß man nie genau weiß, ob er gerade tanzt oder singt, schauspielt oder filmt. Dann die höhere Bettlertochter der schönen Luli Hohenberg. Dieser süße Bänkelsang des täglichen Lebens, der Liebe, der Hoffnungen. Ueberaus sittsam wirkt sie in ihrem getupften Kleidchen, vielleicht stellenweise allzusteif, in dem Bestreben, nur da zu sein, zu lieben und das Schicksal walten zu lassen. Und dennoch voll verhaltener Glut, die sichtbar wird in dem prächtigen Eifersuchtssingsang vor Mackies Käfig, da Luli Hohenberg und Elisabeth Markus einander musikalische Liebenswürdigkeiten sagen. Ganz großes Format ist Kurt Lessen, der stolze, trockene Bettlerkönig, der Zyniker und Schmeichler, Heuchler und dräuende Herrscher über Tagediebe. Und Pepi Glöckner, sein Weib, das so knarrend singt, so herzzerreißend zetert und dann wieder die mit falschem Ton eitle, große Dame spielt, wenn sie Frauen begegnet, die überhaupt keiner Klasse mehr angehören. Walter Brand wieder, der dick-drollige Polizeigewaltige, wendet sich an die Lacher, in seiner Einfalt, seiner schwitzenden Verlegenheit, seiner geschäftstüchtigen Freundschaft für Mackie, den Mörder. Wie peinlich ist es ihm, seinen Mackie einmal doch ins Loch setzen zu müssen, und wie triumphierend sein Opernbaß à la Mayr schließlich, daß er als Deus ex machina auf einem hölzernen Pferd angeritten kommt. Und so ist jede Maske treffend, jede Charge an ihrem Platz. Da sind die unwiderstehlichen Gauner Ehmanns, Skraups, Fischer-Marichs und Simmerls, der Reverend Louis Groß’, der Konstabler Felix Krones’. Karlheinz Marin als Regisseur hat den Rahmen um all diese prächtigen Details gespannt. Halb Jahrmarkt, halb phantastisches Märchenbuch entrollen sich die Bühnenbilder mit eindringlicher Lebendigkeit, aus allen Regieelementen der Gegenwart klug komponiert. Und die Massenszenen, die Chöre sind von einer Disziplin, die an Granowskis akrobatische Truppe gemahnt.

In: Neues Wiener Journal, 10.3.1929, S. 3-4.

Die Musik Kurt Weills. Von Elsa Bienenfeld.

            Kurt Weill, kaum dreißigjährig, hat im Reich draußen aufmerken gemacht. Zwei Einakter „Der Protagonist“ und „Der Zar läßt sich photographieren“ (zusammen mit Georg Kaiser) und ein anderer Einakter (zusammen mit Iwan Goll) rollten rasch über die Bühnen. Ein viertes Bühnenstück, „Mahagonny“, wurde schon gemeinsam mit Bert Brecht verfaßt. Ueberall Musik nur in dünnem Aufguß, über den Text bloß hingespritzt. Wahrscheinlich enthalten sämtliche Partituren Weills zusammengerechnet nicht halb so viel Notenköpfe wie eine einzige Partiturseite des „Rosenkavalier“. Aber überall Gegenwartslust, Gegenwartstempo, neue Versuche, neue Wege. An Strawinsky und Hindemith jagt es vorüber. Weill war ein Schüler Busonis. Aus seinem Musizieren blitzt Scharfgeistiges. Kein Zufall, daß seine Opernmusik von Berlin W aus das Publikum erobert.

Die „Dreigroschenoper“ stellt ein altes Problem in moderne Perspektiven. Das Problem: Oper. Seit je musiziert sich die Oper in eine imaginäre Welt hinein, schwelgt in Gefühlsüberschwang. Selbst unsere Gegenwart, die sonst nur knappen Ausdruck duldet, gewährt der Oper ihre wunderliche und wunderbare Unwirklichkeit. Die Oper kümmert sich nicht darum, wie Menschen sich wirklich benehmen und mit welchen Sorgen sie sich abquälen; sie bedient sich der Pracht der Klänge und des Dekors, wie eine reiche Frau sich schön macht, um schön zu sein; man läßt sich, ach wie gern! von ihr betören. Wer Geist und Griff hat, wie etwa Offenbach, zeigt sie im pikantesten Dekolleté, kostümiert sie als musikalische Zeitsatire. Nur wenige können das. Offenbach hat bisher keinen Nachfolger gefunden und besitzt nur wenige, längst vergessene Vorläufer. Darunter jenen witzigen Berliner Pepuch, der vor genau zweihundert Jahren sein einziges erfolgreiches Theaterstück, eben die „Bettleroper“, komponierte. Es war ein Sensationserfolg für ein paar Jahre. Winzig im Hinblick auf die Unsterblichkeit. Immerhin nicht ganz ohne Folgen in der Musikgeschichte.

Genau nach dem englischen Modell, doch mit derberer Hand, zieht Kurt Weill der Idee „Oper“ ihr kostbares Gewand aus, nimmt ihr den Schmuck der schönen Gesangsstimmen, der Orchesterpracht, der reichen musikalischen Formen und kleidet sie in das billige Kleid der musikalischen Gegenwartskonfektion. Offenbach hatte ihr ein Cancan-Röckchen angezogen; Kurt Weill zieht ihr einen Jazzpyjama an.  Man braucht den jungen Weill, der wahrscheinlich mehr Pepuch als Offenbach im Leibe hat, beileibe nicht als Genie zu proklamieren, aber auch ihm ist eine Travestie ausgezeichnet gelungen. Sogar bis zu jenem Punkt, an dem das Problem an den Schauer einer ernsten Zeittragödie rührt, die den Bestand der Gattungen „Oper“ und „Operette“ überhaupt gefährdet.

Die Musik, die Weill hier komponierte, ist völlig auf Klang und Rhythmus des Jazz gestellt. Von dem verjazzten Händel-Stil der Ouvertüre an bis zu dem letzten Finale, wo der konventionelle Ensemblechor, die konventionelle Tenorarie, das konventionelle Liebesduett des modernen Opernstils karikiert sind, spürt man ein Vorgestern und hört ein Heute. Zum erstenmal findet man in einem größeren Zusammenhang die Typen der Jazzmusik zu Charakterstücken von betontem Stimmungsgehalt umgewandelt. Von dem knalligen Foxtrott des „Kanonen-Song“ der von dem Refrain der stampfenden Verbrecherbande Tempo und Schmiß erhält, über das kurzaktige Espressivo einer beinahe zärtlich überschimmerten Liebesszene, über den Pianissimo-Tango einer niederträchtigen Zuhälterballade, dem punktierten E-dur-Shimmy der Ballade „Vom angenehmen Leben“, dem Eifersuchtsduett zankender Weiber, über ein von der Rührtrommel schauerlich angetriebenes Verzweiflungs-Agitato des zum Tode verurteilten Mackie Messer, durchläuft das Stück musikalisch dünnlinige, aber dennoch seltsam packende Stimmungsbilder. Sie sind teils schnoddrig hingelegt, teils mit raffinierter Pinselstrichelung hergestellt. Die Themen, fast nur über Sekundenschritte geführt, im Umfang von höchstens einer Septime, für Schauspieler, nicht für Sänger erfunden, nur aus neunzehn Instrumenten bestehend, nur von neun Musikern bespielt, hat geistreiche Variation.

Nicht als „Musik an sich“, aber als Theatermusik hat das Experiment Weills Qualitäten. Einzelne Nummern der „Dreigroschenoper“ werden vielleicht populär werden, als Musik, abgelöst vom Theater, aber kaum genußreich sein. Wie diese Musik das Wort durchleuchtet, die Situation mit greller Unmittelbarkeit in ihrem Stimmungskern erfaßt, bestätigt eine Theaterbegabung ungewöhnlicher Art. Der Versuch Weills, die musikalischen Gipfelungen als Couplet von der Handlung teils abzulösen, teils aus dem Dialog herauswachsen zu lassen, ist glänzend gelungen. Virtuose Deutlichkeit des Wortes, Deutlichkeit der Situation! Bleibt die Frage offen, ob solche Lösung auch in einer anderen Form als nur eben in der Operngroteske durchführbar ist. Doch was will man heute solchem Versuch Prognosen stellen? Schon enorm viel, wenn ein Theaterkomponist nicht in ausgefahrenem Erfolgsgeleise vorwärtstrottet.

Mit Vehemenz springt Kurt Weill auf neuem Wege das musikalische Theater an. Seine Musik hat nicht Sentiment, nicht Gemüt, nicht Herz. Aber sie hat Witz, Verstand, Farbe. Sie ist mehr Berlin als Wien.

Das Publikum ging mit Mackie Messer durch dick und dünn. Der Beifall schwoll wiederholt zur Orkanstärke an und umbrandete schließlich, Komponist, Direktor und Regisseur, die sich mit den Darstellern dankend verneigten. Schüchterne Zischversuche verschlang der Applaus.

Hedwig Kanner: Theater der Woche. Brecht und Weill spielen auf. „Die Dreigroschenoper“.

Zweifellos ein Verdienst des Dioskurenpaares Bert Brecht und Kurt Weill mit ihrer witzig-fachlichen, zeitgemäß-artistischen Gerissenheit den alten Engländer John Gay aufgespürt und durch eine Bearbeitung up to date für Berlin mundgerecht gemacht zu haben. (Ob auch für Wien?) Ihre scharfen kalten Jagdhundspürnasen witterten den unvergänglichen Humor der alten Bettleroper und sie beschlossen, „the baggers opera“ nach der neuesten Mode textlich und musikalisch zu kostümieren, übersahen dabei, daß manches viel zu sehr auf englische Verhältnisse gemünzt ist, um am Kontinent voll verstanden zu werden. Immerhin erwies sich John Gay (plus Swift?) stark genug, um trotz Vergewaltigung zum beinahe größenwahnsinnigen Opernsketch à la „elf Scharfrichter“, trotz Jazzverseuchung und Jazzüberkrustung, starke Wirkung auszuüben. Selbst: der eingefleischteste Jazzverehrer wird den Grund nicht einsehen, warum die ganze Dreigroschenoper verjazzt werden muß.

Abgesehen von den parodistisch-burlesken Scherzen, die uns schon das gottselige Udel-Quartett bescherte, ist die Musik zur „Dreigroschenoper“, trotz aller bewußter oder unbewußter Primitivität, trotz raffinierter Synkopenwitze und aparter Saxophonbehandlung, in ihrer bewußt oder unbewußt ordinär-kitschigen Melodik kaum einen Heller wert. Nach einigen harmonisch-gepfefferten Bänkels, Blues, Tangos – n’est pas cocotte qui veut – und auch zum Schlagerkomponisten muß man geboren sein – erseht man sich Abwechslung, sei es auch in Form eines Intermezzos von dressierten Hunden oder Parterreakrobaten.

Weill will – wer lacht da – das Musikdrama Wagners aus den Angeln heben, er ersucht, – wer lacht da, – seine „Songs“ nicht etwa als aufgesetzte Lyrik mißverstehen zu wollen. Kastor und Pollux sind der guten, alten Oper müde, sehnen sich nach „Einfrostung“, nach formhaft gebundener „Gestik“ und gleichen Zirkusclowns, die auf der glatten Rutschbahn neuer Ideen einen Weg ins Freie suchen. Aber wo sind die neuen Ideen? Acht einfache Takte von Händel, der zur Strecke gebracht werden soll, hätten noch immer die Kraft, dieses Bettleröperchen zu töten.

Die Aufführung (Regie Karlheinz Martin) war in ihrer marionettenhaften Unwirklichkeit originell und geistreich. Wenn Weills nackte, gehämmerte, fanatische Musik anhub, gingen Lichter nieder. Sollte das Ohr durch das Auge abgelenkt werden?

Star: Harald Paulsen. Seine beiden Szenen im Gefängnis, besser gesagt, Käfig, können sich hören und sehen lassen. Aufgepeitschtes Temperament, Feuer, das unterm Eise glüht. Er spricht preußisch und schnell, fast so schnell wie Kainz, leider nicht so verständlich. Frau Hohenberg, als graziös-dünnbeinige, schmalhüftige Polly, scheint doch nicht talentvoll genug, dem Burgtheater den Rücken kehren zu können. Frau Glöckner liegt scharfe Satire nicht, die Damen Dolly, Molly, Betty, Fixie, durch grelle Reklametafelbeleuchtung beim richtigen Namen genannt, waren stark ausgezogen, aber lange nicht genug anziehend. Herr Lessen als „Bettlerkönig“ hatte Seltenheitswert: man verstand alles, was er sprach und sang.

Der Premierenapplaus schien den Darstellern zu gelten und wurde merklich schwächer, wenn Dichter und Komponist erschienen. Ein wirklicher Kontakt zwischen Publikum und Bühne kam erst im letzten Happy end-Finale zustande. Und was ist dieses Finale? Keine „bewußte Öffnung der dramatischen Form“, wie im alten, bewußten Kommentar zu lesen ist, sondern die gute, alte, gewöhnliche Opernparodie. Das Dagewesenste vom Dagewesenen.

In: Der Morgen, 11.3.1929, S. 4.

M. S.: Theater, Kunst und Musik. Die „Dreigroschenoper“ in Wien.

Erstaufführung im Raimundtheater.

Vor zweihundert Jahren wurde in London als Parodie auf die Händelsche Oper ein von den beiden Autoren John Gay und Dr. J. C. Pepusch verfaßtes Stück aufgeführt, das den Namen „Bettleroper“ trug und großen Erfolg hatte, einen Erfolg, der einerseits in der Aktualität der Idee, anderseits in dem Witz und der Schlagkraft der Musik begründet lag. Der Hauptheld des Stückes war ein bei den Behörden gut angeschriebener Polizeibeamter, der auf großem Fuße lebte und ausgedehnte gesellschaftliche Beziehungen unterhielt, schließlich aber sich als Haupt einer Verbrecherbande entpuppte. Das Ganze eine Satire auf die Sittenlosigkeit, Bestechlichkeit, kurz auf die Doppelmoral einer heuchlerischen Gesellschaft. Die Handlung spielt in Verbrecherspelunken und gibt ein Bild über die Anschauungen, über die Lebensweise, über das Tun und Treiben des niedrigsten Verbrechergesindels. Von einem nach den Begriffen der Konsequenz und Zweckmäßigkeit konstruierten Bühnengeschehen kann dabei kaum die Rede sein. Allerlei Pikanterien und derbe Plattheiten sind auf das Konto des Milieus zu buchen.

Zwei moderne Autoren, Bert Brecht und Kurt Weill, haben nun aus diesem altenglischen Stück das neue, „Dreigroschenoper“ betitelte Werk geschaffen. Der Name Oper ist wohl nicht zutreffend, man müßte denn diesen festumschriebenen Begriff auf die Bezeichnung einer Mischung von Operette, Kabarett, Satire, Volksstück und Filmkunst ausdehnen.

Den Autoren schwebte bei ihrer Arbeit die Rekonstruktion der Urgestalt der Oper vor. Sie hatten offenbar gelernt, daß jede Weiterentwicklung der Musik mit einem Zurückgehen auf frühere Formen begleitet war und glaubten damit der nach ihrer Ansicht noch in ihrer „splendid isolation“ verharrenden Oper unserer Tage neue Impulse geben zu können, dadurch, daß sie das dramatische Geschehen wie die Musik dem Realismus und dem besonderen Geschmack von heute anpaßten. Um ihrem Begriff „Oper“ zu definieren, nahmen sie Gelegenheit, ihn als „Thema eines Theaterabends“ aufzustellen: „Sie werden heute abend eine Oper für Bettler sehen. Weil die Oper so prunkvoll gedeckt war, wie nur Bettler sie erträumen, und weil sie doch so billig sein sollte, daß Bettler sie bezahlen können, heißt sie die „Dreigroschenoper“.“ Nach Ansicht des Komponisten brachte dieses Zurückgehen auf eine primitive Opernform eine weitgehende Vereinfachung der musikalischen Sprache mit sich. Es galt eine Musik zu schreiben, die von Schauspielern, also von musikalischen Laien gesungen werden kann. Darin und in der Durchführung einer faßbaren, sinnfälligen Melodie sah der Komponist die Schaffung eines neuen Genres des musikalischen Theaters. Der beabsichtigte Anschluß an Filmmusikideen, an die moderne Jugendbewegung und damit auch an den modernen verderbten Zeitgeschmack scheint in diesem Werke jedenfalls gelungen zu sein. Für solche Impulse aber bedanken wir uns mit allen jenen, die von der Kunst, als einer unserer erhabendsten Kulturzweige, die höchsten Aufgaben verlangen, ihr Hauptziel in der Veredlung und Erhebung des Menschengeschlechtes sehen. Der Menschheit aber wie der Kunst wird nie gedient durch ein Herabsteigen in die realistischen Niederungen des Alltags, in das Milieu des Verbrechertums und des verseuchten Empfindens und Geschmacks.

Die Musik besteht in einer Reihe von dem Sprechdrama eingefügten, in sich abgeschlossenen Songs, denen eine parodistisch modernisierte Ouvertüre vorangeht. Ganz auf Jazzstimmung gestellt, wird sie auch von einer Jazzkapelle gebracht. Die Titel der einzelnen Musiknummern sind in einem „vielversprechenden“ Register zusammengestellt: „Moritat“, „Anstatt daß Song“, „Seeräuberjenny“, „Kanonensong“, „Zuhälterballade“, „Ballade vom angenehmen Leben“, „Gang zum Galgen“ u. dgl. Einige von ihnen werden in Deutschland schon vielfach als Schlager gespielt. Neben Trivialitäten und Seichtheiten gibt es charakteristische, interessante und lustige, auch musikalisch sauber gearbeitete Stellen. Die Melodie ist im allgemeinen in klaren Linien gehalten und sangbar. Gewohnte Jazzrhythmen geben das besondere Gepräge.

Im Vordergrunde des Interesses stand der Schauspieler und Operettensänger Harald Paulsen, der schon bei der Erstaufführung in Berlin mit der Kreierung des Gentlemenbanditenführers Aufsehen erregte. Die elegante Bühnenfigur, die Eindruckskraft seines Spieles, seine Charakterisierungskunst, seine gesanglichen Fähigkeiten vereinigten sich zu einem Gesamtbild packender Darstellung. Der Beifall nach den Aktschlüssen schien denn auch in erster Linie seinen Leistungen zu gelten. Hervorzuheben sind die ausgezeichneten Darsteller des Ehepaares Peachum durch Kurt Lessen und Pepi Glöckner. Luli Hohenberg vermochte weder in der darstellerischen, noch in gesanglicher Hinsicht den Anforderungen ihrer Rolle als Polly vollkommen zu entsprechen. Die große Zahl der übrigen Darsteller fanden sich mit mehr oder weniger Glück mit ihren Partien ab. Es ist im übrigen immer eine gewagte Sache, Schauspieler zum Singen zu zwingen. Sie geht selten gut aus.

Das Werk hatte in Berlin einen außerordentlichen Erfolg, es war nach Zeitungsberichten das große Rassestück des Spieljahres. Zwischen der Mentalität des Berliner und Wiener Publikums ist jedoch ein großer Unterschied und so kam es, daß der erste Akt hier mit Reserve aufgenommen wurde. Das Publikum schien mehr erstaunt als erfreut zu sein und wurde erst nach dem zweiten Akte wärmer und herzlicher in seinen Beifallskundgebungen und auch dies nur zur Hälfte. Ein anderer Teil verhielt sich durchaus passiv und energische Zischlaute bekundeten das direkte Mißfallen einzelner.

Die Ausstattung war durchaus auf realistischer Basis gegeben. Im Hintergrund ein mit bunten Lichtern beleuchtetes Praterorchestrion mit automatischem Dirigenten, offenbar ein Symbol der Automatisierung der modernen Musik. Im Vordergrund eine primitive Andeutung des jeweiligen Schauplatzes auf der Szene. Als am meisten gelungen möchten wir die Schlußszene des zweiten und dritten Aktes bezeichnen.

In: Reichspost. 10.3.1929, S. 13.