Stefan Großmann: Sprung nach Wien

Nachdem man einen Tag im Eisenbahnwagen verbracht hat, wird man in Passau aus dem Kupee getrieben, die ganze Herde der Reisenden muß auf der Treppe der Überquerung des Bahnhofs eine Stunde lang, mit Koffern und Taschen, frierend hocken. Oben wird der Stall durch eine Kette abgesperrt, die ein Schutzmann von Zeit zu Zeit öffnet. Dann darf eine kleine Bande hurtig ins Zimmer der Zollbeamten laufen, um sich abtasten zu lassen. Es ist die kläglichste Mißhandlung durch den Staat, die man sich denken kann. Täglich lassen sich dreihundert Leute diese Malträtierung gefallen. Es ist nicht angenehm, von der bayrischen Seite den Anschluß an die österreichische zu finden, es ist die menschenunwürdigste Art des Anschlusses, die man sich vorstellen kann. Aber was läßt sich der Deutsche nicht alles vom Staate gefallen? Nur wird im stillen ein theoretisches Aufblitzen von Staatsfreudigkeit durch so rohe Methoden des Herdenbesitzers Staat zerstört.

             Aber am Nachmittag ist man in Wien und alle Schmach ist vergessen.

                                                      Billardspieler.

             Sonntag vormittags bummelte ich durch sie Alserstraße. Regnerischer Tag. Die Kaffeehäuser schon jetzt vor dem Mittagessen überfüllt. Und in jeder größeren Straße zehn, zwölf Kaffeehäuser. Überall Leute, die Zeit haben, zu lesen, zu rauchen, Bilder anzusehen, zu plauschen. Hier wird noch Billard gespielt. In Berlin gibt es nur mehr ein einziges Café, in dem Billards stehen, Kerkau in der Friedrichstraße, aber das Billardspiel artet dort gleich in ein Turnier aus. Hier ist in jedem Café ein Billardsaal und erwachsene Menschen vertreiben sich viele Stunden damit, einen langen Stab in der Hand zu halten, ihn mit bläulicher Kreide an der Spitze einzusalben, sich über das Spielbrett zu beugen, auf ein paar weiße und rote Kugeln zu zielen und endlich loszustoßen. Wie viel Rast und Ruhe der Seele gehört zu diesem Spielgleichmut. Das ist ein Spiel ohne aufregenden Gewinn, ein Spiel ohne sportliche Leidenschaft, ein Spiel ohne nagende Berechnung, mit einem Wort: Nichts als ein Spiel. Nur sehr gelassene, nicht von Zwecken gehetzte Menschen sind solcher gleichmütigen Betätigung fähig. Man sollte auch in Berlin Billard spielen. Es wäre besessenen Menschen Medizin. Aber um es einzuführen, müßte die Polizei Billardzwang einführen, oder Ullstein müßte ein Sechstage-Billardspiel arrangieren. Daß erwachsene Menschen freiwillig stundenlang mit einem Stab dastehen, ihn einsalben, Kugel zu Kugel stoßen, dem Partner aufmerksam zusehen, über jeden Stoß Aufzeichnungen an der schwarzen Tafel machen, den Stab wieder bekreiden, wieder zu zielen, stoßen… eine besessene Berliner Betriebsseele wäre dazu nicht imstande.

                                                      Breitbartspiel.

Die Erwachsenen in Wien haben sich seit Monaten nur mehr mit Breitbart beschäftigt. Das ist ein junger galizischer Schlosser von ungeheurer Kraft. Er zerdrückt schwerste Eisenketten mit den Zähnen, zerdrückt Hufeisen in der Hand, trägt auf dem eisernen Brustkasten ein Auto mit Menschen.

Ich komme zu Freunden. Im Kinderzimmer heilige Stille. Was ist denn los? Warum schreien die Bälger nicht? Besorgt treten wir ein. Da liegt die fünfjährige Erica auf dem Boden. Auf ihrer Brust das Reißbrett des großen Bruders. Und auf dem Reißbrett stehen, eng beieinander, das achtjährige Brüderchen, der neunjährige Freund des Bruders und die dreijährige Schwester. Im ersten Augenblick fahre ich entsetzt zurück, aber mein Freund, der Vater der Bande, lächelt: „Es sieht nur bedrohlich aus. Die Kinder haben das oft erprobt. Erica spielt Breitbart.“

                                                      Aussichten.

In einer Zeitung veröffentlicht der frühere Bundeskanzler Schober, der jetzt Polizeipräsident von Wien ist, eine Erklärung, worin er die Nachricht, daß er Bankpräsident werden soll, entschieden berichtigt. „Wenn ich einmal zurücktrete, so gedenke ich mich wissenschaftlichen Arbeiten zuzuwenden. Ich werde, da ich kein Vermögen besitze und – mein Ruhegehalt zum Lebensunterhalt nicht ausreicht, wahrscheinlich auch schriftstellerisch tätig sein.“ Wie spartanisch, wie edel in der Armut. Krieger, die invalid wurden, betätigen sich als Werkelmänner. Ministerpräsidenten, die in Pension gehen, werden Schriftsteller. Dazu langt’s immer noch.

                                                      Auslagefenster.

Von allen Auslagenfenstern die schönsten sind immer die der Blumenläden. Ich stehe vor einem Geschäft in der ….gasse. Rosen, Flieder, Alpenschneeglöckchen, Zyklamen, blühende Weidenäste. An den Wänden hängen kleine Holzschnitte und Photographien sehr schöner Frauen. Ich weiß nicht, ob es wirklich so viel mehr schöne Frauen in Wien gibt als anderswo, jedenfalls gibt es hier sehr viel mehr schöne Photographien sehr schöner Frauen. Und es ist reizend, diese Bilder unter den blühenden Zweigen aufzuhängen. Unter dem Holzschnitt ist mit einem Reißnagel ein kleiner Zettel befestigt: „Verkäuflich.“ Er ist ein bißchen unordentlich angebracht. Unzweifelhaft gilt der Zettel nur dem Holzschnitt. Aber die Hälfte des Zettels reicht zum Damenporträt hinüber. Nun, es ist jedenfalls ein verlockendes Auslagenfenster.

                                                      Hofapotheke.

             Sonntag nachmittag. Ausgestorbene Straße in der Inneren Stadt. Alle Läden geschlossen. Ich wollte doch abends meinen Freunden ein paar Flaschen Wein mitbringen. Zum Glück ist die Hofapotheke, gleich neben der alten Burg, offen. Ich trete in die hochgewölbten Hallen des alten Gebäudes. Sauberkeit, Geordnetheit, Spiegelblankheit der idealen Apotheke. Eine reizende, ebenfalls blinkende Dame fragt mich nach meinem Begehr. Ich verlangte drei Flaschen Muskateller. Ein Blick fliegt zu dem großen Glaskasten, in welchem der herrlichste alte Tokayer, wunderbarer alter Cognac, die reifsten ungarischen Weine ausgestellt sind: „Wählen Sie.“

             Während die Flaschen aus dem Keller gebracht werden, kann ich mich nicht enthalten, zu sagen: „Wie schön, daß Sie auch diese Heilmittel führen.“

             Die junge Dame erwiderte: „Man kuriert sich nicht nur mit Medizinen.“ Dazu ein sehr taktvolle, sehr liebenswürdiges, halbernstes Blick-Lächeln. Ich bin versucht zu sagen: „Auch ein freundlicher Blick kann heilen“, aber ich verschluck es. Man soll nicht alles zu Wort machen.

                                                                   Hofschauspielerin a. G.

             Nachts beim „Wiesenthal“. Das ist eine Art Heuriger für die Leopoldstadt. Nicht in Grinzig, sondern in der Nothgasse. Nicht unter freiem Himmel, sondern unter der Erde, ein Kellertheater. Es wird gesungen, Klavier gespielt. Lozzelachs werden erzählt. Der Chef ist Herr Wiesenthal, der mit der berühmten Grete keine Ähnlichkeit hat. Er ist etwas beleibter als Grete Wiesenthal, will aber auch nicht durch pagenhafte Schlankheit verführen. Er stammt nicht aus der Tänzerfamilie, eher aus der Familie Pallenberg, von dem er den aggressiven, deutlich höhnenden, den Hohn parodierenden Befehlston hat: He, Bürger! Wer hat vor Pallenberg gewagt He! zu krähen? Nun, Herr Wiesenthal ist ein wohlbeleibter Mann, der die Zuschauer beschmust. Vor und nach jeder Nummer erscheint er und wickelt die Zuschauer durch Anekdoten, Kalauer, vertrauliche Anreden ein. Er redet urwienerisch mit einem drolligen Einschlag jüdischen Jargons. Ein Fiaker, der seinen Standpunkt in der Tempelgasse hat. Es ist nur in der Ordnung, daß sein Lokal an der Grenze des Judenviertels steht, dort, wo der Leopoldstädter sich wienerisch zu assimilieren beginnt.

             In diesem unterirdischen Lokal tritt die berühmte Hofschauspielerin auf. Ich habe sie vor x-zig Jahren gesehen, damals kam sie gerade mit Kainz von einer russischen Reise zurück, die Hermann Bahr brillant beschrieben hat. Kaum zu schildern, wie jung und sprühend und schlank sie damals war. Jetzt tritt sie, von ehrfürchtigem Beifall umrauscht, um ein halb ein Uhr nachts auf die Pawlatschen, in schwarzem Spitzenkleid, heroischen Schrittes, das Haupt gen Himmel gerichtet, als müßte sie das Rauchtheaterpublikum übersehen, die Bewegungen der Arme tragisch-medeenhaft und die Stimme, diese sorgsam silbenrettende, langsam akzentuierende Stimme trägt ein vaterländisches Gedicht vor: Eine Palme wächst zu hoch. Die Palme ist Deutschland. Der Gärtner ist Gott. Es ist reinstes Burgtheater von heute. Die Verse Franz Nissels würdig, die Sprachkunst edelster Höbling, die Gesinnung würdigster Bodenstedt. Und das Publikum, das eben noch Wiesenthals Anekdoten belacht hat, klatscht begeistert in die Hände. Ja, das ist unser schönes altes Burgtheater. Dann singt die Hofschauspielerin zwei Niggerlieder. Ihre blanken Zähne glitzern, die dunklen Augen funkeln, die medeenhaften Armbewegungen verschwinden. Einen Moment muß ich an die sprühende schlanke Dame denken, die vor x-zig Jahren aus Rußland zurückgekommen ist. Es gibt ein Feuer, das nie erlischt. Vorausgesetzt, daß es einmal da war.

In: Der Tag, 22.3.1923, S. 3.

Walther Rode: Alte Reiche, neue Reiche.

             Da erscheint, niemand weiß woher, in einer fremden Stadt ein Mann, der sich eine Herrschaftswohnung mietet, ein glänzendes Bureau in einer Hauptstraße. Um ihn herum entsteht sofort Rummel und Geschäft; er verdient viel und gibt noch viel mehr aus. Eines Tages aber verschwindet der Mann ebenso plötzlich wie er gekommen ist, dem Schlittenfahrer vergleichbar, der in finsterer Nacht unter Geklingel, Pferdeschnauben und Scheinwerfern heranbraust und schon wieder vom Dunkel verschlungen ward. Ein Kobold kurzer Frist, der Menschen und Dinge durcheinander bringt, um dann spurlos unterzugehen.

             Seiner Unternehmung gebricht es an der Dauer, an jenem Willen zur Dauer, durch den allein erst den Existenzen des bürgerlichen Lebens Greifbarkeit, Echtheit, Persönlichkeit zukommt. Das Auftreten des Schlittenfahrers ist die Kontrasterscheinung zu den Gründungen für die ganz lange, Generationen umfassende Dauer. Der Schlittenfahrer kommt und geht, der gediegene Reiche ist tief verwurzelt. Namentlich bei schwerer See, in Zeiten des Krieges, des politischen Umsturzes, der allgemeinen Revolution muß seine Gründung die Überlebenskraft ihrer Anlage erweisen. Der Chef angesammelten Gutes, der auf zähes Leben gestellten Vermögensindividualität, ein Kapitän langer Fahrt, muß im Sturm eine Technik der Verteidigung anwenden, deren Eintagsvermögen, meistens selbst Kinder des Sturms, keineswegs bedürfen. Die der Person dienende Habe wird vom trauernden Reichtum auf Halbmast gesetzt, damit sie weniger lustig wimple im Äther des Klassenneides; eingezogen werden die Insignien überragender Größer: Dienerschaften, Rösser, Spielplätze. Ein emsiges Verstecken, Verschieben, Vertauschen hebt an, die kinetische Energie des Reichtums in geeigneten Kraftstationen der einstiger Wiederentfaltung zu reservieren.

             Heute kriechen sie wieder aus ihren Verstecken hervor, die soliden, auf Dauer berechneten Reichtümer. Bene vivebit, qui bene latuit. Der Sturm der empörten Volksseele scheint sich gelegt zu haben, die Geldleute sind wieder frech geworden. Wieder benützen sie den Schlafwagen, geben sich Rendezvous in Palermo, haben sie ihre Spazierritte im Prater aufgenommen. Nicht länger müssen sie dem lauten Genuß des Reichtums entsagen.

             Was sich in den ersten Jahren nach dem Umsturz breit gemacht hat, war die Totenparade der Schlittenfahrer. Sie hat dem zeitlichen Verschwinden des wirklichen Reichtums die Mauer gemacht. Während die harten Gulden irgendwo, entmaterialisiert, der Goldwerdung harrten, die reichen Leute von echtem Schrot und Korn nirgends zu sehen waren, zerstob unter Lärm und Gestank die Hauptsumme dessen, was der Schleichhandel mit Salvarsan oder mit Romanowrubeln eingebracht. Was aber in dieser Zeit für längere Dauer errafft wurde, für Generationen: der Raub des Ahnherrn, ist unter Vernichtung des Tatbestandes in die Erscheinung getreten, hat also schon bei seinem ersten Entkeimen die Verleugnungstaktik in schwerer Zeit eingeschlagen. Der Ahnherr hat in seinem Koffer holländische Gulden verstaut; den Weg aus seinem Kabinett in der Novarragasse ins Trocadero jedoch niemals gefunden.

             Als das erwachte Proletariat über seine Verhältnisse lebte, das geängstigte Bürgertum unter seinen Verhältnissen, der Reichtum in eine Art Winterschlaf versunken war, da gab nur frische, nur kurzlebige Beute den Mut, sich zur Schau zu stellen. Ja, in der Exhibition allein war ihr Leben. Bewaffnet mit dem guten Gewissen des Raubtieres rasten Kriegs- und Umsturzgewinner herum in ihren Kraftwagen und ersteigerten kreischend und vor aller Welt Paläste und Kunstwerke. Ihres baldigen Hingangs gewiß, mußten diese Lemuren ihre Umlaufsgeschwindigkeit, ihre Allgegenwart ins Unerträgliche steigern, so daß sie mit der Drehkrankheit behaftet schienen. Ihr Auftreten hat so fatal, so aufdringlich gewirkt, weil ihre Wirklichkeit im umgekehrten Verhältnis zu eben jener Aufdringlichkeit stand, in der allein sich ihr Eintagsdasein ausleben konnte. Die Pilotenfische, die Begleitfische des Haifisches, die sich in der Sekunde einverleiben, was der Haifisch nicht in seine Klappe hineinzwingen kann, wußten im innersten, daß ihnen ihr Raub nicht streitig gemacht werden konnte. Sie brauchten daher die Empfindlichkeiten der Zuschauer nicht zu schonen. Zu ihrem Bild gehörte der Konsum, der sofortige Konsum, der Konsum unter den exekutiven Blicken der Ausgeschlossenen.

             Wer waren sie, die den Schwarm der plötzlichen Reichen von gestern und vorgestern gebildet haben, die den bösartigsten Klassenhaß trotzten, wo sind sie heute? Der Spuk hat sich verzogen wie ein Fiebertraum. Das Hexengold aus Luftgeschäften, Diebstählen und Differenzgewinnen ist im Rachen von Cagnotte und Prostitution verschwunden. Wer mit Betrug beginnt, muß durch Betrug umkommen. Hier verfuhr der Kehrbesen der historischen Vergeltung nach dem Grundsatz: Contre galicien, galicien et demi.

In: Die Stunde, 25.4.1923, S. 3.

Alfred Polgar: Wiener Sommer.

Die Börse ist lustlos und die Menschen sind es mit ihr. Sie vermissen nicht nur ihren Besitz, sondern auch den Nervenreiz, den sie auf der schwingenden Schaukel der Kurse empfanden. Und leiden schon die Armen sehr darunter, kein Geld zu haben, so ist das den Reichen ganz unerträglich. Also geht jetzt eine Welle von Verdrossenheit und Lebensfeindschaft durch die Stadt, niemand lacht, niemand freut sich, und in der Oper wird „Schlagobers“ gespielt, von Richard Strauß. Held des Ballets ist ein Knabe, der in der Konditorei zuviel Süßigkeiten ißt, worauf ihm übel wird. Solches läßt sich verstehen. Mir war schon als Kind kein Märchen zuwiderer, als das vom Schlaraffenland: die Vorstellung, sich durch einen Berg von Mus durchzufressen, über alle Maßen peinlich, und Bäume, an denen statt Blättern und Blüten Würste wachsen, schienen mir keine Verzauberung, sondern eine unappetitlichste Entzauberung der Natur. Diese ist sommerlich erwacht. Im Mai war lange Zeit April, dann kam gleich August; Jahreszeiten und Monate gehen, wie Knöpfe und Knopflöcher einer falsch zugeknöpften Weste, nicht recht zusammen, und zu Sylvester wird gewiß was fehlen oder überzählig sein. Einen Lenz gab es heuer nicht, er wurde zwischen Winter und Sommer totgedrückt wie die Mittelparteien in der Politik. Überall siegt der Radikalismus. Nur eine leichte Klang-Modulation unterscheidet ihn von der ridiculus mus, dem bekannten Kind kreißender Berge. Wegen des Auftretens der Bisamratte aber sind die Bäder im Donaustrom noch gesperrt. Leider, denn die Hitze hat Dimensionen angenommen und der Asphalt ist weich und gibt nach wie das Herz des unerbittlichen Vaters im siebenten Akt vieler Kinostücke. Die Kinos machen jetzt auch keine guten Geschäfte, aber immer noch bessere als die Theater, die von den Menschen gemieden werden, als ob in ihnen nicht die Orska oder Frau Werbezirk aufträte, sondern die Bisamratte. Dem Kino kommen im Sommer die besseren Beziehungen zur Natur zugute und das schummrige Dunkel in seinen Hallen, was es, wie vieles andere auch noch, mit der Kirche gemein hat, deren Macht-Erbe es allmählich anzutreten scheint. Wie die Kirche umspannt das Kino die Welt (nebst Himmel und Hölle), sendet seine Missionare in die entlegensten Zonen bewohnter Erde, braucht ein gewisses Quantum Finsternis um zu wirken, gibt den Künsten zu tun, beschäftigt, unter Musik-Begleitung, Gemüt und Phantasie seiner Gemeinde, wirkt Wunder, lehrt, wie die Tugend belohnt und das Laster zu schanden wird, bereichert die Pfaffen, die ihm dienen, spricht in Zeichen und Symbolen, die Menschen jeglichen Idioms verständlich sind, und hat auch schon seinen Evangelisten, den heiligen Balazs Bela, der in dem scharfsinnigen und glänzenden Buch „der sichtbare Mensch“ jene, die guten Willens sind, zum Glauben an die beglückendsten und erlösenden Zauber des Kinos verführt. Es tagte jetzt auch ein Concil zwecks Reform des Films in Wien, bei welcher Gelegenheit der Nibelungen-Film vorgeführt wurde, ein feierlich gedrehtes Hohelied auf körperliche Kraft und den Mangel an Wehleidigkeit und auf den Gott, der Eisen wachsen ließ (allerdings auch dafür sorgte, daß, wie die Geschichte des letzten Jahrzehnts erweist, das Eisen nicht in den Himmel wächst), und auf die altgermanische Sitte, um der Treue willen Untreu zu begehen. Treue im balladesk schönen Sinn des Worts bewährte kürzlich der Wiener Motorführer, der, das ihn der Schlag traf, noch mit letzter Kraft die Handbremse zig und seinen Train zum Stehen brachte. Diesem Braven ward kein Denkmal errichtet, außer im Herzen unseres beliebten Publizisten Bettauer, das als öffentliche Anlage gelten kann. Bettauer ist der Verfasser spannender Zeitungsromane, höchst aktueller Erzählungen, in deren raschen, durch eine Journalspalte gezwängten Fluß alle andern Rubriken der Zeitung sozusagen sich ergießen. Seine Methode, Geschehnisse und Personen des Tages noch warm in den Roman zu übernehmen, ist so neu wie wirkungsvoll, und Bettauer kann auch gar nicht genug des literarischen Garns spinnen, in das ihm das Leben läuft. Fromm und tugendhaft ist er nicht, und wenig Freude hätte an ihm Herr Erich Schlaikjer, ein deutscher Mann, der mich in der „Deutschen Zeitung“ (wegen einer Glosse über das furchtbare Urteil gegen die Kadivec) des Satanismus und der Teilnahme an einer jüdischen Verschwörung zur Vernichtung des deutschen Volkes bezichtigt. Bei Kadermann im Prater, à propos, wird täglich ein ganzer Ochs am Spieß gebraten, für München was Altes, für Wien eine Neuheit. Zur Premiere waren die Vertreter der Presse (kein Druckfehler für: Fresse) geladen, und in den Zeitungen erschienen dann auch, nebst Berichten von bratensaftigster Anschaulichkeit, Bilder, darstellend den Ochsen am Spieß und unter ihm, gleichsam als zarte, abschließende Randleiste, ein anderer Spieß mit Hühnchen, aufgereiht wie Kugeln einer Gebetsschnur. Mich erinnert das Bild des Ochsen, wie er da am Spieß steckt – geköpft, entklaut und ausgeweidet zwar, aber im großen ganzen doch in der Form belassen, die er hatte, da er’s Licht noch sah –, an primitive Darstellungen der Hölle, auf denen zu sehen, wie arme Sünder über loderndem Feuer am Spieß sich drehen. Kein Zweifel: die Erde ist das Tier-Inferno. Da werden sie für Übles, das sie dereinst auf ihrer Tier-Erde getan, bestraft. Wie der Mensch zu den Tieren steht, dafür ist bezeichnend, daß seine Imagination von der Hölle, die auf ihn wartet, in der entsetzlichen Vorstellung gipfelt, er würde dort so behandelt werden, wie er in seiner Welt das Tier behandelt. Jedoch weder bildliche Darstellungen der Hölle noch die Legenden von ihr geben irgendwelchen Grund zur Annahme, daß die Teufel, wenn sie uns am Spieß braten, hiezu die Presse einladen.

In: Das Tage-Buch, H. 22/1924, S. 739-740.

Arnold Höllriegel: Metaphysik der Roulette.

             Das feine Klirren gemünzten Goldes ist in meinen Erinnerungsträumen nicht zu trennen vom Bilde Monte Carlos. In den gedämpften Glanz dieser fast feierlichen  und erhabenen Säle eintretend, hörte man sonst, durch das ganz leise Raumen der Menge hindurch, über dem Pianissimo geflüsterter Leidenschaft dieses Klingling der Schwarzen Messe, diesen goldenen Oberton. Er sickerte durch  die marmorne Vorhalle, hinein in den unfaßbar prunkvollen Raum der Oper, vermischte sich mit den Furiosen Verdis oder den Gralsglocken des Parzival; rann, ein goldener Wasserfall, über die Parkwege der unvergleichlichen Palmenterrassen, klingelte noch in den teppichbelegten Korridoren des davoneilenden Luxuszugs.

             Um nichts hat sich der äußere Glanz Monte Carlos vermindert seit jenem unvergeßlichen letzten Rivierawinter vor dem Krieg und der Trübsal, aber diese seine goldene Begleitmusik ist fort, und ein Klappern von Bein und Blech geht durch die Säle. Man spielt nicht mehr mit goldenen Louisdoren, mit Sovereigns, mit den riesigen opulenten Plaques, nur noch mit weißen, roten und blechernen Spielmarken. Man kann, glaubt es, auch so sein Geld verlieren, aber von dem Reiz und Zauber ist etwas dahin. Früher sah man das Gold, das man nicht gewann.

                                                                                 *

             Monte Carlo, in Zeiten da alle Welt an der Börse spielt, hat ohne Zweifel etwas von seinem romantischen Reiz verloren. Früher leget man auf den Trente-et-Quarante-Tisch goldene Napoleons, heute rote Beinknöpfe, die zwanzig Papierfranken bedeuten, und entschieden weniger davon. Wer große Summen einzusetzen hat, weiß sich bessere Spiele. Noch hat das blecherne Zeitalter die luxuriöse Schönheit des Milieus nicht geschädigt; das Bild dieser domgleichen Prunkgebäude, dieser Gärten, dieser schätzereichen Geschäfte ist berauschend, ist überwältigend wie zuvor. Der Kasinoplatz, von den Tischen des Café de Paris aus gesehen, mit seinen wie aus der Wunderlampe gezauberten Wohnpalästen, mit der faszinierenden Buntheit der eleganten Menge, der Schönheit der Frauen, dem Glanz der Toiletten, das alles ist, wie es war: Kingsors Zaubergarten, von gefährlichen Blumen voll, Satans irdisches Paradies – – Innen im Spielsaal sieht man Unterschiede. Irre ich mich, oder fehlen sie wirklich ganz, die jungen und energischen Abenteurer, die desperaten, bösen und charaktervollen Goldgräber des Spielsaals, spielen sie anderswo, in den nüchternen Börsen, fern von der Verlockung des Weibes, in den großen winterlichen Städten ohne Sonne? Um die großen grünen Tische von Monte Carlo sehe ich in diesem beginnenden Jahr 1924 alternde Menschen sitzen, die nicht mehr ganz in diese Zeit passen; gewiß ein paar schöne Kokotten auch, und junge Leute, die vor dem Shimmy-Tanzen aus Spaß ein wenig setzen. Aber, kein Zweifel, nicht die goldenen Träume der Jugend herrschen hier mehr vor, ihre pittoresken Laster, ihre stürmischen Wonnen und tragischen Verzweiflungen. Monte Carlo, so wie ich es heute sehe, scheint mir ein Ort des törichten und des weisen Alters, der großen Brillen, der gelichteten Scheitel. Unglaublich, wie viele dekorative Großmütter um den Roulettetisch sitzen, auf dem es klappert wie von Totengebein!

                                                                                 *

             Vielleicht gebührt ihnen der Ort von Rechts wegen, den Alternden. Weswegen spielt man in Monte Carlo? Um Geld zu gewinnen? Welcher Irrwahn, tausendmal entlarvt! Man spielt aus Religiosität. Die Roulette ist keine finanzielle, sie ist eine metaphysische Angelegenheit. Wohl steht das den Alternden an.

             Wenn ich eine Opfergabe auf diesen schwarzen und roten Altar lege, der der Altar Satans wäre, wäre Satan nicht eine bloße Maske Gottes – will ich etwas anderes, als der frömmste Beter in der heiligsten Kathedrale, Erhörung meines Flehens, vervielfältigten Segen für mein in Andacht  Dargebrachtes? Ich nehme mein Scherflein, mein Ganzopfer, lege es unter den vorgeschriebenen Riten auf Rot oder à cheval zwischen die Nummern neunzehn und zwanzig – weswegen? Weil ich, fromm in meine Seele hineinhorchend, eine innere Stimme zu hören glaubte, die mir sagt: rot! Ich zweifle nicht, und niemand, der in Monte Carlo war, zweifelt daran, daß diese Stimme in jedem Spieler spricht, und daß sie die Wahrheit sagt, nur, daß leider niemand imstande ist, diese Stimme von zehn anderen Stimmen zu unterscheiden, Stimmen der Eitelkeiten, die zugleich zu schreien beginnen. Ein heiliger Büßer, der es gelernt hätte, seinen Nabel anzustarren und sich auf seine Innerlichkeit zu konzentrieren, ein abgeklärter Philosoph, der sich selbst kennte, sie müßten, mir ist das gewiß, in Monte Carlo jede Nummer erraten, bevor sie für immer zersprungen wäre.

             Aber kommen denn solche Leute nach Monte Carlo spielen?

                                                                                 *

             Ich sage das, weil ich die Welt des Scheins längst als eine Roulettescheibe erkannt habe, auf der die Erdkugel rotiert. Was ist das, diese Zukunft, in der entweder Schwarz oder Rot kommen wird? Ist sie nicht schon gegenwärtig in unserer Seele, nur daß wir nicht gut und weise genug sind, es zu wissen?

             Oft und oft weiß ich, welche Nummer kommen wird. Es ist keine Einbildung, kein Schwindel. Leider tritt das Phänomen nur immer dann ein, wenn ich nicht gesetzt habe.

             Ich glaube, im Grunde mögen die Spieler in Monte Carlo gar nicht Franken gewinnen. Sie schämen sich zu sagen, daß sie eigentlich die Stimmen ihres Inneren bestätigt finden möchten. Wie hätte ich sonst hier einmal Viktor Adler gefunden, und gestern John Meynard Keynes?

                                                                                 *

             Die brutalen Geldverdiener sind dar nicht einmal mehr in Monte. Weise Mütter und ernste Väter sehe ich das Orakel befragen. Übrigens auch unernste Väter und törichte Mütter. Seht sie, wenn sie abgekämpft und müde sind, im pururverhangenen Lesesaal die tödlich seriöse Revue des deux Mondes lesen!

             Die Zeit ist nahe, da dieses frivole Monte Carlo an der Philosophie zugrunde geht. Eine Versammlung von Ödipussen, die alle Rätsel der Roulette erraten, wird die Bank des Monsieur Blanc sprengen. Der Herr Professor Einstein, wenn er einmal Zeit für Monte findet, wird die Relativität der rotierenden Scheibe enträtseln und den Fürsten von Monako um seine schöne Rente bringen. Schon hört man in den Sälen nicht das frivole Geld des Trugs rieseln, man hört es klappern, das trockene Gebein.

                                                                                 *

             Nur weil es unter so vielen Philosophen doch auch einige Narren gibt, steigen vorläufig die Aktien der Spielbankgesellschaft noch ein wenig.

In: Der Tag, 10.1.1924, S. 3.

Johannes Urzidil: Freiheit (Wien bei Nacht)

             Viele junge Männer gehen am Abend durch die Straßen der Stadt, mit einer Banknote in der Tasche, nicht so groß, daß man mir ihr übermütig werden könnte, aber ausreichend, um zwischen mannigfachen Genüssen die Wahl zu lassen. Vielleicht genügt sie, ein Abendessen in einem mittleren Restaurant zu bestreiten, oder sie überläßt es dem Einsamen, sich für eine Flasche erträglichen Weines oder ein Theaterbillett zu entscheiden. Man könnte auch darauf verfallen, sich bei einem der vielen Mädchen, die jetzt an den Straßenbahnstationen warten, vorsichtig mit weichem Blick einzuschleichen und nach einer stummen Unterredung der Augen ein paar Ecken weit oder noch weiter mit ihr zu fahren. Einige sind da mit dünn durfenden Batistblusen, durch welche die Transparenzen der Haut leise schimmern, leicht Vorgeneigte mit beweglichem Spielbein und geistesabwesendem Blick, einige mit resoluten Schritten, fest in ihre Form gefügt und ganz bei sich selbst gegenwärtig. Wie schön ist es, so vor der gleichgewichtigen Wage der Entscheidung zu stehen, das eine winzige, fast gewichtslose, aber alles entscheidende Körnchen des Entschlusses zwischen den Fingern zu halten, es in die eine oder die andre Wagschale werfen und sei tief hinabsenken zu können. Vielleicht so tief, daß sie niemals wieder in das schwebende Gleichmaß zurückkehrt und dieses eine, unmerkliche, aber das Leben selbst bedeutende Körnchen für ewig unerreichbar bleibt. 

Der junge Mann bummelt durch die Straßen, an den glänzend erleuchteten Nachauslagen vorbei, er bleibt da und dort stehen und betrachtet die verschiedenen ausgestellten Waren. Er freut sich im stillen, daß die Läden geschlossen sind, daß er alles genießen kann, ohne die Mühe der Entscheidung. Er besitzt ohne die Last des Besitzes und ohne den Mangel, den jeder greifbare Besitz in sich birgt. Er verschwendet das Hundertfache dessen, was er hat, er lebt ohne Gefahr weit über seine Verhältnisse. Er ist wahrhaft reich.

             Schließlich aber, wenn er die Banknote nicht mehr ertragen kann, tut er mit ihr, was jeder mit ihr tun würde, bei dem Geld nicht übernachtet. Die Theater sind schon geschlossen, in den Restaurants ist nichts Rechtes mehr zu haben, die Mädchen sind nach Hause gefahren. Dier junge Mann setzt sich ein wenig in die Straßenbahn, kauft dann irgendwo eine Zeitung, wirft einem Bettler mehr als Brauch ist, in den Hut, ißt an einem Büfett überflüssige Dinge, raucht eine Zigarre und, nachdem er alles in kleinen Hingaben ohne Bedeutung vertrödelt hat, geht er heim, seufzt auf dem Treppenabsatz still vor sich hin, und mit einem Gefühl grenzenlosen Hungers und einer Leere zwischen seinen Fingerspitzen legt er sich, ohne die Lampe erst anzuzünden, in das dunkle Bett. 

In: Neues 8-Uhr-Blatt, 23.10.1924, S. 8.

Rudolf Kalmar: Unter dem Doppelgeier… Von der Börse, den Börsianern und allem was dazugehört. Zeichnungen von Fred Dolbin.

             Es ist ein frommer Brauch, den Hut zu ziehen, wenn man an der Börse vorübergeht, denn es liegt dort manches Liebe begraben: der Winter in Nizza, der Sommer auf Helgoland, das Badezimmer mit dreizehn Finessen und ein Sechszylinder mit Wasserspülung. Man träumte von diesen Dingen solange, bis die Kollegen vom volkswirtschaftlichen Teil anfingen, ihren täglichen Nachruf mit „andauernd flau“ zu überschreiben. Da wurden die Zeiten finster und bitter. Als sich die schmutzige Phantasie der Ökonomisten erst gar mit 1873 zu beschäftigen begann – in historisch-kritischen Betrachtungen und weil ihre Träger nichts besseres zu tun hatten – konnte das Ende nicht mehr fern sein.

             Gott hat es anders gewollt: die Börse steht noch immer.

             In schlichter Einfachheit lädt sie den Wanderer zu architektonischen Betrachtungen und zeigt ihm schamhaft die nackten Männlein am Dachrand. Es heißt, daß auch sie vor zwei Jahren noch eine wallende Toga besessen hätten. Wer weiß es?

                                                                                 *

             Ein Denkmal wiedergeborener Antike am Ringstraßenrand. Vom Boden an liegt eine Schicht lichter und lichter werdenden Schmutzes an dem marmorprotzenden Bau. Tritonen stechen mit goldenen Gabeln gegen die stürmende Pleite. Durch steinerne Wogen steuern Schifflein mit (wahrscheinlich) unsicherem Kurs und ein engmaschiges Drahtnetz, vor die Bogen des Atriums gespannt, hindert die Spatzen, das zu tun, was viele Börsianer schon lange getan haben.

             Just dort zwischen den dickwüstigen Säulen hat vor gut zwei Jahren ein Mann seine Höllenmaschine placiert: Konservenbüchsen mit Zündschnurzipfeln. Sie pflutschten am Abend auf, ohne Schaden zu stiften, fetter Ruß besudelte ein paar Marmorblöcke, Börsenräte kamen zum Lokalaugenschein, das Polizeipräsidium amtierte die halbe Nacht, rasende Reporter schnüffelten tagelang nach dem Attentäter und fanden ihn nicht. Er war entweder ein ganz kleiner, ein ganz ungeschickter Gauner, oder ein großer Witzbold. Noch heute sieht man einem Dachträger die Spuren von seiner Mordmaschine.

             So wenig hat sich an der Börse verändert. Nicht nur das: sogar noch weniger.

             Noch immer sitzen die Kibitze drüben im Café Wögerer, dem Fegefeuer vor dem Börsenhimmel und mimen volkswirtschaftliches Interesse.

             Man betritt die Börse (wie denn nicht) durch ein Hintertürchen und kommt zunächst nach einigem Hin und Her in einen Wartesaal dritter Klasse der österreichischen Bundesbahnen. St. Pölten, beispielsweise, doppelt genommen und frisch ausgekehrt. An graubraunen Wänden stehen biedere Bänke und langweilen sich in stiller Feierlichkeit. Wie die guten alten Ledermöbel im Rauchzimmer daneben, die im Verein mit großen Zeitungsständen das Angesicht: bürgerliches Kaffeehaus kopieren.

             Man ist prosaisch gestimmt und spricht daher von Kunst, von Musik, von Tingl-Tangl. Liest ein Feuilleton über Fritz von Unruh und wärmt alte Tratschgeschichten von irgend einer Frau Generaldirektor auf. Oder man schläft. Je nachdem. Was tuts?

             Keine Zahl schrillt auf aus dem wohlig warmen Zigarrenrauch. Nicht einmal das Erinnern an ein Bezugsrecht oder das Interesse für eine neue Emission. Egal… Man hat geruhsame Dinge im Kopf wie zur Urlaubszeit und kratzt nur manchmal unmerklich hinter dem Ohr ein wenig die Sorgen.

             Während im Saal drinnen dickflüssig und träge die österreichische Volkswirtschaft brodelt.

                                                                                 *

             Die Sensale im Schranken hocken melancholisch über ihren Büchern und kommen sich sehr überflüssig vor. Die Aufträge sind selten geworden. Man erledigt sie mit genießerischem Bedacht und malt zwischen dem ersten und dem zweiten Gähnen kunstvoll geschnörkelte Ziffern ins Register. Hie und da nur steigt – ritsche, ratsche – die Avisotafel mit einer Notiz hoch, ohne daß sich jemand darum kümmert. Hie und da putzt einer zum x-ten Maile seine Brillengläser.

             Und die Kulisse sieht zu. Man lehnt an der Mauer, lümmelt an einem Schreibtischrand, räkelt sich auf einem massiven Stockerl und stellt sich mit einem Bekannten nach dem anderen zu einer kleinen Plauderei.

             Abgerissene Redefetzen treffen das Ohr im Vorübergehen.

             „Hören sie zu: Sagt der alte Blau zur seinem Prokuristen…“

             „…die Schlanke, mit dem schreigelben Wuschelkopf…“

             „…und er bildet sich doch ein, daß das Kind…“

             „Nebbich!“

             Der Verkehrsturm in der Salgo-Kulisse ist mit Papierstreifen abgeblendet.

             Es interessiert sich kein Mensch für das ganze Brimborium.

                                                                                 *

             Endlich nach einer halben Stunde ruft irgendwo ein Kommissionär zum Geschäft. Mit gellender Stimme schreit er:

             „Ich kauf‘ zu viere… Ich kauf‘ zu viere… Ich kauf‘ zu viere…“

             Bei jedem Satz fliegt sein Arm mit scharfem Wurf durch die Luft. Trifft mit der Fingerspitze bald de, bald den. Tödliches Schweigen.

             Er kauft zu viere. Keiner rührt sich.

             Wieder platzt der Kommissionär los und geifert seinen Satz in das Gemurmel, bis ihm die Stirnadern schwellen und die Stimme kiekst. 

             „Ich kauf‘ zu viere… Ich kauf‘ zu viere… Ich kauf‘ zu viere…“

             Eine aufgeregte Hand peitscht die Luft. Die andere krabbelt nervös im Notizbuch.

             Endlich meldet sich einer: „Ich geb‘ um fünef…“

             „Ich kauf‘ um viere…“

             „Ich geb‘ um fünef…“

             „Ich kauf‘ um viere…“

Auge im Auge stehen die beiden Kämpfer // und drücken einander ihr Angebot zu. Die anderen lachen.

             „Ich geb‘ um fünef…“

             „Ich kauf um viere…“

Da zieht der Verkäufer die Schultern hoch und dreht sich gemächlich um. Es ist wieder einmal nichts gewesen.

             Schon spricht er mit einem Freund über Weihnachten am Semmering, da kreischt nach ein paar Minuten neuerlich die Stimme des Kommissärs: „Ich kauf‘ um viere…“

             Der andre schleicht langsam zu der Gruppe und lauert harmlos im Hintergrund.

             Auf einmal fährt er los, schleudert mit beiden Händen seinem Partner die Worte ins Gesicht: „Ich geb‘ um viereinhalb…“

             „Ich kauf um viere…“

             „Ich geb um viereinhalb…“

             „Gemacht… Dreimal…“

             Jeder kritzelt eine Klaue auf seinen Block. Dann verzieht man sich wieder zu den beschaulichen Gruppen.

             Schon im Abendblatt steht dann etwas von „andauernd flau, bloß kleinere Schlüsse getätigt“.

                                                                                 *

             Punkt 1 Uhr läutet eine Mistbauerglocke die Börse aus. Man notiert die Schlußkurse, telephoniert an sein Bureau um Orders und fragt zu Hause an, was es zu Mittag gibt. Sonst ändert sich nichts.

             Man kauft an der Nachbörse so wenig wie zwischen elf und eins.

             Und wenn man den vergessenen Doppeladler, der, aus alten Zeiten überkommen, noch immer einen Nebenraum schmückt, mit halbgeschlossenen Lidern anblinzelt, sieht man, wie sein Hals sich streckt, wie sein Schnabel wächst und die Augen zurücktreten.

             Jede Seite würgt einen gierigen Brocken: So wird ein altes Emblem zum Börsenzeichen: Doppelgeier.

In: Der Tag, 25.12.1925, S. 3-4.

{glossary-ignore]Robert Neumann[/glossary-ignore]: Tollwut an der Börse. (Auszug aus: Sintflut)

Die Riesenkrache an der New-Yorker und der Londoner Börse erinnern an eine Börsenszene aus Robert Neumanns erstem Werk, dem Inflationsroman „Sintflut“. Diese Szene, die ein packendes Bild des verrückten Börsenfiebers gibt, bringen wir nachstehend mit Erlaubnis des Verlages J. Engelhorns Nachf. zum Abdruck.

             Ein Diener ging durch den Saal und schnarrte: „Bauch! Karl Bauch! Karl Bauch, Telephon! Herr Bauch! Bauch! Herr Bauch!“ Die Sensale sperrten ihre Bogen und Bücher ein und kamen in die Kulisse herüber, Schlußkurse ermitteln, kaufen, geben für eigene Rechnung. Niemand dachte daran, den Saal zu verlassen. Die Nachbörse tendierte weiter nach oben. Was Klein anlangt, so stand er neben mir mit schiefer Schulter und hängenden Armen, blaß, matt. Wir zogen uns nach der Exotenkulisse. Pollak stand dort noch immer mit fünf, sechs anderen und handelte Abel. Sie waren auf 480 zu 520. Klein gab tausend Stück zu 510. Namen weniger bekannter Papiere schwirrten da durcheinander; kein Tag verging, daß nicht ein paar neuen aufgetaucht wären. Ein magerer, ärmlicher Mensch mit Bartstoppeln sagte: „Schweizer Glas. Ich gebe Schweizer Glas mit 210. Mit 210. Ich geb‘ mit 210.“ Niemand beachtete ihn. Er sagte: „Ich geb‘ Schweizer Glas mit 200.“ Klein horchte auf. „Ein Schweizer Papier?“ fragte er nah meinem Ohre. Ich hatte den Namen nie gehört. Er sagte: „Kaufen Sie.“ Ich bekam sie zu 195, hundert Stück. Klein sagte laut: „Ich nehme Schweizer Glas mit 230!“ Aus einem Winkel kam Ware. „240!“ Der Unrasierte brachte noch 200 Stück. Klein schrie: „Schweizer Glas! Ich nehm‘ mit 250! Mit 250! Mit 280!“ Ein Fetter, Haarloser sagte: „Mit 320 ist bei mir Ware.“ „Wieviel?“ „Tausend Stück.“ Klein warf die Hand hoch, schrie: „Tausend Schweizer Glas an mich mit 320!“ Das Geschäft in Hochdorfern war eingeschlafen. Um uns standen zehn, fünfzehn Menschen. Einer schrillte: „Geld auf Schweizer Glas 330! 340!“ Bei 360 kam Ware, fünfhundert Stück von einem kleinen Bankier. Weitere zweitausend nahmen die Käufer auf, die uns nachspielten. Klein ward die Hand hoch, gellte: „400! 400! 400!“ Er bekam zweitausend Stück. Um uns standen dreißig Menschen und schrien. Man kaufte zu 450 und zu 480. Die gaben, waren Agenten, kleine Bankiers. Dann schob Fischer seinen breiten Bau in eine Bresche, der Kontermineur stand da, tat den Mund nicht auf. Klein schmiß die Hand hoch, gellte: „480!“ Neben mir sprachen zwei. Einer fragte: „Was ist Schweizer Glas?“ Der andere sagte: „Klein weiß, was er tut. Man kann mitgehen.“ Einer kaufte mit Gebrüll bis 530. Klein hob sein Gesicht zu mir, sagte blaß: „Man jagt den Kurs hoch. Drüben steht Fischer und wartet. Wir müssen stabilisieren. Lassen Sie kaufen.“ „Wieviel?“ Er warf mir einen schrägen Blick zu und sagte knapp: „Soviel Sie bekommen werden.“ Ich fing mir Fenichel bei den Alpinen, gab Auftrag. Er stieß ins Gelände vor, mit kraftlosen Ellenbogen, warf Finger hoch, kreischte greisenhaft: „540! 540! Geld 540!“ Klein brüllte sehr vernehmlich: „Ich geb!“ Fenichel stand verblüfft und übernahm hundert Stück. „540!“ rief er noch einmal. Klein brüllte: „Ich geb!“ Fenichel notierte unruhig, offenen Mundes, und warf mir einen hilflosen Blick zu. „Ich geb!“ rief Klein. Viele lachten, Einer sagte sehr vernehmlich: „Ein Schwindler!“ Klein stand fleckigen Gesichtes. Die Hausse war gebremst. Die zwanzig, die uns noch umstanden, fanden sich nicht zurecht und warteten. Einer legte kleinlaut noch einmal Geld. Klein brüllte: „Ich geb‘ mit 540! Mit 530! Mit 520!“ Man lachte. Einer sagte: „Mahlzeit, ich geh‘.“ Da tat Fischer drüben den Froschmund auf und quarrte: „Ich geb‘ mit 500, – Ich geb‘ mit 480. – Ich geb‘ mit 460!“ Klein hob sein Gesicht zu mir: „Er konterminiert. Wo stehen wir?“ Ich addierte. „Wir haben siebzehntausendzweihundert Stück gekauft.“ Klein, mit zuckendem Mund: „Dann muß ich den Kurs halten.“ Fischer trompete drüben: „Ich geb mit 400.“ Klein kreischte: „An mich!“ Man merkte auf.

             Nun wurde es ernst. Fischer gab zu tausend und tausend Stück. Klein nahm alles. Fischer gab zehntausend zu 380. Klein übernahm und legte Geld bei 410. Fischer gab zehntausend und bot zwanzigtausend zu 370. Klein übernahm. Dreißig, vierzig Leute umstanden uns, gaben leer ab, spielten Fischer nach bis 340, 330, 300. 295 kam neue Ware. Klein, heißer, weißen Gesichtes, die Krawatte aus der Weste gerissen, Schweiß auf der Stirn – Klein übernahm. Es half nichts. Der Kurs glitt auf 220, 200. Fischer trompete: „180!“ Klein keuchte mir ins Ohr: „Die Rechnung!“ Um Gottes willen – die Rechnung!“ Ich addierte dann leise: „Wir haben zweihundertvierundzwanzigtausendachthundert Stück Schweizer Glas gekauft. Durchschnittlich zu 385.“ Fischer trompete: „175! 170 ist bei mir Ware!“ Klein wankte leicht. Er lehnte sich an mich und flüsterte: „Zu Ende. Wir werden nicht zahlen können.“ Und laut// kreischend, losgelassen: „Ich kaufe! Ich kaufe zu 175! Zu 180!“

             Da kamen hinten zwei von den Telephonen, drei, vier. Einer rannte vorüber, schrie: „Der Londoner Schlußkurs! Die Krone 36.400!“ Einer rief, ein Fetter: „Von gestern auf heute die Hälfte!“ Vogel von Vogel junior zog die Brieftasche, nahm Geld in die Finger, schrie: „Dreck ist das! Dreck! Leeres Schreibpapier ist mehr wert!“ Einer lachte. „Leeres Klosettpapier!“ Groß von Bock in Budapest schrie: „Geld auf Rima!“ Er rannte. Einer mit einem Geierkopf schnarrte: „Man muß kaufen, was man bekommt.“ Da warf Samuel Klein beide Hände hoch und kreischte: „Ich nehm Schweizer Glas zu 200! Zu 250!“ Fischer blieb stumm. Einer schrie: „Ich kauf zu 280! 280! 280!“ Leute kamen herüber, drängten sich, Klein kreischte: „300 Geld!“ Man bekam keine Ware. Ein paar Schlüsse standen 320. Drüben tat Fischer das Froschmaul auf und sagte: „Ich seid alle verrückt.“ Einer kreischte ihm Unverständliches ins Gesicht. Ein Ziegenbart meckerte: „Er hat ihm nachgespielt.“ Man kaufte zu 350, 380. Einer drohte Fischer mit beiden Fäusten und schrillte: „Nicht ein Stück hat er! Er hat leer abgegeben!“ Fischer legte mit blassen Lippen 400 Geld. Man schrie, schmiß Hände hoch. Bei 520 wurde Fischer von seinem Schwiegersohn forgeführt. Der Ziegenbart kaufte noch bei 580. Hände flackerten. Eine Dogge bellte 600. Bei 610 gab Klein die ersten zehntausend Stück. Die Dogge brüllte 630. Klein gab. Der Geier hackte herüber und kaufte zwölftausend zu 610. Andere kreischten, Ibisse, Iltisse, Marder. Klein gab. Schweiß troff, ein Hemdkragen lag auf dem Boden, einer kletterte an einem anderen hoch und schrie. Der Geier krächzte 710, die Dogge geiferte 770. Klein gab. Eine Glocke bimmelte. Ein Diener schnarrte: „Bauch! Herr Bauch, Telephon!“ Einer stolperte mit Gebrüll. Einer faßte einen an der Schulter und spie ihm Ziffern, Ziffern, Ziffern aus dem aufgerissenen Mail um die Stirn. Eine Wasserleiche spreizte Finger und griff. Ich addierte. Wir hatten glattgestellt, mit wahnsinnigem Nutzen. Ich ergriff Klein am Arm und riß und schleppte ihn durch die Balgenden nach der Tür.

             Im Rauchsalon sank er um. Ich bettete ihn auf das Plüschsofa und gab ihm Schnaps. Der Reporter einer Börsenzeitung schoß herein und griff nach uns. „Was wissen Sie über Schweizer Glas?“ keuchte er. „Welche Informationen haben Sie über Schweizer Glas?“ keuchte er. „Es ist doch richtig,“ keuchte er, „daß das die Braxer Strickwarenfabrik Schweizer & Glas ist? Aber das Unternehmen steht doch, hör ich, vor dem Konkurs?“ Klein lachte schrill und lachte noch, als ich ihn ins Automobil hob.

In: Arbeiterwille, 1.12.1929, S. 7-8.

Hugo Glaser: Väter und Söhne

Die Psychoanalyse wurde, wie Freud, ihr Schöpfer, sagt, aus der ärztlichen Not geboren; sie entsprang dem Bedürfnis, nervös Kranken zu helfen, denen Ruhe, Wasserheilmethoden und Elektrizität keine Linderung bringen konnten. Aber diese Aufgabe, eine ärztliche Technik zu sein, suchte sie von vornherein dadurch zu erfüllen, daß sie sich auf die Aufdehnung verborgener Zusammenhänge, auf das Bewußtmachen des Unbewußten einstellte. Der ganze seelische Zuhalt des menschlichen Lebens, des Lebens der einzelnen und das der Gesamtheit, wurde so ihr Forschungsgebiet. Denn die Triebkräfte, die das Seelenleben des einzelnen beherrschen, spielen auch in der Allgemeinheit eine wichtige Rolle, in Masse und Gesellschaft, deren Wesen und Geschehen aus dem Verhalten der einzelnen sich zusammensetzt. Und indem sie immer wieder durch Probleme der Massen- und Gesellschaftspsychologie gelobt wurde, mußte sie, eigentlich naturgemäß, auch in die Seelengeheimnisse der jüngsten sozialen Bewegung einzudringen versuchen, die als Anarchismus und Kommunismus mit allzu roten Fahnen einherzieht. Aurel Kolnai unternimmt dies in einem jetzt erscheinenden Buche: „Psychoanalyse und Soziologie“ (Internationaler psychoanalytischer Verlag, Leipzig-Wien-Zürich, 1920). Die Psychoanalyse mußte im Anarchokommunismus viele jener Momente wiederfinden, für die ein Interesse zu haben sie bereits durch andere Probleme veranlaßt wurde. Dieser will ja das irdische Paradies als Endwert und die Zertrümmerung der heutigen Gesellschaft, und er führt, wo er zur Herrschaft gelangte, zu hochgradiger Desorganisation und zur Rückkehr zu primitiveren Formen – Zwecken und Schlagworten, denen, wie erwähnt, die Psychoanalyse auch anderswo begegnet.

Nach der Auffassung Freuds und seiner Schüler ist die Auflehnung gegen den Vater das Urbild der Revolte. Vater und Gesellschaft sind identisch. Demzufolge wäre der Anarchismus eine extreme Form des Aufstandes gegen den Vater. Der Kampf zwischen Vater und Söhnen, der im Unterbewußtsein der Menschen seit den vorbildlichen Zeiten her schlummert, kommt hier wieder einmal zum Ausdruck und führt zur Tötung des Vaters. Der Anarchismus will den vom Vater ausgeübten Zwang aufheben und schreitet zur Tötung des Vaters. Er trennt seinen Mittelweg und seine Entwicklung, sondern nur die Wiederholung der titanischen Tat. Die leidenschaftliche Auflehnung gegen den Zwang bedeutet aber nicht Freiheitsliebe des Mannes, sie ist eher wie die Ungebundenheit des Kindes, das in einem Aufstand lebt, dem die Notwendigkeit der Anpassung und die Konflikte fehlen. Der kommunistische Ausgangspunkt heißt: „Jeder arbeite nach seinen Fähigkeiten, genieße nach seinen Bedürfnissen.“ Uneingeschränktes Sich-Ausleben ist die Folge dieses Grundsatzes, freilich nur soweit, daß dadurch das gesellschaftliche Leben nicht geradezu verhindert werde. Darin erblickt die Psychoanalyse die Unmöglichkeit des Anarchismus. Dieser erklärt sich ferner für die universale Brüderlichkeit und hält dabei an Metzeleien und Bombenattentaten fest. Bakunins Ausdruck für „Gewalt für die Brüderlichkeit“ beleuchtet diesen Zwiespalt. Dem Vater gilt der Hass, der Mutter die Liebe. Auf der einen Seite ist die Gesellschaftsfeindlichkeit, auf der anderen die Brüderlichkeit der Anarchisten. Der im Unterbewusstsein der Menschen verborgene Vatermord hat aber nach den Hypothesen der Psychoanalyse die Brüder nicht zu ihrem Ziele, zur höchsten Liebe zur Mutter, führen können; die Söhne vermochten sich ohne den Vater nicht aufrechtzuerhalten. Wie die Tötung des Vaters nur die Isolierung der Mutter zur Folge hatte – Penelope konnte nach der Entfernung ihres Gemahls Odysseus seinem Freier die Hand gewähren – so würde die Aufhebung der stabilen Organisation den Zerfall der Gesellschaft nach sich ziehen. Der Anarchismus ist keine Kritik, keine Reform, sondern Zynismus, Tabula rasa. Die Mehrheit der Anarchisten besteht nicht aus typischen Proletariern, sondern aus Kleinbürgern und besonders aus Leuten, die allein arbeiten und die Härte der Lebensverhältnisse verstärkt empfinden. Methodischer und weniger impulsiv ist der Kommunismus; sein gesellschaftlicher Träger ist das Proletariat, dem auch eine Beziehung zu der Realität, der Technik, der Wirtschaft anhaftet. Das Proletariat, vom Aderboden abgeschlossen, verliert das Heimatgefühl. Die Revolution, die zur Erde, zur Natur zurückführt, soll es ihm wiedergeben. Der Proletarier hat seinen Sinn für den moralischen Wert des Kleingrundbesitzes. Die kommunistische Idee der Familiengemeinschaft und das Prinzip: Arbeiten nach den Fähigkeiten, Verzehrern den Bedürfnissen entsprechend, ist ein dem Kern nach kindliches Prinzip. Nicht die Entfaltung der Fähigkeiten – sie hoffen mit sehr geringer Arbeit auszukommen -, sondern der Gehorsam des guten Kindes ist betont, daß von seinen Eltern, vom Staate, alles bekommt, was es braucht. Was dem ganzen System abgeht, ist der Zwang des Lebens, der von dem Menschen tüchtige Arbeit erfordert, ihm aber mit der Berufswahl die Berufsfreude läßt. Der Kommunismus ist weniger unheimlich, weniger scharf als der Anarchismus, aber ebenso absurd. Er will eine Gesellschaft mit unentwickelter Organisation, aber mit hochentwickelter Technik. Hier kommt der Glaube an die Allmacht der Gedanken zum Vorschein, wie ihn das Kindesalter aufweist. Aber die Technik wird immer mit der Arbeitsteilung und damit mit einer sozialen Differenzierung Schritt halten. Sie steht nicht zur Verfügung einer Gemeinschaft, die sie nicht ausbauen und nicht verwalten kann. Der Krieg hat ja die Despotie der Mittel zur Genüge bewiesen. Die Zusammenfassung bestimmter Wahnideen zu einer Art Ernstem nennt die Psychoanalyse Paranoia. Die Psychoanalyse findet im Anarchokommunismus Zeichen einer paranoischen Konstruktion: die ausschließliche Betonung des Ichs, Größenwahn und Verfolgungswahn, Erlöseridee. Die schwere Wendung zur Psychose, zur richtigen Geisteskrankheit der Welt, brachte jene Abart des Systems, die Lenins Bolschewismus darstellt.

Auch Paul Federn rollt in einem Beitrag zur Psychologie der Revolution „Die vaterlose Gesellschaft“ (Anzengruber-Verlag, Wien-Leipzig) das Problem der Väter und Söhne auf, wie es von den Psychoanalytikern gesehen wird. Die erste Form des menschlichen Zusammenlebens war die einer Horde, die unter der übermächtigen Alleinherrschaft des Vaters stand. Wenn aber seine Kräfte nachließen aber der Satz der rechtlosen Söhne zu groß wurde, dann töteten sie den Vater. Aber die Uneinigkeit kam unter sie, sie bekämpften einander, und wieder wurde einer Führer, Vater. Spätere Generationen haben sich freilich zusammengeschlossen mit einem gewählten Haupt. Aber in der Verehrung des Vaters durch die Söhne blieb und bleibt tief verborgen in einer Falte der Seele ein Rest der uralten Feindschaft und der uralten Schuld…. Als die Söhne des Krieges sahen, daß ihr Vater, der Kaiser, die Heimaterde, die Mutter, nicht schützen könne, schwand die Vorstellung von der riesenhaften Größe des Vaters, von seiner Macht und Stärke. Die Ehrfurcht vor dem Staate stürzte zusammen, eine vaterlose Gesellschaft blieb zurück. Aber im Menschen schlummert auch die Brüdergemeinschaft als zweites soziales Prinzip. Dem im Menschen vorhandenen Gefühle, als Bruder den Mitmenschen zu lieben, hätte der Revolution zum Durchbruch verhelfen sollen. Federn hat von der Brüdergemeinschaft der Menschen eine bessere Meinung als andre, welche mehr die Tatsachen sprechen lassen. Das Vater-Sohn-Motiv hat, psychoanalytisch gesprochen, sicher eine schwere Niederlage erlitten. Aber es ist, wie Federn sagt, durch die Familienerziehung und als ererbtes Gefühl tief in der Menschheit verankert und wird wahrscheinlich auch diesmal verhindern, daß eine restlos vaterlose Gesellschaft sich durchsetze.

In ihrem Bestreben, die Urgeschichte der Menschheit zu erforschen, mußte die Freud-Schule auch an Probleme der Religion herantreten, und auch dort findet sich das Motiv der Väter und Söhne. In einem seiner glänzendsten Werke „Totem und Tabu“ hat Freud diesen Problemen nachgespürt. Von den dort entwickelten Annahmen ausgehend, hat nun Dr. Theodor reif in sehr interessanten Studien über „Probleme der Religionspsychologie“ (Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Leipzig und Wien) bisher unverstandene Einzelheiten des religiösen Lebens auseinandergesetzt, in deren erster sich das Väter- und Söhneprinzip wiederfindet. Von historischen Zeiten bis zur Gegenwart zieht sich bei verschiedenen Völkern der Brauch des Männerkindbettes. Die Wissenschaft nennt ihn Couvade. Der Vater eines neugeborenen Kindes legt sich für kürzere oder längere Zeit zu Bette, hält eine bestimmte Diät ein, er darf nichts arbeiten, nicht jagen, während die Frau, die eben ein Kind zur Welt gebracht hat, arbeitet, als hätte sie sich nichts ereignet. Diodorus Ciculus erwähnt das von den Korsen. Strabo schreibt das von den Iberern, zeitgenössische Schriftsteller berichten das von indischen- und brasilianischen Stämmen, kurz der Brauch war und ist noch verbreitet. Bei den Karaiben müssen sich die Väter nicht nur ins Bett legen, als ob sie Schmerzen hätten, sondern sie haben auch wirklich welche: die Freunde kommen und machen ihm unzählige Stiche und Schnitte in die Haut und reiben die Wunden mit Pfeffer ein. Manche Südseeinsulaner dürfen von einem bestimmten Zeitpunkt an keine Bananen, keine herabfallenden Kokosnüsse essen, weil sonst das zu erwartende Kind geschädigt würde. Man hat viele Theorien über diesen Brauch aufgestellt. Am humorvollsten ist vielleicht die eines Gelehrten, der die Couvade als eine Erfindung der Weiber auffasst: damit sie in ihren schweren tagen vor den Männern Ruhe hätten…, aber die Psychoanalyse legt diesen Brauch anders aus. Sie faßt ihn als Vergeltungsfurcht auf. Es ist klar, daß dieser Brauch einmal einen Sinn gehabt haben muß, wenn er auch heute nur mehr Zeremonie ist. In der einfachen Form kann er ja ein Schutz der Frau gegenüber einem feindseligen Benehmen des Mannes sein. Aber die diätetische Form, die Enthaltung von Arbeit und Jagd, die Verletzungen, die der Mann erdulden muß, sind Sühn- und Bußzeremonien. Man kann hier manches Analoge bei Neurotiker unserer Zeiten und unserer Gegenden finden. Deren Überzärtlichkeiten einem Kinde oder einem Verwandten gegenüber entspringen büßenden Vorstellungen im Unterbewußtsein, zustande gekommen durch feindselige Absichten oder Wünsche, die im Verborgenen wuchern. Der Kampf der Väter gegen ihre Söhne äußert sich ja überall zuweilen in einer übergroßen Abneigung des Mannes gegen Kindersegen. Der Vater sieht sich durch den Sohn verdrängt. Der Sohn ist ja, nun das geworden, was früher der Vater war. In Polynesien geht der Rang des Königs sogleich auf den Neugeborenen über, der Vater ist von nun an ebensowenig wie jeder andere, kein König mehr. Die früher erwähnten Gefühle der Söhne gegen den Vater, der sie alle unterdrückt, lassen die Vorstellungen herankeimen, daß der Sohn einmal die gleichen Gefühle haben und äußern könnte. Eine gedoppelte Vergeltungsfurcht kommt nur so zustande: Furcht vor der Strafe, die vom Vater ausgeht, Furcht vor der Wiedervergeltung durch das eigene Kind. In der Kulturgeschichte der Menschheit wird die Couvade als eine Art Grenze bezeichnet: hier hört der Kampf auf, den Vater und Söhne seit Jahrtausenden führten, und die Liebe zu seinem Kinde erfüllt nunmehr auch den Vater.

In: Neues Wiener Tagblatt, 9.12.1920, S. 2-3.

Bertha Pauli: Jugend von heute.

             „Sechs Pagen und sechs Mädchen, weiß gekleidet, mit rosenroten Leibchen, mit Schleifen und wirklichen Rosen verziert, tanzen herein und gruppieren sich zu beiden Seiten der Tür. Dann hüpft die Jugend herein, weißes Trikot, rosenrote Weste, am Kragen mit Rosen garniert, grünem Frack, dreieckigen Hut mit Rosenschleife. Das Beinkleid mit rosenroten Bändern gebunden.“ So schwebte unserem großen Volksdichter Raimund die Verkörperung der Jugend vor für jene unvergängliche Szene im „Bauer als Millionär“, die Wilhelm Scherer den schönsten Allegorien der Weltliteratur zur Seite gestellt hat. Und jedem Österreicher, der sich ihrer traulich schlichten Symbolik erinnert, summt es im Ohr: „Brüderlein fein, Brüderlein fein…“

             Wie würde ein heimischer Poet unserer Zeit die Jugend verkörpern? Wohl bleibt sie im Grunde dieselbe, so lange Menschen atmen, dieselbe in ihrer Elastizität gegenüber den Schlägen des Schicksals, ihrer Lebenskraft und Empfänglichkeit und dem Reichtum an Hoffnung, der sich vor ihr ausbreitet wie ein Märchenwald und sie trennt von dem fernen düsteren Allbezwinger Tod. Und doch, den Rosenflor, die Atlashöschen und den hüpfenden Dreivierteltakt würde ein Künstler von heute kaum mehr wählen, um die Jugend zu versinnlichen. Die Ausdrucksformen unserer Zeit sind andere geworden. Die Jugend ist ewig wie der Sonnenaufgang; aber ihre Vertreter hienieden schauen nicht mehr mit denselben Augen in die Welt wie die Kinder des Vormärz, und die ältere Generation betrachtet mit stark geänderter Empfindung den Frühling des Daseins. Wir sind vertrauter mit seinen Stürmen. Wir haben – vielleicht genauer als unsere Vorfahren – das Leid der Jugend kennen gelernt. Wir sind uns bewußter der physischen Entbehrungen und des geistigen Mangels, die Tausende nur kümmerlich heranreifender Körper und Seelen bedrücken, wir sehen deutlicher die physischen Kämpfe der Pubertät, der wachsenden Erkenntnis, die sich oft verzweifelt auflehnt gegen die Nüchternheit und Niedrigkeit des alten Jammertales. Und wir erfahren gegenwärtig auch mit Schaudern, wie der jugendliche Idealismus, der einst „den Himmel offen“ sah und in enthusiastischer Hingabe sich entlud, erstickt, pervertiert wird in Rohheit. Zuweilen scheint es, als lösten sich für unsere Jugend „alle Bande frommer Scheu“, die der Zivilisation unentbehrlichen Hemmungen, hervorgerufen durch innere Würde und Menschlichkeit, aber keineswegs die Bande des Vorurteils und aller Art geistiger Beschränktheit. Unerhörte Vorgänge wie die Exzesse an unserer Universität, Schandtaten wie die Mißhandlung einer Studentin durch ihre männlichen Kollegen werfen grelle Schlaglichter auf die Generation, die unsere Zukunft bedeutet. Und leicht erliegt man der Ver-//suchung, sich die Jugend von heute statt mit dem Rosenzweig mit der Waffe des Meuchlers oder mit Gummiknüttel und Schlagring vorzustellen. Das Eklatante, das Sensationelle ist es ja, was urteilsbestimmend wirkt – und so oft Fehlurteile erzeugt. Nie soll vergessen werden, daß den jungen Leuten, die ihre Rowdymethoden als Propaganda für Deutschtum ausgeben (in Wahrheit gibt es keine plausiblere Entschuldigung für das gehässige Vorurteil gegen den ‚boch‘!), eine weit zahlreichere österreichische Jugend gegenübersteht, die Menschenwürde ebenso für sich erstrebt und bewahrt als im anderen achtet. Die Ausschreitungen jugendlicher Vertreter höheren Wissens, die nicht ahnen, daß Bildung – wie einst Geburtsadel – verpflichtet, sind zum Teil zu verstehen durch die andauernde Kriegspsychose, genährt von Frankreichs Gewaltpolitik. Nichts wirkt verderblicher auf Völker und Individuen, als schnöde Gewalt wehrlos ertragen zu müssen. Das überreizte Nationalgefühl entlädt sich am fiktiven „inneren Feind“, weil es ohnmächtig ist gegen den Bedrücker jenseits der Grenzen. Getretenes Ehrgefühl artet bei sittlich wenig widerstandsfähigen Charakter leicht in Rohheit und Grausamkeit aus. Man hat Juden, Protestanten und andere „innere Feinde“ oft fälschlich der Brunnenvergiftung angeklagt. Poincaré vollführt noch Schlimmeres: er vergiftet Seelen.

             Nur mit Vorbehalt, nur mit größter Bereitschaft zu Korrekturen und Richtigstellungen kann der Beobachter ein halbwegs richtiges Bild der Jugend von heute entwerfen. Die Individualitäten der Heranwachsenden scheinen mannigfaltiger geworden als früher, zum mindesten äußern sie markanter ihre Verschiedenheit. Um die gemeinsamen Züge des Nachwuchses mehrerer Völker festzustellen, bedürfte es einer Studienreise. Welche gewaltigen Gegensätze, wie viele Typen und Persönlichkeiten im Werden bekunden sich unter den jugendlichen Bewohnern unseres jetzt relativ so kleinen Vaterlandes! Vom Häuptling einer Kinderdiebsbande zum heroisch sich durchhungernden Jünger der Wissenschaft, vom Luxusbackfisch zur jungen Arbeiterin, die am Abend ihres harten Werktages Volksbildungskurse hört, und zur Offizierstochter, die mit ihren Lektionen die Mutter erhält – ganz abgesehen von der wenig gekannten […] in den Zirkel ihrer vom Lauf der Monde abhängigen Beschäftigung gebannten bäuerlichen Jugend. Wer wagte da rasch und entschieden ein zusammenfassendes Urteil zu fällen?

             Bei aller individuellen Differenzierung, trotz des natürlichen Fortbestehens unabstreitbarer Merkzeichen jugendlichen Wesens zeigt die kommende Generation im allgemeinen ein andres Gehaben als Österreichs Nachwuchs vor einigen Jahrzehnten. Zwei Momente haben bei dieser Wandlung in hohem Maße mitgewirkt: der verschärfte Existenzkampf und der Sport. Das Haustöchterchen in seiner wohlgehüteten Zierblumenlieblichkeit stirbt allmählich aus, und bei den jungen Männern bildet sich frühzeitig ein scharfer Sinn fürs Praktische, der zu resoluter Selbständigkeit, Unternehmungslust, bisweilen auch schließlich zur Abkehr von geschäftlicher Ehrenhaftigkeit führt. „Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles! Ach, wir Armen!“ mußte schon Fausts Gretchen in früher Selbsterkenntnis seufzen. Für Hans und Grete von 1923 ist dieser Ausspruch gewiß nicht minder zeitgemäß, nur der elegische Ausklang entspricht moderner Jugendstimmung schwerlich. Jünglinge und Mädchen müssen heute ins feindliche Leben, beide lernen wetten und wagen, Daß bei der weiblichen Jugend ihre immer noch stärkste Waffe im Kampf ums Dasein, der Reiz ihres Geschlechtes, in vielen Fällen zum Einsatz im mehr oder minder hohen Glücksspiel wird, wen darf es wundernehmen? Die Naive, das unbeschriebene Blatt, dem erst der Gatte Inhalt und Farbe gab; la petite oie blanche, dient nur mehr zur Charakteristik einer vergangenen Epoche. Glücklicherweise ist darum echte Mädchenhaftigkeit, instinktive Scheu vor der Herabwürdigung des Liebeslebens durch Zynismus und Brutalität nicht untergegangen. Wohl aber ist der Brunhildtypus seltener geworden in einer Zeit, die mit dem Recht auf Betätigung auch den Anspruch auf Freude für jeden Menschen anerkennt und zugleich durch die wirtschaftliche Not edle Befriedigung des Genußtriebes furchtbar erschwert. Aber in sieghafter Stärke erhält sich wie in frühern Jahren ökonomischer Wirrsal und moralische Erschlaffung auch gegenwärtig die Mädchenreinheit als Ideal und Distinktion einer Elite aller Klassen.

             Der Begriff der Frauenehre hat eine Wandlung erfahren, aber er dauert fort. Das freie Bündnis einander achtender und liebender Menschen, auch ohne Standesamt oder Priestersegen, ist im Ansehen gestiegen. Gegen unauflösliche Eheketten protestieren alle Vertreter geistigen und sittlichen Fortschritts. Aber die Käuflichkeit der Liebesbezeugungen gilt nach wie vor als Erniedrigung, deckt sich durch Hüllen und Schleier aller Art, und auch die Widerstandslosigkeit junger Mädchen gegenüber den Wallungen weiblichen Instinkts wird trotz mancher Propaganda des Wortes und der Tat nicht zum Vorbild, nicht zur Regel. Und darauf kommt es an.

             Aus wirtschaftlichen Erwägungen, ohne stufenweise Vorbereitung, in der sittenlockernden Nachkriegszeit wurde eine vom Zufall bestimmte Form der Koedukation in unseren Mittelschulen eingeführt für junge Menschen im krisenreichen Übergangsjahr zur Vollreife. Kein sittliches Ärgernis hat sich daraus ergeben. An unserer Akademie der bildenden Künste werden hochbegabte Mädchen als Schülerinnen neben ihre männlichen Kollegen aufgenommen. Trotz der manchem Beurteiler gefährlich aufreizend erscheinenden Atmosphäre der Bildhauer- und Malerwerkstätte arbeiten dort junge angehende Künstlerinnen von einwandfreier Ehrbarkeit im alten engen Sinne dieses Wortes. Es gibt auch heute noch Wiener Frauen, die kein Einsiedlerdasein führen, auch lebhaft und vertraut mit der Jugend verkehren, und dennoch jene Mädchen aus der Chronique scandaleuse, denen eine Einschiffung nach Cythera nicht mehr bedeutet als ein Spaziergang, nur vom Hörensagen kennen. Die stetig wachsende soziale Bildungs- und Fürsorgearbeit, namentlich in unserer Stadt, die günstigeren Wohnungsverhältnisse der früher wirtschaftlich benachteiligten Schichten wirken dahin, daß auch die jungen Töchter der Volkes zu einem Frauendasein heranreifen können, das in der Liebe weder Erwerb noch Rausch, sondern seine Krönung sieht. In der modernen Bühnendichtung, der die Jugend so gern ihr Ohr leiht, kommt // die Poesie des Mädchenstolzes langsam wieder zu Ehren. Und selbst im Lager der radikalen Umwerter aller Wert, der Kommunisten, erhob eine Frau vor nicht ganz drei Jahren ihre Stimme zugunsten des Ideals der Monogamie. Sie lehrt: „Der Wille, die einzige geliebte Person für den andern zu sein, ist in jedem Kulturmenschen vorhanden, wenn überhaupt von Liebe die Rede sein darf. Und wie die Dinge heute und für eine sehr lange Zukunft (vielleicht für immer) liegen, wird eine Einwilligung zur Untreue nie aufrichtig gegeben und längere Zeit nicht ohne häßliche Reibungen ertragen werden können. Am leichtesten und besten wird ein monogames Verhältnis wertvoll gestaltet werden können. Wenn die Menschen, vor allem die jungen Menschen wirklich ernsthaft an die bewußte Gestaltung ihres Lebens herangehen, werden sie von selbst zu der Überzeugung gelangen, daß aus all den Wirrnissen und Niedrigkeiten ihres Trieblebens nur ein Weg wirkliche Erlösung, Reinheit, Schönheit bringen kann – die Liebesgemeinschaft mit einem Menschen, mit dem sich zu verbinden, nicht nur erotisches Glück, sondern auch Steigerung des gesamten übrigen Lebens bedeutet.“ Als Kriterium des monogamen Verhältnisses bezeichnet die Bekennerin dieser Lehren den festen „Willen zur Dauer und Ausschließlichkeit“ des Bündnisses. Es ist nicht allzu schlecht bestellt um das ideelle Rüstzeug gegen einen Rückfall in primitive Erotik, wenn von der alleräußersten Linken solche Mahnungen an die Jugend ergehen.

             Die Beziehung jugendlicher Menschen zueinander reiner, natürlicher, kameradschaftlicher zu gestalten, ist einer der großen Vorzüge jener systematischen, freiwilligen Übungen der Körperkraft und Gewandtheit, die wir Sport nennen. Das Wort (es ist gemischten englisch-französischen Ursprungs) kam erst bei der vorigen Generation in Mode, wie die Betätigung, die es bezeichnet. Während aus den Erinnerungen an das achtzehnte Jahrhundert das Bild sportlichen Vergnügungen nur selten auflebt – wie etwa der Schlittschuhlauf in Weimars klassischen Tagen – haben sie sich in neuester Zeit auf unserem Kontinent in allen Gesellschaftsschichten ausgebreitet, manchmal sogar auf Kosten der Geistesbildung. Im Jahre 1878 wurde der Name „Sport“ in das Wörterbuch der französischen Akademie aufgenommen, ein Erweis für den Zusammenhang von Sprachwissenschaft und Kulturgeschichte. Wenige Neueinführungen haben auf die Mentalität und Lebensweise der Jugend so starken Einfluß geübt wie der Sport. Die zweckmäßige Tracht verscheucht die Prüderie, die kräftige Bewegung weckt Selbstsicherheit und Unabhängigkeitssinn, die mannigfachen Anforderungen an die Geistesgegenwart stählen die Widerstandsfähigkeit. Der freie Wettbewerb mit dem anderen Geschlecht, das Beisammen der Mädchen und Burschen im Freien, oft im Kampfe mit den Unbilden der Jahreszeit, stumpft ab gegen die Regungen der Lüsternheit, ungeachtet der allgegenwärtigen Schlingen Aphrodites, denen völlig zu entgehen, unnatürlich und unmöglich ist. Unter dem Einfluß des Sportes wich die Sentimentalität, die süßliche Galanterie einer früheren Zeit aufrichtigeren, wenn auch oft rüderen Umgangsformen. Vielleicht läßt sich die Meinung vertreten, daß erst der Sport unsere Jugend zu dem gemacht hat, was sie ist.

             Und sie ist nicht kernfaul, nicht schlecht. Die erschreckenden Auswüchse, bedingt durch eine Zeit politischer Gärung ohnegleichen, dürfen nicht hindern, das Gute zu sehen. Der Protest der freigesinnten Studenten gegen die Exzesse verblendeter Gewalttäter war schön und würdevoll. Eine nach Tausenden zählende Schar junger Arbeiter und Arbeiterinnen hat am Jahrestag der Gründung unserer Republik in der Volkshalle der Aufführung einer Szene aus Romain Rollands „Die Zeit wird kommen“ beigewohnt. Wie eine Mahnung klangen die hehren Worte der Einsicht und Eintracht, daß ein anderes Frankreich lebt als Deutschlands Vernichter: das Frankreich des Märtyrers der Geistesfreiheit Jaurès, des kühnen Anklägers Zola und all der Großen, deren Wirken durch den französischen Imperialismus gehöhnt und verleugnet wird. Und diese Worte fanden begeisterten Widerhall bei den jungen Hörern. Es gibt eine Jugend des echten, aufklärenden, roheitsfremden Idealismus, auch im Österreich von heute. Wie würde ein Künstler sie darstellen? Nicht in einer Gestalt, Jüngling und Mädchen nebeneinander, vielleicht im knappen Sportkleid, Hand in Hand, mutig und froh ins Weite schauend, einer besseren Zukunft entgegen – trotz alledem.

In: Neue Freie Presse, 4.1.1924, S. 1-3.

Ernst Lothar: Väter und Töchter. Ein Prozeß.

             Gottlob, um die Vatermörder ist es still und das Wort wieder geworden, was es war: ein Kragenname. Jene militanten Söhne, die noch vor kurzem zahlende Zuschauer zu ihren häuslichen Kalamitäten luden, indem sie diese zu Dramen machten und das Tischtuch zwischen sich und den Vätern zerschnitten, nachdem sie es befleckt hatten, sehen sich nach andern abendfüllenden Komplexen um; ihre Zugkraft hat aufgehört. Hinter der messianischen Attitüde, die man darin fand, daß Maturanten Fünfzigjährige prüften und Komödianten einen Vater lehrten, rauscht längst nicht mehr die Fahne der Befreiung, sondern raschelt nur noch das Papier, auf das man vergleichen drucken ließ. Man hat sich den Schaum vom Munde der Lieblosigkeit gewischt, weil es mit dem Haß allem nicht mehr ging und zeigt sich bereit, mit denselben Lippen, die „crucifige!“ schrien, melodisch abzublasen. Patres peccavimus. Die Antivätermode ist vorbei. Und die mörderischen Stücke, die die Söhne wegen der Verweigerung des Hausschlüssels schrieben, sind vorbei, weil die Schreiber befürchten müßten, auf ihnen ausgepfiffen zu werden. Seit das Überscharfe schartig wurde, wurde der Kampfplatz zum Gemeinplatz. So hat man ihn verlassen. Spät genug wurde zur Selbstverständlichkeit, daß Gegensätze nicht geringer werden, wenn man ihnen mit Messern zu Leibe, statt mit Nachsicht zur Seele geht. Jetzt ist es endlich so weit. Die Söhne drängen die Väter nicht mehr in die schwarze Rolle der Tyrannen, diese die Söhne nicht mehr in den Kerker der Rebellen. Man begann sich zu suchen. So wird man sich finden.

             Man findet sich noch nicht, man kämpft, man leidet noch, wo es nicht nur um den Unterschied der Generationen, sondern überdies um den der Geschlechter geht. Da der Waffenstillstand zwischen Vätern und Söhnen so gut wie geschlossen ist, beginnt und dauert ein anderer Prozeß um so zäher. Man führt ihn verbissen, leidenschaftlich, erbittert. Man führt ihn dogmatisch. Das Problem von heute heißt nicht mehr: Väter und Söhne, sondern, da die Töchter, innerlich und äußerlich, Männerrechte reklamieren: Väter und Töchter. Jener Auseinandersetzung gehört die Vergangenheit: dieser die Zukunft

             Wie in jedem Prozeß hat man auch hier vorerst die Klagelegitimation zu prüfen und die Fakten außer Streit zu stellen. Kläger sind die Väter. Beklagte die Töchter. Streitgegenstand: Entartung der jungen Mädchen. Klagebegehren: Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

             Ehe da? Verfahren beginnt: so viel über den Streitgegenstand gesagt wurde, die Wahrheit hat man nicht gesagt. Man versuche, das Für und Wider probater Schlagworte zu vergessen und sich parteilos, das heißt fachlich vor Augen zu halten, was zu sehen ist. Man sieht zweierlei: Die Vermännlichung des Weiblichen; die Verkennung des Weiblichen. Das junge Mädchen hat sich vermännlicht. Mit einem radikalen Entschluß hat es an sich gerissen, was ihm vorenthalten war: Beruf, Partei, Besitz. Mit einem radikalen Entschluß hat es von sich geworfen, was es dabei aushielt: Gestalt, Erscheinung, Meinung. Das junge Mädchen sieht aus wie ein Jüngling; das junge Mädchen tritt auf wie ein Jüngling; das junge Mädchen denkt wie ein Jüngling. Mithin: das junge Mädchen sieht sehr oft gegen seine Art aus; das junge Mädchen tritt gerne gegen seine Art auf; das junge Mädchen denkt manchmal gegen seine Art. Dies ist das Faktum, und es könnte zur Tatsache, die es ist, nicht geworden sein, folgte es nicht aus dem zweiten Faktum: der Verkennung des Weiblichen. Denn indem das Mädchen mit aller Vehemenz die Vermännlichung anstrebt, leistet es zugleich auf das dominierende Weibliche Verzicht. (Hier ist eine reguläre Falschmeldung richtig zu stellen: Man behauptet zumeist, daß die Vermännlichung nicht auf Kosten des spezifisch Weiblichen erfolgen, nicht zwanghaft jene Entanmutung herbeiführen müsse, deren Zeugen wir geworden sind. Wer das behauptet, verbindet sich die Augen, oder weiß nicht was Anmut ist.) Auf dem Wege ins andere Lager, so viel steht fest, hat das Mädchen gewonnen und verloren. Es gewann den Mut, sich zu ändern, es verlor die Anmut, zu sein. Das ist diesen Verlust leichten Herzens trägt, beweist, daß es verkennt, worauf es verzichtet. Man hat ihm seine Art so lange verschwommen himmelblau gemalt, bis es die scharfen Linien der Abart für die Konturen der Erfüllung hielt.

             Das ist der Tatbestand.

             Er fordere zur Abhilfe heraus, sei zur Katastrophe geworden, sagt im eröffneten Verfahren der zur Klagebegründung verhaltene Anwalt der Väter. Der Klageanwalt sagt: Was sich heute junges Mädchen nennt, ist ein Pasquill. Denn das ist weder Jugend noch Mädchentum; das ist frühaltes Raffinement und desolater Illusionsverlust. Zynisch ist es. Schamlos. Sehen Sie, wie die Beklagten vor Gericht erschienen sind? Sind diese überroten Lippen nicht Beweis? Diese Sprache der kalten, nackten, infamen Worte? Dieses respektlose Lachen? Diese lächerliche Tracht, die die Röcke kindlich kürzt, um die Gesichter greisenhaft zu altern? Beweist es nichts, daß diese Neunzehn- und Zwanzigjährigen, deren eine wie die andre, jede wie aus einem Tanzhaus aussieht, vom tollen Ehrgeiz gepackt sind, alle Farben der Natur geniert auszulöschen und die Schminke aller Unnatur triumphierend aufzutragen? Dieser Zwittergeneration, der auf dem Irrweg zum Männlichen der Rückweg zum Weibe verloren ging, sind die Begriffe verloren gegangen, die den Inbegriff des Weibes bedeuten und erhöhen: Scham, Demut. Scham? Wo finden Sie sie? Auf überroten Lippen, die gewohnt sind, Gespräche zu führen, Scherze zu erzählen, Zweideutigkeiten zu ermuntern, deren Allgemeinheit nur ihrer Gemeinheit gleichkommt? Auf geschminkten Wangen, in berechnenden Blicken, in der ganzen willkürlichen Preisgegebenheit, in der sich das Geben nach dem Preise richtet? In diesem allem Zurschau-, zu allem Bereit-, von allem Berührt-, von nichts Ergriffensein? In dieser schnöden Ausflucht, die den Mantel der Kameradschaft über die Blöße des Zynismus hängt? Scham? Sie finden sie nicht. Denn sie fiele allzu lästig an den geweihten Stätten, wo die Altäre dieser Generation stehen: auf den Fußballplätzen, bei den Niggertänzen: in der Welt, die der Ingenieur gemacht, der Intellekt geheiligt, die Spekulation bezahlt hat. Scham ist ein Defekt geworden, dessen man sich schämen muß. Habe ich Demut gesagt? Wo in aller Welt sind Sie ihr begegnet? „Entgötterung“ heißt das Stück, das das Welttheater täglich vor ausverkauften Saale spielt und das die Menschen so zum Lachen, weil es die Götter und die Gottheit bringt. Siehe da, der Heiligenschein ist ein Rundstreifen Goldpapier, die Größe eine Machination der hohen Stöckel, die Ewigkeit das Manöver einer falsch gestellten Uhr. Herunter mit der Draperie! Werdet unseresgleichen! Werdet klein! Da klatschen die Zuschauer Beifall. Sie sind entzückt von der Komödie, die ihnen beweist, daß es absurd ist, zu verehren. Schiller ein Phänomen? Hört ihr von Bombast seiner Rede, das Oberlehrerpathos seiner Phrase? Wagner grandios? Dieser tückische Intrigant? Bismarck ein Staatsmann? Laßt euch erzählen, was er ans Varzin bei Tische sprach! Und Jesus Christus – Mensch, haben Sie denn nicht gelesen, daß es ihn nicht gab? Unwiderleglich bewiesen, daß jene Stelle bei Josephus Flavius apokryph ist? Verehrliches Publikum! Das Hohe hat nie gelebt; das Große ist klein; das Venerabile ein Schwindel. Hereinspaziert, bei uns sehen sie alles, wie es ist, wir lassen uns nichts vormachen, wir jungen Menschen von heute, wir bewundern nicht, wir respektieren nicht, wir pfeifen auf den Humbug, wir jungen Menschen von heute…. wir stehen nicht mehr Spalier. Denn wir haben zu viel Intellekt! Wir haben zu viel Witz! Und mit Intellekt und Witz wird ein Apostel zur Kabarettfigur. Demut? Sie finden sie nicht. Nicht Scham, nicht Demut. Zynismus statt dieser, Intellekt statt jener. Das ist fürchterlich. Aber derselben jungen Generation, der nichts heilig ist, wird morgen das Heiligste überantwortet sein: diese jungen Mädchen sind die Mütter, sind die Erzieherinnen von morgen. Alles oder nichts der Zukunft hängt von ihnen ab. Deshalb haben wir die Klage erhoben. Deshalb beantragen wir, daß ihr stattgegeben werde…

             Jetzt ist es an den Beklagten, zu antworten. Sie führe ihre und der andern Sache selbst, erwidert eine von ihnen, steht auf, tritt vor und spricht. Blaß unter dem Puder, schmal, straff steht sie da. Entschlossen schaut die aus erregten, großen, wissenden Augen. Kein Blick seitab. Keiner nachgiebig. Ganz wenig zittert ihre Stimme, als sie zu reden beginnt. Dann redet sie sich frei. Sie wolle offen reden, sagt sie. Schonungslos. Man muß, sagt sie, die Wahrheit sagen… endlich! Wir jungen Mädchen sind anders geworden, ja. Deshalb klagt man uns an. Warum aber – warum sind wir anders geworden? Darauf hat sich der Advokat unserer Väter mit keiner Silbe eingelassen. Ich will es sagen: Wir sind anders geworden. Weil es, wie es gewesen ist, nicht länger zu ertragen war. Weil es unmenschlich war! War das, was zu leben man uns ansann, denn Existenz? Wir sind erzogen, sind in Watte gewickelt, sind herangebildet worden, gewiß. Wir haben Englisch gelernt und Kunstgeschichte. Oder Buchhaltung. Oder Kochen. Und wir haben Tennis gespielt. Und man hat uns zu Konzerten geführt. Aber wir sind im Zimmer gewesen. Achtzehn oder zwanzig Jahre im Zimmer. Das Zimmer war weiß und hatte nette, blanke Möbel und nette, lichte Vorhänge und possierliche weiße Teddybären gehabt. Gewiß. Wenn aber draußen wer vorbeigegangen ist, hat man „Pst!“ gemacht. Wenn draußen wer geredet hat, hat man „Pst!“ gemacht. Wenn etwas gestehen ist, irgendetwas außerhalb des Zimmers mit den netten, blanken Möbeln, hat man „Pst!“ gemacht… achtzehn oder zwanzig Jahre. Und diese achtzehn oder zwanzig Haftjahre mußten doch einem Zweck gedient haben? Diese Vorsicht und Kerkermeisterschaft mußte doch an ein Resultat gewendet worden sein? Sie hat auch einem Resultat gedient: der Heirat. Eines Tages zeigte man uns wen und verlangte: Den wirst du heiraten. Ob er einem mißfiel oder nicht, ob er einem innerst entgegen war oder nicht: Den wirst du heiraten. Und dann lehnte man sich auf. Und dann wurde man der Auflehnung müde. Und dann wollte man aus dem Zimmer mit den netten, blanken Möbeln, so oder so! Und so wurde man verkuppelt. So wurde man Frau. So wurde man jämmerlich hintergangen. Vorher: Nichts. Nachher: Qual. Alles Lüge, was man einem vorgeredet hatte. Lüge der Elternliebe, die einen schließlich feilbot. Lüge das Versprechen von den „glücklichen Ehen“, das einen gefügig machen sollte. Glückliche Ehen? Und wo gab es sie? War das glücklich, was man vor Augen hatte? Sind die Ehen unserer Eltern glücklich? Verrat sind diese Ehen, Mißbrauch, Demütigung, Enttäuschung, Maske und Verzicht. Und dafür wurde man herangezogen. Für nichts sonst. Für einen Bankrott.

             Aber… dann wurde es draußen zu laut, als daß man immer noch „Pst!“ hätte machen können. Dann kam der Krieg, und man konnte uns brauchen. Wir, die Menschenalter hindurch zu nichts zu gewesen waren, wurden plötzlich Gehilfen. Wir traten nahe hin. So sahen wir. Wir sahen leben. Wir sahen sterben. Wir sahen, wie ungeheuer viel zu tun war und wie ungeheuer schlecht man es tat. Da fühlten wir, wie stark wir waren! Wie viel Kraft man in uns zurückgedämmt, an wieviel Leistung man uns verhindert, wieviel Versäumnis man unverantwortlich an uns verschuldet hatte. Es gibt keine Privilegien des Geschlechts. Nur der Kraft. Wir hatten die Kraft. Mit einem Schlage, herrlich begierig, herrlich entschlossen, traten wir hervor und zeigten die Kraft. Wir halfen. Wir bewiesen, daß man uns unterschätzt hatte. Wir leisteten. Wir vegetierten nicht mehr. Wir sind anders geworden.

             Wir sind anders geworden. Rosenrot und Himmelblau sind unsre Farben nicht mehr. Selbstverständlich. Wir haben zuviel Schwarz gesehen. Und die Augen niederzuschlagen, haben wir verlernt. Selbstverständlich. Wir mußten sie ja zu lange offen halten. Und Respekt zu haben, fällt uns schwer. Selbstverständlich. Zu viel Kleinheit, zu viel Niedertracht ist an uns herangekommen. Respekt vor den Männern, die uns brotneidig wegdrängten und denen wir, was uns gebührte, wie eine Gnade Schritt um Schritt abringen mußten? Respekt vor den Männern, die uns hinter einem weißen Gitter einsperrten, damit wir ihnen zu Willen, nicht zur Konkurrenz seien?

             Wir sind, wie wir werden mußten. Wir haben uns kraß vermännlicht, weil man uns kraß verweiblicht hat. Wir tragen die Schminke der Zeit, weil wir sonst unterlägen und weil man uns so will! Wir sind keine Gänschen mehr, weil die Epoche nicht reicht genug ist, mehr Gänschen und weniger Gehilfen zu besitzen! Wir sind, wie wir sind.

             So können wir nicht Rücksicht nehmen. Auf niemanden und auf nichts. Nicht auf Scham, die durch und durch steril ist, nicht auf Demut, die immer zurück zeigt. Wo auf der einen Waagschale die Existenz, auf der andern die Konvenienz liegt, darf keiner etwas anderes wollen, als: sich. Unbeirrt. Ungezwungen. Jeder ist Mensch. So will er selbst sein. So will er sich entwirken. So will er nicht verzichten müssen. Keiner will sich opfern… wer lehrt denn noch solch eine lächerliche Lüge! Und wer einem die Fußbank des Gottgefallens, der Moral, des Ideals – dieses alte, wurmstichige, von jedem Betrug abgescheuerte Requisit unterschiebt, lügt nicht nur, sondern lähmt! Lähmen lassen wir uns nicht mehr. Wir wollen unsern Anteil. Den Anteil Leistung, den Anteil Lust. Die Rechnung stimmt, es bleibt kein Rest. Deshalb beantragen, nein, deshalb verlangen wir, daß die Klage abgewiesen werde…!

             Das sind die Standpunkte.

Was an diesen Standpunkten ist wahr? Es ist wahr, daß der Existenzkampf, den die junge Mädchengeneration führt, notwendig, unaufhaltsam und gerecht ist. Es ist wahr, daß eine Zeit, die sich behauptetermaßen der Menschenrechte an- und den Mund von sozialen Pflichten vollnimmt, an der primitivsten Gemeinschaftspflicht: der absoluten, unverkürzten Gleichstellung der Geschlechter nichts mehr zu belächeln finden darf. Den Artikel 7 unserer Verfassung müßten alle Männer solange memorieren, bis sie begriffen haben, daß er nicht Juristen-, sondern Menschengesetz ist: Die Frau hat dieselben Rechte wie der Mann. Kein Spott, kein noch so witziges Argument, keine Ironie, keine Infamie kommt dem bei. Da die Frau, die gereifte wie die junge, sich bewiesen hat: exemplarisch bewiesen; bewiesen als Entbehrerin; bewiesen als Lehrerin; bewiesen als Leisterin, ist ein Gegenbeweis nicht mehr anzutreten, weil es keinen gibt. Wo immer die Frau ihren Platz gesucht hat, sie hat ihn behauptet: Wenn also nicht ihr Menschenrecht, so spricht die Leistung für sie. Die Leistung spricht sie frei. Es ist unwidersprechlich wahr, daß die jungen Frauen um ein Erbe kämpfen das ihnen längst hätten eingeantwortet sein müssen.

Und es ist unwidersprechlich wahr, daß sie diesen Erbprozeß schlecht führen; es ist unwidersprechlich wahr, daß sie vielfach die Scham, daß sie vielfach die Demut verloren oder vernachlässigt haben. Aber wenn Gleichberechtigung das Sittengesetz des Geschlechts der Menschen, so ist Scham und Demut das Sittengesetz des Geschlechts der Frau: Scham ist die Fruchtbarkeit des Erkennens, Demut die Fruchtbarkeit des Gefühls. Was an Widerstand, an pharisäischem wie ein überzeugtem, sich der jungen weiblichen Generation noch entgegenwirft, rührt ausschließlich aus ihrer Verleugnung. Hiemit drapiert sich die Konkurrenzpanik der in der Leistung Minderwertigen, dies legitimiert die Vätergeneration, ab-, statt freizusprechen. Die jungen Frauen kämpfen um sich selbst. Doch indem sie sich finden, verlieren sie sich. Indem sie dem Berufe zueilen, verlassen sie ihre Berufenheit. So kehrt man ihre Waffen gegen sie. Warum haben sie sie vergiftet? Warum verführen sie die Welt zu der abgrundfalschen Meinung, daß sie einem nichts gebe, ehe man sich preisgab? Warum? Aus demselben Grunde, der die Wortführerin der jungen Generation behaupten ließ, ihre Rechnung stimme ohne Rest.

Die Rechnung stimmt. Bleibt wirklich kein Rest? Er bleibt, bleibt schmerzhaft. Hat man nicht gehört, wie präzis und streng die Klage war? Wie exakt und streng die Antwort? Streng. Streng. Die Welt hat die Wärme verlernt. Staatsanwälte alle, Anwälte der Entherzung. Alle klagen an. So bleibt ein Rest. Ein ungeheurer Erdenrest Sehnsucht, ein ungestillter, innerster, stürmischer Wunsch nach Versöhnung. Väter und Töchter. Klingt da nicht eine Saite? Schwingt sie nicht mit einem vollen, klaren, bluttiefen Ton? Väter! Fordert nicht Privilegien, gebt und fordert Herzrecht! Töchter! Laßt euer Wissen Ahnung werden! Ahnung der ungeheuren Sehnsucht einer beschmutzten, frierenden Welt nach Wärme, nach Reinheit. Ahnung, daß ihr zu wenig Liebe habt, um genug Scham und Demut zu haben. Und daß ihr geschaffen seid, aus Scham, Liebe und Demut die Zukunft zu gebären, in der ihr sein sollt, was ihr wollt: Berechtigte, und was ihr müßt: Mütter. Dann wird der Prozeß, den man gegen euch führt, keine Rechts-, sondern ein Entwicklungsprozeß, mithin für euch unverlierbar sein.

Das ist das Urteil.

In: Neue Freie Presse, 17.10.1926, S. 1-4.