Max Eisler: Mußte die »Kunstschau« aufgelöst werden? Das Ende einer bedeutenden Kunstvereinigung.

Wien hat in diesen Tagen eine seiner ansehnlichsten Künstlervereinigungen verloren. Auf eine merkwürdig diskrete Weise. So diskret, daß über diesen immerhin bemerkenswerten Vorfall unserer nicht gerade üppig bestellten Kunstchronik kein Sterbenswörtchen in die Öffentlichkeit gedrungen wäre, wenn nicht… Aber darüber später.

Verzeichnen wir zunächst den nunmehr historisch gewordenen Tatbestand. Die „Kunstschau“ war seinerzeit durch eine Sezession aus eben jener „Secession“ entstanden, bei der sie jetzt, nach mehr als zwanzig Jahren, wieder gelandet ist. Unter der Führung Josef Hoffmanns und Gustav Klimts hatte sich eine kleine Gruppe unzufriedener Künstler von dem Haupttrupp getrennt, und zu dieser „Klimt-Gruppe“ war später der „Sonderbund“-, die Vereinigung der Jüngsten, gestoßen. Mit diesen beiden Ereignissen – man könnte sagen: mit diesen beiden Anfängen – sind auch schon die besten Zeiten der „Kunstschau“ genannt. Die „Klimt-Gruppe“ hatte ihre Ausstellungen in einem schönen Pavillon von Hoffmann auf dem Platz des Eislaufvereines begonnen, hatte für Van Gogh endlich auch bei uns eine Gasse geöffnet und hatte Kokoschka auf den Schild gehoben. Mit dem „Sonderbund“ kamen dann neue, ungewöhnliche Talente wie Faistauer und Kolig, Böckl und Wiegele hinzu. Auch der Zusammenhang mit den Avantgarden des Auslandes wurde zwar nicht gerade planmäßig gepflegt, aber gelegentlich doch mit starker Wirkung aufgenommen. Und unvergessen ist eine Darbietung aller Werke Hanaks in der Vorhalle einer Ausstellung im Österreichischen Museum.

Freilich, das alles ist schon eine gute Zeit vorüber. Die Veranstaltungen der letzten Jahre haben die lebendige Kraft der früheren nicht mehr gehabt. Das lag natürlich auch an dem allgemeinen Lauf der Dinge. Die Situation unserer Kunst ist – die Architektur immer ausgenommen – verworren, und es fehlt an einem kraftvoll-verwegenen Nachwuchs. Aber im übrigen ist der Niedergang auch dieses Künstlerbundes nur ein Beispiel mehr für einen gesetzmäßig wiederkehrenden Prozeß. Genau genommen haben Kunstvereine ein zeitlich nur sehr beschränktes Lebensrecht. Nachdem sie einmal gegründet sind, sollten sie tunlichst bald wieder aufgelöst werden. Denn die Bewegung, welche die jungen Frondeure zusammentrieb, hält ja in ihrer ursprünglichen Kraft und Gemeinsamkeit niemals lange an und, in den Rahmen eines Vereinstatutes gebracht, weicht der rein künstlerische Impuls nur zu bald einer neuen, unerfreulichen Konvention. Auch die „Kunstschau“ war diesem Gesetz verfallen. Daß sie ihm – ohne Überanstrengung – so lange widerstehen konnte, sprach für ihre besondere Frische. Aber zuletzt war ihre Auflösung doch schon eine innere Notwendigkeit geworden. Es könnten demnach alle Teile mit diesem Ausgang der Dinge zufrieden sein. Wenn nicht…

Ja, hier sitzt der Haken. Die Sache hat nämlich noch eine andere Seite. Jeder Kunstverein bedeutet auch eine Kameradschaft. Sie beruht auf einer gemeinsamen Anschauung der Kunst, auf einer gemeinsamen edlen Leidenschaft, auf einem gemeinsamen Bekenntnis. Ist also besonders sauber und gut fundiert. Und hat demgemäß immer wieder wunderbare Früchte getragen. Man denke nur etwa an die Impressionisten in Frankreich von Pissaro bis Cézanne und Van Gogh. Wie rein und stark war da – unberührt von den politischen – bis zum Fanatismus entfesselten Strömungen des Tages – die Freundschaft geblieben, wie weit war sie in ihrer Treue, wie weit in ihren Opfern gegangen und wie reich war der Gewinn für die Kunst gewesen! Und dabei waren diese Franzosen nicht einmal Mitglieder eines richtigen Künstlervereines, sondern nur im Geiste, nur im Ziele verbunden.

Bei uns aber… Ein Kunstverein hat mehr als zwanzig Jahre bestanden. Hat also ausgedient. Und wird aufgelöst. Alles wahrscheinlich unter peinlicher Beobachtung der statutenmäßig festgelegten Formalitäten. Die Mitglieder bekommen den Bescheid ins Haus: „Der Vorstand… zu seinem größten Bedauern… die Verhältnisse… usw.“. Schluß. Ganz wie bei einem Verschönerungsverein. Schon ein Veteranenverein hätte eine derartige Erledigung nicht ruhig hingenommen. Und mit gutem Recht. Denn auch bei dem bravsten Veteranenverein wäre die Frage aufgekommen: „Was ist mit der Kameradschaft?“

Die „Kunstschau“ hat sich über diese Kernfrage, die uns heute allein interessiert, einfach hinweggesetzt. Jedenfalls aber hat sie sich ihre Sache in diesem entscheidenden Punkte sehr leicht gemacht. Sie sagte sich, es ist heute besser, wir schließen uns einer der beiden großen Kunstvereinigungen an, ging zur „Secession“, präsentierte dieser ihre Mitgliederliste, die „Secession“ wählte von rund 50 rund 30 für sich, und alles war in bester Ordnung. Daß bei dieser Auswahl einige Künstler der „Kunstschau“ von hervorragender Bedeutung übergangen blieben, daß die Auswahl also nicht rein nach künstlerischen Gesichtspunkten vorgenommen worden war und daß auch die übrigen durch Jahre Kameraden gewesen sind, die man – gerade heute – um keinen Preis verlassen durfte, fiel bei den Entschließungen scheinbar nicht weiter ins Gewicht.

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Jedenfalls: nachdem einmal die organisatorisch begreifliche Auflösung vorgenommen war, blieb nach unserer Ansicht nur ein Weg gut gangbar: Fusion für alle oder für keinen. Der einzelne hätte dann ruhig den neuen Anschluß vollziehen können – freilich erst, mit Rücksicht auf die anderen, nach einer ziemlichen Wartezeit. Auf solche Weise wäre der Effekt der gleiche geblieben, aber der Gedanke der Solidarität hätte keinen Schaden genommen.

Unter den wenigen, welche die „Secession“ gewählt hatte, befand sich auch Oskar Strnad. Es war – das muß gegenüber einer anders lautenden Nachricht betont werden – sofort eingeladen worden. Und hat, mit Dank für die Freundlichkeit, abgelehnt. Man wird ihn verstehen, er konnte gar nicht anders. Denn er war ein Kamerad.

In: Der Morgen, 26.9. 1932, S. 9.

Hans Flesch-Brunningen: Schmelz der Jugend

Arme, verirrte Jugend, deren Füße in den schweren Reiterstiefeln vergangener Konventionen stecken, deren Hände den staubigen Pallasch der Tradition führen, deren Augen nicht mehr die blauende Kraft des Himmelsgewölbes sehen können; arme, verirrte Jugend, dir weihe ich mein Lied! Du bist nicht mehr der Kern der Welt, die köstliche Nuß in der unscheinbaren Schale, du Stoßtruppe der Schönheit und des Geistes. Du bist verloren gegangen, dein Blut ist in Galizien und Tirol, in Flandern und am Piave umsonst vergossen worden, du bist versprengt, der Rest ist Trübsal und Verwirrung. Was weißt du von dir selbst? Dein Blick ist verhängt, auf deinem Herzen liegt Asche. Du gröhlst bei Boxmatschs, du randalierst auf der Universitätsrampe, du belferst durch den Börsensaal. Aber ich kenne dich. Du wirst aus deiner Verwirrung zurückfinden, heimfinden in die Gefilde deiner unbeschwerten Fröhlichkeit, denn dein Schmelz ist ewig. Arme, verirrte Jugend, ich liebe dich.

Ich liebe dich, weil du der Aufgang bist. „Ex oriente lux“, sprach der Herr der Heerscharen und der jugendliche Jesus saß im Tempel und lehrte und bezauberte die alten Schriftgelehrten. Das klare Auge des Knaben wußte schon damals um alle Welt und alle ihre Leiden. Das Dasein hat sich nur im Aufgang und im Niedergang zu bejahen, das wußte er; der Rest, das Mittelstück, ist Bosheit. Der Tod und die Jugend waren Erlösung, Golgatha und Bethlehem. Die Ankunft und der Abschied bestimmen den Sinn der Reise, zwischen beiden besichtigen wir Museen, treffen Menschen, grüßen und küssen und schleichen schläfrig durch die Gassen. Wenn aber die Züge in die Halle rollen, dann freuen wir uns. Denn das Neue siegt. Und so müßten wir sein, um den Schaum des Lebens abzuschöpfen: stets neu, stets neu-gierig, novarum rerum cupidi, Revolutionäre aus Prinzip.

Und da erinnere ich mich des italienischen Kommunistenliedes. Es beginnt mit den Worten: „La bandiera rossa trionferà“ In diesem letzten Wort „trionferà“ liegt aller Jubel und alle Sieghaftigkeit einer Jugend, die vielleicht längst untergegangen ist. Nur Italien, dieses unserer Sehnsucht Kind, ist noch jung. Unter seinem Himmel gedeiht noch die große gedankenlose Sorglosigkeit, die Hingabe, die Begeisterung um jeden Preis, der Jubel zur bandiera rossa und zu Mussolini, der charakterlose, wunderbare Jubel. Unter seinem Himmel, mitten im göttlichen Florenz, steht auch noch jenes Abbild körperlicher Jugend, das mir immer als die vollendete Gestaltung aller ihrer Kräfte erschienen ist: der Perseus von Benvenuto Cellini in der Loggia dei Lanzi. Wie spielerisch sitzt der Fuß auf dem Haupte, wie kokett wird der Medusenkopf dem Publikum präsentiert, wie kühn und krumm liegt das Schwert in seiner Hand! Und wie herrlich geschwungen dieser Leib, wie eine junge Gerte, nicht Frau und nicht Mann, Vollkommenheit, weil sie Jugend ist und nichts sonst.

Ihr alten Weiblein, ihr würdigen Bärte der alten Herren, die ihr da vorübergeht, wollt ihr nicht freiwillig zurücktreten vor diesem Standbild? Ihr habt wahrlich schon Schaden genug angerichtet mit eurem Beispiel und eurem Gerede! Aus den Blumen auf dem Felde wolltet ihr den Strauß Staat binden, aus diesen Bergbächen das Reservoir der Gesellschaft. Es ist euch fast geglückt. Eure Unehrlichkeit hat euch geholfen, ihr habt den Jungen einen blauen Dunst vorgemacht, ihr habt ihnen ihr eigenes Pathos in die Ohren geblasen und sie damit berauscht. Verlogen! Sokrates führte die Erziehung des göttlichen Jünglings Alkibiades, aber er hatte ihn wenigstens nur für seine eigensten Spiele mißbraucht, für Weisheit und Erkenntnistheorie, für Dialog und Symposion, er hat ihn keineswegs an dem Knochengerippe fremder Ideologien erkalten lassen: dieser große Jugendverführer zog den Jüngling an sein Herz und entfachte seine alte Glut an der des Jungen. Und Alkibiades ging hin, unversehrt, und stürzte alle Hermessäulen in Athen von ihren Postamenten, denn keine Idee hatte seine sorglose Seele lähmen und vergiften können, und er starb lachend in einem brennenden Haus, das Alter ließ er gar nicht zu sich herein.

Welche Bewegung nur in diesen jungen Menschen von dazumal. Sie haben noch alle den Trieb, den kreiselnden, kreisenden Trieb unseres Planeten in sich den Blutumlauf, den rapiden Pulsschlag der Mutter Erde, das saust und braust noch in ihnen weiter, wie das siedende Wasser im Kochtopf, wenn man ihn schon längst von der Flamme entfernt hat. Das überzieht noch ihre Augen mit jenem feuchten saftigen Glanz, den die jungen Blätter an sich haben, wenn sie sich über Nacht entfalteten. Du glaubst, daß dieser Blick süß schmecken müßte, wenn du es wagtest, ihn mit deiner Zunge zu verkosten. Aber du wagst es nicht. Denn die Rührung in deinem Herzen ist zu groß. Gedenke ihrer doch, wie du die vielen Kinderbilder deiner Freunde und Feinde sahst, die Bilder im kurzen Rock, die Bilder mit den offenen Haaren, mit den Matrosenkleidern und runden Kinderfingern, die Bilder der Börsendisponenten und Primadonnen und Gattinnen von Rechtsanwälten, die sie heute sind! Sie haben dich mehr bezaubert, da sie durch deine Träume zogen, heraustretend aus dem Oval dieser lächerlichen, vergilbten Photographien.

Das sollte alles nicht mehr sein? Unwiederbringlich verloren? Erstarrt in Doktrinen, falsch abgelenkt in die scheußlichen Kanäle der reglementierten Begeisterung, verwandelt in die Muskelhypertrophie Fischeras und Carpentiers? O arme, verirrte Jugend, wo ist deine Leidenschaft, wo ist der Schwung der Fußgelenke, das Sprühen deiner Augen? Fort, für immer fort?

Sie müssen noch leben! Denn wie lange ist es denn her, da schwang noch ein junges Genie mit brausender Pose die Fahne eines Regimentes über die Brücke von Lodi, tausend Kugeln unnötig ausgesetzt, heroisch aus reiner Lust, wie lange ist es denn her, da galoppierte noch Gott-Goethe ohne Mantel und ohne Hut durch Gewitterschauer zu seiner Geliebten, um einen Kuß seine Karriere in den Olymp opfernd, wie lange ist es denn schließlich her, da mutige Jünglinge in der Stickhauchluft der Münchner Katakombenkeller ausriefen, sinnlos, aber pathetisch: „Wir haben vier Jahre für den Krieg gehungert, wir sollen keinen Monat hungern für die Freiheit?“ Wie lange ist es her, daß wir diese Freiheit empfanden, diese leichte Sorglosigkeit, diesen Geigenton? Wie lange ist es denn her, da schwebten noch unbeschwert die Schwestern Wiesenthal, Wiens unsterbliche Seele, durch den Raum des Apollo-Theaters zum Donauwellenwalzer, und wir wußten, daß wir gefeit waren gegen die Flottendemonstrationen von Agadir und gegen den Tango der Seelen? Hat alles abgewirtschaftet? Hat bloß ein Weltkrieg und eine Börsenbewegung endgültig der ewigen Jugend die Flügel gestutzt?

Nein!! Ich raste am Waldesrand, der sonst so scheußliche Frühling dieses Jahres hat sich für Stunden erweichen lassen, die Sonne liegt mir auf dem Gesicht. Ich denke an das Mädchen meiner Liebe. Ich sehe mit geschlossenen Augen den schwarzen Blick dieses Mädchens, wenn er in Unmut und Zorn und Leidenschaft finster aufleuchtet, ich höre den heißen und harten Ton ihrer kleinen Stimme in meinem Ohr, ich sehe sie durch das Zimmer fliegen wie ein Falke, wenn sie sich an meinen Hals wirft, ich spüre ihren Atem, der von Unschuld und Hingabe glüht.

Da weiß ich auch, daß wir noch nicht verloren sind. Denn das ganze Land unter mir blüht und wächst wie ein Garten und in ihm die Kinder der Lust wie die Rosen und Zentifolien, sie tragen den Schmelz ihrer Jugend auf ihren Blütenkelchen, diese köstlichen Jungfrauen, dieses überschwengliche Geschenk an unsere Welt des Rationalismus. Fangt sie ein in Lyzeen, Tanzschulen und heiligem Ehestand, in Bordelle, Bureaus und bei kalten Tanten, ihr werdet sie nicht bezwingen. Sie sind die letzten Gesellschaftsträger und approbierten Gesandten des heiligen Gefühls am Sitze unserer Wissenschaft. Betet sie an, sie sind die letzte Jugend!

Und ich schreibe ihren Namen in den Himmel.

In: Der Tag, 9.5.1924, S. 4.

Raoul Auernheimer: Börsenjugend

Zwei bescheidene Erinnerungen mögen dieser bescheidenen Zeitbetrachtung vorangehen.

Die eine liegt ungefähr fünfzehn Jahre zurück und rankt sich um einen allerdings nicht sehr hoch gewachsenen deutschen Dichter der damaligen Zeit, der zur Aufführung eines seiner Reimlustspiele am Burgtheater nach Wien gekommen war und dem in einer gewählten Gesellschaft zu begegnen ich das Glück hatte. Jener deutsche Dichter war zu jener Zeit kein jungen Mann mehr, er stand vielmehr bereits in den gewissen reiferen Jahren, die man in Nekrologen gern mit einiger Übertreibung als „Vollkraft des Schaffens“ bezeichnet. Sein Schaffen war nicht unbelohnt geblieben, und da nichts umsonst ist, am wenigsten der Gelderwerb, so ist es begreiflich, daß der gefeierte Autor in den Kreisen der damaligen literarischen Jugend mehr für einen Geschäftsmann als für einen im Blauen schwärmenden Poeten galt. Immerhin war ich enttäuscht, als ich sein erstes Wort vernahm, das im Rauchzimmer noch vor dem Nachtmahl fiel. Er stand schweigend abseits, an den Türpfosten gelehnt, und schien, die Augen nach aufwärts gewandt, wie es sich für einen deutschen Dichter gehört, an dem Gespräch keinen Anteil zu nehmen, das mehrere Herren, unter dem Kronleuchter dicht beisammen stehen, über die neue Russenanleihe – ein fernes Wort! – fachkundig führten. Der Dichter gab sich den Anschein, gar nicht zuzuhören, mußte aber doch auf dem Laufenden sein, denn plötzlich trat er unter die Kritiker jener Anleihe und sagte, das ganze Gewicht eines hochangesehenen Namens in die Wagschale werfend: „Und Sie mögen sagen, was Sie wollen, meine Herren: Es ist doch’n Geschäft!“ Die letzten, in unverkennbarem Berliner Tonfall gesprochenen Worte blieben mir in Erinnerung, verschmolzen mit der Persönlichkeit ihres Urhebers, und wann immer ich in der Folge Verse von ihm irgendwo hörte oder las, immer mischte sich in das poetische Reimgeklingel des achtbaren Mannes jener zuerst gehörten Worte fatales Nebengeräusch: “Es ist doch’n Geschäft!“

             Die zweite Erinnerung liegt ungefähr vier Jahre zurück und hat mit Literatur noch viel weniger zu tun. Sie betrifft einen damals halbwüchsigen Gymnasiasten, der, inmitten einer größeren Gesellschaft, in der gleichfalls eifrig finanzielle Fragen erörtert wurden, plötzlich aus sich heraustrat und sein Vertrauen zu einem in Rede stehenden Börsenpapier in einer Weise kundgab, die auf eine längere Erfahrung und gründliche Beschäftigung mit diesem Gegenstande schließen ließ. „Meiner Ansicht nach,“ sagte der Sechszehnjährige mit der ruhigen Bestimmtheit eines Bankdirektors, „haben Reisschäl-Aktien noch immer eine Zukunft. Ich halte das Papier.“

             Die beiden Erinnerungen haben das Gemeinsame, daß sie sich seither verallgemeinert haben. Weder aus Dichtermund noch aus dem Munde unserer aufblühenden Jugend haben Börsenkurse heut noch etwas Überraschendes, am wenigsten aus diesem. Allenfalls wird man es erstaunlich finden, das erste erwachen derartiger Regungen einer finanziellen Pubertät an das verhältnismäßig vorgerückte Alter von sechzehn Jahren gebunden zu sehen. Die heutige Börsenjugend fängt im allgemeinen schon bedeutend früher an; nicht nur, daß ihre frühe geschäftliche Weisheit das Erscheinen der Weisheitszähne nicht abwartet, sie verträgt sich unter Umständen auch recht gut mit dem noch weit kindlicheren Stadium der Milchzähne. Man erzählt mir von einem dreijährigen Zeitkind, dem sein Vater oder Taufpate bei der Geburt ein paar Lire in die Wiege gelegt hat. Der Kurs der Lire hat sich in diesen drei Jahren nicht unerheblich verändert, wie sogar die Erwachsenen bemerkt haben, und so ist es begreiflich, daß der aufgeweckte Sprößling sich bei erwachendem Bewußtsein seines zunehmenden Reichtums bewußt wurde. In jüngster Zeit soll sich dieses Valutakind bereits aus eigenem Antrieb nach dem täglichen Stand der Lire bei Besuchern des Kinderzimmers erkundigt und am Ende auf Grund reiflicher Erwägung, vielleicht mit Rücksicht auf den italienischen Kredit, zum Verkauf seiner kostbaren Lire entschlossen haben. Man kann den kleinen Dreikäsehoch zu dieser hochherzigen Handlungsweise nur beglückwünschen, selbst wenn sie mehr geschäftlichen Erwägungen – etwa einer möglichen Valutaanforderung durch den bösen, bösen Finanzminister? – entsprungen sein sollte. Wenn sie bei den Erwachsenen Nachahmung fände, so wären wir wahrscheinlich fein heraus. Aber die Erwachsenen denken nicht daran. Sie behalten ihre Valuten und spekulieren weiter gegen den Staat, das heißt, auf sein Zugrundegehen. Das gilt ja heut in eingeweihten Kreisen als die sicherste Kapitalanlage. …

             Denn es ist keine Frage, daß das Spiel der Kinder – wenn ich sage Spiel, meine ich natürlich Börsenspiel – in dem Spiel der Erwachsenen seinen, wenn auch nicht gerade moralischen Hintergrund hat. Es ist wie in der „Familie Benoiton“, einem alten Burgtheaterlustspiel, das, wenn man es wieder aufführte, überraschend jung und zeitgemäß wirken dürfte. Dort tritt ein Freier auf, der in eine der Töchter des Börseanerhauses verliebt ist. Er begegnet zunächst ihrem Brüderchen, dem fünfzehnjährigen Fanfan, und er benützt die sich ihm bietende Gelegenheit, um sich über die Sitten der Familie ein wenig zu unterrichten. Wenn dann fünf Minuten später Papa Benoiton nach Hause kommt, weiß der neugierige Freier bereits genug, und wenn Fräulein Benoiton gleich darauf selbst erscheint, so viel, daß er beherzt die Flucht ergreift. Der kleine Fanfan macht Geschäfte, versteht sich, Börsengeschäfte. Er spekuliert in Briefmarken, und zwar à la hausse – „immer à la hausse!“ ruft der Erzeuger dem „auf die Börse“ eilenden Sprößling mahnen nach – und er hat sich in diesem Zusammenhang einen ganz hübschen, räuberischen, kleinen Plan zurechtgelegt, um die „anderen kleinen Börseaner“ hineinzulegen. Der Fischzug, den Fanfan mit einem Konsortium seiner Altersgenossen plant, hat zur Voraussetzung die väterliche Information, daß im Amerikanischen Freiheitskriege – die Zeit der Handlung – die Südstaaten voraussichtlich unterliegen würden. Fanfan macht sich diesen Wink zunutze und kauft heimlich im Verein mit seinem Konsortium alle südamerikanischen Markenzeichen auf, deren es in Bälde keine mehr geben wird und die infolgedessen einer ungeheuren Wertsteigerung entgegengehen. Auf diese einfache Weise hofft Fanfan, reich zu werden, und reich zu sein, ist der einzige Traum dieser jungen Knabenseele, wie seiner heutigen Nachfahren. Er „liebt die reichen Leute“, weil sie, wie er dem Besucher naiv gesteht, „so schöne Wagen, so schöne Wohnungen und Kleider haben“. Sein Ideal ist die väterliche Kasse, eine schwere „eiserne Kasse mit einem Geheimschloß“, und seine größte Kränkung, daß seine Kasse aus Holz ist und nur ein ganz gewöhnliches Schloß hat. … Wenn man an Stelle der unschuldigen Briefmarken in dieser hübschen Szene den Namen irgendeines unserer Spielpapiere setzt und Fanfan um zwei Jahre jünger macht, so hat man ein ziemlich ähnliches Bild unserer heutigen Börsenjugend, ähnlich genug, um darüber zu lachen und vielleicht sogar, um darüber zu weinen. Übrigens ist die erste der beiden dramaturgischen Verbesserungen vielleicht gar nicht einmal unbedingt notwendig. „Man kann mit allem wuchern, auch mit Menschenleben“, sagt Hebbels Herodes. Man kann, wie unsere Philatelisten aus Erfahrung wissen, auch an Briefmarken ein schönes Stück Geld verdienen.

             Im Verlauf der Szene, die uns die Seele des Bürschchens Fanfan entschleiert, entdeckt uns auch der wackere Papa Benoiton die seine, und auch diese Stelle liest sich heute sehr anzüglich. Papa Benoiton seinerseits hat in seiner Jugend keineswegs mit Wertpapierchen gespielt, sondern mit Bleisoldaten und kleinen Kanonen. Aber die schlechten Erfahrungen, die man mit der militärischen Gloire gemacht hat, haben ihm die Grundsätze einer ganz anders gerichteten Erziehung eingegeben. Sie beruht auf einem offen eingestandenen Materialismus. Als Fanfan klein, das heißt, als er noch kleiner war, spielte er mit einer kleinen Wage, einem kleinen Kompaß, einer kleine Geldkasse. Sein Sinnen und Trachten ist auf das Gegenständlich-Nützliche, dem materiellen Genusse Dienliche gerichtet. Diese Einstellung ist am Ende nichts anderes als der natürliche Rückschlag gegenüber der unklaren militärischen Gloire, die Abkehr von den Sünden des Militarismus.

             Ähnlich, wenn auch nicht ganz gleich, liegen die Verhältnisse im heutigen Österreich, und nicht nur in Österreich. Auch wir haben die längste Zeit mit Bleisoldaten gespielt, und es ist am Ende nicht zu verwundern, daß die Kinder wie die Erwachsenen an diesem Spiel gründlich die Lust verloren haben, und, bitter enttäuscht, in die platte Welt der Geschäfte flüchten. Der jetzigen Börsenjugend ging eine Heldenjugend voran, die für unbezahlte und unbezahlbare Ideale glühte und daran verbrannte. Damals in jener heut schon märchenhaft fernen Zeit des kriegerischen Seelenaufschwunges, war das erste Wort, das die von der Mutterbrust abgesetzten kleinen Kinder aussprechen lernten, das Wort „Brotkarte“. Heut ist es das bedeutend ausländischer klingende Wort „Valuta“. Noch früher, vor der Brotkarte, war der erste artikulierte Laut hergebrachter Weise „Papa“. Es war eine noch regelmäßige Welt, die fest gefügt in festen Formen bestand, und es ist begreiflich, daß sie heute vielen als eine ideale Welt erscheint. Allein auch dieses patriarchalische „Papa“-System hat, wie sich gezeigt hat, seine bedenklichen Nachteile. Das patriarchalische System ist das absolutistische und ein schlecht beratener Absolutismus – jeder Absolutismus ist seine Natur nach schlecht beraten, weil er sich nur von Günstlingen, die sich ihm unterwerfen, beraten läßt – hat uns am Ende soweit gebracht. Die Verdienermoral hat jede andere beerbt und die grünste Jugend schwelgt in Börsenkursen, an den sie die Erwachsenen sich begeistern sieht. Die jungen Mädchen haben ihr Bankkonto bei irgendeinem kleinen und manchmal auch jungen Bankier, dessen Adresse die Eltern nicht immer kenn, die Gymnasiasten lesen den Kurszettel unter der Bank, und in die erste Liebeserklärung mischt sich der letzte Tip. Alles gibt, alles nimmt, und alles verdient, wenn auch nur in Kronen – ein Trost, wenn auch nur ein schwacher, für den Moralisten.

             Im übrigen hat es der Moralist in diesem Punkte, wenn er gerecht urteilen will, nicht ganz leicht, schwerer jedenfalls als der alter Macher Sardou, der sich in jenem Stücke über ähnliche Erscheinungen der Aufschwungs- und Gründerzeit einfach lustig machte. Daß die Jugend selbst für diese Ausartung am wenigsten verantwortlich zu mache ist, liegt auf der Hand. Auch hier bestätigt sich die volkstümliche Weisheit von den Jungen, die nur zwitschern, wie die Altern sungen. Die jungen Mädchen, die für ihre laufenden Toilettebedürfnisse ihr Börsenkonto bei dem manchmal nicht ganz ungefährlichen kleinen Bankier sorgen lassen, haben fast immer eine Mutter, die selbst an der Börse spielt, das Valutakind hat meisten einen Valutaonkel, und der Geschäfte machende Gymnasiast, der jederzeit einen guten Börsentip, wenn nicht gar Rohöl oder Gummireifen „an der Hand“ hat, ahmt in neun unter zehn Fällen nur das väterliche Beispiel nach. Aber auch die Väter und Mütter sind nur halb verantwortlich zu machen; die andere größere Hälfte der Verantwortung trifft den Staat, der durch die ständige Geldverschlechterung das Börsenspiel geradezu zu einem Akt der Selbsthilfe und überdies – da man sich auf die Notenpresse verlassen kann – zum ungefährlichsten aller Glücksspiele gemacht hat. Allenfalls kann man den Eltern daraus einen Vorwurf machen, daß sie ihre Hoffnungen und Sorgen etwas zu ungezwungen im Beisein der unmündigen Jugend (wenn es so etwas überhaupt noch gibt) erörtern.  Etwas mehr Zurückhaltung und – Geschmack wäre in dieser Hinsicht den Erwachsenen dringlich zu empfehlen. So wie man sich in Gesellschaft nicht kratzt, sollte man auch nicht fortwährend über Börsenkurse reden, zumindest in jener Gesellschaft, die den Ehrgeiz hat, auch noch etwas anderes zu sein als eine Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaft zur Auswertung des jüngsten Börsentips. In den preußischen Offiziersmessen der Vorkriegszeit entstand die sinnreiche Einrichtung, daß jeder, der nach neun Uhr abends im kameradschaftlichen Beisammensein das Wort „Dienst“ gebrauchte, eine kleine Geldbuße in die Regimentskasse zu entrichte hatte. Eine ähnliche Einführung sollte man auch in Bezug auf Aktien und ähnliche Dinge in unseren Abendgesellschaften treffen – nur dürfte die Buße nicht zu klein sein. Allerdings müßte man nebst dieser Geselligkeitsakte auch noch einige andere Gesetze schaffen: vor allem eines, das die Spekulation in ausländische Valuten, das heißt die Spekulation auf den Zusammenbruch des eigenen Staates, endlich als dasjenige brandmarkt, was sie tatsächlich ist, nämlich ein Verbrechen; (Mit Schreckgesetzen ist leider, wie tausendfache Beispiele der Geschichte zeigen, die Spekulation niemals unterdrückt worden. Anm. d. Red.) und ferner eines, das das wüste Rasen der Notenpressen, diese Affenschande der Besiegten, endlich kategorisch abstellt. Geschähe dies, so würde auch unsere verjobberte Jugend wieder idealistisch werden: sie ist es im Grunde, und man muß ihr nur die Gelegenheit geben, es zu sein.

In: Neue Freie Presse, 9.7.1922, S. 1-3.

Arthur Rutra: DER WEG

Es ist wieder ein Kampf! Ein doppelter Kampf. Die Jungen stehen gegen die Älteren, die Jüngsten gegen die Jungen. Die Triebkräfte dieser Bewegung sind deutlich erkennbar; sie wurzeln in der Hast des Jahrhunderts und haben durch die Jahre des Krieges, der das Tempo des Lebens zu amerikanischen Rekordleistungen hinaufpeitscht, noch eine weitere Steigerung erfahren. Wenn man auch den Krieg mit allen seinen Folgeerscheinungen als ein rein akzidentelles Ereignis betrachtet, so darf die Beeinflussung des Moments wegen der ungeheuren Gefahr, die sie birgt, nicht von der Hand gewiesen werden. Der Instinkt der Gewalttätigkeit ist wachgerufen und seine Macht, die stets die Ausrede der Bequemlichkeit für sich haben wird, ist nicht zu unterschätzen. Dilettanten werde sich ihm mit Freude verschreiben, die Guten und die Besten, die dem Inferioren gegenüber stets schwächer sein werden, preisgegeben oder gezwungen, mit ihm zu paktieren.

Diese Bewegung ist allgemein und mannigfaltig sind die Spielarten der Form, die zur Äußerung kommt. Es gibt Bewegungen, es gibt Fluida, es gibt Hochstapelei tiefster seelischer Überzeugung. Alles drängt, sucht und tastet – wonach? … Nach dem Platz, auf dem wieder eine Kathedrale errichtet werden kann, über dem sich die Gotik einer neuen Zeit erheben könnte? … Vielleicht. Berufen sind die einen, die anderen auserwählt. Und beide glauben. Die drängen und in ihrer Stabilität verharren. Die Jungen und Jüngsten haben längst den Platz, auf dem die Alten und Älteren stehen, aufgegeben und suchen eine neuere Welt – die anderen verteidigen einen Platz, der ihnen gar nicht streitig gemacht wird. Sie sprechen von Dichtkunst; den einen ist sie Kultur, den anderen Ekstase. Kultur baut auf Kultur, Ekstase wirft sich in die Welt und verliert sich an sie. Beide begehen einen Fehler: denen die Dichtkunst Kultur ist und die unbekümmert weiter Seit auf Stein fügen, vergessen, dass kulturelle Werte vernichtet, gefährdet und verschoben wurden; sie bauen weiter und merken nicht, dass Teile morsch geworden sind… Und sie vergessen, dass das Gefüge verwittern kann. Die Ekstase aber nimmt zu vieles auf, sie ist wahllos und verschwendet sich ebenso gerne an die Metaphysik wie an den Journalismus. Sie hat das starke Erlebnis der Gegenwart noch nicht in sich aufgenommen, während die andere es an sich vorübergehen ließ. Ihre Entschuldigung ist, dass sie jung ist – wie das Alter der anderen. Sie nimmt Erscheinungen wichtig, die vorübergehender Natur sind, weil sie alles wichtig nimmt, weil sie ernst ist und von der Fruchtbarkeit des Augenblicks aufs tiefste erschüttert. Und beide sind ehrlich: in ihrer Blindheit und in ihrer Übersichtigkeit.

Was ist aber Dichtkunst? Ekstase ist ein Bekenntnis – Kultur ein Glaubensbekenntnis. Ein Bekenntnis kann ein Pamphlet sein, eine Proklamation, kann auch – Dichtung sein. Dichtkunst ist geläuterte Ekstase, kultivierte, wenn sie den Weg über die Seele nimmt. Immer aber wird Ekstase das Primäre sein.

Gegensätze sind immer gewesen, sie sind auch heute vorhanden, schärfer denn je, wenn auch nicht so offensichtlich und durch Umgangsformen gemildert. Die Alten werfen den Jungen vor, dass sie Schriftsteller sind, Buchstabensetzer, die Jungen sagen wieder von ihnen, dass sie keine Dichter sind, oder doch solche, denen das Kostüm einer verblichenen und überwundenen Zeit am Leibe festgewachsen ist. Können, sollen Gegensätze versöhnt werden, bis der Ausgleich in ewigem Wechsel neue zeugt? Versöhnung ist Kompromiss. Die Gegensätze müssen sich verstärken, bis sie über sich selbst hinausgewachsen und zur Norm geworden sind. Dann werden sie wieder durch neue abgelöst werden.

Wer ist aber alt und wer ist jung? Jung ist nicht mehr der Tag, denn das Morgen ist jünger und das Gestern trägt schon verwitterte Züge. Darum sind die Jungen von heute den Älteren von gestern verbrüdert. Und der Wechsel der Tage ergibt ein Chaos. Dieses aber ist das Versöhnende, denn es gebiert oder es wird gebären, bis es gesättigt, bis es genügend befruchtet ist. Befruchtet von allen, die sagen: „wir“. Bis einer emporwachsen wird, der ausspricht: „Ich!“

Hier liegt das Geheimnis: von allen, die leben, lebt jeder nur, weil er „wir“ gesprochen hat. Nähme man es ihm – das Schemen, das er ist, träte schärfer hervor, Das „wir“ ist seine Stärke – wie das „ich“ seine Schwäche offenbaren würde. Es ist die Berufung auf andere, die Flucht vor der eigenen Unzulänglichkeit. Er lebt nicht, weil er da ist, weil er sein Leben fühlt, sondern weil er fasziniert ist von einer Unwirklichkeit, die er für Leben hält. Er glaubt gesteigerter zu leben und lebt wirklich nur flacher. Er wähnt tätiger zu sein und ist in Wahrheit untätiger. Er bildet sich ein, zu bauen, und er zerstört nur. Nicht einmal das, denn er hat nicht die ewigen Gesetze des Wachstums erforscht. Leben, wirken, schaffen kann nur der, der sich am Wachstum emporrankt, dessen Seele den Gleichklang hat mit dem ewigen Schlag des Lebens. Nur dieser, der hinablauscht in seine Seele, in der sein zweites Gesicht die Wahrheit verkündet, der hinauflauscht in den Weltraum, aus dem ihn Millionen Spiegelungen grüßen, wird „ich“ sagen können. Dieser wird auch tätig sein, denn er wird Opfer bringen können, durch seine eigene Stärke. Dieser wird auch bauen, denn er wird die Steine mit eigenen Händen heranschaffen. Dieser wird sich wegwerfen in der Ekstase und sich wiederfinden in der Sammlung. Und wird schweben im ewigen Mysterium des Seins.

In: Der Anbruch, H. 8/1918, S. 6-7.

Béla Balázs: Die Filmkrise

Unsere Leser kennen Béla Balázs als geistvollen und erfahrenen

Dramaturgen und Filmdichter

Ich glaube nicht, daß man ohne weiteres annehmen kann, die deutschen Geschäftsleute verstünden durchwegs nichts von ihrem Geschäft und wollten aus ihren eigenen Erfahrungen nicht lernen. Sehen denn diese Verleiher ihre eigenen Bücher nicht an, oder wären sie wirklich außerstande, die richtigen Konsequenzen zu ziehen? Das ist sehr unwahrscheinlich.

Wenn aber beides zugleich aus den Büchern der Verleiher nachzuweisen ist:

  1. Der geschäftliche Erfolg des künstlerischen Niveaus bei den amerikanischen Filmen;
  2. der geschäftliche Mißerfolg des künstlerischen Niveaus bei den deutschen Filmen —

— wenn beides zugleich stimmt, dann allerdings muß das Problem etwas tiefer liegen. Dann scheint das „künstlerische Niveau“ nicht von derselben Art zu sein, hüben und drüben, Die amerikanische Sorte scheint gangbar zu sein. Die deutsche nicht. Und das nicht nur beim Film, sondern überhaupt.

Bei den Deutschen ist gute Kunst und volkstümliche Kunst ein notwendiger, unvereinbarer Widerspruch. Es lag im Wesen der deutschen Geistigkeit, daß jede Tiefe und jede Höhe mit der Entfernung vom Allgemeinverständlichen zu messen war. Popularität aber gilt bei uns noch immer mit Recht als sicheres Zeichen der Banalität und des Kitsches. Dieses Entweder-Oder lag im Wesen der deutschen Geistigkeit, die sich in der Richtung des Spekulativ-Begrifflichen entwickelt hat und zur Geheimsprache der Gebildeten wurde. Ist in der Literatur nicht das gleiche zu sehen? Wo gibt es bei uns den Dichtertypus von Kipling oder Jack London oder auch Maupassant? Dichter, die ganz einfach und naiv, für jedermann verständlich fabulieren und doch große Künstler sind? Diese Oberflächenkunst, die nicht oberflächlich ist, diese Feinheit ohne Finessen, diese unmittelbare, naive Vision, diese sinnliche Freude am Gegenständlichen, dieser Scharm der leichten Mitteilung, diese Magie des einfachen Geschichtenerzählens, die ohne intellektuelle Kompliziertheit bedeutsam und poetisch ist — das ist es, was die deutschen Erzähler nicht haben. Wenn sie gut sind, dann haben sie

andere Qualitäten. Aber was nicht gedanklich tief ist, das ist bei uns flach, und Einfachheit wird hier triviale Simplizität. Wenn deutsche Kunst höher fliegt, dann verläßt sie den Boden — auf dem die Filmproduzenten und Verleiher bleiben müssen. Das betrifft nicht nur das Filmmanuskript. Das Manuskript ist ja nur das Thema, das der Regisseur optisch erzählt. Er vor allem müßte sie in den Fingerspitzen haben, diese Zauberei des Fabulierens, diese Zauberei der kleinen Einzelheiten, mit denen der Zuschauer eingewickelt wird in das Weben einer lebendigen Atmosphäre, die weder mit Gedankentiefe, noch mit Wahrheit oder Wirklichkeit irgend etwas zu tun hat.

Das aber ist nicht deutsche Art. Noch nicht. Ich glaube nicht, daß es an der technischen Ungeschultheit der deutschen Filmleute liegt. (Die ganz gewissenlos hingeschmissenen Kontingentfilme sind natürlich auch technisch schlecht.) Wir haben erstklassige Operateure und viele Regisseure, die handwerklich ganz auf der Höhe sind. Aber sie sehen anders als die Amerikaner oder die Russen. Gerade wo sie ihr Bestes geben, werden sie interessant, originell, vielleicht bahnbrechend sein aber nicht einfach volkstümlich, verführend. Etwas Abstraktes, etwas Unnaives, Doktrinäres wird an ihnen haften. Das liegt einstweilen am Charakter der deutschen Geistigkeit. Für die Filmkunst ist es eine Lebensfrage. Aber sie wird kaum innerhalb der Branche zu lösen sein. Es hat seine sozialen, historischen Ursachen. Aber die können sich auch ändern. Es geht um mehr als um die deutsche Filmindustrie.

Wie bezeichnend ist es, daß sogar ernste Filmkritiker sagen, man müsse dem Publikum zuliebe Konzessionen (im Stofflichen) machen. Ja. Der deutsche Regisseur und Autor muß Konzessionen machen, um volkstümlich zu sein. Aber erkauft etwa Chaplin seine Popularität mit Konzessionen? Es gibt eine Kunst, es muß eine geben, die nicht erst auf ihrer niedersten Stufe, sondern auf ihrer höchsten Stufe einfach ist. Nicht daß wir Konzessionen machen, sondern daß wir sie machen müssen, darin liegt die Gefahr.

Wie bezeichnend ist die Reaktion der ernsten deutschen Kritik auf die schlechten deutschen Filme. Indem sie die unechte Süßlichkeit, die kitschige Romantik ablehnt, fordert sie Wirklichkeit und wieder nur Wirklichkeit. Es ist das Modeschlagwort der Sachlichkeits-Dogmatiker, die in dem Tatsachenrealismus das Heil des Films sehen. Und sie merken nicht, wie konstruiert, wie abstrakt, wie doktrinär diese Forderung ist. Wieder ein typisch intellektueller Bildungskomplex. Jemand schreibt, das Publikum habe sich für den Auslandsfilm entschieden und die „guten Auslandsfilme“ haben erwiesen, daß die filmisch scharf gesehene Wirklichkeit dem „Phantastischen“ überlegen ist. Stimmt denn das? Ist denn in jenen erfolgreichen, guten amerikanischen Filmen so sehr realistische Wirklichkeit gezeigt? So wie das Leben tatsächlich ist? Bleiben wir bei Chaplin. Zeigt er in „Goldrausch“ und in „Zirkus“ „scharf gesehene Wirklichkeit“? Verdankt Chaplin seinen Erfolg dem unerbittlichen Realismus? Wohl in einzelnen russischen Filmen . . . von denen aber nur jene große Erfolge hatten, in denen das ekstatische, große Pathos einer revolutionären, also keiner Alltags-, sondern einer sehr außergewöhnlichen und abenteuerlichen Wirklichkeit gezeigt worden ist.

Nein! Das Gegenteil von falsch ist nicht wirklich, sondern echt, das Gegenteil von verlogen ist nicht wirklich, sondern wahrhaftig, das Gegenteil von leblos und leer ist nicht wirklich, sondern lebendig, sinnfällig, gegenständlich. Aber echt, wahrhaftig, sinnfällig, gegenständlich kann sogar ein Märchen sein. So wie ein Chaplin Märchenfilm es ist. Hingegen eine Bilderreihe von Tatsachen, wie die hochgelobte Filmsymphonie „Berlin“, war, bei allen interessanten Qualitäten, weder Kunst, noch hat sie populären Erfolg gehabt, und sie brachte nicht einmal Wirklichkeit. Denn es gibt keine Wirklichkeit ohne den Menschen, ohne seine Gefühle, Stimmungen und Träume. Das ist eine konstruierte, deutsche Abstraktion.

Freilich kommt es dennoch auf die Wirklichkeit an, und der Realismus liegt freilich auch im Wesen der Filmkunst. Ich meinte bloß . . . tötet nicht Dichtung mit einem Begriff. Denn nicht dieser Realismus, nicht diese Tatsachen – Wirklichkeit ist es, die dem deutschen Film vor allem fehlt. Die Krisis ist akut. Aber ich glaube auch, daß die Aufhebung der Kontingentierung nur mehr nützen kann. Auch ich bin der Meinung, daß die deutschen Chancen nicht ungünstig sind. Obwohl es um mehr geht als um die deutsche Filmbranche. Ihre Krisis ist Krisis der deutschen Bildung überhaupt. Aber in der Geschichte sind die -geistigen Krisen immer die Symptome des aufkeimenden Neuen und Jungen.

In: Die Bühne, H. 185/1928, S. 22-24.

Jakob Moreno Levy: An die Leser zum Aufstand gegen die Autoren

             Bruder Leser, was wird dir einfallen, wenn du irgend ein Buch zu Ende gelesen hast?  Oder sonst jedes Buch aller Autoren? Du wirst wissen: es ist nicht zu Ende.

             Es gibt Leser, die nach aufgehobener Tafel geistig satt sind, das sind eigentlich selbst Autoren, und es gibt andere, die darnach erst hungrig werden: wie die Kinder. Diese, die das Vollkommene wollen, werden bedenken: Du bist da, wenn du redest und alles, was auf Himmel und Erden ist, ist unserer Liebe gegenwärtig; nur der Autor ist abwesend, wenn seine Seele zu uns spricht.

             Du mußt ihn mehr lieben, weil er dich zu wenig geliebt hat. Du wirst ausgehen müssen, seinen letzten Teil zu suchen wie die blaue Blume. O, du mußt es wohl! Du wirst auf dem Wege in Streit mit dir geraten: warum gerade ich? Warum soll ich Unruhe stiften in den Schläfrigen?

             Bruder Leser, wenn einer in die Welt schreibt, muß er sich zu Ende offenbaren; aber nicht, indem er weiterschreibt, sondern die Narben von den Namen in seinem Antlitze zeigt, die er verkündet hat. //

             Bruder Leser, ich spreche für alle, die bei ihnen waren und die wie ich gelitten. Wenn du sehen würdest, wie sie leben und das Heiligtum der Worte entweihen, derer sie sich einfach bemächtigt haben, würdest du verstehen, daß sie durch das Buch das vollkommene Leben in Vergessenheit bringen, daß die Mächtigen  des Wortes gefährliches sind für Gott als sonst alle Gewaltigen der Erde, weil selbst der Mammon nur mit der Schöpfung schachert, während sie, wo sie stottern sollen, den Geist der Dinge dem Schein verschreiben, daß auch die Edlen unter ihnen, da sie im selben Rahmen wie die ganze Gilde schaffen, verwirkt sind und den höchsten Grad des Bösen möglich machen.

             Die Autoren sind die neuen Heiden, heidnischer geworden noch durch Religion; darum können ihre Werke töten, aber nicht lebendig machen.

             Wenn sie nur das Gefühl ihrer Sünde hätten; aber das sind nur Dichter und keine Kinder, das sind nur Weise und keine Kinder, das sind nur Päpste und keine Kinder. Eher kommt ein Reicher durch ein Nadelöhr als ein Autor in das Reich Gottes.

             Ich habe die Aufgabe, einseitig und ohne Aufenthalt zu lallen: der vollkommene Weg des Buches ist die Einladung zu einer Begegnung, der vollkommene Weg des Wortes ist der Bericht.

             Bruder Leser, ich gebe dir das Amt, stehe auf und schreite, bis du des Wortes angesichtig wirst, das du gelesen hast. Wenn der Autor nicht zu dir kommt, so gehe zu ihm. Opfere dich, gehe, ich meine wirklich und nicht im Gleichnis, gehe und bekehre sie zu sich, gehe und begegne ihnen schnell, wie ich ihnen begegnet bin und wir Gott, der Ewige, ihnen begegnen müßte, wäre er unsereiner.

             Der Aufstand der Leser ist die Verfolgung der Autoren. Man wird euch aber aus dem Wege gehen, euch mißhandeln, euer spotten. So wird es geschehen, daß ihr, die ihr ausgegangen seid, die Autoren zu segnen, von ihnen verflucht werdet. Ihr aber sollt im Leiden frohlocken, daß ihr dem Unvollkommenen vollkommen, Auge vor Auge, begegnet seit, damit es einmal heiße: //

             „Das ist der Kreuzzug der Leser gegen die Heerführer des Geistes, der Kinder gegen die Wort- und Erlebnishamsterer gewesen.“

             Am Ende der Fahrt bist du sicher, im Unvollkommenen, – aber diesem vollkommen nahe, bist du sicher nicht im Himmel, aber doch an seiner Pforte. Nun kann der Geist Gottes erkannt werden und unter uns leben, denn das ist des Gottmenschen tiefster Widerspruch, daß er der Allerfernste werden muß durch das Allernächste.

In: Der Neue Daimon, H. 1-2/1919, S. 29-31.

Otto Koenig: Filmromane

             Man beginnt jetzt Romane und Novellen geradeaus in Hinblick auf die Verfilmung zu schreiben. Dadurch soll einerseits ein gewisses literarisches, künstlerisches Niveau gewahrt werden, das bei Herstellung bloßer Filmtexte nur zu leicht unversehens vernachlässigt wird; andererseits wird durch solche Filmdichtung jener gefährliche, zumeist mindestens recht holprige Umweg vermieden, auf dem das Dichtwerk zum Filmwerk übergeführt wird. Kurz gesagt: Erzählende Dichtungen werden geschaffen, die, als solche wirksam, zugleich der Technik, der Möglichkeit und den Wirkungen des Films gerecht werden und daher ohne organische Veränderungen: Zusätze, Auslassungen, in lebende Bilder umgesetzt, werden können. Es müssen also ernste seelische Entwicklungen und // Kämpfe vorhanden sein (nicht nur Rührseligkeiten und Sensationen), die ungezwungen, verständlich und spannend optisch dargestellt werden können.

             Nicht übel und mit Wahrung einer anständigen literarischen und sittlichen Höhe hat diese Forderung Hugo Bettauer mit seinen zwei Erzählungen „Der Herr auf der Galgenleiter“ und „Das Blaue Mal“, beide erschienen im Gloriette-Verlag, Wien, erfüllt. Die erste Erzählung behandelt sehr abwechslungsreich und spannend einen Unglückstag aus dem Leben eines jungen Valutaschiebers. Plötzliche katastrophale Verarmung, die in ihrer Gänzlichkeit allerdings nicht völlig wahrscheinlich wird, treibt den Helden binnen wenigen Stunden die Galgenleiter des Verbrechens bis hart an meuchlerischen Raubmord hinan. Das Problem des Gedankenmordes, das psychologische und juridische Problem der Schuld tut sich für einen Augenblick ganz ernsthaft auf. Plötzlich, unerwartet, aber nicht unwahrscheinlich, ergibt sich Rettung, günstige Lösung, Reinigung!

             Versöhnlichen Ausgang, wie ihn das Filmpublikum wünscht, bietet auch „Das blaue Mal“, die Lebensgeschichte eines Negermischlings erster Generation, der, in Europa erzogen, in seinem Mutterland Amerika, das er hoffnungsfroh und siegesgewiß betritt, plötzlich vor dem unausweichlichen und unbesiegbaren Rassenhaß des angelsächsischen Amerikaners gegen den Farbigen steht und sich an dieser brutalen Mauer den Kopf bis hart an Selbstvernichtung blutig stößt. Auch in dieser Geschichte bleibt der Autor nicht an der Oberfläche der Ereignisse haften. Völkerpsychologische Untergründe dieses Rassenhasses werden erhellt, Bezüge zum europäischen Antisemitismus aufgezeigt. Eine geschickte, würdige Verfilmung wäre diesen beiden Vertretern einer neuen Kunstgattung zu wünschen. Vielleicht mag auf diesem methodisch neuen Weg epischer Dichtung für den Film eine Besserung der Unterhaltungsprogramme der Lichtspielbühnen zu erzielen sein. Freilich bracht es dazu begabter, phantasievoller und technisch sehr geschickter Schriftsteller, die bei ihrer Arbeit sittliche Absicht weder „vorzeigen“, noch verleugnen.

In: Arbeiter-Zeitung, 12.7.1923, S. 6-7.

Stephan Großmann: Berliner Theaterbrief (Kokoschka-Skandal)

                                                                                                            Berlin, 14. Juni.

             Ja, ich habe ja noch nicht über den großen Kokoschka-Skandal im Deutschen Theater berichtet. Unerlaubte Pflichtvergessenheit! Das Übel sitzt noch tiefer, ich habe, von Saint Germain befangen, nicht einmal daran gedacht. Und doch war es gewiß der größte Theaterskandal, den Berlin seit Jahren erlebt hat. Seit wieviel Jahren? Ich glaube, der letzte ganz große Krach, der einzige, der mit dem Kokoschka-Skandal zu vergleichen wäre, fand bei der Erstaufführung des „Florian Geyer“ statt. In der Szene, in der dort die armen Bauern ausgepeitscht werden sollen, erhob sich das liberale Bürgertum im Parkett zum Schutze der längst verblichenen Agrarier und protestierte gegen das Auspeitschen, währen die sozialistisch gesinnte Jugend auf den Galerien unbedingt für die Auspeitschung auf der Szene eintrat. Daraus entstand der denkwürdigste Theaterradau, den Berlin bei einer Hauptmann-Premiere je gehabt hat. Das war im Winter 1895. Ich saß damals mit Gustav Landauer zusammen auf der dritten Galerie im Deutschen Theater und mühte mich im Schweiße meiner Hände das hausschlüsselpfeifende Parkett durch das Geknatter unseres Applauses zu übertönen […] Es hat in diesen vierundzwanzig Jahren, die seit jenem historisch gewordenen Radau verflossen sind, allerlei Pöbelunterhaltungen im Theater gegeben, aber einen Krach, wir den bei Kokoschka, konnten die Arrangeure trotz aufrichtiger Bemühungen nicht erreichen.  Bedenkt man, daß die Vorstellung eine geschlossene war, vom Verein „Das junge Deutschland“ veranstaltet, der dazu da ist, kühn zu experimentieren, so kann man diesen Skandalnachmittag erst richtig würdigen. Ich habe dieselbe Vorstellung vor einem Jahr schon in Dresden gesehen. Auch dort wurde der „Brennende Dornbusch“ und der „Hiob“ gegeben. Die Sachsen haben beide Werke auch nicht verstanden, aber sie haben es nicht zu erkennen gegeben, sondern sich bemüht. Es gelang ihnen, Details zu entziffern, und bescheiden wartend, ist es ihnen allmählich auch gelungen, sich in der Stimmung der Werke näherzuarbeiten. Den Schaden bei all diesen Radauszenen hat ja nicht so sehr der Künstler, sondern vielmehr der allzuschnelle Zuschauer, der sich aufnahmsunfähig macht, indem er witzelt oder dazwischenruft. Der demütig Wartende handelt zuletzt auch vorteilhafter als der anmaßende Skandalmacher! Dabei möchte ich keineswegs behaupten, daß Kokoschkas Dramen gelungene Meisterwerke sind. Sie sind doch, wie sehr sich Kokoschka zur Wehr setzt, Phantasien eines Malers, es sind Pantomimen mit dazugesprochenen Text. Das Wertvolle und Originale an diesen Werken ist die bildhafte Halluzination, nicht das dazu gesprochene Wort. Als Wortkünstler ist Kokoschka hart, eckig, arm. In seiner dramatischen Erfindung steckt aber unzweifelhaft ein dichterisches Element und im „Hiob“ noch dazu ein phantastischer Humor. „Hiob“ ist die Tragikomödie eines alten Mannes, dem ein Weib den Kopf verdreht hat. Es ist charakteristisch für Kokoschkas bildhaftes Sehen, daß es diese Wendung „mir wurde der Kopf verdreht“ sogleich in eine szenische Bemerkung umsetzt, und daß der Darsteller des Hiob eine Zeitlang mit einer Gewandung auftritt, bei der Rock, Weste und Kragen hinten zugeknöpft sind und die Krawatte über den Rücken baumelt. So sitzt der verdrehte Kopf wirklich um 180 Grad verschoben auf dem Rumpf. Dieser „Hiob“ ist als Tragikomödie gedacht, Kokoschka will den gehörnten Ehemann nicht nur seriös betrachtet haben, deshalb spielt die tragischste Szene im Badezimmer, das nicht nur mit einer Wanne, sondern auch mit einem Klosett versehen ist. Nun vertragen intellektuelle Zuschauer alles, nur Tragikomödie nicht. Jede Masse will schnurgerade, schlichte Empfindungen; komplizierte Regungen, wie sie die Tragikomödie voraussetzt, müssen der Einsamkeit des einzelnen überlassen sein. Das gehört nun einmal zu den Grunderfahrungen des Theaters. Aber wenn man bedenkt, daß in diesem Verein „Das junge Deutschland“ eine Auslese des Berliner Publikums sitzt, von Liebermann und Rathenau bis zu Kurt Hiller und Rudolf Leonhard, so begreift man doch diesen wüsten Exzeß nicht. Kokoschka selbst schien an dem schrillen Toben seine stille Freude zu haben, er erschien ein paarmal auf der Bühne mit seinem sanften, freundlichen, die Leute erst recht zum Rasen bringenden Lächeln und dankte den Enthusiasten ebenso gelassen wie den Empörten. Ich glaube, daß ihm eine solche Schlacht lieber ist als die Dresdener achtungsvolle Stille. Er hat die Stücke selbst inszeniert und sich als ein Regisseur ersten Ranges erwiesen, und zwar nicht nur als ein malerischer Regisseur, als welchem ihm viele schöne Stellungen und Veränderungen des Körpers der Darsteller gelungen sind, sondern vor allem auch als ein Kapellmeister der Stimmen. Ich möchte sagen, seine phonetische Phantasie ist so reich wie seine Augenphantasie. Aber das wird sich im nächsten Jahr noch deutlicher erweisen, denn Kokoschka wird entweder bei Reinhardt oder in den Staatstheatern einige Vorstellungen inszenieren.

In: Neues Wiener Journal, 19.6.1919, S. 12.

N.N.: Die Wehen der neuen Zeit

             Der werdende deutschösterreichische Staat steht vor ungeheuren, vor unlösbaren Problemen. Die schwersten von ihnen gehen aus der Auflösung der Armee hervor. Eine Armee von Millionen Menschen ist in Italien und Tirol gestanden. Diese Armee rasch nach Hause zu befördern, sie auf dem Transport in die Heimat zu verpflegen, die Verbreitung von Seuchen durch die heimkehrenden Krieger zu verhindern, den abrüstenden Soldaten Arbeit, Brot, Wohnungen zu // beschaffen, das wäre auch in ruhigen Zeiten, auch bei ordnungs- und planmäßiger Demobilisierung eine überaus schwere Aufgabe gewesen. Aber unter den jetzigen Umständen ist eine planmäßige Demobilisierung gar nicht möglich. Die Verbände haben sich aufgelöst, die einzelnen Truppenkörper fluten in wirrer Unordnung, in wilder Hast zurück. Sie wollen nach Hause, wollen nicht warten. Aber so schnell wie die Ungeduld der Soldaten es möchte, können sie nicht in die Heimat befördert werden; dazu gibt es bei weitem nicht genug Waggons und Lokomotiven. Daher stauen sich im Süden ungeheure Menschenmassen auf engem Raume. Aber für solche Massen gibt es nicht genug Verpflegung, nicht genug Quartiere, nicht genug Spitäler. Die Soldaten, hungernd, frierend, krank, erbittert, stürzen sich auf die Landbevölkerung, um sich nur Nahrung für den hungrigen Magen und ein schützendes Obdach zu beschaffen. Sie dringen, auf solche Weise „vom Land lebend“ immer weiter in den Norden. Es ist ein Bild ungeheuren Elends, furchtbarster Verwüstung. Da Abhilfe zu schaffen, so gut es eben geht, Eisenbahnwagen, Verpflegung und Heilmittel nach dem Süden schaffen, ist jetzt die dringende Aufgabe der neuen Regierungen.

             Aber diese Aufgabe wird überaus erschwert dadurch, daß die Beziehungen zwischen den neuen Staaten noch ganz ungeregelt sind. So hat zum Beispiel der tschechische Staat nur die Ausfuhr, sondern auch die Durchfuhr vieler wichtiger Waren gesperrt. Daher fehlt es nicht nur an Lebensmitteln für die drängenden Soldatenmassen, sondern auch an Kohlen für die Eisenbahnen, die sie befördern sollen. Der ungarische Staat schickt Eisenbahngarnituren, die Soldaten nach Ungarn gebracht haben, nicht wieder zurück; dadurch wird der Mangel an Eisenbahnmaterial immer empfindlicher. Nur durch Verhandlungen und Vereinbarungen zwischen den neuen Nationalstaaten können solche Schwierigkeiten behoben werden; aber Verhandlungen werden wieder durch die Störungen des Eisenbahn-, Telegraphen- und Telephonverkehrs überaus erschwert.

             Dieselben Ursachen erschweren aber auch die Versorgung des Hinterlandes mit Lebensmitteln. In dieser Beziehung ist Deutschösterreich am schlimmsten daran. Ohne ungarisches Getreide, böhmischen Zucker, galizische Kartoffeln kann es nicht leben, ohne Kohle, die über tschechisches Gebiet zugeführt werden muß, nicht arbeiten. In den letzten Tagen stockt die Milchzufuhr aus Mähren; aber wenn wir für Kinder, Kranke, stillende Mütter keine Milch mehr bekommen, gehen Tausende Menschen zugrunde. Da gilt es nun, mit den anderen Nationen zu verhandeln. Aber die anderen Nationen haben danach kein so starkes Bedürfnis wie wir. Sie haben im eigenen Lande mehr Lebensmittel als wir; brauchen also nicht unsere Hilfe. Aber auch sie sind keineswegs reichlich versorgt; sind daher nicht sehr begierig, uns zu helfen. So sind die Verhandlungen überaus schwer; und sie werden noch dadurch kompliziert und verzögert, daß die anderen Nationen nationale Grenzfragen und politische Streitfragen in die Verhandlungen hineinziehen.

             Man muß diese Tatsachen kennen, um wenigstens eine Ahnung zu haben, welche geradezu unlösbare Aufgabe der neuen deutschösterreichischen Regierung gestellt ist. Diejenigen, denen der neue Staat nicht schnell genug wird und wirkt, haben wohl kaum eine Ahnung davon, welche endlosen Verhandlungen, welche Mühen und Anstrengungen es erfordert, um auch nur die notdürftige Vorsorge für den morgigen Tag, für den Abtransport wenigstens eines Teiles der im Süden angehäuften Soldatenmassen und für die Sicherung auch nur der dürftigsten Nahrung für das Volk im Hinterland zu treffen. Mit einer fliehenden Armee im Rücken und mit sich neubildenden, sich feindlich absperrenden Staaten vor sich einen ganz neuen Staat aufzubauen, eine ganz neue Verwaltung einzurichten, ist eben eine Aufgabe, wie sie wohl noch nie einem Lande gestellt war. Und dabei hängt an der Lösung dieser Aufgabe unsere ganze Zukunft. Denn wenn es nicht gelingt, die Überflutung unseres Landes durch die vom Süden her in chaotischer Unordnung heimwärts eilenden Soldaten zu verhindert, dem Volke im Hinterland sein tägliches Brot, den Fabriken die Zufuhr der Kohle und der Rohstoffe zu sichern, dann können wir Hungerrevolten und Verzweiflungsausbrüchen nicht entgehen. Aber Unruhen würden heute nicht die Revolution bedeuten, sondern die Okkupation. Die Entente hat sich im Waffenstillstandsvertrag das Recht gesichert, jede Stadt in ganz Österreich-Ungarn zu besetzen. Wenn wir die Ordnung im Lande nicht aufrecht erhalten können, dann wird sie von diesem Rechte Gebrauch machen. Und wenn die Entente unsere deutschen Länder in Österreich besetzt, dann ist es mit unserer jungen Freiheit vorbei. Die Befehlshaber der okkupierenden Armeen werden uns dann unsere staatliche Ordnung diktieren!

             So wird der neue Staat unter unbeschreiblichen Schwierigkeiten und Gefahren. Aber er wird und wächst trotz alledem. Heute hat die neue Regierung ihre ersten Verordnungen erlassen. Unter den Verordnungen steht nicht der Name des Kaisers, nicht der Name eines vom Kaiser ernannten Ministers; der Staatsekretär für soziale Fürsorge, unser Genosse Hanusch, hat sie auf Grund einer Ermächtigung des von der Nationalversammlung gewählten Staatsrates erlassen. Es sind die ersten Verordnungen in Österreich, die ihren Ursprung allein und ausschließlich in der von der Volksvertretung eingesetzten Vollzugsgewalt haben. Und diese Verordnungen dienen dem Schutze der Arbeiter. Es handelt sich zunächst darum, den Arbeitern, die infolge der Einstellung der Kriegsindustrien arbeitslos werden, Arbeit zu schaffen. Zu diesem Zwecke werden besondere „Industrielle Bezirkskommissionen“ errichtet, die, paritätisch aus Arbeitern und Unternehmern zusammengesetzt, die Arbeitsbeschaffung für die entlassenen Arbeiter organisieren, die Arbeitslosen in die neuen Arbeitsorte befördern, ihre Verpflegung sicherstellen sollen; eine „Zentralausgleichsstelle für die Arbeitsvermittlung“ soll dafür sorgen, daß die Arbeiter planmäßig aus den absterbenden Kriegsindustrien in die neuzubelebenden Friedensindustrien geleitet werden. So wird eine ganz neue große Verwaltungsorganisation geschaffen, die die Hunderttausende Arbeiter, die bisher in den Kriegsindustrien beschäftigt waren, wieder der Friedensarbeit zuführen soll. Gleichzeitig werden aber in den einzelnen Bezirken auch Einigungsämter errichtet, die and die Stelle der Beschwerdekommissionen, welche jetzt mit dem Kriegsleistungsgesetz verschwinden, treten werden. An die Stelle der Offiziere, die die Beschwerdekommissionen geleitet haben, tritt jetzt in jedem Einigungsamt ein Richter und ein vom Staatssekretär für soziale Fürsorge ernannter Beamter. Die Tätigkeit der Einigungsämter wird sich auf alle Industrie-, Bergwerks- und Eisenbahnbetriebe, auch auf Staatsbetriebe erstrecken. Sie sollen zwischen Unternehmern und Arbeitern bei Streitigkeiten über das Arbeitsverhältnis vermitteln. So enthalten diese Verordnungen ein gutes Stück sozialpolitischer Arbeit. Weitere sozialpolitische Verordnungen werden folgen; so solche über die Unterstützung der Arbeitslosen aus Staatsmitteln und über die Wiederherstellung der zu Kriegsbeginn außer Wirksamkeit gesetzten Arbeiterschutzgesetze.

Kleinlich wird man bei dem weiteren Ausbau nicht sein dürfen. Die Demobilisierung wird Riesenmassen auf den Arbeitsmarkt werfen; sie schnell aufzunehmen wird die Industrie nicht imstande sein, denn an Rohstoff und Kohle werden wir noch lange Mangel haben und starke Investitionstätigkeit erschwert die politische Umwälzung. Daher werden in jedem Falle große Massen arbeitslos bleiben; ihnen hinreichende Unterstützung aus Staatsmitteln zu sichern ist unabweisbare Notwendigkeit.

             Es ist ein ungeheuer schwerer und schmerzhafter Prozeß, diese Überleitung unseres Lebens aus dem Kriege in den Frieden und aus dem alten Zwangsstaat in die neuen Nationalstaaten. Aber so ungeheuer schwer die Probleme sind, so furchtbar groß die Schwierigkeiten und die Gefahren, so entsetzlich jenes Massenelend drunten im Süden, wo heute unsere Soldaten hungernd und frierend nach Hause streben, und so drohend die Massenarbeitslosigkeit, die die Demobilisierung der Armee und der Industrie erzeugen muß – all dieses Elend und all dieser Jammen sind doch nur die Wehen, in denen eine bessere Zeit geboren wird: die Zeit des Friedens und der Demokratie.

In: Arbeiter-Zeitung, 6.11.1918, S. 1-2.

N.N. [Friedrich Austerlitz]: Ungarn und wir

             Die proletarische Revolution in Ungarn hat ihre besonderen, ihre eigentümlichen Züge. Sie ist nicht so sehr eine Erhebung gegen die Bourgeoisie des eigenen Landes als ein Aufstand gegen die Ententebourgeoisie. Die Entente hat den größten Teil Ungarns an Tschechen, Rumänen und Südslaven verschenkt. Das ungarische Volk lehnt sich gegen die Zerstückelung seines Landes, gegen die Preisgabe magyarischer Städte an fremde Nationen auf. Es faßt den verzweifelten Entschluß, sich gegen die übermächtigen Sieger mit der Waffe in der Hand zur Wehr zu setzten. Aber werden die Arbeiter und die Bauern dem Rufe zu den Waffen folgen? Werden die kriegsmüden Soldaten todesbereit gegen Tschecho-Slovaken und Rumänen marschieren? Sie werden es nur dann, wenn Ungarn wirklich zu ihrem Vaterland wird; wenn der Staat ihr Eigentum wird, wenn die Fabriken und der Boden ihr Besitz werden. Die magyarische Bourgeoisie, deren wirtschaftliche Daseinsmöglichkeit die Zerstückelung des Landes zerstört, faßt den verzweifelten Entschluß, zeitweilig abzudanken, Arbeitern und Bauern kampflos die Staatsgewalt zu überlassen, weil sie darin das einzige Mittel erblickt, die Proletarier der Fabrik und der Scholle zu neuem Kampfe gegen den Landesfeind aufzubieten. So kann das Proletariat, ohne Widerstand zu finden, die Macht ergreifen. Die soziale Revolution dient hier der nationalen Verteidigung; der Übergang der Macht aus den Händen der Bourgeoisie in die Hände des Proletariats dient der Verteidigung des Landes gegen den äußeren Feind. Es ist nicht zum erstenmal so: 1792 hat das französische Volk die Jakobiner zur Macht erhoben, weil es sie allein für befähigt hielt, den nationalen Widerstand gegen die koalierten Fürsten ganz Europas zu entfesseln; 1871 ist die Pariser Commune aus der Bewegung der Patrioten hervorgegangen, die die Unterwerfung unter das Gebot des deutschen Siegers bekämpfen, den Krieg gegen Deutschland fortsetzen wollten.

             Das ungarische Proletariat ruft die Proletarier der Nachbarländer, auch die Proletarier Deutschösterreichs auf, seinem Beispiel zu folgen. Und schon leuchtet hier manches Auge heller, schon schlägt hier lauter manches Herz! Ist nicht auch hier – in Deutschböhmen und im Sudetenland, in Südtirol, Kärnten und Untersteier – deutsches Land vom übermütigen Sieger bedroht, der über Völker verfügt, als ob es Herden wären? Ist nicht auch für uns die Stunde gekommen, die Bourgeoisie zu stürzen, die Macht an uns zu reißen, die Fabriken und Bergwerke, den Boden des Adels und der Kirche mit einem Schlag dem Volke zuzueignen?

             Und doch sind wir in ganz anderer, viel schlimmerer Lage als die Brüder in Ungarn. Gewiß, die Bourgeoisie des eigenen Landes könnten wir so leicht und so schnell entthronen wie wie; das würden ein paar Bataillone Volkswehr besorgen. Aber von der Ententebourgeoisie sind wir ganz anders gefesselt als das magyarische Proletariat. Die Diktatur des Proletariats würde hier wie dort eine Herausforderung der Entente, eine Kriegserklärung an sie bedeuten. Die Ungarn ertragen es, wenn die Ententemissionen Budapest verlassen; sie haben immerhin noch Lebensmittel im eigenen Lande. Wir würden es nicht ertragen. Wir haben kein Mehl mehr als das, das die Entente uns schickt. Wenn die Entente die Lebensmittelzüge einstellt, hätten wir kein Brot mehr. Die Ungarn raten uns, uns von Paris zu trennen, um uns mit Moskau zu verbünden; aber Moskau ist weit, die Sowjetarmeen stehen noch mehr als tausend Kilometer von uns, Polen und die Ukraine sperren uns jede Verbindung mit ihnen; wir sind an Paris gefesselt, weil nur Paris uns Brot geben kann.

Was täten wir, wenn die Entente uns kein Getreide, kein Mehl mehr schickt? Bei den Reichen requirieren? In Wien gibt es ungefähr 500.000 Haushaltungen, unter ihnen etwa ein Zehntel, also etwa 50.000 reiche. Nehmen wir an, daß jede reiche Famile für zehn Tage Mehl vorrätig habe. Wir könnten dieses Mehl requirieren. 50.000 Familien brauche für zehn Tage so viel wie 500.000 für einen Tag. Wenn wir also die gehamsterten Vorräte der Reichen beschlagnahmen, so hätten wir gerade so viel Mehl, als das Wiener Volk für einen Tag braucht. Und dann?

Wir könnten bei den Bauern requirieren. Aber Deutschösterreich ist ein Gebirgsland; im größten Teil des Alpenlandes wächst kein Getreide. Wir haben auch im Frieden nie von deutschösterreichischem, sondern von ungarischem, galizischem, mährischem Getreide gelebt. Was heute bei den schärfsten Requisitionen aus den Bauernhöfen noch herauszuholen wäre, würde nicht einmal für einige Wochen, wahrscheinlich nicht für vierzehn Tage reichen. Und dann?

Ungarn kann uns nichts geben; seine getreidereichen Gebiete – die Bacsa, das Banat, die Slovakei – sind von fremden Truppen besetzt. Oder sollen wir darauf rechnen, daß die Revolution auch nach Böhmen überschlagen wird, daß die Tschechen uns dann helfen werden? Nun, die Tschechen könnten uns Kohlen liefern, sie könnten uns vielleicht für ein paar Tage mit Kartoffeln versorgen, aber Getreide für uns hätten auch sie nicht! Oder sollen wir darauf bauen, daß die Revolution auch die Ententeländer erfassen, ihr Proletariat uns dann Getreide schicken wird? Aber wann wird das geschehen? Vielleicht nach Monaten, vielleicht in einem Jahre! Und wir haben nicht für zwei Wochen Vorräte!

So ist Deutschösterreich ganz auf die Zuschübe der Entente angewiesen. Durch den Hunger sind wir der Entente wehrloser ausgeliefert, als wir es durch eine Besatzungsarmee wären. Der Versuch, hier eine Rätediktatur aufzurichten, würde damit enden, daß wir in ein paar Tagen ganz ohne Brot wären, binnen kurzem durch die Hungersnot zur Kapitulation gezwungen würden. Darum keine Illusionen! Mit der Bourgeoisie des eigenen Landes fertig zu werden, wäre leicht; aber die Ententebourgeoisie hält uns in Fesseln, die wir nicht zu sprengen vermögen, und sie hält schützend die Hand über der heimischen Bourgeoisie!

Aber so wehrlos wir heute sind, wir brauchen darum nicht zu verzweifeln. Die Rätedikatur in Ungarn beweist trotz alledem, daß unsere Sache marschiert. Unaufhaltsam wälzt sich die Welle der sozialen Revolution vom Osten nach dem Westen. Die Stunde wird kommen, in der auch die Arbeiterklasse Englands und Amerikas, Frankreichs und Italiens die Fesseln sprengen wird! Der Ententebourgeoisie wehrlos unterworfen, sind wir heute noch ohnmächtig; aber wenn sich das Proletariat der Ententeländer selbst gegen seien Bourgeoisie erhebt, dann werden im Bunde mit ihm auch wir alle Fesseln brechen.

In: Arbeiter-Zeitung, 23.3.1919, S. 1.