Deutschvölkischer, antisemitisch ausgerichteter Geheimbund, der z.T. von geflüchteten Angehörigen deutscher Freikorps im Umfeld des Kapp-Putsches in Wien in den 1920er Jahren aufgebaut wurde und insbesondere an der Universität für Gewaltexzesse gegen jüdische und sozialdemokratische Studierende und Lehrende verantwortlich war, allen voran am Terror gegen den Leiter des I. Anatomischen Instituts, Prof. Julius Tandler.

Literatur und Materialien:

Bericht der AZ, 8.11.1929, S. 2-3. (Heimwehrüberfall/Die Terrorgarde des Antimarxismus)

K. Taschwer: Terrror gegen das Anatomische Institut von Julius Tandler 1920-1934: Hier.

(PHK, work in progress)

Untertitel: Neue Gedichte aus Österreich. Gesammelt und eingeleitet von E. A. Rheinhardt. Verlag Ed. Strache, Wien-Prag-Leipzig 1920, 356 S.

Diese Anthologie versammelt insgesamt zwei Autorinnen (E. Janstein, M. Wied) und 31 Autoren mit jeweils mehreren Gedichten (ein Gedicht im Fall von P. Kornfeld bis zu 25 bei F. Werfel, gefolgt von 14 im Fall von G. Trakl, meist jedoch 3-8 Gedichten/Verf.) auf 313 Seiten, zusätzlich eine Einleitung sowie ein bio-bibliographisches Kurzverzeichnis. Die Autoren sind in alphabetischer Abfolge angeordnet, beginnend bei E. Angel, endend mit St. Zweig.

Einleitend hält Rheinhardt fest, Sinn der Kunst und in der Folge der Anthologie sei es „ihrer Zeit den Mythos zu schaffen, das Einzigartige der Gesellschaft […] aus der Vergänglichkeit dahin zu heben, wo das Irdischgewesene aus seinem Äon dem reinen Reiche der Ideen zuwächst“ (V). Darunter meint er u.a. das Streben seiner Generation, einer anderen, nach Menschlichkeit und „Stimme der Stimmlosen“ (VII) ebenso sein zu wollen wie Einsicht in das „Furchtbare dieser Gesellschaft und ihres Krieges“ zu zeigen und auszusprechen und dabei aus Vereinzelung herauszutreten: „Die Dichter also dieser anderen Generation sangen […] ihre verzweifelte Einsamkeit in den wahnsinnig wachsenden Städten, sangen Sehnsucht nach neuer Gemeinschaft, nannten die immerwährenden menschlichen Dinge mit ihren armen neuen Namen, riefen nach Gerechtigkeit, stießen gegen die bürgerlich-moralischen Gitterstäbe ihrer Herzen…“ (VIII). Von den angeführten 33 AutorInnen werden schließlich zwei kurz herausgehoben, Franz Werfel und Georg Trakl. Insgesamt ist das Spektrum breiter angelegt als in der im Hintergrund vermutlich als Referenz präsenten Anthologie Menschheitsdämmerung von Kurt Pinthus (1919). Sie versammelt neben repräsentativen Stimmen auch weniger bekannte jüngere, die nicht unbedingt als expressionistische Autoren firmieren und die z.T. der spezifisch Wiener literarischen Szene angehören wie Ernst Angel, Franz Blei, Felix Braun, Fritz Brügel, O.M. Fontana, Joseph Gregor, Alfred Grünewald, Georg Kulka, Max Mell, Theodor Tagger/Ferdinand Bruckner, Andreas Thom u.a.m. Auch Autoren mit Prager Hintergrund wie z.B. Max Brod, Rudolf Fuchs, Ernst Weiss und Johannes Urzidil sind neben F. Werfel stärker als in Menschheitsdämmerung vertreten. Auffällig ist dagegen das Fehlen von Albert Ehrenstein, der bei Pinthus mit 20 Gedichten zu den repräsentativsten zählt. Und während Pinthus seine Anthologie mit Jakob v. Hoddis‘ Gedicht Weltende sowie Georg Heyms Umbrae vitae eröffnet, also mit zwei (auch über diese Anthologie kanonisch gewordenen) Gedichten, die ein Aufbruchsmotiv (Sturm) einerseits, eine ambivalente existentielle Selbstverortung des Menschen zwischen nächtlichen Straßenbildern, Vereinzelung und Todesvisionen andererseits gestalten, setzt Rheinhardt Angels Gedicht In memoriam Gustav Landauer. Erschlagen im Mai 1919 zu München an den Beginn seiner ‚Botschaft‘ und eröffnet diese mit einem auch explizit zeitpolitischen Signal, das freilich in der Mehrzahl der Gedichte keine weitere Resonanz bzw. Korrespondenz findet. Auffällig ist auch eine Differenz bei der Auswahl der Trakl-Gedichte: das berühmte Gedicht Grodek wird in der Botschaft erstmals in einer Anthologie veröffentlicht, wie insgesamt die Auseinandersetzung mit dem Krieg, die traumatische Spur desselben und ein Gegenaufschrei, verbunden mit einem geradezu heroischen Glauben an einen versöhnenden Gegengott (E. Weiss), zahlreiche Beiträge kennzeichnet, was in der konservativen Kritik tendenziell auf Widerstand stieß.


Quellen und Dokumente

Die Botschaft [Rezension]. In: Deutsches Volksblatt, 3.4.1921, S. 3.

Literatur

Armin A. Wallas: Die Botschaft. In: Zeitschriften und Anthologien des Expressionismus in Österreich. Analytische Bibliographie und Register. Bd. 1 (München u.a. 1995), 26.

(PHK)

Gegründet 1924 durch den umstrittenen Zeitungsunternehmer Emmerich Bekessy, erschien die Zs. ab 6.11.1924 als Wochenzeitschrift jeweils am Donnerstag mit dem Untertitel Zeitung für Theater, Literatur, Film, Mode, Kunst, Gesellschaft und Sport im Verlag Die Stunde (bzw. Kronos-Verlag), der 1926 durch den Vernay-Verlag übernommen wurde. Seit Nr. 178/1928 lautete der Untertitel schlichter Wochenschrift für Theater und Gesellschaft. Erster Chefredakteur war Hans Liebstoeckl (bis 1928), gefogt von Josef C. Wirth, der die Zs. mit 1.1.1929 auf ein 14tägiges Erscheinen umstellen musste. Für die künstlerische Gestaltung (u.a. auch für die Illustrationen und Zeichnungen) war Michael Biro [eigentl. Mihály Biró, 1886-1948] verantwortlich. Die Bühne setzte nämlich von Beginn an auf einen (ausdrucks)starken illustrativen Teil, meist in Zusammenarbeit mit dem Fotostudio Willinger, manchmal auch mit dem exklusiven Studio D’Ora, sowie dem Fotoreporter der Ztg. Stunde Max Fenichel. Die im Untertitel angeführten Bereiche spiegelten sich auch in den Rubriken-Gestaltung, wobei ab Mitte der 1920er Jahre immer wieder eigenwillige Akzente gesetzt wurden, v.a. im Bereich der Körperlichkeit (über den Tanz oder den Sport) ebenso wie in jenem künstlerischer Konfrontationen. Im zeitgenössischen Spektrum positionierte sich die Bühne somit als publikumsorientierte, moderne, durchaus auf Effekt zielende Zeitschrift, die u.a. zahlreiche Preisausschreiben auslobte, die aber auch interessante literarische, dramenästhetische und theatergeschichtliche Positionen sowie eine dezidiert kritische Haltung dem aufkommenden Antisemitismus und Provinzialismus gegenüber bezog. Sie druckte u.a. Texte bzw. Stellungnahmen von B. Brecht (Oedipus), M. Brod, A. Bronnen, K. Capek, F.Th. Csokor, O.M. Fontana, St. Grossmann, Th. Kramer, E. Krenek, H.R. Lenormand, F. Molnár, Paul Stefan, Carl Zuckmayer u.a. ab. Wichtigster Mitarbeiter im Bereich des Feuilletons war Fred Heller, die Rubrik Filmbühne wurde von F. Porges redaktionell betreut, der in den ersten Jahren u.a. M. Kertezs zu fallweiser Mitwirkung gewinnen konnte.

Das erste dezidiert erotische Cover findet sich dabei im Zshg. mit einem Gastspiel Pariser Revuen in Wien am 10.9.1925 (Nr.44/1925), gefolgt von meist ein-zwei Covers in den Folgejahren, unter denen jenes zur J. Baker-Tournee 1928 zweifellos das bekannteste ist. Daneben finden sich aber auch schon früh neusachliche Gestaltungen und generell eine Inszenierung der Frau nach dem Modell der sog. neuen Frau. Seit 1925 wurde auch eine eigene Rubrik Radiobühne (mit Programmangaben, fallweise auch programmat. Positionierungen) geführt. Neben dem wichtigsten Teil, d.h. der Ankündigungen von Aufführungen an allen Wiener Bühnen (inkl. experiment. Kleinbühnen) sowie deren Besprechung und Einbettung in das gesellschaftl. Theaterleben wurde durchgängig auch dem Theaterprogramm in Berlin, Budapest u. Paris Augenmerk geschenkt sowie das amerikanische (Revue)Theater, das russische (experiment.) Theater bzw. die russische Kleinkunst, aber auch das Musiktheater (z.B. Strawinsky) mit einbezogen. Der Offenheit im Kulturellen und Ästhetischen stand eine konsequente Verweigerung gegenüber, zu politischen Ereignissen, auch mit Auswirkungen auf die (Theater)Kultur, Stellung zu nehmen, zum Juli 1927 ebenso wie zur Ausschaltung des Parlaments im März 1933 oder zum Bürgerkrieg vom Februar 1934. Mit dem zweiten Märzheft 1938 sollte sich das ändern: R. Michel begrüßte in einem Leitartikel dezidiert den Anschluss, ab dem ersten Aprilheft 1938 wurde der Untertitel in Wiener Bühne abgeändert.


Quellen und Dokumente

Pariser Revue. In: Die Bühne 2 (1925), H. 44, Die tätowierte Frau. Die neue amerikanische Modesensation. In: Die Bühne 2 (1925), H. 44, S. 23, Franz Theodor Csokor: Schluß zu Büchners Woyzeck. In: Die Bühne 4 (1927), H. 138, S. 37, Cover zu Josefine Baker. In: Die Bühne, 5 (1928), H. 173, Cover mit neuem Untertitel. Die Bühne 5 (1928), H. 178, Bertolt Brecht: Eine kleine Versicherungsgeschichte. In: Die Bühne 5 (1928), H. 178, S. 35f., B. B.: Letzte Etappe: Oedipus. In: Die Bühne 6 (1929), H. 226, S. 8, Robert Michel: Wien im Sturm der Tat. In: Die Bühne 15 (1938), H. 468, S. 2.

(PHK)

Das Zeitschriftenmodul von Martin Erian finden Sie hier.

Bereits im Mai 1918 erschien als Der Weckruf ein Organ der kommunistischen Bewegung Österreichs, nach der Gründung der KPDÖ im November 1918 wurde es zur offiziellen Parteizeitung erhoben. Der Weckruf erschien zunächst zwei Mal wöchentlich, Mitte Jänner 1919 erfolgte die Umbenennung in Die soziale Revolution. Erst als Die Rote Fahne (ab 26.7.1919) gelang eine Ausweitung auf vier Ausgaben pro Woche; von Mitte September 1919 bis zum Verbot am 22. Juli 1933 erschien das Blatt in der Regel täglich außer Montag. Nach Schätzung des kommunistischen Verlegers Johannes Wertheim lag die Auflage ab 1921 konstant bei rund 16.000 Stück (RF, 1.1.1927, S. 3), Die Rote Fahne blieb in ihrer Wirkung aber weitgehend auf Wien beschränkt. Zwischen den Funktionen eines Parteiorgans, das ideologischen Auseinandersetzungen viel Platz einräumte, und jenen eines auf Massenagitation im Klassenkampf ausgerichteten Blattes zerrieben, erreichte Die Rote Fahne erst ab Ende der Zwanziger einen kontinuierlichen Umfang von acht Seiten täglich. Trotz streng limitierter personeller wie ökonomischer Ressourcen gelang es mehrere dauerhafte Rubriken zu etablieren.

Zunächst finanziell aus Moskau unterstützt, übernahmen ab 1921 zunehmend Funktionäre der KPD die organisatorische Verantwortung über Die Rote Fahne.Die redaktionelle Leitung wechselte aufgrund ideologischer Flügelkämpfe wie individueller Karrieren häufig. Führten zunächst Karl Tomann, Franz Koritschoner, Paul Friedländer, Elfriede Friedländer-Eisler (später bekannt als Ruth Fischer), Josef Strasser und kurzzeitig auch Leo Lania Die Rote Fahne, so wirkten u.a. Hilde und Johannes Wertheim, Friedrich Hexmann, Josef Frey, Frida Rubiner und Richard Schüller im Verlauf der Zwanziger prägend auf die Ausgestaltung der Blattlinie. Ergänzt wurde die inländische Berichterstattung durch ein Netz von Arbeiterkorrespondenten, die internationale Berichterstattung vor allem durch Übernahmen aus der Berliner Roten Fahne und den Pressediensten der Kommunistischen Internationale.

Das als „‚Gegenproduktion‘ zum bürgerlichen Kulturbetrieb“ (Moser, 209) konzipierte Feuilleton orientierte sich stark an jenem der Berliner Roten Fahne, ohne dessen Umfang und Qualität erreichen zu können. Entgegen der anhaltenden Auseinandersetzung mit Radio und Film verhinderte die Personalfluktuation die Entwicklung einer kontinuierlichen Literatur- und Theaterkritik. Als Fortsetzungsromane wurden u.a. Texte Upton Sinclairs, Maxim Gorkis, Fedor Gladkows, F. C. Weiskopfs, Adam Scharrers und Hermynia Zur Mühlens abgedruckt. Zudem erhielten seit den frühen Zwanziger Jahren österreichische Autoren wie Ernst Fabri, Hans Maier oder Peter Schnur regelmäßig Publikationsmöglichkeiten. Nach der Gründung des Bundes der proletarisch-revolutionären Schriftsteller Österreichs dauerte es bis 1933, ehe längere Erzählungen österreichischer Provenienz, u.a. von Maria Leitner und Erich Barlud, abgedruckt wurden. Nach dem Verbot erschien Die Rote Fahne illegal, zunächst aus Wien, später aus Prag.


Quellen und Dokumente

Deine Zeitung. In: Die Rote Fahne, 1.6.1924, S. 3, Johannes Wertheim: Unsere “Rote Fahne”. Anläßlich des Beginnes des 10. Jahrganges. In: Die Rote Fahne, 1.1.1927, S. 3, Erwin Zucker: Die Bedeutung der Berichterstattung. In: Die Rote Fahne, 17.6.1927, S. 5.

Aus der Reihe Wie die „Rote Fahne“ entsteht: Ein Stück täglichen Schützengrabenkampfes im Klassekrieg. In: Die Rote Fahne, 14.5.1933, S. 7, Arbeiterkorrespondenzen und Reportagen. In: Die Rote Fahne, 18.5.1933, S. 9, Was bei der Herstellung der “Roten Fahne” entsteht. Berichtungen und Ehrenbeleidigungsklagen. In: Die Rote Fahne, 24.5.1933, S. 9, Die Arbeit des Bildreporters. In: Die Rote Fahne, 27.5.1933, S. 8.

Literatur

Gerhard Moser: Zwischen Autonomie und Organisation: Die Arbeiterkorrespondentenbewegung der „Roten Fahne“ in den Jahren 1924 bis 1933. Eine Studie zur Kommunikationspolitik der KPÖ in der 1. Republik. Phil. Diss., 165ff (1988), Manfred Mugrauer: „Staatsgefährliche und umstürzlerische Wühlarbeit“. Zum Verbot der Kommunistischen Partei Österreichs am 26. Mai 1933. In: Mitteilungen der Alfred-Klahr-Gesellschaft 1/2013, 6-11 (Online verfügbar), Alfred Schwarz: Die kommunistische Tagespresse in den Gründungsjahren der Ersten österreichischen Republik. Phil. Diss. (1988).

Eintrag beim Projekt Hypress der Österr. Akademie der Wissenschaften.

(ME)

von Robert Musil

Obwohl die drei Freunde, die in Robert Musils Die Schwärmer. Schauspiel in drei Aufzügen um die Definitionsgewalt über ihre Jugenderinnerungen ringen, den Krieg mit keinem Wort erwähnen, ist auch dieses Stück eine verdeckte Auseinandersetzung mit Musils eigener Kriegsbegeisterung von 1914. „Anselm und Johannes und ich“, so erinnert sich Thomas: „Es gab nichts, das wir ohne Vorbehalt hätten gelten lassen; kein Gefühl, kein Gesetz, keine Größe. Alles war wieder allem verwandt und darein wandelbar; Abgründe zwischen Gegensätzen warfen wir zu und zwischen Verwachsenem rissen wir sie auf.“ (SCHW, 10) Gegen Ende des Stücks sieht Thomas als Folge dieses einstigen intellektuellen Aufbegehrens die prinzipielle Beliebigkeit moralischer Haltung. „Man ist religiös oder modern. Leidenschaftlich oder enttäuscht. Kriegerisch oder pazifistisch. Und so weiter und so weiter, diesen ganzen geistigen Jahrmarkt entlang, der heute für jedes seelische Bedürfnis seine Buden offen hält.“ (SCHW, 81) Auch der etwas ältere Josef wirft den drei Freunden die Blindheit ihrer abstrakten Begeisterungsfähigkeit vor: „[S]o seid ihr alle: eine Idee braucht nur übertrieben zu sein, gleich habt ihr dafür eine Schwäche!“ (SCHW, 59)


Literatur

SCHW = Robert Musil: Die Schwärmer. Schauspiel. Reinbek: Rowohlt 2002.

(EPH)

Eine Wiener Wochenschrift.

(1898-1925), Begr. u. Hg. von Rudolf Lothar (1898-1902, urspr. R. Spitzer), ferner von Ernst V. Zenker (1900-1902, 1910-1918), Rudolf Strauss (1903-4), Ludwig Karell (1905-8), Carl Schwabe (1912-1919), J. Ekstein (= E.K. Stein, 1919-20), Schiller Marmorek (1920-24)

Auflage: nicht bekannt.

Die Zs. darf als Kaderschmiede des modernen Journalismus im Österreich der Jahrhundertwende bezeichnet werden. Seit ihrer Gründung arbeiteten an ihr zentrale Gestalten des (polit.) zeitgenöss. Feuilletons, der Literatur- und Kunstkritik mit wie A. Colbert, J.J. David, K. Kraus, M. Schreier u.a.m. Mehrfach war die Zs. von Konfiskationen betroffen, beginnend bereits bei der 2. Ausgabe vom 8.10.1898. Seit 1902 war auch der renommierte Historiker E. V. Zenker Mithg. der Zs., welcher in der Folge mehrmals wechselte.

Ihre Ausrichtung war tendenziell linksliberal und sozialdemokratisch, sichtbar im Mitarbeiterstab sowie in der Aufmerksamkeit für sozialpolitische Fragen u. Berichten zur deutschen u. österr. Sozialdemokratie. Zum Ersten Weltkrieg bezog die Zs. eine im Rahmen ihrer Möglichkeiten krit. Position. 1915-20 war auch E. Hoeflich mit zahlr . Beiträgen in ihr vertreten, in H. 27/1918 veröffentlichte Hermann Broch unter dem Pseud. K.L. Hib eine Polemik gegen Erwin Hanslik. 1918-19, insbes. mit der Gründung der Ersten Republik u. den Debatten über das Verhältnis von Republik und Rätesystem vollzog die Zs. unter E.K. [Eck]Stein (Pseud.?) einen entschiedenen polit.-ideolog. Schwenk nach link; H. 22/1919 trug den Untertitel ›Revolutionäre Zeitschrift‹. So veröffentlichten in ihr austromarxist. Theoretiker wie Max Adler ebenso wie dem Aktivismus nahestehende Autoren, z.B. Alfons Wallis, Georg Kulka sowie Sympathisanten der KPÖ bzw. des Rätegedankens wie E.K. Stein selbst. Im Lauf des Jahres 1920 kam es zu einem Wechsel in der Redaktion und zu einer Neuausrichtung der Zs., die nun unter dem sozialdemokrat. Journalisten u. promov. Juristen Schiller Marmorek (1880-1943, ab 1927 Red. der Ztg. Das kleine Blatt) mit dem Untertitel Wirtschaft. Kunst. Wissen trug. Während der polit. Teil eine deutliche Akzentverschiebung weg von aktivistisch-revolutionären Proklamationen zu einer quasi neutralen Kommentierung von Zeitfragen, sichtbar in der vermehrten Präsenz von entspr. Fachexperten, vollzog, gewannen im Kultur- Kunst- u. Literaturteil Sympathisanten der Kulturpolitik des ›Roten Wien‹ an Gewicht wie der Kultredakteur Hanns Margulies (1889-1960), ferner Arthur Rössler und im Musikteil Exponenten, die auch in der Zs. der Universal Edition, den Musikblättern des Anbruchs, vertreten waren wie P. Stefan oder R. St. Hoffmann. Diese redakt. Zusammensetzung ermöglichte z.B. 1921 den Vorabdruck von einem Auszug aus E. Tollers in der Festungshaft angefertigten Szenenfolge Deutsche Revolution (H. 12/1921,138-141). Auch die Romanistin u. Kritikerin Helene Richter sammelte in der Zs. ihre ersten publizist. Erfahrungen (zunächst im Theaterfeuilleton); 1922 lieferte auch der aus Preßburg gebürtige, seit 1915 in den USA befindl. Schriftsteller u. Journalist J. Reményi Beiträge zur zeitgenöss. amerikan. Literatur seit W. Whitman bis in die GW (F. Harris, U. Sinclair, Th. Dreißer, R. Frost u.a.H. 19/1922,153-162); ferner trugen eine Reihe von Gastkommentatoren zu versch. Themen bei wie F. Herterich (Theater, Regiekunst), P. Elbogen (Kunst, Architektur), L. Hatvany und O. Jászi (Ungarn), J. Deutsch (Sozialdemokratie-Militarismus), H. v. Gerlach (Deutschland). Auch F. Brügel war ab 1922 regelmäßiger Mitarb. der Zs. Einen dezidierten Schwerpunkt bildeten zudem Diskussionen über Pazifismus (auch: Rollandismus), über die Rapallo-Konferenz u. die Beziehungen zwischen Deutschland u. Russland sowie Beiträge über versch. Manifestationen des Antisemitismus (z.B. an den Universitäten, H.33/1922,488-491; H.3/1923, 73-76). Zahlreiche Beiträge wiesen freilich auch Pseudonyme als Verf. aus, insbes. das Ps. Janus bzw. J. oder Marius. Die Jahrgänge 1923-24 ändern an der Grundausrichtung wenig; die Zeitschrift verfolgt konsequent einen sozialdemokr. eingefärbten pro-republikanischen und linksdemokrat. Kurs. Bes.  Akzente liegen auf der Kritik antisemit. Manifestationen, insbes. an der Wiener Universität, auf Debatten über (Anti)Militarismus u. Pazifismus, und sie bietet immer wieder neuen Stimmen Raum, z.B. B. Frei (u.a. mit einem G. Grosz-Porträt, H.4/1923, 124-25), M. Ermers, J. Kalmer (über Goya als ›Politische Kunst‹, H. 23/1923, 713-717), H. Rossi, E. Waldinger oder P. Hatvani (Erstdr. des Essays Der russische Mensch, H. 10/1923, 296-300).


Quellen und Dokumente

Digitalisat des Jahrgangs 1898.

Literatur

J. Jenkins: Edition und Kommentar zu K.L. Hib (Hermann Broch): Ein offiziöser Gschaftelhuber der Kultur“. In: Studia austriaca XXVII/2018, 5-17.

(PHK)

Bereits 1895 vom Kantor der sephardischen Gemeinde in Wien, Jakob Bauer, vor dem Hintergrund des anwachsenden Antisemitismus gegründet, zählt Die Wahrheit zu den langlebigsten jüdischen Periodika in Österreich. Bauer, der seit 1881 auch die Österreichisch-Ungarische Cantoren-Zeitung herausgab, rekrutierte seine Mitarbeiter – darunter den späteren Herausgeber Alois Kulka – hauptsächlich aus dem traditionell-religiösen Umfeld und wollte mit seinem neuen, wöchentlich erscheinenden Blatt „nicht nur die Außenwelt über die wahre Gestalt und das Wesen des Judenthums […] belehren, sondern auch die eigenen, durch Indifferentismus vom Judenthum losgelösten Glieder […] sammeln“ (DW, 1.1.1899, 3). Bis 1912 erschien die Cantoren-Zeitung als Beilage der Wahrheit.

Im Gefolge des Zusammenbruchs der Habsburgermonarchie und der Proklamation der Republik Deutsch-Österreich im November 1918 betonte die Zeitschrift in ihrem Leitartikel, dass „die jüdischen Staatsbürger Deutsch-Österreichs […] auch dem neuen Staatswesen unentwegte Treue bewahren“ werden (DW, 15.11.1918). Der zu Beginn der 1920er Jahre zunehmend populären These, der Bolschewismus sei jüdischen Ursprungs, begegnete die Redaktion mit umfangreichen Gegenargumentationen, die sich auf eine Analyse der Bibel und des Talmud stützten (DW, 4.3.1920, S. 4-5). 

Im Frühling 1920 übernahm Ludwig Hirschfeld (nicht zu verwechseln mit dem Dramaturgen und Redakteur der NFP) die Herausgeberschaft der Zeitschrift, die nun den Untertitel Unabhängige Zeitschrift für jüdische Interessen trug und aufgrund von Papier- und Ressourcenknappheit lediglich im Zwei-Wochen-Rhythmus erschien. Unter seiner Leitung gewann die Wahrheit an politischem Profil: Sie betonte ihre liberale Ausrichtung unter klarer Ablehnung des politischen Zionismus bei gleichzeitiger Befürwortung eines „Kulturzionismus“, also der „geistigen Rückbesinnung auf eine gesamtjüdische Verbundenheit in der Diaspora“ (Dahm, 267). Hirschfeld sah die Aufgabe des Blattes vorwiegend darin, „den Kampf gegen die Widersacher des Judentums entschlossen fortzuführen“ (DW, 4.3.1920, S. 3), hatte sich doch die antisemitische Stimmung in der jungen Republik im Gefolge des Ersten Weltkriegs und den damit verbundenen jüdischen Flüchtlingsströmen aus Osteuropa immens verschärft. Umso enger wurde jetzt die Zusammenarbeit der Zeitschrift mit der seit 1886 bestehenden Österreichisch-Israelitischen Union, die sich dieser Entwicklung vehement entgegenstellte und für die Stärkung des jüdischen Selbstbewusstseins und gesellschaftliche Integration engagierte. Als stärkste politische Kraft in der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) Wien nutzte sie die Wahrheitals publizistisches Medium in eigener Sache, aber auch zur Veröffentlichung amtlicher Mitteilungen der Kultusgemeinde. Mit Jakob Ornstein fungierte der Präsident der Österreichisch-Israelitischen Union auch als redaktioneller Mitarbeiter. Der Historiker und Rabbiner Max Grunwald lieferte ebenfalls Beiträge; so stellte er etwa unter dem Titel „Jüdische Frauenideale“ Mitte der 1920er Jahre historische jüdische Frauenfiguren vor. Benjamin Segel, ein aus Galizien stammender Autor und Ethnologe, publizierte unregelmäßig zu Themen wie z.B. dem Gegensatz zwischen Ost- und Westjudentum.

Neben Vereins-, Literatur- und Kulturberichterstattung bot das Periodikum –  seit 1924 wieder wöchentlich erscheinend und etwa 16 Seiten umfassend –  auch Beiträge über das aktuelle Zeitgeschehen im In- und Ausland; so wurde etwa der Justizpalast-Brand 1927 (DW, 22.7.1927, S. 1), Hitlers „Machtergreifung“ im Januar 1933 (DW, 3.2.1933, S. 1) oder auch der Erlass der Nürnberger Gesetze (DW, 20.9.1935, S. 1) und deren jeweilige Auswirkungen auf die Lage der jüdischen Bevölkerung in ganz Europa ausführlich kommentiert. Zu diesem Zweck bestand seit 1930 ein Übereinkommen mit der Jüdischen Telegraphen-Agentur, das „die Veröffentlichung aktueller Nachrichten in jeder Nummer sichert“ (DW, 3.1.1930, 1). 1931 zog sich Hirschfeld aus der Zeitschrift zurück und übergab die Herausgeberschaft an seinen Sohn Oskar. Der neue Titel lautete nun Jüdische Wochenschrift. Die Wahrheit

Unter der Rubrik „Aus der braunen Hölle“ wurde seit der Machtübernahme durch das nationalsozialistischen Regimes in jeder Ausgabe die innenpolitische Entwicklung in Deutschland akribisch nachgezeichnet und anhand von Schicksalen jüdischer Persönlichkeiten illustriert. Parallel dazu gab es eine umfangreiche Berichterstattung über soziale und kulturelle Belange in Palästina/Eretz Israel. Jeweils eigene Rubriken waren Hochzeiten, Beerdigungen sowie den Austritten aus der jüdischen Glaubensgemeinschaft gewidmet.

Der demokratiepolitisch bedenklichen Entwickung in Österreich in den 1930er Jahren stand die Wahrheit letztlich unkritisch gegenüber: Die Ausschaltung des Parlaments im März 1933 fand keine Erwähnung; die Februarkämpfe 1934 wurden zwar thematisiert, jedoch zur Bekräftigung des Bekenntnisses zur Dollfuß-Regierung und zur Positionierung der „staatstreuen österreichischen Judenschaft“ als „loyale[m] Element dieses Landes“ genutzt (DW, 17.2.1934, S. 1).

In der letzten Ausgabe, die am Tag vor dem „Anschluss“ erschien, warb das Blatt im Namen von Bundeskanzler Schuschnigg für „ein freies und deutsches, unabhängiges und soziales, für ein christliches und einiges Österreich“ (DW, 11.3.1938, S. 1) und publizierte zudem einen Aufruf an die „jüdisch-österreichische Jugend“, der „jüdischnationale[n] Politik“ eine klare Absage zu erteilen (DW, 11.3.1938, S. 6). Unter nationalsozialistischer Herrschaft wurde die Zeitschrift verboten.


Literatur 

Annkathrin Dahm, Der Topos der Juden. Studien zur Geschichte des Antisemitismus im deutschsprachigen Musikschrifttum, Göttingen 2007; Gabriel Eikenberg, Der Mythos deutscher Kultur im Spiegel jüdischer Presse in Deutschland und Österreich von 1918 bis 1938, Hildesheim, Zürich, New York 2010; Dieter Hecht, Die Stimme und Wahrheit der jüdischen Welt. Jüdisches Pressewesen in Wien 1918-1938. In: Frank Stern/Barbara Eichinger (Hg.), Wien und die jüdische Erfahrung, 1900-1938. Akkulturation, Antisemitismus, Zionismus, Wien, Köln, Weimar 2009, S. 99-114; Albert Lichtblau, Antisemitismus 1900-1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte. In: Frank Stern/Barbara Eichinger (Hg.), Wien und die jüdische Erfahrung, 1900-1938. Akkulturation, Antisemitismus, Zionismus, Wien, Köln, Weimar 2009, S. 39-58; Hanni Mittelmann/Armin A. Wallas (Hg.): Österreich-Konzeptionen und jüdisches Selbstverständnis. Identitäts-Transfigurationen im 19 und 20. Jahrhundert, Tübingen 2001; Robert Wistrich, The Jews of Vienna in the Age of Franz Joseph, Oxford 1990.

Quellen und Dokumente

An der Schwelle zu einer neuen Zeit. In:  Die Wahrheit, 15.11.1918, S. 1; An unsere Leser. In: Die Wahrheit, 4.3.1920, S. 3; Juden und Kommunismus. In: Die Wahrheit, 4.3.1920, S. 4; Max Grunwald, Jüdische Frauenideale – Esther Hachel. In: Die Wahrheit, 10.12.1926, S. 5-6; Wien – Ein Schattendorf. In: Die Wahrheit, 22.7.1927, S. 1; Hitler an der Macht. In: Die Wahrheit, 3.2.1933, S. 1; Ernste Tage. In: Die Wahrheit, 17.2.1934, S. 1; Der 15. September 1935. In: Die Wahrheit, 20.9.1935, S. 1; Friede, Arbeit, Gleichberechtigung. In: Die Wahrheit, 11.3.1938, S. 1.

(MK)

Vor dem Hintergrund des großen Bühnenerfolgs der Dreigroschenoper seit der UA am 31.8.1928 am Theater am Schiffbauerdamm (Berlin, 1929 bereits an 19 deutschsprach. Bühnen im Programm) schloss Brecht 1929 einen Vertrag mit der Nero-Film zur Verfilmung des Stückes ab. 1930 legte er ein Exposé vor, gemeins. mit Caspar Neher u. Slatan Dudow. Auf B.s. Wunsch hin sollte Leo Lania die Ausarbeitung des Drehbuchs übernehmen. Als Brecht, wie vertraglich festgelegt, sein Mitwirkungsrecht am Drehbuch durch weitere Verschärfung der Kapitalismus-Kritik (im Sinn einer Zuspitzung der Bühnenfassung) wahrnehmen wollte, kündigte die Nero-Film den Vertrag mit Brecht.

Die ursprüngl. vorgesehene personell-künstler. Ausstattung wurde weitgehend beibehalten bzw. erweitert: Georg W. Pabst führte Regie und neben Lania wirkten auch Béla Balázs u. Lászlo Vadja an der Drehbucharbeit mit. Pabst drehte gleichzeitig auch eine französische Fassung, L’Opéra de quat’sous, allerdings in anderer personeller Besetzung. Für die Musik zeichnete Kurt Weill verantwortlich. Carola Neher spielte in der deutschen Fassung die Polly-Rolle, Lotte Lenja jene der Jenny und Rudolf Forster den Mackie Messer. [no-lexicon]Die Bühnenaufbauten [/no-lexicon]kamen von Andrej Andrejew.

Brecht zog vor Gericht, verlor jedoch den Prozess in erster Instanz, willigte aber in einen Vergleichs ein, sodass der Film fertiggestellt werden konnte. Der Film wurde daraufhin als frei nach einer Vorlage von B. Brecht am 19.2.1931 uraufgeführt. Diese rechtliche Auseinandersetzung dokumentierte Brecht später im Essay Der Dreigroschenprozess.


Quellen und Dokumente

Faksimile der Premiereneinladung bei filmportal.de.

Literatur

B. Brecht: Der Dreigroschenprozess. In: B.B.: Ges. Werke. Bd. 18 (1967): Schriften zur Literatur u. Kunst. 180-184; J. Lang: Episches Theater als Film. Bühnenstücke B. Brechts in den audiovisuellen Medien (2006), 83-99; A. Kugli, M. Opitz (Hgg.): Brecht-Lexikon (2016), 55-56;

Eintrag bei Wikipedia, Jochen Kürten: Bertolt Brecht und das Kino. Online bei: DW, 1.1.2009, Monika Dommann: Mehr Brecht als Recht. Der Dreigroschenprozess als Gerichtsbühne. Online bei: Literaturkritik.de, 3.7.2015, N.N.: „Brechts Dreigroschenfilm“ mit Lars Eidinger. Zum 120. Geburtstag. In: Die Zeit, 28.2.2017.

(PHK)

Beim Dybuk (auch Dibuk, Dibbuk) handelt es sich im jüdischen Volksglauben um einen Totengeist, der sich zeitweilig des Körpers eines Lebenden bemächtigt und bei diesem Symptome von Besessenheit verursacht. Der Dybuk (hebr.דיבוק,  „Anhaftung“), hervorgegangen aus einem in vorgerücktem Lebensalter verstorbenen Mann, „der zu Lebzeiten schwere Schuld auf sich geladen“ hat, umklammert die Seele des Betroffenen und übernimmt die Kontrolle über dessen Körper, der in der Folge zu Leistungen befähigt ist, die weit über den eigentlichen Fähigkeiten der Person liegen. Zumeist sind es Frauen, von denen ein Dybuk Besitz ergreift; Abhilfe kann lediglich der durch einen Rabbi vorgenommene Exorzismus schaffen. 

Volkstümliche Geschichten über den Dybuk, die sich bereits seit dem 13. Jahrhundert nachweisen lassen, verfolgten oftmals eine erzieherische Absicht:  So wird das Erscheinen eines Dybuk einem Fehlverhalten innerhalb der Gemeinschaft zugeschrieben und der Leser dazu angehalten, Buße zu tun. Den Höhepunkt ihrer Popularität erreichten die Dybuk-Erzählungen in der Neuzeit, in der innerhalb der jüdischen Welt eine intensive Auseinandersetzung mit Themen wie Seelenwanderung, Reinkarnation (gilgul) und „Wiederherstellung der Welt“ (tikkun) stattfand.

1914 verarbeitete Salomon An-Ski den Dybuk-Stoff in seinem Drama Zwischen zwei Welten, womit er „einen Meilenstein des jiddischen und hebräischen Theaters im 20. Jahrhundert“ schuf (EJG, S. 134). An-Ski, 1863 als Shloyme Zaynvl Rapoport in Tschaschniki (heute Weissrussland) geboren und streng nach jüdischer Tradition erzogen, wandte sich Mitte seit der 1880er sozialrevolutionären Ideen zu und begann, Erzählungen in russischer und jiddischer Sprache zu verfassen. Nach Aufenthalten in Paris und der Schweiz kehrte er 1905 nach Russland zurück, wo er drei Jahre später in St. Petersburg die Jüdische historisch-ethnographische Gesellschaft gründete. Gemeinsam mit einer Gruppe von Forschern begab er sich in wiederholt in den Ansiedlungsrayon, um das kulturelle Leben der dort ansässigen jüdischen Bevölkerung zu dokumentieren. Das Resultat war eine umfangreiche Sammlung von Liedern, Märchen, Sagen, Sprüchen, aber auch Alltagsobjekten aus der jüdischen Volkskultur. Die Ergebnisse seiner ethnographischen Studien flossen in sein Bühnenwerk, darunter auch in sein Dybuk-Drama ein, dessen Handlung in einem jüdischen Stetl im Ansiedlungsrayon spielt. Indem An-Ski diesen chassidischen Volksstoff in Form eines modernen Dramas umsetzte, „entwickelte er das Theater, das im traditionellen Judentum keinen Ort hatte, zum Terrain von Aushandlungen jüdischer Zugehörigkeit“ (EJG, 137).

Das erste Künstlertheater, das den Dybuk zur Aufführung brachte, war die Wilnaer Truppe. Die Uraufführung in jiddischer Sprache fand unter der Regie von David Hermann 30 Tage nach An-Skis Tod im November 1920 in Warschau statt und geriet sowohl beim Publikum als auch bei den Kritikern zu einem großen Erfolg. Bereits im ersten Aufführungsjahr verzeichnete das Stück 200.000 Besucher. Im Rahmen eines Gastspiels gastierte die Wilnaer Truppe ab Oktober 1922 auch in Wien, wo die Inszenierung im Roland-Theater als „ein Hinabtauchen in die Welt der Getto-Legende und des Aberglaubens“ aufgenommen wurde und besonders „die chassidisch-jüdisch Seele […] mit ihrer mystischen Gläubigkeit und ihren Ekstasen wie aus dem Mittelalter“ Eindruck hinterließ (NWJ, 17.10.1922, 8).

Großer Erfolg war auch der leidenschaftlichen, hebräischsprachigen Dybuk-Inszenierung des jungen Moskauer Theaterensembles Habima beschieden, die im Rahmen ihrer mehrjährigen Tournee durch Europa, die USA und Palästina durch einen „wirklichkeitsnahe[n], reizvolle[n] Expressionismus“ (NFP, 30.5.1926, 19) bestach und in der internationalen Theaterwelt auf enorme Resonanz stieß. Als „eines der größten künstlerischen Ereignisse der modernen Bühne“ (NFP, 5.4.1924, 3) gefeiert, beeindruckte die Habima vor allem mit ihrem hohen künstlerischen Niveau und zog bei ihrem gefeierten GastspieCarl-TheaterCarl-TMax Reinhardtax Reinhardt und Arthur Schnitzler in ihren Bann.

1937 verfilmte der polnische Regisseur Michal Waszyński den Dybuk-Stoff mit jiddischen Dialogen.


Literatur

Michael Brenner, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, München 2000; G. Scholem, Dibbuk (Dybbuk).In: Encyclopaedia Judaica.Bd. 5, Detroit/New York u. a. 2007, 643–644; Shelly Zer-Zion, Dibbuk. In: Dan Diner (Hg.), Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Bd. 2: Co-Ha, Stuttgart, Weimar 2012, 134-138; Dies., Habima. Eine hebräische Bühne in der Weimarer Republik, Paderborn 2016;  Shahar Arzy, Moshe Idel, Der Dibbuk im Gehirn. Kabbala und Neurowissenschaft, Berlin 2016; Eintrag in der Jewish Virtual Library [Online verfügbar]; Eintrag bei britannica.com [Online verfügbar];

Quellen und Dokumente

Salomon An-Ski, Der Dybuk. Dramatische Legende in vier Akten, Berlin 1921. S. Meifels, Was ist ein Dybuk? In: Neues Wiener Journal, 24.1.1923Otto Abeles Otto Abeles, Die „Habima“ in Wien. Ihr Dybuk im Carl-Theater. In: Wiener Morgenzeitung, 30. Mai 1926, S. 3; Der Film „Dybuk“. In: Die Stimme, 4.3.1938, S. 5; Der Dybuk. Deutsche Uraufführung auf der Roland-Bühne. In: Die Stunde, 3.3.1925, S. 8; Der deutsche Dybuk. In: AZ, 4.3.1925, S. 9; Deutsche Urraufführung der Legende „Der Dybuk“ von An-Ski. In: WZ, 2.3.1925, S. 5; Das Moskauer hebräische Künstlertheater Habima in Wien. In: Die Bühne, Hft. 173,Paul Wertheimerl Wertheimer, Der Dybuk. In: NFP, 3.3.1925, S. 9f; Paul Goldmann, Berliner Theater: Der Dybuk von S. Anski. In: NFP, 20.12.1921, S. 1-3; B. Tschemerinski, Bei den Proben des „Dybuk“. In: AZ, 1.6.1926, S. 5Der Dybbuk. Polnischer Film in jiddischer Sprache (1937); Die Habima in Wien. In: Die Stimme, 11.2.1938, S. 5; Die Habima in Wien. Ihr „Dybuk“ im Carl-Theater. In: Wiener Morgenzeitung, 30.5.1926, S. 3; Rosa Nossig, Der Dybuk deutsch auf der Roland-Bühne. In: Die Bühne, Hft. 18, S. 30f; Gastspiel der Wilnaer Truppe. In: Neues Wiener Journal, 17.10.1922Felix SaltenFelix Salten, Gaststpiel „Habima“. In: NFP, 3.6.1926, S. 10;

Film „Der Dybuk“ mit deutschen Untertiteln (1937);

(MK)

Synthetische Fassung der Theaterkonzeption von Alexander Tairow, die dieser in seinem Band Zapiski reshissiëra (entstanden 1915-20, veröff. 1921) entwickelt hat, der 1923 unter dem Titel Entfesseltes Theater. Aufzeichnungen eines Regisseurs bei Kiepenheuer auf Deutsch erschien und den Verfasser europaweit berühmt machte. Tairows Konzeption des Entfesselten Theaters (ET) entwickelte sich zunächst in Nachfolge und parallel zu jener Stanislawskis und dessen Künstlertheater. Sie bezog jedoch in der Frage der Verbindung von Literatur und Theater (eine organische für Stanislawski) ab 1910 eine akzentuiert andere Position, insofern als sie das Theater „von jeder Verpflichtung gegenüber der Literatur frei“ sprach (Pörtner, 16) und Aspekte des Körperlichen (Mimik, Gestik, Ironie, Rhythmik, Kostümierung) u.a. durch eine Wiederentdeckung der Commedia dell’arte-Tradition forcierte. Diese Konzeption zog auch innovative Kostümbildnerinnen und Bühnenbildgestalter an wie z.B. Alexandra Exter (bis 1921) und Jurij Yakoulow. In der Folge unterschied sich das sog. Kammertheater Tairows und sein darauf fußendes ET grundlegend vom naturalistischen Theater, das vom Schauspieler verlange „wahrheitsgetreu“ zu spielen und zu vergessen, „daß er sich auf der Bühne befinde, daß er Schauspieler sei“ (ET, 43). In Anlehnung an Mejerchol’d (Meyerhold) wird die rhythmische Bewegung aufgegriffen, doch dessen auf das Marionettentheater zusteuernde „Darstellungsmethode“ der sog. Stilbühne durch eine „selbstständige szenische Form“ (ET, 49) schrittweise überwunden, wobei das „spießbürgerliche Schnitzlersche Szenarium“ der Pantomime Der Schleier der Pierette als Vorlage diente, um durch die Emotionsgeste, d.h. den Wegfall der Sprache und durch die Kraft der Rhythmen der Musik E. v. Dohnanyis überwunden und weiterentwickelt zu werden. Im Zentrum des ET stand bzw. steht daher der Schauspieler, dem etwa 40 Seiten in der Programmschrift ET (S. 63-103) exklusiv gewidmet sind, als Grundlage der „Theatralisierung des Theaters“ wie die abschließenden Thesen festhalten, u.a. jene, die lauten: „Der Handelnde ist der Schauspieler […] Die Meisterschaft des Schauspielers ist der höchste, echte Inhalt des Theaters.“ (ET, 156).

In Österreich findet sich als erste öffentliche Resonanz auf diese Programmschrift ein Teilabdruck der Kiepenheuer-Ausgabe im Salzburger Volksblatt vom 14.6.1923 im Feuilletonteil. Die erste prominente österr. Resonanz (die erste deutsche erfolgte durch S. Jacobson in der Weltbühne am 19.4.1923 im Zuge seines Berliner Gastspiels) auf Tairows Schrift erfolgte im Nov. 1924 in Form eines Artikels Das entfesselte Theater von B. Balázs in der Zeitung Der Tag, wohl auch vor dem Hintergrund von B.‘ Interesse für den gestisch-korporalen Aspekt des Films wie dies aus seiner Programmschrift Der sichtbare Mensch (1924) hervorgeht. Es überrascht daher auch nicht, dass Balázs die Franziska-Inszenierung durch K. Martin am Raimundtheater als gelungenes Experiment einer Anwendung Tairowscher Ideen des ET in seiner Besprechung im Dez. 1924 einschätzte.

Ausgewählte Rezensionen zur Franziska-Inszenierung finden Sie hier.

Breitere Resonanz fand das Konzept anlässlich der Tairow-Gastinszenierungen im Juni-Juli 1925 am Raimund- bzw. am Deutschen Volkstheater (insges. sechs Stücke) sowie im April 1930, wobei jene von 1925 ausführlich und kontrovers diskutiert, jene von 1930 dagegen nur mehr knapp berichtet wurden. Zwiespältig hat sich dabei F. Salten über die Salome-Inszenierung (O. Wilde) ausgesprochen, in der die Prinzipien des ET zwar sichtbar würden, aber das Tänzerische zu sehr das Schauspiel dominiere. Dagegen hat A. Markowetz die Auff. von Krischanowskys/Chestertons Sketch Der Mann, der Donnerstag war als gelungene Umsetzung des ET eingestuft, als „Synthese von impressionistischen, kubistischen, futuristischen und expressionistischen Tendenzen“.

Darüber hinaus wurde in den 1920er Jahren der Begriff ET für sehr unterschiedliche Aufführungen verwendet, die sich keineswegs direkt auf Tairow beriefen, aber der Kritik als mögliche Anwendungsfälle einzelner seiner Vorstellungen erschienen, insbesondere dann, wenn gestisch-pantomimische Elemente eine tragende Rolle übernahmen. Dies war z.B. bei einer Turandot-Inszenierung von M. Reinhardt im Rahmen der Salzburger Festspiele 1926 der Fall, zu denen angemerkt wurde: „…ein Rausch von bunten Bilderträumen, wundervoll gestraffte Bewegungen von Gruppen, die hinreißende Tanzpantomime, ein großartiges Furiose von Licht und Farbe.“ (NWJ, 17.8.1926, 10). Andererseits wurde der Begriff des ET mitunter auch als Negativfolie für Entwicklungen im Bereich des Revue- und Unterhaltungstheaters verwendet, wie dies F. Rosenfeld am Beispiel der Fritz Grünbaum-Revue Rund um den Mittelpunkt (1925) angemerkt hat. Derselbe Rosenfeld hat aber auch am Gastspiel von Alexei Granowskis Moskauer Jüdisch-Akademisches Theater 1928 am Wiener Carltheater dargelegt, wie anhand der Inszenierung von Scholem Alejchems Der Hauptreffer ET über Tairow hinaus als innovatives zeitgemäßes Theater-Regie-Konzept umgesetzt werden könne. In den 1930er Jahren kommen Tairow-Bezüge nur mehr vereinzelt ins Spiel, z.B. 1935 anlässlich einer Aufführung von J. Hašeks Volksstück Die Moldauschiffer (dt. Bearb.: E.E. Kisch), als das NWJ (19.10.1935, 16) schrieb, es handle sich hier um einen „Versuch Tairows ‚Entfesseltes Theater‘ ein wenig bezähmt und gedämpft auf Wiener Boden zu verfrachten“ oder 1936 im Zusammenhang mit einem Pirandello-Abend in der Josefstadt.


Quellen und Dokumente

Alexander Tairoff: Das entfesselte Theater. In: Salzburger Volksblatt, 14.6.1923, S. 3, Béla Balázs: Das entfesselte Theater. In: Der Tag, 1.11.1924, S. 2, Cäsar Segalov: Tairoffs „entfesseltes Theater“. In: Moderne Welt 7 (1925), H. 4, S. 16, Fritz Rosenfeld: Roland-Bühne. In: Arbeiter-Zeitung. 29.4.1925, S. 7, R.: Alexander Tairoffs Theater. In: Wiener Zeitung, 13.6.1925, S. 5, Felix Salten: „Salome“ bei Tairoff. Raimund-Theater. In: Neue Freie Presse, 21.6.1925, S. 16, A. Markowetz: Tairoffs Moskauer Künstlertheater. Der Mann, der Donnerstag war. In: Arbeiter-Zeitung, 28.6.1925, S. 10f., -bs-: „Turandot“-Premiere bei Reinhardt. In: Neues Wiener Journal, 17.8.1926, S. 10f., Fritz Rosenfeld: Hier wird Theater gespielt. Granowsky-Gastspiel im Carl-Theater. In: Arbeiter-Zeitung, 2.9.1928, S. 12, H. R.: Tairoff im Neuen Schauspielhaus. „Der Neger“ von E. O’Neill. In: Neues Wiener Journal, 8.4.1930, S. 11.

Literatur

Joseph Gregor, René Fülöp-Miller: Das russische Theater. Zürich-Leipzig-Wien 1928; Nikolai A. Gortschakow: The theater in Soviet Union. New York 1957; Dietrich Harth: Textverluste-Spielgewinne. Ein historischer Kommentar zur Erfindung des modernen Theaters. In: J. Mecke, S. Heiler (Hgg.): Titel-Text-Kontexte. Festschrift für A. Rothe. Berlin-Cambridge 2000, 405-422; Angela Mólnari: „Das russische Theater  im Wien der 1920er Jahre“  (Dipl.Arb. Wien 2008, online verfügbar); Paul Pörtner: Vorwort. In: A. Tairoff: Das entfesselte Theater. Aufzeichnungen eines Regisseurs. Berlin 1989, 7-28; Barbara Lesák:: „Entfesseltes Theater“ und „Blauer Vogel“. Gastspiele sowjetrussischer Theatertruppen und russischer Emigrantenbühnen im Wien der 1920er Jahre. In:  P.H. Kucher, R. Unterberger: Der Schatten des Roten Oktober. Zur Relevanz und Rezeption der russischen Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918-1938 (i. Dr. 2019).

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