Georg Fröschel: Lob des Spiels

An einem Ast im Tiergarten baumelte ein Erhängter. Als man die Leiche abgeschnitten hatte, fand man in den Taschen des Selbstmörders ein leeres Zigarettenetui aus Holz, ein Portefeuille mit einem Barbetrag von 17 Mark, ein reines, jedoch sehr zerschlissenes Taschentuch mit einer siebenzackigen Krone und einige beschriebene Blätter, die wir im folgenden wörtlich wiedergeben:

             „Man tut dem Spiel unrecht. Es ist banal, das obligate Verdammungsurteil nachzuplappern. Von einem höheren Gesichtspunkte aus ist die Ansicht von der moralischen Verwerflichkeit des Spiels unhaltbar. Für den Bürger zum Beispiel ist das Spiel eigentlich die einzige Entschuldigung. Der Bürger lebt sonst dahin, an der Erde und am Geld klebend – schläft, ißt, arbeitet und zeugt Kinder. Er weiß nichts von den Dingen, die er nicht tasten kann, nie glüht er, nie wagt er sich über sich selbst hinaus. Nur wenn er spielt, tut er einen Blick in die andere Welt, in ihre unwürdigste und trübste Ecke vielleicht, aber doch in die Welt des Irrealen und Ungegenständlichen. Nur wenn er spielt, hat er eine Spur von Phantasie. Dann gibt es für ihn Dinge, die er sonst nicht kennt, Träume, Aufregungen, und Kämpfe, von denen sein plattes Leben sonst nichts weiß. Der Künstler, der spielt, tut unrecht, denn ihm ist die andere Welt auch ohne Karten und Würfel geöffnet, ihm winken bessere Göttinnen als Fortuna mit ihrem leeren Lächeln. Der Spießer aber, der spielt, ist doch reicher, als der Spießer, der die Karten verachtet. Er weiß mehr von sich und der Welt und sein enges Leben hat ein schmales Fenster ins Freie.

Auch der Staat als solcher dankt dem Spiel viel.

             Das Spiel gab zum erstenmal die Regel, die über den Menschen steht, zwang sie, ihr Tun und Lassen einem höheren Prinzip unterzuordnen. Das Spiel schlug die erste Bresche in die Dispositionsfreiheit des Menschen und ist vielleicht deshalb die Keimzelle des Staates.

             In den Urzeiten, da der Mensch noch ungesellschaftlich existierte und gleich dem Tier den Zusammenhang zwischen Zeugung und Geburt noch nicht begriffen hatte, lebte er ganz ohne Unterordnung unter fremden Willen, bloß eigenen Trieben und Wünschen folgend. Aber als der Urmensch zum erstenmal von der Jagd ermattet vor niedergehendem Gewitter in einer Höhle Schutz suchte und dort den anderen Menschen traf und sie dann, zu müde, um sich zu erschlagen, ihre Beute gemeinsam am Feuer breiten und der eine spielend den Hüftknochen des Elentieres in die Höhe warf, der mit der rauchgeschwärzten Seite nach oben liegen blieb und dann der andere dasselbe tat, und der Knochen die weiße Seite zeigte, und als dieses Tun allmählich zum bewussten Speil ward, und die fette Keule demjenigen als Preis ausgesetzt wurde, der das nächste Fallen des Knochens richtig voraussagte, da war nicht nur das Spiel, da war auch das Gesetz und mit ihm ein Wesentliches des Staates geschaffen.

             Von einem außerhalb des menschlichen Willens sich ereignenden Geschehnis war menschliches Tun und Lassen abhängig geworden. Zum erstenmal duldete ein Mensch, der verlierende, etwas, wozu ihn nicht faktische Gewalt, sondern freiwillige Unterwerfung unter eine Konvention nötigte.

             Bedeutsam ist es, daß diese sich dem Gesetz des Spieles Unterwerfen seinen stärksten Ausdruck bei den alten Germanen fand, die im Spiel auch die persönliche Freiheit einsetzten und auch diesen Preis, für den sie sonst bis zum letzten Blutstropfen kämpften, willig zahlten. Sie bewiesen schon damit ihre Sendung zur objektiven Staatsbildung und ihren Beruf zum Bürger, der dem über ihm schwebenden Gesetz willenlos untertan ist und über dem der Staat wie ein rocher de bronce, wie eine eherne und unerbittliche Gottheit errichtet werden sollte.

             Der Staat schützt die Rechte des Spiels nicht durch die Gewalt seiner Exekutivorgane, aber das Spiel schützt sich selbst, indem es die Spielerehre schuf. Sie wird nicht hoch gewertet und doch ist sie die einzige Form der Ehre, die im Laufe der Menschheitsgeschichte keine Änderung erfahren hat.

             Alle anderen Ehrbegriffe haben den Kreislauf von ehrlos zu ehrwürdig wiederholt durchlaufen. Die Geschlechtslehre hat sich in der Entwicklung der Jahrtausende ihrem Inhalt nach ebenso geändert wie die Standesehre, wie die Auffassung vom Eigentum und vom Staat. Nur die Spielerehre ist die gleiche geblieben. Einer materialistischen Auffassung der Ethik sollte dies ernstlich zu denken geben. Wenn die Skeptiker alle Argumente für sich haben, die sagen, daß der Mensch das Gute nur tue und das Schlechte nur unterlasse, wenn äußere Gewaltmittel ihn hindern oder abschrecken, seinen Trieben nachzugeben, wenn behauptet wird, daß die Moral im ganzen bloß der Ausdruck der bestehenden Machtverhältnisse sei, so bleibt dem Idealisten schließlich nichts als das verachtete Spiel zum Beweise der menschlichen Güte.

             Im Spiel allein bewies und beweist der Mensch seine Achtung vor dem frei geschlossenen Übereinkommen, vor der Abmachung auf Treu und Glauben, die durch keinen Polizisten geschützt werden muß. Im Spiel allein beugt sich und opfert der Mensch freiwillig einem höheren Prinzip, ehrt den Vertrag und damit sich selbst.

             Ich habe die Gesetze des Spieles bis zum Ende erfüllt.“

Der Polizei gelang es nach einiger Zeit, die Leiche des Selbstmörders zu identifizieren. Es war Tiburce Freiherr von Hollenbach-Verault, der das ungeheure Vermögen, das er von seinem Vater ererbt, völlig im Spiel verloren hatte. Seine Gattin, Marie Yvonne, geborene Gräfin Chaloniakowska, war bereits ein paar Jahre früher in öffentlicher Armenpflege gestorben, sein Sohn Horace hatte Dienste in der Fremdenlegion genommen, seine Tochter Eugenie galt als eine der reizvollen Kokotten in der internationalen Lebewelt.

In: Der Tag, 13.4.1923, S. 4.

Hermann Bahr: Tagebuch: Dada-Almanach

             7. Oktober. „Dada-Almanach“, im Auftrag des Zentralamtes der deutschen Dada-Bewegung, herausgegeben von Richard Huelsenbeck (Erich Reiß Verlag Berlin). Darob so großes Entsetzen aller Seriösen, daß sogar dem Verleger selber bange wird und er eilends gelobt, es nicht wieder zu tun und bei diesem einen Anfall von Dadaismus bewenden zu lassen. Warum der Lärm? Ich sehe nicht, weshalb der Dadaismus schlechter sein und weniger Rechte haben soll als irgendein anderer unserer zahllosen Ismen. Er ist nur konsequenter und hat den Mut, bis ans Ende zu gehen, ans Ende der autonomen Vernunft! Wenn Huelsenbeck in seiner Einleitung zu diesem Almanach Dada „die große Parallelerscheinung zu den relativistischen Philosophen dieser Zeit“ nennt und erklärt, Dada sei „kein Axiom, sondern ein Geisteszustand“, Dada sei „der direkteste und lebendigste Ausdruck seiner Zeit“, so spricht er damit ohne jede Renommage ganz einfach die Wahrheit aus. Mir ist ja verwehrt, Dadaist zu werden, weil ich, mich von dieser Zeit abwendend, ein Finsterling geworden bin, weil ich glaube. Wer aber nicht an ein ewiges, übermenschliches, übernatürliches Reich des Wahren, Guten, Schönen glaubt, wer nicht an den lebendigen Gott glaubt, sondern höchstens allenfalls an einen aus menschlicher Vernunft geschnitzten, wer nicht an Vater, Schöpfer Himmels und der Erde glaubt, sondern Himmel und Erde vom Menschengeist erschaffen sein läßt, der ist absurd, wenn er die Notwendigkeit, Dadaist zu werden, verkennt; denn der Dadaist erst hat das Jenseits von Gut und Böse völlig erreicht. „Dada“, fährt Huelsenbeck in seinen Proklamationen fort, „läßt sich nicht durch ein System rechtfertigen, das mit einem „Du sollst“ an die Menschen heranträte. Dada ruht in sich und handelt aus sich, so wie die Sonne handelt, wenn sie am Himmel aufsteigt, oder wie wenn ein Baum wächst. Der Baum wächst, ohne wachsen zu wollen. Dada schiebt seinen Handlungen keine Motive unter, die ein Ziel verfolgen… Dada hat das Reich der Erfindungen entdeckt, von dem Friedrich Nietzsche spricht, er hat sich zum Parodisten der Weltgeschichte und zum Hanswurst gemacht.

Das ist ja wirklich das einzige, was dem Menschen übrig bleibt, sobald er sich von allem Sollen frei, sobald er seine Vernunft souverän erkärt. „Der Dadaist“, sagt Huelsenbeck, „ist der freieste Mensch der Erde. Ideologe ist der Mensch, der auf den Schwindel hereinfällt, den ihm sein eigener Intellekt vormacht, eine Idee, also das Symbol einer augenblicksapperzipierten Wirklichkeit habe absolute Realität.“ Durch den Dadaisten ist also zum erstenmal das finstere Mittelalter wirklich überwunden, die Gegensätze stehen einander nun rein gegenüber, Aug in Aug und jedermann kann wählen, ob er Finsterling oder Dadaist sein will; die feigen Kompromisse sind unmöglich geworden. Wer A sagt, muß auch B sagen: wer autonome Vernunft sagt, muß auch Dada sagen. Die Finsternis des Mittelalters bestand ja nämlich darin, daß es die Vernunft nicht herrschen ließ, sondern dienen, der Wahrheit dienen. Indem sich die Vernunft allmählich diesem Dienst entzog, um einem Knecht der Wahrheit ihr Herr zu werden, anerkennend, sondern fortan nach eigener Willkür dekretierend, was wahr, was schön, was gut sein soll, war es schon eigentlich nur noch ein Atavismus, überhaupt noch eine für alle gültige, für alle verbindliche Wahrheit anzunehmen und bald schaffte sich auch jedermann seine private zum eigenen Hausgebrauch selber an. Aber auch darin blieb noch ein atavistischer Rest: es gibt nämlich durchaus keinen Grund, warum diese von mir nur für mich allen zum eigenen Gebrauch angelegte Wahrheit deshalb nun irgendwie mich selber binden soll: ich kann sie doch jeden Augenblick mit einer neuen nach Belieben vertauschen, was auch viel amüsanter ist. Wenn Weltanschauung nicht Anschauung einer von mir unabhängigen Welt, nicht der Reflex eines Objekts in meinem Subjekt, nicht meine Relation zum Absoluten ist, wenn ungewiß ist, ob es eine solche Welt an sich ohne mich überhaupt gibt, wenn die Welt nur ein Geschöpf meines Intellekts ist, warum soll mein schöpferischer Intellekt sich dann mit einem einzigen Schöpfungsakt begnügen? Warum so faul? Warum nur einmal schaffen? Wenn sie bloß von meinem Intellekt ausgeschwitzt wird, warum dann nur ein einziges Exsudat? Und Dada tut aber auch noch den letzten großen Schritt, indem es den Intellekt zur Selbstbesinnung bringt: der Intellekt fällt jetzt auf den Schwindel, den er sich vormacht, selber nicht mehr herein! Damit ist die höchste Leistung der souveränen Vernunft erreicht, das Ende. Die Denkmöglichkeiten sind erschöpft, aller Dunst ist weggeblasen, ganz rein liegen die beiden Pole bloß: Plato und Dada stehen einander gegenüber und jedermann mag wählen. Der Selbstbetrug, gottlos und zugleich aber auch, als ob vielleicht doch Gott oder etwas Gottähnliches wäre, zu leben, ist unmöglich geworden. Und den braven Leuten, die sich vor dem Dadaismus entsetzt bekreuzigen, bliebe nichts anderes übrig, als damit wirklich Ernst, wirklich das Kreuz zu machen. Vernunft, vom Kreuz befreit, landet bei Dada…

In: Neues Wiener Journal, 31. 10. 1920, S. 6.

Grete Urbanitzky: Berichte aus der Wirklichkeit

             Reportage, eine in Frankreich und Amerika längst anerkannte Kunstgattung, beginnt nun auch bei uns, besonders seit den Bemühungen von Egon Erwin Kisch, ernst genommen zu werden. Man lernt die schwindelhaft aufgemachten Sensationsberichte gewisser Blätter von den Berichten aus der Wirklichkeit zu unterscheiden, die die Erzeugnisse verantwortungsbewußter Journalisten und Schriftsteller sind und dem denkenden Zeitgenossen das wirkliche Leben der Gegenwart in packenden Bildern nahebringen. Darum ist das neue Unternehmen des Verlags „Die Schmiede“, Berlin, sehr zu begrüßen, eine Reihe unter dem Titel „Berichte aus der Wirklichkeit“ herauszubringen. Selbstverständlich ist Egon Erwin Kisch in dieser Sammlung vertreten, der in seinem „Kriminalistischen Reisebuch“ eine Schilderung der Verbrechen aller Zeiten und Länder gibt, die von ihrem Verfasser an ihren Schauplätzen aufgesucht und aufgeklärt wurden. Der Leser erhält durch dieses Buch unmittelbaren Einblick in die romantische und doch sachliche Arbeit des Reporters großen Stils.

             Erschütternd wirkt die von Hans Siemsen herausgegebene Briefreihe „Verbotene Liebe“ – Briefe eines Homosexuellen. Das Wesentliche an diesem Buche, dem Hans Siemsen ein ausgezeichnetes Nachwort über das Problem an sich gibt, ist, daß es den Homosexuellen nicht als einen anderen Menschen zeichnet, sondern erkennen läßt, daß auch diese Liebe dieselben Verwicklungen, dieselbe Tragik und die gleiche Naivität kennt, wie die sogenannte normale. Wüßte man nicht, daß diese Briefe von einem Homosexuellen geschrieben sind, so könnte man das Schicksal dieses Knaben, der unter die Räder eines nur allzu gewöhnlichen Liebesschicksals gerät, als das eines jungen Mädchens ansehen. Leo Lania schildert in „Indeta“ – Die Fabrik der Nachrichten“ ein großes Korrespondenzbureau. Obwohl sich hinter der Indeta keine bestimmte Telegraphenagentur verbirgt, wirft das Buch dennoch scharfe Schlaglichter auf das Wesen und die Organisation des modernen Nachrichtendienstes überhaupt.

             Der französische Dichter Pierre Mac Orlan erzählt in dem Bändchen „Alkoholschmuggler“ von der großzügigen Organisation der Steuerhinterziehung um billigen, für Fabrikationszwecke freigegebenen Spiritus als teuren Alkohol in den Handel zu bringen. Das Buch gewährt einen Einblick in die sehr interessante Welt großzügiger Schiebungen. Als schwächstes Bändchen erscheint mir Eduard Trautners „Gott, Gegenwart und Kokain“, das eine Reihe von Menschen zeichnen will, die dem Giftgenuß verfallen sind und an ihm zugrundegehen. Die Darstellung dringt nicht zum Wesentlichen vor, sondern gibt lediglich Phantasien über das Thema. Wenn aber alle Bändchen der Reihe schwächer wären, so wäre die Berechtigung eines derartigen Versuches, Berichte aus der Wirklichkeit zu geben, allein durch eines aus der Sammlung erwiesen, durch das wundervolle Buch Joseph Roths „Juden auf Wanderschaft“. Wie der Verfasser ausdrücklich betont, wendet es sich nicht „an jene Westeuropäer, die aus der Tatsache, daß sie bei Lift und Wasserklosetts aufgewachsen sind, das Recht ableiten, über rumänische Läuse, galizische Wanzen, russische Flöhe schlechte Witze hervorbringen“. Der Verfasser wendet sich an jene Leser, „vor denen man die Ostjuden nicht zu verteidigen braucht; Leser, die Achtung haben vor Schmerz, menschlicher Größe und vor dem Schmutz, der überall das Leid begleitet: Westeuropäer, die auf ihre sauberen Matratzen nicht stolz sind, die fühlen, daß sie vom Osten viel zu empfangen hätten, und die vielleicht wissen, daß aus Galizien, Rußland, Litauen, Rumänien große Menschen und große Ideen kommen“. Der Westeuropäer pflegt über Bericht über die Wesenheit der Ostjuden mit einem Achselzucken hinwegzugehen, der Ostjude ist für ihn „entdeckt“, und ahnt nicht, welche geheimnisvolle Welt in seiner Nähe ihm noch völlig unerschlossen ist. Was Joseph Roth von der Sehnsucht des Ostjuden nach dem Westen erzählt, von den jüdischen, kleinen Städtchen, von dem Leben der Ostjuden in ihrer Heimat, von den Chassidims, den orthodoxen Juden, die die praktische Idee des Zionismus nicht verstehen können, das rührt tief an unser Herz und enthüllt uns eine fast unbekannte, geheimnisvolle Welt. Besonders interessant ist, was Joseph Roth über die westlichen Ghettos zu erzählen hat, über das Schicksal der Juden in Berlin, Paris, Amsterdam, Marseilles, in Amerika, in Sowjetrußland. Ein bitteres Wort steht in diesem Buche, das Wien nicht zur Ehre gereicht: „Es ist furchtbar schwer, ein Ostjude zu sein; es gibt kein schwereres Los als das eines fremden Ostjuden in Wien.“ Voll Hoffnung blickt der Verfasser nach Sowjetrußland, wo die Judenfrage gesetzlich gelöst wurde: „Jeder muß achtungsvoll zusehen, wie ein Volk befreit wird von der Schmach zu leiden, und ein anderes von der Schmach, zu mißhandeln“.

             Es sei noch bemerkt, daß der Verlag „Die Schmiede“ die Pappbändchen seiner Serie mit dem billigen Preis von 1.80 Mark in den Buchhandel bringt.

In: Der Tag, 8.7. 1927, S. 10.

e.d. [Egon Dietrichstein]: Bei der Roten Garde

In der Stiftskaserne.

             Im Hofe der Stiftskaserne ist eine Grabschrift der altösterreichischen Tradition erhalten, eine Marmortafel, in die mit Goldlettern folgende Inschrift eingraviert ist: „Kriegs Pflanz Schul aus allerhöchsten Gnaden Ihrer kaiserlichen und königlichen Majestäten Francisci und Maria Theresiae für Adelige der Erblandesjugend Offizieren und Söhne zu den künftigen Kriegsdiensten unter der General-Oberdirektion Seiner Excellenz Herrn Feldmarschall Leopold Grafen von und zu Daun errichtet 1754.“ Es wird nichts übrig bleiben, als dies stolze Dokument der franciscischen Zeit zur ewigen Ruhe auf den Friedhof des Heeresmuseums zu überführen, wo der Herr Feldmarschall Graf von und zu Daunsich neben den Handschuhen und der Perücke seines Kriegskollegen Radetzky behaglich fühlen wird als gegenwärtig im Hof der Stiftskaserne. Denn vor der alten Erziehungsanstalt für Adelige der Erblandjugend stehen die roten Gardisten vergattert. Und keine Erinnerung ist hier unzeitgemäßer als jene an die Fürsorge der Kaiserin um einen standesgemäßen militärischen Nachwuchs. Denn die Rote Garde erkennt nicht einmal einen dienstführenden Feldwebel als Gott an, ein Hauptmann ist ihr nicht mehr als ein Zugführer und ein Zugführer so viel wie ein Rekrut. Sie hat die Autorität der Sterne, Abzeichen und Litzen, der goldenen und silbernen Auszeichnungen abgeschafft und der Herr Feldmarschall Graf Leopold von und zu Daun müßte seine Menageschale höchstpersönlich tragen…

             Die Rote Garde ist gegenwärtig etwa 4000 Mann stark und man begreift, daß ihr freiheitliches Programm Zulauf hat. Der Werbetrommel folgen Männer jeden Alters, aller sozialen Kreise und Stände, Proletarier und selbst Adelige. Ein Graf Lamezan (alter österreichischer Beamtenadel) ist in ihre Reihen getreten. Die Lamezans, die in den Ministerien und Kanzleien als Hofräte rechtschaffen Akten verwalteten, wären, hätten sie den mißratenen Enkel geahnt, aus Gram und Kummer dreißig Jahre früher in Pension gegangen. Sogar ein leibhaftiger Fürst, dessen Rang der Gotha nachweist, wollte – hört, hört – Gardist werden und wurde abgelehnt, weil seine wenig demokratische Vergangenheit bekannt war. Man wußte, daß er, als er noch mit Durchlaucht angesprochen wurde, dieses Vorrecht zu Schikanen der Mannschaft mißbrauchte. So wird es den Adeligen der Erblandsjugend schwer gemacht, den Anschluß an die neue Zeit zu finden und sich von den traditionellen Geburtsfehlern zu befreien. Es wird doch nichts übrig bleiben, als die – Kriegs-Pflanz-Schul.

             Das sind die roten Gardisten, ihr Hauptmann ist der romantische Oberleutnant Egon Erwin Kisch… Er ist nun mit derselben Begeisterung, mit demselben agilen Temperament, mit dem er seinen Roman und die Aufsätze für Zeitungen schrieb, bei der Führung der Roten Garde. Er hat das tintenklecksende Säkulum satt und will diese neue Zeit nicht nur als Zuschauer miterleben, sondern mitagieren. Und die ersten Taten des jungen Gardekommandanten und Werbeoffiziers der Volkswehr sind wirklich sehr vielversprechend: Er hat ein Lebensmittelmagazin in der Kaserne ausgehoben und dem Amt für Volksernährung zur Verfügung gestellt, Plünderungen auf dem Matzleinsdorfer Bahnhof verhütet, vier Bataillone formiert, die Akten des Kriegsarchivs vor brutalen Eingriffen bewahrt. Der Prager Dichter hat ein ganz unlyrisches Organisationstalent gezeigt und die Rote Garde, die so leicht in den Ruf einer Truppe von Desperados und Abenteurern geraten könnte, zu einem disziplinierten Körper ausgestaltet, der nicht vergessen hat, daß Ruhe und Ordnung die ersten Pflichten des Bürgers sind. Und die Pflichten der Roten Garde, sie zu erhalten… Oberleutnant Kisch wird in seinem anstrengenden Dienst von Herrn Rothziegel, dessen rote politische Überzeugungen öfter mit den Gesetzesparagraphen in Widerspruch gerieten, unterstützt.

             Noch ein roter Soldat hat sich aus der Masse der Namenlosen erhoben: Korporal Haller, ein etwa 24jähriger Student aus Bielitz, sozialistisch-radikal, revolutionär, lockenköpfig. Bei der Versammlung im Dreher-Saal hat er zuerst das Wort von der „Roten Garde“ in die Masse gerufen, vor dem Deutschmeisterdenkmal und dem Parlament mitdemonstriert, dann ist er spurlos verschwunden. Unter etwas legendären Umständen: Man sagt, er sei in der Universität angehalten und um seine Legitimation befragt worden. Als er sich nicht ausweisen konnte, habe man ihn in ein Automobil gesetzt und zum Nordbahnhof expediert, von wo er nicht wiederkehrte. Dieses Ende einer kurzen Gardistenkarriere ist romantischer als ihre Figur…

             Im Hofe der Stiftskaserne steht die neue Garde. In einer Zeit, in der sich die alten Garden, die nicht zum Kampfe, sondern zur Repräsentation berufen waren, dem neuen prunklosen Regime ergeben mußten, die einzigen Gardisten Österreichs. Sie bewachen keine aus Babenbergerzeit gesammelten Kostbarkeiten, sondern die idealen Güter, welche dieser junge Staat bereits geboren hat… Das sind die Roten Gardisten, ihr Hauptmann ist Oberleutnant Kisch… Wenn Teufel zu Gegnern sie hätten, ihr Herz fällt nicht in die Schuh.

In: Neues Wiener Journal, 12.11.1918, S. 5.

Richard Kralik: Unsere Kunststelle

             Es ist eine für das katholische Leben eminent wichtige Angelegenheit, die wir in ihrer vollen Bedeutsamkeit zu würdigen haben. Unter der Leitung von Hans Brecka, den unsere Leser als Kritiker, Dramaturgen und Dichter („Stiftegger“) sehr wohl kennen, wirkt seit März dieses Jahres die „Kunststelle für christliche Volksbildung“, hervorgegangen aus der bewährten Organisation des „Katholischen Volksbundes“, unterstützt von der Gemeinde Wien, im Zusammenhang mit unseren politischen und Berufsorganisationen, gefördert von so großen Vereinen wie dem herrlichen Sängerbund „Dreizehnlinden“ und von manchen begeisterungsvollen Mitarbeitern. In der kurzen Zeit der ihrer Wirksamkeit hat die „Kunststelle“ bereits Unglaubliches geleistet an Zahl und Gehalt der Aufführungen in größerem wie in kleinerem Rahmen. Klassische Dramen und Opern wurden in unseren ersten Theatern geboten, neuere Dichter kamen zur Geltung. Das katholische Kunstleben wurde so in einer bisher nicht gewöhnlichen Weise berücksichtigt, so bei den „Meisteraufführungen Wiener Musik“.

             Das christliche Publikum hat damit die ihm gemäße Kunst dargeboten erhalten. Es zeigt sich auch dafür dankbar, es strömt zu den billigen Aufführungen hinzu. Es ist aber auch die Pflicht der christlichen Intelligenz, besonders der Politik, die große Bedeutung der Sache zu würdigen, sich dieser glücklichen Entwicklung dankbar bewußt zu werden und sie auf jede Weise zu fördern.

             Es ist staunenswert, was da bereits geleistet wurde. Aus den Programmen von März bis Oktober, die 23 Veranstaltungen aufweisen, hebe ich hervor: Balladen und andere Rezitationen, Mozarts Requiem, Nestroys klassische Komödien, Kammermusik, Volkslieder zur Laute, Haydns „Schöpfung“, Orgelkonzert Springer, Kunstwanderung nach Klosterneuburg mit Orgelkonzert Goller, Veronika, „Die Kinderbergstadt“ von Rienößl, „Aus der Biedermeierzeit“, Beethovens „Fidelio“, „Aus Alt-Wien“, „Der Wafffenschmied“, „Das alte Spiel von Dr. Faust“, „Wilhelm Tell“, „Der Ackermann und der Tod“. Andere bedeutende Veranstaltungen sind für die Wintermonate vorbereitet.

             Die Arbeitslast dieser großen Serie ist ungeheuer. Es ist schier unglaublich, daß ein einzelner Mann wie der bewährte Leiter der Kunststelle sie bewältigen kann. Denn nur der Eingeweihte in dies Kunstleben weiß, welche neuen Mühen bei jeder neuen Veranstaltung immer wieder erwachsen, vom Drucklegen der Programme und Karten an bis zur künstlerischen Vollendung. Aber nach meiner eigenen früheren Erfahrung in diesen Dingen ist derlei wirklich nur ausführbar, wenn sich ein Mann wie Brecka findet, der alles unter eigener Verantwortlichkeit beherrscht, der auf sich selber in allen Einzelfragen zählen kann, der die Kenntnisse, die allseitige Befähigung, die vielseitigen Beziehungen zu Künstlern, Vereinen, Instituten hat, der als erprobter Mann deren volles Vertrauen besitzt.

             Man sagt so oft irrigerweise, daß wir keine Männer haben. Ich bin diesem Irrtum wiederholt auf jedem Gebiet entgegengetreten. Wir haben die Politiker, die wir brauchen, wir haben die Dichter, Künstler, Aesthetiker, Männer der Wissenschaft, wir haben die Organisatoren jeder Art. Wir müssen sie nur an ihrer richtigen Stelle einschätzen, uns dessen bewußt werden, was wir alles besitzen, um so unsere christliche Kultur zu jener Bedeutung in Gesellschaft und Staat zu bringen, die ihr von Rechts wegen gebührt.

In: Reichspost, 4.11.1920, S. 1.

Hermann Bahr: Katholische Kunst

Da der Katholizismus in unseren Tagen vor allem an innerer, aber allmählich auch schon an äußerer Kraft überall wächst, entsinnt er sich nun, wenn auch vorderhand nur erst insgeheim, langsam wieder der Bedeutung, die gerade in seinen größten Zeiten die Künste für ihn hatten, und er wieder für sie. Es wird ihm bewußt, daß in allen Epochen die Kunst der Gradmesser des Geistes ist. Wer dereinst nach Gehalt, Ausmaß und Gestalt des Katholizismus unserer Zeit fragen wird, wird nicht unterlassen können, sich vor allem bei der katholischen Kunst zu erkundigen. Wir müssen fürchten, daß er ihn, nach seinen künstlerischen Leistungen urteilend, arg unterschätzen wird. Wir haben zurzeit kein Werk eines katholischen Künstlers, das ersten Ranges wäre; die katholischen Werke, die sich diesem Range nähern, sind sich gar nicht bewußt, katholisch zu sein, und ihr Künstler erstaunt, wenn sie katholisch wirken. 

[…]

Jedes Kunstwerk offenbart in der Tat seinen Künstler. Es offenbart sogar mehr von ihm, als er selber von sich weiß. Aus diesem Wunsche des Dichters, des Künstlers, sich wirklich kennenzulernen und mehr über sich selbst zu erfahren […] wird er recht eigentlich zum Dichter, zum Künstler. Sein tägliches Leben aber, seine Begegnungen zur Umgebung, seine Liebschaften, seine Feindschaften, seine Wünsche können davon nichts verraten, weder von ihm selbst noch anderen: Die Wurzeln des Wesens seiner Persönlichkeit liegen weit tiefer, sich lassen sich höchstens zuweilen in Träumen ahnen. Jeder Mensch, gar das unselige Geschöpf, das sich rühmt, ein Kulturmensch zu sein, trägt ein künstliches Gesicht zur Schau, das auch ihn selber täuscht; sein wahres erscheint ihm zuweilen nur im Traum, vor Schreck erwacht er. Die Künstler haben vor den anderen den Segen oder den Fluch voraus, wach zu träumen, so wach, daß sie den Traum von sich ergreifen, festhalten und gestalten können. […] Wer dieses kann, den lehrt ein Kunstwerk seinen Künstler in allen Tiefen und Untiefen seiner Persönlichkeit erkennen, dem wird offenbar, welcher Nation ein Dichter angehört, nach den ersten vierzig Seiten einer halbwegs richtigen, den persönlichen Stil des Originals nicht völlig verleugnenden Übersetzung sogar. Er wird ebenso manche Werke katholisch nennen, ohne erst zu fragen, welcher Konfession ihr Schöpfer angehört, ja er wird sich in diesem Urteil auch durch die Gewissheit, daß sie von einem Protestanten oder Juden stammen, durchaus nicht beirren lassen, sondern einfach erwidern, dieser Dichter oder Maler oder Komponist wisse dann eben nur nicht, daß er katholischen Geistes und auch in seiner inneren Form Katholik ist. Aber auch Gegenbeispiele gibt es, und leider gar nicht selten: es gibt Künstler, die Katholiken sind, zuweilen auch sehr gute Katholiken, in der Ausübung ihrer katholischen Pflichten sehr eifrig, deren Werke dennoch aber durchaus unkatholisch sind. Wir stehen da vor einem Geheimnis, an dessen Deutung sich ein besserer Psychologe wagen mag, als ich bin. […] Ist schon der Künstler selbst dem Wesen seiner eigenen Kunst, ja seiner künstlerischen Persönlichkeit zuweilen so völlig fremd, daß er gar nicht merkt, wie durchaus unkatholisch, ein so guter Katholik er selbst auch sein mag, sein Talent ist, so dürfen wir uns nicht wundern, wenn dann auch in der Kritik, gar aber unter Laien, eine heillose Konfusion herrscht. Wesentlich unkatholische Werke guter Katholiken gelten für katholisch und bringen dadurch den Geschmack des Katholizismus, ja überhaupt alle katholische Kunst in Verruf, während hinwieder wesentlich katholische Werke, deren Schöpfer aber entweder überhaupt keine Katholiken sind oder Katholiken, die davon nur in ihren Werken, nicht aber in ihrem übrigen Leben Gebrauch machen, von den Katholiken nicht anerkannt werden, von den Feinden des Katholizismus aber, die den katholischen Gehalt solcher Werke wittern, sich auf stillschweigende Verabredung zurückgedrängt sehen. Die Kritik ist durchaus gegen sie: die katholische, weil sie nicht verstehen kann, daß die künstlerische Persönlichkeit zuweilen durchaus nicht mit der alltäglichen übereinstimmt, doch die widerkatholische ganz ebenso, weil sie fürchten muß, daß eines Tages doch durch einen Zufall das katholische Wesen dieser Werke sich auch Laien offenbaren könnte, ein Triumph, den dem Katholizismus zu bereiten sie sich nicht berufen fühlt.

(Nachwort der Schriftleitung: Hermann Bahr denkt sich seinen Aufsatz in besonderer Weise als Anregung zu einer Diskussion. Wir werden deshalb auf das Thema zurückkommen.

[Kursiv herausgehoben durch den Hg.])

In: Schönere Zukunft, 1925, S. 301-302.

Claire Patek: So sieht die schöne Frau von heute aus

Fotos: Kitty Hoffmann

             Seitdem man von den Rubens-Idealen abgekommen ist, hat sich der Geschmack in bezug auf die Frauenschönheit einige Male geändert. Allerdings ist der Übergang nicht kraß vor sich gegangen, sondern milde; man konnte doch nicht alle üppigen Frauenschönheiten plötzlich aus der Welt schaffen. Von Rubens bis zu Makart wurde der Schönheit, nach unseren Begriffen, Arges zugemutet. Es war eine Zeit, die viel Unnatur mit sich brachte. Das einzige, was unserem Geschmack näher kommt, ist die Abkehr von der Vollbusigkeit. Allerdings wußte man damals nicht, wie den Massen beizukommen wäre, und einigte sich auf die hohen Panzer, die die Unformen der damaligen Modezeit ausmachten. Man gefiel sich darin, ein unnatürliches Taillenmaß zu erreichen. Heute kann man nicht begreifen, daß Frauen, die sich solchem Zwang fügten, nur um dem damaligen Schönheitsideal, überhaupt lebensfähig waren. Wie arm waren die inneren Organe behandelt, im ewigen Druck konnten sie sich gar nicht entwickeln. Nach oben und nach unten war der Üppigkeit keine Grenze gezogen, nur die Taille mußte daran glauben, daß es nun ernst wird mit der Änderung der Figur!

             Es gab damals noch keine Hungerkuren, sondern nur Panzer, in die man sich einengte;  heute noch existiert in Wien eine Dame, die man hie und da mit einem großen Hund an der Leine über den Ring oder durch die Stadt wandeln sieht, an der die Zeit wohl nicht spurlos vorübergegangen ist, die aber in der Mode stehen geblieben ist und heute noch das Schönheitsideal der Achtzigerjahre vertritt. Alt und Jung dreht sich nach der „Wespentaille“ um (wie sie im Volksmund heißt), // wenn sie mit einem großen Hut, der auf einem großen Schopf balanciert, durch die Straßen geht: Jung spottet über die Taille, die so eng ist, daß man 49cm Höchstausmaß vermutet, Alt lächelt wehmütig, da man sich an bessere Zeiten erinnert, wo man an derartigen Gestalten hunderte Male vorüberging.

             Und dann kam eine Zeit, in der man es endlich einsah, daß der Fuß der Frau, wenn er hübsch ist – und er ist es bei den Meisten – zu sehen sein sollte: der Rock wurde also kürzer. Dann kam eine Zeit, die mit dem Fischbein-Panzer abzuschließen begann, die Vollbusigkeit verlor sich in eine alles gleichmachende Linie, die Taille sank fast bis zum Knie, und der hohe Kragen gehörte der Vergangenheit an, die noch nicht lange zurücklag, die man aber aus dem Gedanken verbannte. Es gab damals in allen Zeitungen viele Rundfragen – „Für und gegen den hohen Kragen“ –, es stritten die Ästheten wegen der Länge des Rockes, es gab Kämpfe wegen der nun beginnenden Miederlosigkeit, die gerade Front verschwand und die Modeideale: Turnen, Schwimmen, Touristik, Auto, Tennis und, vor allem Tanzen trainierten die Körper. Natürlich wollten viele Frauen mit den Hungerkuren alles erreichen, was ihnen an Schlankheit vorschwebte, aber diese Frauen erreichten neben der Schlankheit auch noch recht viele Falten im Gesicht, und das gehörte gerade nicht zum neuen Schönheitsideal. Als erst wieder die jüngste Jugend herangewachsen, und zwar im Sporttraining groß geworden war, begann der neue Frauentypus großes // Gefallen zu erregen, – das neue Schönheitsideal war mit einem Male gefunden.  Die edle schlanke Rückenlinie, die feste kleine Form des Busens, die Gelenkigkeit aller Glieder, der schlanke Hals und die Schönheit der Beine; bei aller Schlankheit keine Hagerkeit oder unschöne Magerheit – das ist die moderne Frau, die sich im Wandel der Zeiten zur begehrenswerten Schönheit herausgebildet hat.

             Wenn die Rubens-Frauen sehen könnten, wie sehr sich der Geschmack verkehrt hat, sie würden sehr traurig sein über all ihre Fettpolster und es nicht begreifen, wie die moderne herbe Grazie über ihre Lässigkeit, die damals Schönheit nannte, siegen konnte… Auch die Wespentaillen würden kein Verständnis für die heutigen Ideale haben, denn auch sie glaubten ja mit ihrer Geziertheit und Unnatürlichkeit der Inbegriff weiblicher Anmut zu sein. Heute gilt noch immer Grazie und Schick, aber er muß ein wenig preziöser, ein wenig eigenartiger, herber sein als früher – das ist dann die Frau, deren Schönheit bewundert wird und die den Typus von heute repräsentiert.

             Unsere Bilder zeigen die modernen Frauen, die heute als vollendet schön gelten: den Typus, der sich von Rubens über Makart bis zum heutigen Tag ausgebildet hat.

In: Die Bühne, H. 137/1927, S. 22-23 und S. 47.

Ernst Lothar: Der Künstler und der Staat

Wenn man einen mit geistigen oder gar mit schöngeistigen Dingen befaßten Menschen bei uns fragte, ob ihm der Staat etwas bedeute, was er von ihm erwarte, wie er sich ein künftiges Österreich denke; wenn man mit ihm über „Politik“ spräche, dann lächelt der befragte Dichter, Komponist, Maler, Regisseur, Aesthet wohl malitiös, zögerte und erwiderte dann: „Wissen Sie…, davon verstehe ich nichts. Der Staat? Nein. Darum kümmere ich mich gar nicht…“ Das Zögern zwischen dem Lächeln und der Antwort aber hieße: „Gott sei Dank verstehe ich von diesem Quark nichts. Das wäre nach schöner, wenn unsereiner sich mit so etwas abgäbe!“ Mit einem Wort: was ihn lächeln, was ihn zögern machte, wäre: Mißachtung. Entrüstung, daß man ihm dergleichen zuzumuten wage. Abweisung so schnöder, kompromittierend ungeistiger Interessen, wie die Dinge des Staates es für einen Schöngeist sind.

Das ist nicht neu in Österreich. Es war lange vor dem Kriege so, wo Dichter wie Anastasius Grün sich damit abfinden mußten, von Schreibern wie Hofenthal als „k. k. Rhythmiker“ bewitzelt und „ungeistig“ gemacht zu werden; es war knapp vor dem Kriege so, wo ein beharrlicher Aesthet einem Drama Arthur Schnitzlers bedauernd nachrief: „Immer wieder Österreich!“ – das gehört bei uns zur geistigen Uniform und ist leider heute nich immer ein Distinktionsabzeichen geblieben. Aber vor dem Kriege hatten die Funktionäre des Geistes immerhin die Ausrede der Zensur, das heißt, sie brauchten, woran sie unbeteiligt waren, nicht zu äußern, weil die Zensur die Aeußerung jener Meinungen unterband, die sie nicht hatten. Mit einer so probaten Draperie ließ selbst die absolute Interesseleere sich verhüllen, und man konnte jedes Schweigen statthaft finden, wo die Voraussetzung des Redens, wahr zu sein, nirgendwo bestand. Grillparzer, der ein lebenslanges Denken, Dichten  und Reden über Österreich mit seinem Rang vereinbar hielt, Bauernfeld, der vom Staate schrieb, da er in ihm lebte, Saar und Stifter, die für die Landschaft zeugten, der sie sich verschrieben hatten, äußerten Zorn über die Handfesseln, worin die Zensur die freie Gebärde zwang, ohne daß sie sich den Mund dadurch verbieten ließen. Doch diese Fessel ist ja jetzt zerschnitten und es stünde nichts im Weg, daß die Menschen des Geistes zu den Dingen des Staates ihre Meinung äußerten oder, bescheidener gesprochen, diese Meinung hätten.

             Nichts davon zeigt sich, Geist und Staat gelten bei uns als Begriffe, die einander ausschließen. Dieser Erscheinung auf den Grund zu gehen, dürfte nützlich sein, weil sie täglich krasser einen staatlichen Zustand schädigt, der, der Teilnahme der Welt wie nie bedürftig, zuerst der Teilnahme seiner eigenen Bürger bedürfte; unter ihnen besonders jener, die als Menschen des Geistes berufen wären, die Dinge des Geistes zu beeinflussen. Allein hier erhebt sich ja das doppelte Hindernis, welches diese Menschen vom Staate und seinen Bedingungen fernhält: Sie wünschen, Weltbürger zu sein; sie leugnen, daß die Dinge der Politik Dinge des Geistes sind. Sie haben völlig recht und völlig unrecht. Wenn sie, deren Beruf es ist, dem Geiste zu erstatten, was sie von ihm empfangen, in der politischen Fabrik das Schwungrad des Genies vermissen, dann haben sie recht. Wenn sie allzu viele Figuranten auf der politischen Tribüne unbedeutend, das von ihnen veranstaltete Schauspiel peinlich finden, dann haben sie recht. Wenn sie, die das Große und das Unvergängliche, das Zarte und Erhabene vor Augen tragen aber es zu tun behaupten, die Menschenstimme im Gebrüll, die Sache in ihrer Verdrehung, das Politische im Parteipolitischen nicht wiedererkennen und angewidert sagen: „Alles das widerstrebt uns!“, dann haben sie abermals recht. Doch indem sie diese richtigen Prämissen aufstellen, ziehen sie daraus die falschesten Schlüsse. Statt nämlich zu sagen: „Diese Art, mit den Dingen des Staates umzugehen, stößt uns ab, folglich sollten wir eine anziehendere herbeiführen helfen“, urteilen sie: „Weil die Staatsmaschine widrig knarrt, darf der geistige Mensch sie überhören.“ Der Irrtum, der hier stattfindet, springt in die Augen, ohne daß man ihn sehen wollte: man verurteilt die Sachwalter und entzieht sich der Sache.

             Wie ausnahmslos dies geschieht, wie verantwortungs- und teilnahmslos die geistigen Menschen in Österreich dem Staate gegenüberstehen, konnte jeder erfahren, der in den letzten Jahren einer österreichischen Parlamentssitzung angewohnt hat. Kein Zweifel, daß in diesem Rundsaal unheimlicher Akustik, wo jede Rede überlaut Zeugnis dafür ablegt, was nicht gesagt wurde, auch Vertreter der Gehirne sitzen und daß, hüben und drüben, sich ehrliche Überzeugung, Talent, Kenntnis, Routine, brave Tüchtigkeit versammeln. Wer aber könnte daran vorbeigehen, daß in diesem pompösen, mit allen Emblemen stolz geschmückten Kuppelraum das Emblem des Genies fehlt und daß, so hoch die gläserne Kuppel über den Redenden sich ständig wölbt, so tief das Niveau ihrer gelegentlichen Zänkereien sinkt, von keinem Einfall befeuert, vom Ingenium kaum jemals faszinierend aber versöhnend angestrahlt. Gewiß: ein Parlament ist weder eine Akademie der Künste noch ein Theatersaal, und Volksvertreter müssen, da sie namens des Volkes sprechen, auch zum Volke sprechen. Dies hat jedoch mit einer bezeichnenden Feststellung nichts zu tun: In diesem Parlament sitzt kein Dichter, kein Künstler, kein einziger, den man außer aus dem Wahlkreis, aus dem Weltkreis seiner Werke kennt.  

Ein beschämenderes Zeugnis für die Gleichgültigkeit, die unsere geistig Beteiligten dem Staate entgegenbringen, gibt es nicht.

             Aber sie wollen ja Weltbürger sein und vernachlässigen darum das Lokale. Was ist ein Weltbürger? Jemand, der anteilhaft das Zimmer flieht, um den Horizont zu gewinnen. Jemand also der, da er in einem unbeschränkten Sinn zu urteilen strebt, zu einem solchen auch beitragen müßte. Wer war ein Weltbürger, dessen Beispiel unangreifbar bleibt und den gerade die heutigen Erbpächter des Geistes, die sich am liebsten „Europäer“ nennen, als Schutzpatron reklamieren? Es war der Staatsminister Goethe. Sonderbares Zusammentreffen. Jener verehrungswürdige deutsche Weltbürger – großherzoglicher Aktuar, Block Zehn pünktlich im Konseil, wo es darum ging, Wegmauten nach Straßfurth zu tarieren, die Ilmenauer Chaussee mit Ahornschößlingen zu dotieren, den Reisediäten des Kameraladjunkten Iffetzheimer etwas abzuknapfen… zwei Taler einundzwanzig Groschen. Wie versäumt der Weltbürger die kleinstädtischen Amtstunden, widmet halbe Tage, zur Zeit des Theaterbrandes sogar die Nächte, den Regierungsgeschäften, will sagen, den Duodezagenden eines Ländchens. Ein Wesenswiderspruch? Eitle Schwäche des auf Manifestation bedachten Mannes, der gewünscht hat, mit einem Brillantstern am Bratenrock zu glänzen? Der billige Einwand zeigt seine Dürftigkeit, wenn ihn an des Menschen Erscheinung mißt, gegen den man ihn erhebt. Worin lag Goethes Singularität? In seiner Universalität. In dieser ungeheuren, seit Aristoteles nicht dagewesenen und später nie wieder erreichten Umspannung des geistigen Gehalts der Erde; in dieser unvergleichlichen, fast gierigen Bereitschaft, das Vorhandene sich zuzueignen, zu durchforschen, zu erkennen; in dieser unfaßbaren Fähigkeit, die dauernde Begierde dauernd zu machen stillen und das Wissen der Welt hinter eine Stirn zu speichern! Der Spezialist, der zu Goethe eintrat, fand einen Mann, mit dem über die speziellen Dinge zu reden leicht war. Denn er redete die Sprache des Botanikers wie die des Malers, die des Musikers nicht ungeläufiger als die des Geologen, die des Physikers so vollkommen wie die des Juristen… wer zu ihm in das fremde Haus kam, fand die eigene Arbeitsstätte wunderbar dahin versetzt und ein brennendes, unersättliches Interesse an allem Interessanten. Und interessant war – alles! Denn Goethe verfiel nie in die unerträgliche Manier so vieler jetzigen Schaffenden, die (was nur ein Zeichen menschlicher Unterlegenheit ist) in jedem Gespräch nichts als den Umweg zu sich selber, in jedem Augenblick nur das Postament suchen, sich und ihre Ueberlegenheit darauf zu stellen, sondern sammelte wie ein tiefer gewölbter Spiegel die Lichter, Reflexe und Schatten der Erscheinungen. Alle waren ihm wichtig. So hätte er kein Wort entschiedener verleugnet und für einen geistigen Menschen armseliger gefunden, als die von Ueberhebung triefende Bescheidenheit: „Davon verstehe ich nichts.“ Gerade der sublime Wille, alles zu verstehen, macht ja aus irgendeinem Bürgerssohn den Botentaten Goethe, aus einem Provinzhaus am Weimarer Frauenplan das Gebäude einer geistigen Welt. Stand es anders um Voltaire? Und (unserer Zeit näher) um Tolstoi, Anatole France, Zola, Romain Rolland, Shaw? Haben diese großen Europäer je den Staat bagatellisiert?

             Von ihrem geistigen Mut findet sich bei den Künstlermenschen von heute blutwenig. Dafür um so mehr von einem Hochmut, der die dahintreibt, allem außer ihrem Wirkungsbezirk Gelegenen den Stempel „unwichtig“ und „unkünstlerisch“ aufzubrennen. Da jüngst in einem Kreise von Künstlern ein Richtkünstler die Rede auf die geplante österreichische Künstlerkammer brachte und ein politisches Gespräch begann, schnitt ein Musiker die Diskussion mit der Bemerkung ab: „Ich bitte Sie… ein Takt der Neunten ist mir wichtiger als das alles!“ Ich gebe diese Äußerung wörtlich wieder, weil sie als typisch gelten darf und den Zwangsvorstellungskreis illustriert, worin die geistige Feudalwelt sich gern ergeht. Den Menschen, neben denen die Erde sich spalten könnte, ohne es ihnen minder wichtig zu machen, daß um halb Elf eine Generalprobe und daher ein Erdbeben (das sie verschonte) von geringer Importanz ist, gibt es nicht wenige. Man pflegt sie hochachtungsvoll mit jener Besessenheit von ihren eigenen, den Dingen der Kunst, zu rechtfertigen, die so verwandt mit Bedeutung und so benachbart der Genialität erscheint. Ist ein Ausspruch wie der des Musikers, der von einem Takte der Neunten demütig den Hut zieht, um ihn vor der Not der Zeit auf dem Kopfe zu behalten, nicht des Beifalls sicher, weil er so ins Magische zielt und zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit die Bolte schlägt? Es liegt mir, weiß Gott, fern, die Ueberzeugung eines Menschen zu verdächtigen, der es mit der Neunten hält. Was dagegen mißlich ist und worin (mehr als in der Besessenheit) der Grund für solch lapidare, als Weltanschauungen kostümierte Dikta liegt, das ist, mit Verlaub, die Unbildung derer, die sie aussprechen. Ihre vehemente Unbildung. Denn während ein geistig-ästhetisches Spezialistentum überhandnimmt; während es gang und gäbe geworden ist, daß etwa jemand, der ein Orchester meisterhaft dirigiert, nie etwas Gedrucktes liest als Partituren oder Rezensionen  über Partituren; während es so weit kam, daß ein Schriftsteller von Rang am Tage der Nürnberger Eisenbahnkatastrophe die Frage, was es Neues in der Zeitung gebe, mit der Erklärung beantwortete: „Hofer scheint in Berlin gefallen zu haben!“ ; während allenthalben eine ungeheure begriffliche Wertverschiebung sich ereignet: kann es geschehen, daß jemand die Neunte Symphonie mit einer Fürsorgemaßregel vergleicht, jene wichtig, diese außer seiner Sphäre findet und dafür als Europäer geachtet, statt als Schwätzer überhört wird. Der Neunten zu bestätigen, daß sie eiwg ist, dürfte entbehrlich sein. Sicher ist, daß sie mit dem Staate so viel zu schaffen hat wie der Bestätiger mit universellen Interessen.

             Man interessiert sich zu wenig für das Allgemeine in den Elfenbeintürmen der Kunst; man weiß dort zu wenig. Die Kenntnisse, die man dort von den primitivsten staatlichen Bedingungen hat, werden von Bürgerschülern übertroffen, und blättert man etwa einen heutigen Roman auf, dann man sich darüber wundern, was alles der Verfasser nicht wußte, Der Künstler ignoriert den Staat. Gar die Zumutung, jenes „politische Geschöpf“ zu sein, als das ein großer geistiger Ahnherr die Menschen betrachtet hat, hielte er für komisch. Traurig, daß er das tut, wirksame Kräfte einem bedeutenden Gebiet und diesem Gebiete damit die Bedeutung raubt. Als ob Geist und Staat, jener diesen bestimmend, nicht Gemeinschaft, ja ein Aufeinandergewiesensein verbände! Erst kürzlich hat ein berühmter deutscher Gelehrter den Beweis zu führen versucht, daß Kunst und geistige Kultur zur Voraussetzung – den Staat hätten, daß „Kultur nur im Staate, hochentwickelte Kultur nur im höchstentwickelten Staate gedeihe“, was eine Hypothese, dich eine solche ist, die ihre historischen Schwächen mit eminenter Gegenwartskraft stützt: durch die Dokumentierung des organischen Zusammenhanges, der den Rechtsstaat an den Geist als seinen Schöpfer und Gestalter bindet, jene unendliche Beziehung, die Leffing als die „Affinität der Politik, Ideal und Idee“, Carlhle mit dem Worte von den „Gehirnstunden in der politischen Uhr“, Montaigne als eine „freie Ehe zwischen dem Trieb und seiner Veredlung“ bezeichnet: jeder in einer anderen Sprache, alle in derselben Ueberzeugung. Eine Beschäftigung mit Dingen, die (nach einem Worte Shaws) „fabelhafte, von den landläufigen Dummköpfen unter den Literaten gar nicht begriffene Möglichkeiten habe“, kann, meine ich, niemandes Geistigkeit herabsetzen. Sich für ihre Heimat zu interessieren, das heißt sie mitzuverantworten, ist also auch schöngeistigen Professionisten ohne Bestaubung ihres europäischen Mantels erlaubt.  Nein. Es ist ganz einfach ihre Pflicht. Die Zeit der „splendid isolation“ ist vorbei. Heraus aus den Elfenbeintürmen! Das würde, durch die nähere Berührung mit dem Leben, der Kunst zustatten kommen, deren Weltbürgerlichkeit an Weltfremdheit leidet. Und es würde, durch die nähere Berührung mit dem Geist, dem Staate zustatten kommen, der des Weltbügrertums bedarf. Denn dem Gemeinwesen, worin man lebt, den Anteil zu verweigern, heißt keineswegs ein Europäer, sondern bis zur Unverträglichkeit egoistisch sein, oder aber …: ein Snob.

In: Neue Freie Presse, 12.8.1928, S. 1-3.

Raoul Auernheimer: Expressionistische Bewegung

             Es wird jetzt ziemlich viel von Expressionismus gefabelt, sowohl von den Führern dieser allerneuesten Literatur- und Kunstbewegungen als auch von jenen, die sich ihr aus freier Überzeugung angeschlossen haben aber aus Furcht, den Anschluss zu versäumen, dahinter hertaumeln. Indessen wissen die wenigsten zu fragen, was dieses dunkel und gewalttätig klingende Wort „Expressionismus“, das ungefähr gleichzeitig mit den Bolschewiken in die deutsche Sprache eingedrungen ist, im Grunde bedeutet, was man sich dabei zu denken habe, und das ist umso merkwürdiger, als es die Expressionisten selbst an Versuchen, sich uns zu erklären, keineswegs fehlen lassen. Man kann in diesem Zusammenhang recht wohl bereits von einer expressionistischen Literatur reden, zumindest von einer Literatur über den Expressionismus. Die aufschlussreichste und den hier unter Betracht kommenden manifestartigen Verlautbarungen dürfte eine Rede sein, die Kasimir Edschmid, einer der Häuptlinge des literarischen Expressionismus, im Dezember vorigen Jahres vor dem Bunde deutscher Gelehrter und Künstler in Berlin gehalten hat. „Wenn man,“ so beginnt der Redner seine auch gedruckt vorliegenden Ausführungen, „selbst verstrickt in eine Bewegung, darüber auszusagen den Drang spürt, bedarf es vor allem Unerbittlichkeit und Hingabe.“ An beiden Voraussetzungen, die selbstgestellte Aufgabe zu bewältigen, lässt es der Wortführer der jungen Bewegung, der in seinen unprogrammatischen Stunden ein schätzbarer Novellist ist, in der Folge nicht fehlen, am wenigsten an der erforderlichen Unerbittlichkeit. „Seit der Romantik war Stagnation,“ erklärt er nach ein paar einleitenden Allgemeinheiten und macht mit dieser halben Zeile, wie mit einem Rasiermesserschnitt, vier Generationen und literarischen Richtungen zugleich den Garaus. Das junge Deutschland und die nachfolgende sogenannte Epigonenzeit werden verworfen, aber auch der Naturalismus, den die Expressionisten Impressionismus nennen, und das „Ästhetentum“ gehören – die Anhänger der alten Richtung werden jubeln – auf den Schindanger. Im Gegensatz zu diesen abgetanen Schulen stellt Edschmid sodann die Grundlinien der eigenen fest. Die jungen Dichter von heute wollen nicht mehr wie die von 1890 das Leben nachbilden, sondern nur, sozusagen, ihre eigene „Vision“ von der Welt gefühlsmäßig zum Ausdruck bringen. Hierdurch unterscheiden sie sich von Anbeginn von ihren Vorgängern: „Sie sahen nicht, sie schauten; sie photographierten nicht, sie hatten Gedichte.“ Wozu auch photographieren? „Die Welt ist da, und es wäre sinnlos, sie zu wiederholen.“ Was uns not tut, ist vielmehr, daß „alles, was der Dichter darstellt, eine Beziehung zur Ewigkeit bekommt.“ Damit wird man sich gern einverstanden erklären, obwohl diese Erkenntnis nicht gerade aus dem Dezember 1917 stammt. Was Edschmid die „Beziehung zur Ewigkeit“ heißt, nannte man zu Goethes Zeit und wohl auch noch etwas später das „Allgemein-Menschliche“. Wogegen dann, weil es schließlich ganz im himmelblauen und konventionellen zu zerfließen drohte, die Naturalisten mit ihren aufgeregten Wahrheitsforderungen Sturm liefen.

Auf den allgemeinen Teil von Edschmids Rede folgt dann der besondere. Namen werden genannt und mit jener schönen Parteilichkeit ausgerufen, die ein liebenswürdiges Vorrecht der expressionistischen wie jeder anderen Tugend bildet. Heinrich Mann führt den Reigen. Er ist eine Art Stubenältester der expressionistischen Schule, was seinen Humor hat, wenn man bedenkt, daß Heinrich Mann alles in allem einige vierzig Jahre alt ist. Für die Expressionisten aber steht er offenbar bereits an den äußersten Gemarkungen des menschlichen Lebens und mit einem Fuß im Grabe; man kann daraus ermessen, wie jung sie selber sind. Mann gegenüber, gleichfalls auf einem Sockel, wird Wedekind aufgestellt, als Schutzpatron des Dramas. Ihm reihen sich dann auf dem engeren Gebiete der neuen dramatischen Richtung Rene Schickele, Hasenclever, Kornfeld und Unruh an, lauter sehr begabte junge Dramatiker. Goering, der Verfasser der „Seeschlacht“, wird nicht erwähnt; er ist der bedeutendste. Hingegen wird von Döblin rühmend hervorgehoben, daß er „quadratisch dasteht“ und von Georg Heym gemeldet, daß er „Gedichte stürzte“. Dem Lyriker Werfel wird im Vorbeigehen der ihm gebührende Rang eingeräumt, Trakl erwähnt, von Stramm gesagt, daß er den „Satzleib derart zerglühte, daß nur… benommenes Stöhnen übrig blieb“, während der verhältnismäßig blässere Däubler bloß ein „in silbernen Wucherungen kosmisch wucherndes Versfleisch besitzt“, der Arme. Die Rede ist aber trotz dieser an das gottselige Preziösentum gemahnenden Manieriertheiten, über die als der Molière der neuen Richtung Karl Sternheim zu spotten berufen wäre, ganz vernünftig geschrieben, sie schließt auch sehr vernünftig. Es seien vorerst nur die Ansätze zu einer neuen Kunst vorhanden, sagt der Redner beiläufig, was daraus weiter entstehen werde, möchte er nicht entscheiden.

Und indem er die weitere Entwicklung mit einer Bescheidenheit, die überrascht, Gott anheimstellt, schließt er versöhnlich mit den Worten: „Niemand ist gut, weil er neu ist. Keine Kunst ist schlecht, weil sie anders ist.“ Ja, er geht noch weiter: „Ein guter Impressionist ist größerer Künstler und bleibt für die Ewigkeit aufbewahrter als die mittelmäßige Schöpfung eines Expressionisten, der nach Unsterblichkeit schaut.“ Schließlich ringt sich der Redner noch das Zugeständnis ab: „Vielleicht besteht vor dem Urteil des letzten Tages Zolas, schamlose, gigantische, stammelnde Nacktheit der Kraft besser als unser großes Ringen um Gott…“ Man sieht, die neue Jugend bemüht sich sogar, gerecht zu sein. Es gelingt ihr nur nicht immer.

Es ist übrigens kein Zufall, sondern tiefere Gerechtigkeit, daß in diesem Zusammenhang Zola genannt wird. Die neue Bewegung, die gegen den siegreichen Impressionismus kämpfen uns stürmen gelernt, und Zola war es, der damals, vor fünfzig Jahren, als einer der jungen Offiziere der jungen impressionistischen Kunst die ersten Sturmtrupps befehligte, die ersten feindlichen Stellungen nahm. Auch dazumal waren es die Maler, die als eine lockere Plänklerkette vorangingen, während die Literatur erst etwas später nachrückte. Im Jahre 1890, als die jetzt Unmoderne in Deutschland modern wurde, verlief der Kampf nicht viel anders, nur daß der deutsche Naturalismus vom Anfang an weniger auf den Roman als auf das Drama losging, das unter Ibsens geistiger Führung mit stürmender Hand erobert werden sollte. Die jungen Leute von heute machen ihre Sache aber gründlicher, sie stellen ebenso viel Dramatiker wie Epiker und Lyriker ins Feld und planen einen Durchbruch auf der ganzen Linie, indem sie neben den Malern auch noch die Plastiker, ja die vor allem, zum Kampfe unter den neuen Fahnen aufgerufen haben. Nur die Musik ist noch nicht expressionistisch, wahrscheinlich weil sie es immer war. Denn was heißt Expressionismus? Wörtlich übersetzt Ausdruckskunst, sinngemäß verdeutscht, diejenige Kunst, die im Gefühlsausdruck ihr eigenes Ziel sucht und findet. Gefühl ist jetzt wieder alles, wie zur Zeit der Romantik, und die jungen Leute von heute scheren sich einen blauen Teufel darum, ob das Weltgefühl, daß sie in sich tragen und in ihre „Werke stürzen“, mit der Wirklichkeit übereinstimmende aber nicht. Der Schrei des Lebens kümmert sie am wenigsten, sie lauschen nur ihrem eigenen Schrei oder Geschrei. Auch finden sie, und damit haben sie auch nicht ganz unrecht, daß die völlige Naturtreue für sich allein keine künstlerische Maxime sein kann, weil sie das Äußerliche und Zufällige auf Kosten des Wesentlichen betont, in dessen Hervorbringung ihnen einzig und allein die Aufgabe des Künstlers zu bestehen scheint. Denn die Kunst hat es nach ihrer Meinung und auch nach derjenigen aller Verständigen nicht mit der wechselnden „Erscheinung“, sondern mit dem bleibenden „Ding an sich“ zu tun, mit den ewigen Ideen, die sie freilich einleuchtend zu versinnlichen im Stande sein muss, weil sie sonst Philosophie bliebe. Auch im idealen griechischen Götterleib ist die Menschengestalt nachweisbar, wenngleich ohne störenden Naturalismus, das heißt mit Hintansetzung einer auf Nebensächlichkeit beruhenden niedrigen Ähnlichkeit. Demgemäß verschmähen auch die Expressionisten alles Nebenbei, die sogenannten feinen Züge und die ganze Psychologie.

Denn nicht um die Abschattierung des Individuums ist es ihnen zu tun, sondern um die Darstellung des Menschen, des expressionistischen, der „so aussieht, als trüge er sein Herz auf der Brust gemalt“.

Sie streben daher allenthalben den großen Urgefühlen der Menschlichkeit zu, sie wollen nichts zu schaffen haben mit jenen kleinen, abgeleiteten, örtlich und zeitlich bedingten Einzel- und Sondergefühlchen des modernen Großstädters, in deren gewissenhafter Nachzeichnung die Literatur eine Zeitlang ihre Aufgabe zu erblicken glaubte. Freilich, welche Literatur? Nie und nirgends die beste, ja nicht einmal die gute. Es ist der große Irrtum der jungen Expressionistenschule wie aller derartigen Kunstbewegungen, wenn sie polemisch werden, daß sie das einzelstehende und arbeitende Talent für die Maulmacher der Richtung oder Schule, der es beigezählt wird, verantwortlich macht. Und doch war es immer nur das Talent, das eine Richtung vorwärts brachte, nicht das Programm. Zola ist nicht durch den Impressionismus berühmt geworden, sondern umgekehrt der literarische Impressionismus durch Zola, wie der deutsche Naturalismus durch Hauptmann. Aber ist der Dichter der „Versunkenen Glocke“ und von „Emanuel Quint“ deswegen ein Naturalist? Er ist es ebenso wenig, wie Gottfried Keller ein Epigone war, weil er zu seiner Zeit lebte, in // der die Kunst vorzugsweise nach Vorbildern statt nach der Natur arbeitete. Hat diese vielgelästerte Zeit Gottfried Keller gehindert, ein eigenmächtiger Künstler zu werden, hat sie Storm, Fontane, hat sie, um den uns zunächststehenden zuletzt zu nennen, Anzengruber verhindert? Und auf der anderen Seite, ist denn der Expressionismus als Kunstprinzip wirklich etwas so absolut Neues? Junge Dichter, die mit einer antizipierten Lebenserfahrung ihr stürmisches Gefühl in die Welt hinausschreien, hat es immer gegeben, wird es immer geben, denn es ist dies der subjektive Ursprung aller Dichtkunst. Um nur einen, den größten, zu nennen, Schiller, als er die „Räuber“ schrieb, war sicher ein Expressionist, auch der junge Goethe war einer, „Werther“ ist ein expressionistisches Werk, die ganze Sturm- und Drangzeit nichts anderes als Expressionismus des achtzehnten Jahrhunderts. Ja, darüber hinaus wäre es nicht allzuschwer, im Werke fast jedes großen Dichters expressionistische Elemente aufzuzeigen, was die expressionistischen Wortführer auch nicht ungern tun. Ihre Pietätlosigkeit hat Grenzen, Homer lassen sie gelten, auch die Klassiker im großen Ganzen. Sie sind in diesem Punkte ungleich duldsamer als ihre Vorgänger, die Naturalisten, und das ist auch nur ganz natürlich: da die Expressionisten das Vorbild der Natur ablehnen, müssen sie naturgemäß, weil doch kein so begabter junger Dichter die Kunst völlig neu zu erfinden und aus sich heraus aufzubauen vermag, in den vorhandenen Vorbildern Ersatz suchen. Das aber sind die Klassiker, denen sie sich solcherart, vielleicht ohne es selbst zu wissen und sich darüber Rechenschaft zu geben, auf einem Umweg nähern. Reinhold Goerings „Seeschlacht“ hat, bis in den einzelnen Vers hinein, die Intensität und unerbittliche Gedrungenheit einer griechischen Tragödie, von Unruh stellt sogar Edschmid mit einem gewissen Bedauern fest, daß er „noch nicht ganz weit entfernt von Kleist“ sei, und die ersten zwei Akte von Hasenclevers neuem Werk „Antigone“ könnten, unbeschadet ein paar gewalttätiger und stillos heftiger Ausdrücke, alles in allem von einem jungen Grillparzer sein, was natürlich keine Beleidigung für Hasenclever sein soll…

             So verliert auch der Expressionismus, wenn man ihm etwas näher ins Gesicht leuchtet, viel von seinem anfänglichen Schrecken. Es bleibt, genau genommen, nicht viel mehr davon übrig als die Tatsache, daß es wieder zwanzigjährige Dichter gibt, die ihren Platz an der Sonne oder unter dem Scheinwerfer des Ruhmes, den man in jungen Jahren zuweilen mit der Sonne verwechselt, für sich in Anspruch nehmen. Sie gehen dabei ziemlich rücksichtslos zu Werke und in ihrem unbedingten Auftreten liegt etwas von der sonstigen Unbedingtheit dieser Zeit, die man auch anders nennen könnte. Dem entspricht natürlich der Stil, den sie schreiben und der seine charakteristischen Eigentümlichkeiten hat. Die Sätze stehen unverbunden nebeneinander, ohne Brücken und Spreizen, kein Gedanke lehnt sich an den vorhergehenden, jeder führt ein trotzig isoliertes Eigenleben und brüstet sich mit seiner Nacktheit, die freilich von einer allgemeinen Dunkelheit meist schamhaft verhüllt wird. Der Metapher, jeder Art von Umschreibung wird der Krieg bis aufs Messer erklärt, das schmückende Adjektiv, das von seinem angemaßten Thron gestoßen und durch das den Satz jetzt ausschließlich regierende Verbum, das tätige, gebietende Zeitwort, ersetzt. Angenehm wirkt diese neue Schreibart nicht immer, aber das will sie auch gar nicht, sie will vielmehr Beachtung erzwingen und man muß zugeben, daß ihr das gelingt. Die neue Bewegung versteht sich vorzüglich auf die Inszenierung, auch außerhalb des Theaters. Sie fristet keine peripherische Existenz wie die Bohème von 1830 und die Literaturbohème von 1890, sondern sie trachtet aus dem Mittelpunkt der Gesellschaft heraus auf diese einzuwirken. Indem sie sich mit der Mode verbindet, schreitet sie unaufhaltsam fort zwischen einem Spalier von Leuten, die im Tiefsten davon überzeugt sind, daß Kunst etwas ist, was alljährlich neu erfunden oder, wie man von den Göttern unter den Schneidern sagt, „kreiert“ werden müsse. Ihnen schließen sich als freiwillige Trabanten der neuen die Feinde der vorigen Richtung an, die auf diese Weise, von hinten herum, etwas spät auf ihre Kosten kommen. Die Snobs beiderlei Geschlechts fehlen nicht in dem Zuge, und die Eingeschüchterten, die sich das Beispiel Manets und Richard Wagners dauernd zu Herzen genommen haben, wollen nicht zurückbleiben, um nicht für zurückgeblieben zu gelten. Das Gefolge der neuen Richtung schwillt so fortwährend an; es ist heute schon stattlich und mächtig genug, um ihr unbeschadet des Dauerwertes der großenteils erst hervorzubringenden Werke einen gewissen Anfangserfolg zu sichern.

             Wichtiger als die Erfolgsfrage ist jedoch die Frage, was die Kunst bei der neuen Unternehmung des Expressionismus zu gewinnen hat. Hier muß man vor allen Dingen sagen, daß sie aller Voraussicht nach dem Drama besser bekommen dürfte als dem Roman, der seiner Natur nach mehr auf die impressionistische Methode, zu deutsch auf die Beobachtung, angewiesen bleiben dürfte. Es war einer der Grundirrtümer der literarischen Revolution von 1890, daß sie aus dem Sieg des Impressionismus im Roman Folgerungen für das Theater ableitete, die sich auf die Dauer als unhaltbar erwiesen. Demgegenüber wird es vielleicht die Aufgabe der Expressionisten sein, das Drama auf seine Grundbedingungen, als da sind Knappheit, Intensität, Leidenschaft und starke Kontraste, zurückzuführen. Auch die Lyrik, die ihrem Wesen nach immer expressionistisch ist, kann in ihrer Schule nur gewinnen. Hingegen werden die expressionistischen Erzähler wohl früher oder später, wenn sie wirken wollen, bei den älteren Erzählern in die Lehre gehen müssen, wie dies auch die älteren Erzähler getan haben. In Wahrheit ändert sich ja in der Kunst nicht so viel, wie Impresarios und Modenarren glauben. Das menschliche Herz, nicht dasjenige, das der expressionistische Mensch wie ein Kartenblatt „auf der Brust gemalt“, sondern das er innerlich trägt, das Cor humanum, auf das der Dichter wirken, das er rühren will, ist in Lust und Leid seit Jahrtausenden unverändert. Dementsprechend sind auc der dichterischen Willkür natürliche Grenzen gezogen, jenseits welcher die Kunst eben aufhört, Goethe äußerte einmal zu Eckermann, die jungen Leute glaubten, es gäbe auf der Scheibe neben dem Schwarzen noch ein Schwarzes, aber sie irrten, es gäbe nur eines. Das werden auch die Expressionisten mit der Zeit herausfinden, diejenigen sowohl, die mit ihrer neumodischen Schießwaffe ins Schwarze treffen, als auch die anderen, die, einem Programm zuliebe, ihr Gewehr verreißen.

In: Neue Freie Presse, 4.7.1918, S. 1-3.

Carl Marilaun: Die jungen Männer

„Der ‚junge Mann von Welt’, dessen österreichischer, Wienerischer Spielart Richard Schaukal, ein älterer Mann von Welt vor zehn Jahren ein ironisch-apologetisches Brevier gewidmet hat, ist im Aussterben begriffen. Er war ein ‚junger Herr’, und servierte seine tadellos manikürte, nach dem Journal des Londoner Schneiders equipierte und hinreißend gescheitelte Eleganz jeden Mittag in der großen Korsoauslage zwischen Graben und Kohlmarkt. Er war bei Demel zu treffen oder in der Weinstube der Berta Kunz, er plauderte mit Frau Anna Sacher unter der roten Glashalle ihres Hotels, er stand wie angewachsen an der Sirk-Ecke, man traf ihn in der Burgtheaterloge und beim Stelzer, und sein Vormittag in der Statthalterei oder am Ballhausplatz war nur die Einleitung zum Gustostück seines nicht allzu anstrengenden, aus lauter angenehmen, aber dringenden Nebensächlichkeiten bestrittenen Daseins: zum Gang über Graben und Kärntnerstraße, wo man eine Menge von Leuten Gutentag zu sagen und einer Unzahl schöner Frauen die Hand zu küssen hatte.

Heute gibt es nur noch junge Männer in der Gegend des ‚jungen Herren’. Das hübsche, etwas nichtige, nette und küssdiehandgeschäftige Gesicht des jungen Mannes von Welt ist auch auf dem wohlsituierten Korso nicht mehr zu erblicken. Wie es überhaupt auch keinen eigentlichen Korso mehr gibt, welche Tatsache ich natürlich keine melancholische und nicht einmal eine bissige Betrachtung zu knüpfen ersonnen bin. Graben und Kärntnerstraße sind belebter als je, und die jungen Männer, die man dort trifft, tragen zwar bereits Anzüge und Winterröcke des Londoner oder eines nicht billigeren Wiener Schneiders, aber sie behalten den Hut auf dem Kopf, wenn sie mit dem gewissen, unangenehm und impertinent taxierenden Blick des jungen Mannes von heute mit ihren Damen sprechen. Zu ihrer Entschuldigung könnten sie allerdings anführen, daß die Damen danach sind, wenigstens meistens. Der gesellschaftliche Verkehr vollzieht sich auf der Basis einer gegenseitigen und wahrscheinlich wohlangebrachten Geringschätzung. Man trifft sich mittag auf dem Kohlmarkt und begrüßt einander mit einem Augurenlächeln, das vermutlich anderen, weniger gesellschaftsfähigen, aber Gott sei Dank zurückliegenden Begegnungen gelten dürfte. Wenn diese neuen Herrschaften „Guten Tag“ zueinander sagen, klingt es so ungefähr wie: „Weit haben Sie’s gebracht!“ Und da sich die heutige Gesellschaft auch als beste Gesellschaft nicht gern ein Blatt vor dem Mund nimmt, kann man auf dem Kohlmarkt nicht so selten einen jungen Mann im Gürtelüberzieher seine Dame, die einen Pelz von Drecoll oder Grünbaum trägt, mit dem auf dem Graben und Kohlmarkt geflügelt gewordenen Wort begrüßen hören: „Seit wann gehen Sie hier spazieren?“

Worauf der unbeteiligte Zuhörer unter Zuhilfenahme des gesellschaftlichen Jargons eigentlich sagen müßte: „Weit gebracht!“ Aber meistens sagt es schon die Dame selbst.

Man sollte glauben, daß der junge Herr, den es nicht mehr gibt, das am lebhaftesten erstrebte Ideal der jungen Männer von heute wäre. Aber wer dies glaubt, irrt sich vielleicht doch in der Psyche dieser aufsituierten und bereits auf eine bewegte Jugend zurückblickenden Fünfundzwanzigjährigen. Diese jungen Herren haben wirklich andere Sorgen. Ihr Lebensinhalt ist keineswegs der Raglan, den sie tragen. Daß er teuer ist, versteht sich von selbst; daß er beim ersten Schneider bestellt wurde, ist selbstverständlich. Aber er wird lediglich angeschafft, bezahlt und getragen, weil man es sich leisten kann. Man trägt ja auch den wundervoll gerade gezogenen Scheitel des jungen Herrn, aber dieser Scheitel ist eigentlich Sache des Friseurs; eines teuren Friseurs, der für das Geld, das er bekommt, alle unterrichtet, und man knüpft hier jene Verbindungen an, die man in der Taborstraße vielleicht verfehlt hätte.

Wirklich Junge trifft man nicht mehr am Korso. Nur Zwanzig- bis Fünfundzwanzigjährige, denen die Züricher Devisenkurse oder ein greifbarer Posten Chiffon, es können aber auch Schuhnägel sein, den holden Wahn längst ausgetrieben hätte, wenn sie von solchen Torheiten überhaupt jemals etwas auf Lager gehabt haben sollten. Das Leben birgt für sie keine Rätsel und Hindernisse, über die andere gestolpert wären, beseitigen sie mit einem Telephonanruf. Für sie funktioniert nämlich sogar ein Wiener Telefon, denn sämtliche Verbindungen, die sie brauchen, haben sie längst.

Glattrasiert, mit einem Raubtierkinn, breitschultrig, starknackig, gehen sie ihres Wegs; unverträumt, unbelästigt von Widrigem, keinem bösen Zufall anheimgegeben, aber für jeden günstigen parat. Ihnen gehört die Welt. Und davon, daß Schwächlinge in ihr nicht leben können, profitieren sie.

In: Prager Tagblatt, 24.12.1920, S. 3.