Fritz Rosenfeld: Ernst Toller

Das hohe Drama der Gegenwart erhebt wie das jeder Sturmzeit mit vollem Recht Anspruch darauf, mehr zu sein wie Literatur. Georg Kaiser, der bedeutendste Dramatiker unter den Expressionisten, spricht (in seiner Vorrede zu Ywan Golls „Methusalem“) von einer Dramatat und prägt damit den bezeichnenden Ausbruch, der das Wesen unserer heutigen dramatischen Dichtung am schärfsten umreißt. Das moderne Drama will und muß aus innerer Notwendigkeit mehr sein als eine auf Buch oder Bühne eingeengte geistige Kombination. Es kann nicht daran Genüge finden, zu schildern, Probleme zu konstatieren, Themen zur Diskussion zu stellen. Es steht mitten drin im pulsenden Leben, darf daher nicht bei Kritik des Heute haltmachen, es muß Wegweiser in die Zukunft sein. Diese besonders dem Drama der Umsturzjahre, in denen Tollers Werke entstanden, eigene Tendenz erhebt über den ersten Teil aller Fortschrittsarbeit, das Niederreißen des Alten, den bedeutenderen schwereren zweiten, den Aufbau des Neuen. Es versteht sich von selbst, daß ein von derartigen Bestrebungen erfülltes Drama weder am Einzelfall haften bleiben, noch in erster Linie Formkunst sein kann. Die bewegenden Probleme der Zeit springen auf und verlangen gebieterisch noch Entfaltung. Primär ist der Stoff, sekundär die Formung. (Früher, und besonders in ruhigen, beschaulichen, ästhetisch formal gerichteten Epochen, sucht der Dichter den Stoff, um seine Gestaltungskraft zu erproben. Der Moderne hat den Stoff und sucht die Form, in die er ihn gießt, damit er, losgelöst von der eigenen Seele, die ihn aus tausend Erscheinungen der Umwelt sammelte, der Menschheit sichtbar werde.) Das heiße, explosive Erleben, in dem das Problem aufbrennt, heischt eine ebenso eruptive, elementare Form. Der Dichter kombiniert daher nicht mehr so sehr Einzelfälle, die gleichnishaft sein sollen, sondern läßt meist die kämpfenden Gewalten als solche, abstrakt, aufeinanderstoßen. Wo es sich nicht um eine zeit- und raumgebundene Einzelwirklichkeit, sondern um die letzten Fragen der Menschheit handelt, stellt sich die Abstraktion als naturnotwendig ein.

Diese Form der Erschöpfung eines Kunstwerks durch Abstrahierung konkreter Eigenerlebnisse gilt für die ersten Dramen Ernst Tollers. Ihre Entstehung ist eng mit dem Schicksal des Dichters verknüpft und ihr Problem in seiner ganzen Tiefe ohne Kenntnis des Lebensganges des Dichters kaum erfaßbar.

Ernst Toller wurde am 1. Dezember 1893 als Sohn eines Kaufmannes geboren, ging durch den militärischen geisttötenden Drill des preußischen Realgymnasiums und wird dann von Neugier und Unrast in die Welt hinausgetrieben, studiert in Frankreich, bis die Nachricht vom Kriegseinbruch ihn nach Deutschland zurückführt. Er meldet sich als Kriegsfreiwilliger, durchdrungen vom Bewußtsein der Pflicht, sein Leben und seine Kraft in den Dienst des Vaterlandes stellen zu müßen. Das bürgerlich-militärische Vaterlandsideal beherrscht ihn, wenn er auch durchaus in das Haßgeheul der chauvinistischen Tournaille nicht einstimmt. Und im Grauen des Waffenmordens, im Stöhnen der Niedergemetzelten, zwischen den Schreckbildern der Totengrippe an dem Stacheldrahtzäunen, unter den Aufschreien der geschändeten Kreatur, wächst ein neuer Mensch in Toller. Wie Schuppen fällt es von seinen Augen. Als er einen Leichenhaufen erblickt, eine schauerliche Verkrampfung französischer und deutscher Menschenopfer, da will sein Sinn nichts mehr wissen vom Waffen- und Nationalitätsunterschied, der Worten gebietet. Und er ist bis ins tiefste Gewissen erschüttert, er klagt sich in wilder Zerrissenheit als Mörder an, dessen Schuld niemals gesühnt werden kann. Als Kriegsbeschädigter kehrt er nach München zurück, ein anderer, als er zur Front furch: Ein „Rebell im Blut“. Aber die Erkenntnis der namenlosen Verbrechen, die an zahllosen Kriegsschauplätzen täglich und stündlich am Menschen geschehen, konnte sich selbst nicht genügen. Sie drängte nach Abhilfsversuchen. Die Jugend soll aufstehen, die revolutionäre Jugend allein kann dem Menschenschlachten Einhalt gebieten. Eine von utopisch-sozialistischen Ideen getragene Verschwörung wird beraten, von der deutschen revolutionären Jugend soll die Brücke zur revolutionären Jugend der „feindlichen Länder geschlagen werden. Schriften sollen verbreitet, Licht unter die im Dunkel irrende Menschheit gestrahlt werden. Aber die Schergen des deutschen Militarismus wittern die Empörung und sprengen das Häuflein selbstloser Idealisten auseinander. Toller flieht nach Berlin, wo er unter anderem mit Kurt Eisner Verbindungen anknüpft. Hier studiert er emsig, informiert sich über die Kriegsschuldfrage, erkennt das Verbrechen der Herrschenden an ihren betrogenen Untertanen. Hier wird ihm sein Weg klar, der ihn zum Proletariat führt. Anfang 1918 ist er wieder in München, nimmt am Munitionsarbeiterstreit teil und wird wegen „Landesverrats“ verhaftet. Im Militärgefängnis beginnt wieder die Arbeit an sich selbst. Der Revolutionär aus Gefühl wird revolutionärer Sozialist aus Erkenntnis. Und hier, im Kerker, entsteht sein erstes Drama, die „Wandlung“. Der Ausbruch der Revolution öffnet seine Zelle. Die Unabhängige Sozialistische Partei in München wählt ihn im März 1919 zum Vorsitzenden. Obwohl überzeugter Räterepublikaner, will er die Ausrufung der Diktatur des Proletariats verhindern, weil die Zeit dazu noch nicht reif ist. Als die Räteregierung aber eingesetzt ist und es nur mehr gilt, die revolutionären Errungenschaften zu bewahren, tritt er ihr bei. Seine Rolle war eine mäßigende, sein ganzes Streben ging dahin, Gewaltaten* zu verhüten, Todesurteile aufzuheben. Als die Revolution zusammenbrach, wurde er mit anderen vor das Münchner Standesgericht gestellt und Mitte Juli 1919 zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. Er sitzt seither im Kerker der Festung Niederschönfeld, der man nicht mit Unrecht den Namen einer „bayrischen Bastille“ gegeben hat. Die größten Geister Deutschlands haben an die Machthaber der Reaktion appelliert, es war vergebens. Wie sollten auch die Befehlshaber einer Mordbande, die Vertreter eines Systems, dem Handgranaten und Gummiknüttel die einzigen Argumente sind, Verständnis haben für das Martyrium eines Künstlers, den eine unmenschliche Hand fern von der Welt und seinen Brüdern in die trostlose Enge eines dumpfen, lichtarmen Kerkers verbannt. Die Mörder sozialistischer Führer gehen frei herum und werden durch Triumphbogen geehrt. Für den Dichter, dessen einziges „Verbrechen“ es ist, sich zur Sache der Arbeiterschaft bekannt zu haben, gibt es keine Erlösung. Sie wissen, was sie tun, die Hitler und Ludendorff. Der Dichter, Mensch und Künstler schert sie nicht. Den Führer wollen sie der Waffe rauben, den Mann, dessen machtvolles Wort Ansporn und Aufruf ist. Sie lassen ihn nur durch das Buch in seine Mitwelt wirken – und auch das nur unter ihrer Kontrolle, ihrer Zensur. Nicht eine Zeile des gesamten Kunstwerts Ernst Tollers ist außerhalb des Kerkers niedergeschrieben. Das wird, wenn die Schmutzwelle der Reaktion verebbt sein wird, die Kerkermeister Ernst Tollers richten, die idiotischen Krautjunker, denen die berühmtesten Dichter Deutschlands nicht einen Tag abringen konnten, an dem es Toller ermöglicht wäre, einer Aufführung eines seiner Dramen beizuwohnen. Was wissen, was ahnen sie von der Qual eines Künstlers, dessen Nächte von Geschichten erfüllt sind und der die Fleischwerdung seines Traumes nicht erleben darf, weil die Rotte hirn- und herzloser, stumpfsinniger Büttel der Großindustrie seinen Kerker nicht für ein paar Stunden öffnen will. So bleibt ihm nur das Schaffen, der unermüdliche Aufruf seiner Brüder. Rastlos ist er am Werk, sendet Buch um Buch in die Welt, um den Muttergrund aufzuackern, auf den dereinst das Saatkorn der befreienden Tat fallen soll.

Millionen Menschen haben in ihrer Seele den Umschwung vom patriotischen Hochgefühl, von Nationalhaß und Kriegsbegeisterung zur Erkenntnis des Kriegsverbrechens, zur übernationalen Menschenliebe und zum Pazifismus durchgemacht. Ernst Toller, der diese Umkehr der verirrten und verführten Bestie zum Menschen intensiver erlebte als je einer, konnte sie formen, prägnanter und deutlicher als die anderen Dichter. Er mußte, wollte er die „Wandlung“ zeigen, die sich in Millionen Menschenherzen vollzog, nur an Stelle der konkreten Gegenkräfte, mit denen er rang, das letzte nackte Wesen, das Abstrakte, setzen. Wie der Dichter nur einer unter Millionen ist, die überwältigt und durchwühlt ein Gleiches erleben, so ist auch der Held sein einmaliger Mensch, nur Träger Wandlung. Er darf deshalb in Variationen auftreten, wie die Unzähligen verschiedene Gestalt hatten, an denen die gleiche Wandlung geschah. Kein Einzelfall rollt ab, gewaltiges, stürmendes Zeitgeschehen erfüllt das Drama. Daher der hinreißende Pulsschlag, daher die weiten Horizonte. Ein Wortspiel, das in seiner grausigen Genialität einzig dasteht, umreißt die seelische Grundlage, auf der das Problem wächst und zeigt die Gewalten, deren Überwindung Inhalt des Dramas ist. Das Drama selbst ist ein Wechsel von realen und überrealen Szenen, von Szenen, die zwischen dem Helden und anderen Menschen, und traumferne Geschichte, die in der Seele des Helden selbst spielen. Mit kühnem Griff ist das Wesen des Problems zu höchster Deutlichkeit erhoben. Die Wandlung vom verlogenen Ideal der Vaterlandsliebe zu dem reinen der Menschlichkeitsliebe ist ja kein Konflikt zwischen zwei, sondern in einem Menschen. Der Held ist nicht so sehr Kämpfer wie Schauplatz des Kampfes. Die in ihm ringenden Mächte, das absterbende bürgerliche Nationalgefühl und das fliegende proletarisch-revolutionäre internationale Menschheitsgefühl, müssen nach außen projiziert und in Gestalten aus der Umwelt, die nur Verkleidungen des Abstrakten sind, verkörpert werden. So ist das Drama mit seinen Geschehnissen zwischen verschiedenen Personen nur der Spiegel der unerklärt gewaltigen Ereignisse in der Seele eines Menschen, des Menschen schlechthin, der, aus dem Irrsinnstaumel des Weltblutbades mit schaudernden Sinnen erwacht, die Statue des „siegreichen Vaterlandes“, die er schaffen wollte, zertrümmert (wie kristallklar und eindrucksstark ist dieses Symbol) und die Welt nun mit anderen Augen betrachtet. Er hatte sehen müssen, wie wahnsinnig die Lebenskraft der Menschheit im Kampf gegeneinander vergeudet wird, statt daß sie im Kampf für- und miteinander nutzbringend, mühebringend und schmerzlindernd wirkte. Er hatte erkannt, daß über dem Vaterland die Menschheit steht, und er hatte, Ernst Toller, der Dichter, Friedrich, der Held der „Wandlung“, den größten Teil der Menschlichkeit, das Proletariat, von falschen Schlagworten verführt, vom Gift des Militarismus planmäßig durch eine habgierige Bourgeoisie verscheucht, und von eben derselben Bourgeoisie, die die Arbeiterschaft so freigiebig mit „Idealen“ belieferte, wirtschaftlich, geknechtet gefunden. Nationalhaß wird Klassenhaß, Nationalliebe Klassenliebe. Aber der Mensch, der in unsagbarem, inneren Zerrissensein diese Wandlung erfuhr, darf nicht schweigen, nicht die neue Erkenntnis für sich behalten, er muß unter die Brüder hinausgehen und die Botschaft verkünden, die große Botschaft von der Rückkehr zum Menschen. In grandioser Steigerung baut Toller im letzten Bild der „Wandlung“ diese Rede auf, dieses Manifest an die Menschheit, endlich den Schutt von Unlust und Gram, Verbitterung, Elend, Haß und Neid, die den Geist ersticken, wegzuschaufeln, den Geist, den geschändeten unter Kommissstiefeln zertretenen und von Offiziersschranzen verhöhnten Geist zu befreien. In seinem Zeichen soll der Kampf gegen die Unterdrücker beginnen, das Ringen ums Licht, die Abschüttelung des Vampirs Kapital. Romain Rolland hat in seinem „Clerambalt“ dieselbe Wandlung gestaltet, aber mit tragischem Ausgang, weil dem großen französischen Dichter mit seinem schärferen Zukunftsbild die Dinge nicht so zuversichtlich erschienen, wie dem jungen Toller, der in diesem, dem aufwühlendsten Werk der Revolutionszeit nicht nur eine befreiende Beichte ablegte, sondern ekstatisch zukunftssicher ein neues Evangelium der zerrütteten, zermalmten, nach Erlösung lechzenden Menschheit verkündete.

Im Zeichen des Geistes sollte die Erhebung gegen Kapital und seinen Trabanten Militarismus geschehen – die Revolution kam, und ging nicht ohne Blutvergießen, ohne Menschenmord ab. Toller selbst steht in ihrem Zentrum. Wirklichkeit und früheres Phantasiebild wollen nicht übereinstimmen. Bei dem Gegensatz zwischen der Notwendigkeit des Augenblicks, der Blut forderte, und der utopisch-pazifistischen Erneuerungsabsicht von ehedem wächst ein Konflikt, der Tollers Seele tief durchwühlt. Revolution und Evolution stehen gegeneinander. Ohne Gewalt und ohne Wort sollte der Aufstieg des Proletariats erfolgen. Jetzt ballen sich ringsum Gefahren, denen man nur mit der blanken Waffe begegnen kann. Wild, zerstörend mag dieses Ringen im Dichter gewesen sein. Als die Revolution verflammt, der Befreiungsversuch niedergeschlagen und der Dichter eingekerkert war, beherrscht ihn dieses Problem so stark, daß er es zweimal formt, in der „Waffe Mensch“, in den „Maschinenstürmern“. „Waffe Mensch“, dem Stil nach der „Wandlung“ sehr ähnlich, Traumszenen und Realität vermengend, gestaltet die Tragödie des Individuums, des geistigen idealistischen Menschen, der im reinen Streben, der gefesselten Arbeiterschaft zu helfen, einen Streit anzettelt, die Erhebung vorbereitet und schürt, aber in dem Augenblick, da die Empörung Blut fordert, Einhalt gebietet und nun von der vorwärtsstürmenden Waffe als Hindernis empfunden wird. Der Befreiungsversuch des einzelnen, hier eines Intellektuellen, hat die Lawine ins Rollen gebracht, die nun unaufhaltsam niederbricht und die Ursache des Ausbruchs angestauter Kräfte, den einzelnen,  unter sich begräbt, einfach, weil er im Wege steht. Aus dem Streit wird Aufruhr, aus dem gütlichen Begehren nach Wohlfahrt für alle wird Kampf mit blutiger Waffe. Hier muß der Einzelmensch sich der losgeketteten Urmacht entgegenwerfen. Als Anstifterin des Aufstandes verhaftet, könnte die Intellektuelle von der Waffe befreit werden, sie lehnt es aber ab. Denn auch sie hat eine Wandlung durchgemacht. Sie hat erkannt, daß das noch so edle utopische Streben des einzelnen die Waffe nicht zur Befreiung führen kann. Auch die Waffe findet hier ihr Golgatha, erlebt ihre Tragödie; überwältigt vom Erlebnis „Revolution“, fortgerissen und gebannt von den Gewalten, die aus ihr brechen, tötet sie die, die ihr Gutes wollten. Da die Wut, die Brandung der Empörung abgeflaut ist, erkennt die Waffe, im „Namenlosen“ personifiziert, das sittlich-hohe Wollen des Individuums, das sich Blut und Waffen widersetzte, weil das die Machtmittel eben jener Gesellschaftsordnung sind, die überwunden werden soll. In dem Ausspruch des Namenlosen: „Du lebst zu früh“, liegt die Perspektive auf die Lösung des Problems, auf die Zeit, in der der Aufstieg des Proletariats ohne Bajonett und Kanone aus Furcht der Entwicklung sich ereignen wird.

Hier ist die Tragödie der Waffe und die des Individuums im unmittelbaren Eindruck der Revolution als Ringen der Prinzipien, als Aufeinanderrasen der abstrakten Kräfte geformt, wieder in Abwehr vor allem Gebunden und Einmaligen, wieder im Aufstieg ins Zeit- und Raumlose. Der Mikrokosmus des Dramas ist nichts als eine Sichtbarwerdung seelischer Vorgänge, die sich abertausendmal abgespielt haben mögen.

In den „Maschinenstürmern“ ist das Problem Revolution-Evolution im Gewand des Ludditenaufstandes aus dem England des Jahres 1815 nochmals gestaltet. Die Linienführung ist hier die denkbar einfachste, alles Phantastische ausgeschaltet, so daß sich ein Monumentalaufbau ergibt, der von der ersten bis zur letzten Szene das Interesse bei sorgfältiger Verteilung der Spannungselemente in ansteigender Richtung erhält. Ungeheuer deutlich die Explosion, die Sitzung im englischen Oberhaus. Die durch Aufkommen mechanischer Webstühle verschlechterte Lage der Arbeiterschaft ist Gegenstand der Debatte, in der die Weltanschauung der Parteien scharf gekennzeichnet wird. Das heuchlerische, egoistische, „Die Armut ist ein gottgewolltes, ewiges Gesetz“ des Geldsacks und der Ruf des einzigen Arbeiterfreundes, Lord Byrons: „Natur will, daß alle leben“. In knappen Bildern wird die furchtbare Lage der Arbeiterschaft erschütternd geschildert, ein Märchen vom „Immerelend“ und „Sorgenlos“ hält die sozialen Gegensätze mit elementarer Prägnanz fest. Die zwei Prinzipien gewaltsamer Selbsthilfe und langsamen Reifens geraten aneinander, der Apostel, der, weiterbildend als die im Ausbruch der Erbitterung erblindete Waffe, die Erlösung nicht im gewaltsamen Umsturz, sondern im Zusammenschluß der Werktätigen aller Länder sieht, wird überhöht und erschlagen. Die Gewalt triumphiert, aber ihr Erfolg ist Blendwerk, ist Erfüllung für den Augenblick. Denn es ist nur die eine Maschine zerstört, und nicht das System gebrochen. Im Rasen der Empörung den großen Zusammenhang vergessen und in der vorübergehenden Lösung eines örtlichen Konfliktes Genüge finden, das ist die Tragödie der Waffe, die Tragödie der Revolution.

Wie Rolland in der gigantischen Sinfonie seines Werkes ein heiteres Intermezzo einfügt, dein „Meister“, so unterbricht Toller die Reihe der Zeittragödien durch ein galantes Puppenspiel, die „Rache des verhöhnten Liebhabers“, in dem er eine Novelle Bandellos dramatisiert hat, eine derb-fröhliche Geschichte vom geprellten Ehemann, der selbst mitlacht, weil er einen anderen für den Betrogenen hält. Aber des Dichters Sinn will nicht bei Scherz und Liebesgetändel verweilen. Aus dem Venedig des sechzehnten Jahrhunderts eilt er zurück in unsere Schreckenszeit und schafft im „Hinkemann“ die düsterste, verbittertste und erschütterndste Tragödie der letzten Jahre. Es ist die Lebenstragödie des Kriegskrüppels, das Martyrium des Menschen, der für Gott, Kaiser und Vaterland ins Feld gejagt wurde, entmannt zurückkehrt und nun, neben der Qual im Verhältnis zu seinem jungen, lebenslustigen Weib noch den brutalen Sohn einer völlig entmenschten Umwelt erleben muß. Diese Kriegskrüppeltragödie, deren Tragik nicht darin liegt, daß ein Mensch zugrunde geht, sondern wie er zugrunde geht, ist aber nur der Anlaß, das scheußliche Antlitz unserer Zeit zu enthüllen, die Geilheit und Unmenschlichkeit einer Epoche darzustellen, die aus dem Delirium des Weltkrieges nichts gelernt hat, auf dem Blutweg weitereilt und zum Gipfel menschlicher Brutalität gelangt: die „unter Gelächter mordet“. Im höllischen Taumel dieser Dämonen ist der Mensch, der eine Seele sein eigen nennt, zum Leid verdammt; leben kann nur, wer der Vernichtung von Gefühl und Gewissen, die unsere Zeit systematisch vornimmt, seinen Widerstand entgegensetzt. Hinkemann, die „elementarische Seele“, muß in dieser Welt des Schreckens und Gelächters verderben, weil man ihm die Kraft zum Ideal geraubt hat, und „wer keine Kraft zum Traum hat, hat keine Kraft zum Leben“. Hier ist wohl der letzte und stärkste Ausdruck für das Wesen unserer Zeit gefunden. Nicht mehr zwei Willen stoßen aufeinander, sondern zwei Existenzen. Gut und Böse, Ohnmacht und Brutalität, Mensch und Bestie stehen einander gegenüber. Darum leidet der Held nur, darum handelt er nicht. Sein Dasein in dieser Welt bedingt schon seine Tragödie. Jede Auflehnung würde die Katastrophe beschleunigen, statt sie zu verhindern. Dieses Drama ist von so plastischer Deutlichkeit, daß jeder Mensch Sinnbild wird, jeder Satz Allgemeingültigkeit erhält. Es wächst so weit über die Gattung „Drama“, daß es den ganzen grasen Inhalt einer scheußlich grausen Zeit restlos zu fassen vermag. Wenn je Kunst das Gewissen der Menschheit war, so ist es hier.

Tollers Dramen sind ein Abbild der Bewußtseinswandlung seit 1918, der großen seelischen Vorgänge. Im ersten Stück der ekstatische Pazifismus, die schwärmerische Allmenschenliebe und der Hymnus auf die rote Zukunft. In den folgenden beiden der Revolutionsskeptizismus, Ernüchterung, ja Enttäuschung. Im „Hinkemann“ die letzte Vernichtung des Menschentums, das 1919 so herrlich aufflammte. Hier aber werden die Gewalten schon zu Höllenfratzen, hier sind sie Ungetüme, deren Scheußlichkeit nicht mehr von dieser Welt zu sein scheint. „Hinkemann“ hielt dem Deutschland der Nachkriegszeit den Spiegel vor und ist ein Trauerspiel. Die letzte Abrechnung  mit dem geblähten neumilitaristischen, nationalistischen Deutschland, „Der entfesselte Wotan“ ist eine Komödie. Ein Werk, das die Gestalten abzeichnet, die heute auf der politischen Bühne Deutschlands agieren, muß zur Posse werden. Ernst zu nehmen sind ja die völkischen Maulhelden nicht, die Phrasenjongleure, deren Reden von Kriegsbegeisterung überließen und die beim ersten Schuß auf den Bauch fallen und sich angstschlotternd tot stellen. Es ist nötig, den Hausierern mit abgebrauchten Lügenidealen ihre Erbärmlichkeit und Lächerlichkeit zu beweisen. Aber diese Auseinandersetzung kann nicht tragisch enden. Tragisch wurde der Welt eine Gestalt wie Wilhelm der Letzte, dessen Lieblingsgebärde durch dieses Stück geistert; er hatte die Macht, er wußte was er wollte, er war gefährlich. Die Wortführer von heute, die ihn kopieren, sind lächerlich, weil ihre Gewalt ein Phantasiegebilde ist, wie die brasilianische Farm in Tollers Komödie. In einer anspruchslosen, aber geistreichen Handlung wird nun hier das nationalistische Deutschland von heute verspottet. Mit Sternheimscher Schärfe sind die Gestalten gezeichnet, die schnoddrigen, selbstgefälligen, beschränkten, sensationslüsternen, geldgierigen Bierbankspießer, die abgetakelten Generale, die in teutschen Idealen machen, der schwammige Merkantilgeist, das Krämertum, die ach so gefühlstiefen himmelblauen adeligen Fräuleins. Um ein Hirngespinst, ein Gut in Brasilien, dreht sich die Bosse, um ein großzügiges Unternehmen, dessen Anbeginn und Ende die Ausplünderung dummer, den Schlagworten aufsitzender Philister ist. Als alles zusammenkracht und der Schwindler Wotan ins Gefängnis muß, wird ihm versichert, daß ihm nichts geschehen wird. Treuteutsche Richter werden dem [recte: den] treuteutschen Mann nicht unsanft behandeln. Er wird, wie Wilhelm der Wahnsinnige, seine Memoiren schreiben, ein unverstandener Erlöser, er hat noch eine Mission, sein Volk aufzurufen, und dieses Volk hat die Mission, Europa, ja die Welt zu retten, denn es ist der einzige berufene Schützer der Kultur, der Menschlichkeit, der Zivilisation. Es hat sich ja nie, niemals an seinen Dichtern vergangen und nie aus dem Leben reiner, unschuldiger Menschen mit teuflischer Faust fünf Jahre einfach weggestrichen.

Wenn auch Ernst Toller vor allem Dramatiker ist, darf man den Lyriker Toller nicht vergessen. Seine Dramen haben dieselbe Rhythmik und Melodie wie seine Gedichte, die knappe, markige Sprache, die Prägung des Ausdrucks, und die Chorwerke Tollers, der Karl Liebknecht geweihte „Tag des Proletariats“ und das „Requiem den gemordeten Brüdern“, das dem Andenken Gustav Landbauers gewidmet ist, sind ja ein Mittelding zwischen Lyrik und Drama, sie haben den Empfindungsüberschwang des lyrischen Gedichts, in Dialog und Waffengespräch ausgelöst, in Explosionen gegeneinandergestellt. Der Sonettenband „Gedichte der Gefangenen“ zeigt in ergreifender Einfachheit die Stimmung Tollers in der Kerkerzeit, die bohrenden Gefühle der Einsamkeit während draußen ein ungestümes Leben vorwärtseilt, in dem der der* Dichter einen Platz auszufüllen hätte. Es stehen hier ein paar Gedichte, die nicht nur zum Größten zählen, was Toller schuf, sondern zum Reinsten, Tiefsten und Erhabensten der modernen Lyrik überhaupt. Tollers letzte Veröffentlichung ist das „Schwalbenbuch“, eine Reihe von Gedichten, die ihm übersommern einen Schwalbenpaares in seiner Zelle eingab. Wer nur wenig empfänglich ist für die Melodie des Mitleids, muß durch diese volkliedhaft-schlichten Gesänge eines Einsamen und doch unermeßlich Reichen, bis in die tiefste Seele durchwühlt werden.

Was uns den gefangenen Dichter so nahebringt, was uns so eng mit ihm verknüpft, ist, daß seine Probleme Probleme der Waffe, Zeithemen, Gegenwartsfragen sind, daß er die ästhetisierenden Tüfteleien und die komplizierte Psychologie angeblich bedeutender Einzelfälle meidet. Seine Welt ist die proletarische Welt, ist die Welt der Waffe. Darum muß er mit anderen Maßstäben gemessen werden, mit neuen Maßstäben. Die bürgerliche Kritik hat an ihm manches auszusetzen, sie kommt mit formal-ästhetischen Gesichtspunkten und stellt die alten Parallelen auf. Gewiß, so mancher Dichter hat auf Toller starken Einfluß genommen. Vor allem Büchner, dessen „Dantons Tod“ dem Problem der „Waffe Mensch“ nahesteht und dessen „Woyzek“ im “Hinkemann“ starke Spuren hinterlassen hat. Aber was beweist es gegen Toller, daß in den „Maschinenstürmern“ die Betrunkenenszene und das Märchen an „Woyczek“* erinnert? Was ist alle Formkunst gegen den Inhalt, gegen das Leben, das hier pulst, und das unser Leben ist! Sie, die ihn einkerkern, können ihn auch nicht verstehen. Aber weder durch gehässige Kritik noch durch körperliche Fessel können sie ihn töten. Sie könnten ihn uns rauben, konnten ihn fünf Jahre von uns trennen. Die fünf Jahre sind um. Wir grüßen ihn, Ernst Toller, unseren Dichter!

Die Werke Ernst Tollers: „Die Wandlung“, „Waffe Mensch“, „Hinkemann“, „Der entfesselte Wotan“, „Das Schwalbenbuch“ (Verlag Gustav Kiepenheuer, Potsdam), „Die Maschinenstürmer“ (Verlag E. P. Tal, Wien,) „Gedichte der Gefangenen“ (Kurt Wolffs-Verlag, München), „Die Rache des verhöhnten Liebhabers“ (Paul Cassirer-Verlag, Berlin,) „Der Tag des Proletariats“ und „Requiem den gemordeten Brüdern“ (Verlagsgesellschaft „Freiheit“, Berlin).

In: Der Kampf 17 (1924), H. 7, S. 293-297.

Robert Neumann: Zum Problem der Reportage

Jede Zeit krankt an einer besonderen Art von Maßlosigkeit. War es vorgestern noch ein Überschuß an Formdrang, dem nicht genügend neuen Stoffgehaltes sich darbot – unsere heutige, unsere besondere Maßlosigkeit liegt im Stoff, der in seinem Überquellen nicht mehr gefasst und geformt werden kann. Niemals drang eine solch beklemmende Fülle rein stofflichen Geschehens rufend, winkend, // fordernd, gestikulierend, hämmernd mit Hämmern auf den einzelnen ein. Das tragisch groteske Megaphon dieser Stofflichkeit ist die Zeitung. Der sie macht, ist nicht Diener am Wort und nicht Diener am Geist – er ist Diener am Stoff.

Es geht also um das Problem der Stoff-Jagd. Wo das noch mit Telegraph, Telephon geschieht, wo die Nachricht durch Technik entmenschlicht und vervielfältigt wird, wo sie schon nicht mehr blutet, sondern schon Präparat ist, Sache = Sache, die man gewissermaßen in die Hand zu nehmen, zu schneiden, zu appretieren vermag, ist sie vergleichsweise schon gefahrlos geworden. Aber der, der die Zeitung macht, gibt sich mit dem Stoff nicht zufrieden, der auch einem andern Zeitungsmacher in gleicher Form auf den Schreibtisch fliegt. Und der, für den die Zeitung gemacht wird, der Tänzer, für den getanzt wird, der Treibende, für den sie es treiben, er, der den Stoff frisst, bis er von ihm gefressen wird: der Leser also gibt sich nicht zufrieden mit dem leergebluteten Stoff-Präparat. Hört er von einem Bergwerksunglück in Yorkshire – die Ziffer der Erschlagenen genügt ihm nicht mehr. Zucken muß er sie sehen. Und der ausgeschickt wird, diese Zuckungen zu belauschen, ist der Reporter.

Reportage ist also ein Sachbericht, der – umgekehrter Weg wie beim Kunstwerk – im Typischen das Besondere, im Eisenbahnunfall das Besondere d i e s e s Eisenbahnunfalls, das Speziale, das Einmalige sucht und darstellt. (Ihr publizistischer Gegenpol ist die ‚Schmucknotiz’, das Entrefilet, das bemüht ist, den einmaligen Vorgang zu verwischen, zu typisieren, ihn gewissermaßen zu paraphrasieren mit Weltanschauung.)

Nun aber: wenn früher gesagt wurde, die Reportage spüre der Sache nach, so ist das in einer tieferen Schicht nicht mehr richtig. Die Sache darzustellen, ist Sache des Kunstwerks (und war es immer trotz „neuer Sachlichkeit“). Sein Mittel ist das Bildhaft-Bedeutende, das Sinn-Bild, sein Weg ist Eklexis, Auswahl des Wesentlichen. Anders die Reportage. Sie operiert nicht eklektisch, ihr fällt kein Detail unter den Tisch – und so stößt sie zum Sach-Kern zunächst nicht durch. Sie rafft an Stofflichem auf, was am Wege liegt, Materie, Material, Tatsachen mit einem Wort, wie man ja ganz allgemein die Tatsache// als Surrogat der Sache bezeichnen könnte. Dem Reporter wie dem Reportagenleser setzt sich Sachlichkeitsfanatismus alsbald um in Tatsachenhunger. Und so erfährt man schließlich von Napoleon erst in zweiter Linie, daß er die Schlacht bei Waterloo geschlagen hat, und in erster, was er an jenem Tage zum Frühstück zu sich nahm.

Das sei hieher gesetzt, ohne daß damit eine Wertung verbunden wäre. Reportage ist also etwas Wesensanderes als Kunstproduktion – und muß es sein. Was wir vom Tatsachenbericht verlangen, ist nicht Welt, geläutert durch das Filter einer Persönlichkeit, sondern so etwas wie eine geschriebene Menschen-Landkarte. Und eine Landkarte schätzen wir um so höher, je mehr Details in ihr verzeichnet sind. Eine, die, den Grundtypus, die ‚große Linie‘ des Amazonas herauszuarbeiten, seine Nebenflüsse unterschlüge, fände nicht unseren Beifall.

Es geht also um eine Sachlichkeit in sehr oberflächlicher Schicht. Und wie die systematische Logik lehrt, daß der Abstraktionsakt der Begriffsbildung ersetzt werden kann durch eine enumeratio, eine planvolle und vollständige Aufzählung, so nähert sich die Reportage der Sach-Erfassung um so erfolgreicher, je mehr sie uns ‚aufzählt‘. Das wird in dem Maße gelingen, als Impressionismus, Subjektivismus, mit einem Wort: die Person des Berichtenden eliminiert werden kann. Damit umschreibt sich Sinn und Kern der Reportage als: unpersönlicher Tatsachenbericht von einem Sonderfall.

In: Die Literatur. Monatsschrift für Literaturfreunde. Begründet von Dr. Josef Ettinger. Hg. von Dr. Ernst Heilborn. 30. Jg. Okt. 1927-Okt. 1928, Stuttgart-Berlin, DVA, S. 3-6.

Emil Reich : Die Revolutionäre des russischen Theaters

Aus einer Unterredung mit dem Bevollmächtigten der Moskauer Schauspieler Iwan Nikolajewitsch Bersenow.

Der Bolschewismus hat das Aussehen Rußlands vollkommen verändert. Er hat das Unterste zu oberst gelehrt, er hat manche Erscheinungsformen des menschlichen Daseins vernichtet, andere so gewandelt, daß sie nicht wieder zu erkennen sind. Aber eine Säule ragt heute noch ungebrochen und selbst ohne den mindesten Sprung weit über das Trümmerfeld hinaus: die wahre, echte Kunst, zu der Stanislawski und Nemirowitsch-Dantschenko auf dem Boden Moskaus den Grund gelegt und, mit nie ermüdender leidenschaftlicher Hingebung weiterbauend, diese bis zur Höhe einer stolzen Siegessäule emporgehoben haben. Wer hier in Wien die künstlerischen Leistungen der Truppe des Moskauer Künstlertheaters sieht, wer hier mit den Mitgliedern dieser Schar spricht, deren helle Begeisterung für die Sache, der sie ihr Leben geweiht haben, jedem ihrer Worte Schwung verleiht, der muß die Gewißheit mitnehmen, daß diese Kunst auch nicht durch die wildesten politischen Stürme und ebensowenig durch den härtesten wirtschaftlichen Druck zu Fall gebracht werden kann, der weiß, daß das Haus „Tschechows“ den Bolschewismus und andere Formen des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens überdauern wird.

Die Volkskommissäre haben natürlich auch das Moskauer Künstlertheater „sozialisiert“. Aber war es denn nötig, diese Bühne zu sozialisieren? Mit der Sozialisierung wollen die Bolschewiken den größtmöglichen Leistungseffekt und eine gerechte und würdige Beteiligung der diesen Effekt Schaffenden am Erfolg erzielen. Sie haben diese Absicht – wenigstens mit den Methoden, die sie anzuwenden beliebten – nicht zu verwirklichen vermocht und sind von ihren in den heutigen Verhältnissen wertlosen Nationalisierungsprojekten bereits abgekommen. Das, was sie vergeblich anstrebten, haben jedoch die Moskauer Künstler in eigenem Kreise ohne Gewaltmaßnahmen, sondern aus freien Stücken und mit ihrer reinen Kunstbegeisterung von allem Anfang erreicht und – man muß schon sagen – trotz der bolschewistischen Sozialisierung zu bewahren gewußt. Die höchste, vorbildlichste Kunstleistung ist zur Tatsache geworden, die weitesten Volkskreise sind in der Lage, sie zu genießen und die am Werke Tätigen können ihres Lebens auch in irdischer Hinsicht froh werden. Man lasse sich von Iwan Nikolajewitsch Bersenew, dem Bevollmächtigten der Schauspieler, die jetzt in Wien gastieren, die Geschichte des Moskauer Künstlertheaters erzählen und seine innere Struktur schildern, und man wird zugeben müssen, daß nicht nur die schauspielerischen Darbietungen der Moskauer, sondern auch die von Ihnen aufgebaute Organisation mustergültig ist.

In den Neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts faßte ein kleiner Kreis von acht Personen, mit Stanislaswki und Nemirowitsch-Dantschenko, den kühnen Plan, das russische Theater zu modernisieren. Sie gründeten mit Hilfe des Mäcens Morosow, eines der größten Fabrikanten Rußlands, eine dramatische Schule und ein Liebhabertheater. Die Idee fand solchen Anklang und die ersten Erfolge waren so vielversprechend, daß nicht lange hernach der Lieblingsgedanke der Gründer, ein gegen sehr mäßige, man kann sagen volkstümliche Preise zugängliches öffentliches Theater zu errichten, in die Tat umgesetzt werden konnte. Wieder war es Morosow, der die Künstler mit Feuereifer unterstützte, reichliche Geldmittel zur Verfügung stellte – der für das Theater auserwählte, bereits vorhandene Saal mußte unter großen materiellen Opfern umgebaut werden – und mit Rat zur Seite stand, oft ganze Tage mit den Künstlern und beim Bau verbringend. Am 14. November 1898 wurde die neue Bühne mit Alexej Tolstois „Zar Fjodor Ioanitsch“ eröffnet. Es war ein sensationelles Ereignis, ein Riesenerfolg auf dem Gebiete der Darstellung und der Ausstattung sowie in materieller Beziehung. Moskwin, der die Rolle des Zaren gab, wurde über Nacht mit einem Schlage aus einem Schüler der dramatischen Kunst ein großer gefeierter Schauspieler und der Herold einer neuartigen Bühnenkunst, jener großen Kunst, die wir heute an den Moskauer Gästen bewundern. Schon nach zwei Jahren war die Gesellschaft so erstarkt, daß sie sich um ein größeres Haus umschauen mußte. Sie übersiedelte in das Theater in der Straße Komergerski Pereulok, das nach den Plänen der Künstler mit den modernsten technischen Hilfsmitteln, darunter auch mit einer Drehbühne, ausgestattet wurde. Mit der Premiere von Tolstois Zarenstück im alten Hause hatte die Revolutionierung der russischen Theaterwelt begonnen, mit den Aufführungen von Tschechows Werken wurde sie kräftig und erfolgreich fortgesetzt. Die in Petersburg so gar nicht verstandene und in der dortigen Darstellung zum Mißerfolg verurteilte Erstlingsarbeit Tschechows „Die Möwe“ erlangte in Moskau die richtige Würdigung und verhalf den Schülern Stanislawskis zu einem neuen glanzvollen Siege. Zur Erinnerung an dieses denkwürdige Ereignis führt das Moskauer Künstlertheater in seinem Emblem die Möwe und auch auf dem Bühnenvorhang des Moskauer Hauses ist dieser Vogel abgebildet. Die Aufführungen der anderen Dramen Tschechows fanden denselben, wenn nicht noch größeren Beifall der Kritik, des Publikums und der Kollegen der übrigen Bühnen Rußlands und da dieses Dichters Worte nirgends so allgemein verständlich interpretiert, das in seinen Werken sich widerspiegelnde russische Leben so wahrheitsgetreu vorgeführt wurde, hieß das Moskauer Künstlertheater nicht bloß im Volksmund der Kremlstadt, sondern auch im ganzen weiten Zarenreich bald nicht mehr anders als das „Haus Tschechows“.

So war das große Ziel, das Stanislaswki und Nemirowitsch-Dantschenko sich gesteckt hatten, erreicht. Doch es konnte nur erreicht werden, weil die Schauspieler und alle übrigen an diesem Theater künstlerisch beteiligten Personen sich mit ganzem Herzen und bedenkenlos der hohen Aufgabe widmeten. Das war zum großen Teile wieder bloß möglich, weil die Organisation und Einrichtungen dieses kleinen Bühnenstaates die Verantwortung auf die Schultern aller verteilten und jedem einen würdigen Anteil am Ertrag sicherten. Von allem Anfang an gab es keinen Unternehmer und keinen Direktor. Ein selbstgewähltes Kollegium trifft die Auswahl der Stücke, verteilt die Rollen und führt die Regie. Jeder einzelne Kollege weiß, daß von seiner ernsten, hingebungsvollen Mitarbeit der Erfolg abhängt. Jeder hat eine bestimmte Monatsgage, aber am Ende des Jahres wird der Reingewinn auf alle aufgeteilt. Zweieinhalb Monate im Jahre werden Ferien gehalten, während der keiner der Schauspieler etwa wie bei uns Sommergastspielfahrten unternimmt. Diese Zeit ist der Ruhe gegönnt. Es werden nur Ensemblegastspiele veranstaltet; indessen bleibt die Moskauer Bühne geschlossen. Die trostlosen Verhältnisse unter der Bolschewikenherrschaft haben jedoch einen Teil der Angehörigen dieser Republik gezwungen, mit dieser Tradition zu brechen, um ihr Heil außerhalb Moskaus zu suchen, obwohl das „Haus Tschechows“ weiterspielt. Dieses wurde in der letzten Zeit sozialisiert – die Schauspieler wurden vom Staat entlohnt und der Eintritt ins Theater war unentgeltlich -, aber jetzt ist es wieder freigegeben worden und führt den Betrieb wie in den früheren Zeiten fort. Der Zufall wollte es, daß der größere Teil des Ensembles der Moskauer sich zu einem „Erholungsgastspiel“ im Sommer 1919 in Charkow zusammenfand. Vierzehn Tage wurde gespielt, dann zwei Monate auf dem Land der so notwendigen körperlichen Kräftigung gewidmet. An eine Rückkehr nach Moskau, wo die Verhältnisse immer entsetzlicher wurden, war jedoch nicht zu denken. Da überdies die Zustände auch in Südrußland unleidlich wurden, ging die Truppe auf die Wanderschaft ins Ausland.

Auf der Wanderschaft fühlten sich die Moskauer Künstler wie daheim als eine einzige Familie. Es herrscht dieselbe Eintracht und dasselbe Pflichtgefühl, sich den hehren Kunstzwecken unterzuordnen, wie im Hause Tschechows. Ein Komitee, aus zwei Regisseuren und zwei bis drei älteren Schauspielern bestehend, lenkt die Schar in künstlerischen Fragen und der materielle Ertrag wird brüderlich geteilt. Die sogenannten Größen der Truppe – soweit man bei der künstlerischen Reife jedes einzelnen von Größen sprechen kann – bringen hiebei ein nicht gering zu veranschlagendes Opfer, weil sie, wenn sie Einzelgastspiele absolvierten, mehr verdienen würden, als in der Gemeinschaft auf sie kommt. Aber sie legen höheren Wert auf die Einheit der Truppe und das Ansehen des Künstlertheaters als auf reichen materiellen Gewinn. Glücklicherweise erweckt das Auftreten der Moskauer überall so viel Interesse, daß die Solidarität gute Früchte trägt und die Mittel abwirft für gediegene Ausstattungen und ein auskömmliches Leben der Mitglieder der Truppe.

Das Moskauer Künstlertheater hat sich zu einer Stellung in seinem Lande emporgeschwungen, die der des Théâtre Francais in Frankreich entspricht. Wie das Haus Molières die Stürme der großen Revolution glücklich überstanden hat, so rettet auch das Haus Tschechows reinste Bühnenkunst über den bolschewikischen Zusammenbruch hinweg in eine bessere Zukunft.

In: Neues Wiener Journal, 26.10.1921, S. 5.

Friedrich Porges: Das nackte Amerika

Es galt noch etwa vor drei Jahren für glatte Unmöglichkeit, in Amerika einen Film zu placieren, in dem halbnackte Männer oder gar nackte Frauen zu sehen waren. Der amerikanische Filmmanager wies derartige Filme mit Entrüstung zurück, indem er betonte, daß die amerikanischen Kinobesucher, ganz abgesehen von der Zensur, sich niemals ohne Protest derartige unmoralische Filmbilder vorführen lassen würden. Amerika war diesbezüglich fast noch sittenstrenger als das prüde England. Im Verlaufe der jüngsten Zeit scheinen sich nun auch in Amerika Moral und ethische Ansicht gründlich geändert zu haben. Nicht nur die Kostümfilme, die von drüben kommen, zeigen Darsteller, die weniger als nichts anhaben, auch in den Gesellschaftsfilmen sieht man bereits Szenen, die in ihrer ›Hüllenlosigkeit‹ weit von jener Auffassung abweichen, der die moralischen Amerikaner dereinst huldigten. Die neueste Attraktion ist, daß auch die schönen weiblichen Filmstars sich nicht mehr damit begnügen, die Reize ihrer schönen Augen und ihres wohlgeformten Mundes zu offenbaren, sondern sich auch bemühen, die tiefer liegenden Regionen des Körpers vorteilhaft zur Schau zu stellen. Marie Prévost1, die heute zu den anerkanntesten Schauspielerinnen von Hollywood gehört, hat eben ein ganz radikales Vorbild gegeben. In ihrem neuesten Film zeigt sie sich in einer Tanzszenen fast völlig nackt. Ein nicht allzubreites Band aus dünner Seide umschlingt ihren Busen und ein lose gebundenes Tuch, nicht größer als eine knappe Schwimmhose, verhüllt die – übrigen Reize.

In: Die Bühne, H. 14, 12.2.1925, S. 35.


  1. Lebensdaten: 1989-1937; Prévost war Mitte der 1920er eine der zentralen Schauspielerinnen in Ernst Lubitsch-Filmen wie z.B. The Marriage Circle (1924), Three Women (1924) oder Kiss me Again (1925) vgl.: http://www.imdb.com/name/nm0696679/ bzw.: https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Ehe_im_Kreisehttps://de.wikipedia.org/wiki/Drei_Frauen_(1924)

Roda Roda: Der amerikanische Literaturmarkt

Immer wieder fordern meine deutschen Freunde, ich sollte ihre Dichtungen hier an den Mann bringen: Den Verleger, Theaterdirektor. Wie aussichtslos solche Versuche sind, ist meinen Freunden schwer begreiflich zu machen. Amerika hat ein großes einheimisches Schrifttum. Der Verleger ist von Talenten belagert. Aus Britannien, Frankreich, Italien, Schweden, Rußland lockt der hohe Dollarstand Angebote herbei; aus Böhmen, Ungarn. Bei den Proben der Vaudevilles, Revuen, Lustspiele sitzen erfindungsreiche junge Leute im Parkett , um dem Theaterleiter auf dem Fleck neue Einlagen aufzuschwatzen – Text und Musik – wenn eine Szene, eine Arie zu mißfallen scheint. Denn nirgend sind Kunst und Kitsch industrialisiert wie hier, nirgend der kommerzielle Betrieb der Bühne so riskant: Ein Erfolg macht zum Millionär; ein Durchfall zum Bettler. Ein virtuoses Stück „läuft“ drei, vier Jahre: in New York und – in zweiter, fünfter, neunzehnter Besetzung – strahlenförmig bis Florida, Oregon und Texas. Bei uns kann ein Schwank, ein Buch von Hamburg, Leipzig, München seinen Weg antreten. Hier startet man immer in New York; Chicago wollte eine Zeitlang eigne Rennen machen und gab das Beginnen nach einigen kostspieligen Versuchen reumütig auf. Der Verleger muß viel Kapital in jedes einzelne Buch stecken. Herstellung, Anzeigen, Kritiken sind teuer. Jawohl auch die Kritiken … Ein Verleger, der nicht Inseratseiten kaufen kann, fängt besser gar nicht erst an zu edieren. Da überlegen denn Direktor und Verleger zweimal, ob sie ein Stück, einen Roman lancieren sollten; und stehen von dem Unternehmen ab, wenn der geringste Zweifel an der Nutzbarkeit ihnen abrät. Ein deutsches Werk? Wird es verstanden werden? Es ist vorweg durch Gedankenballast gehandikapt. Das amerikanische Werk ist sicherer Sieger auf wohlvertrauter Bahn. Denn welche Qualitäten bringt der europäische Wettbewerber mit? In unserer Literatur steht das Sexualproblem an erster Stelle. Nicht so im amerikanischen Leben. Die Beziehung der Geschlechter ist hier einerseits kameradschaftlicher als bei uns – kraft einer durch Schule, Sport und Arbeit ausgebildeten Gemeinsamkeit – andererseits weist die Sitte (vielleicht von der frauenlosen Kolonialzeit her) dem Weib einen Vorrang an, das Gesetz stärkern Schutz. Mir scheint manchmal, als klinge in Amerika noch von fern das europäische Mittelalter nach mit Kirchenstreit und Minnedienst. Man lasse sich durch die New Yorker Halbnackttänze nicht täuschen (die hier, wie man mir sagt, auch erst seit dem Krieg zu sehen sind): Amerika ist prüde; eine ledige Mutter hat nicht auf Teilnahme zu rechnen; ein Don Juan nicht auf jene heimliche Bewunderung, die wir ihm zollen; Ehebruch nicht auf schmunzelnde Vergebung. In diesem Land einer schwächern Erotik und stärksten Hypokrisie fehlt es also der größern Hälfte außer Literatur an den beim Publikum vermuteten Voraussetzungen.

Das häusliche Leben ist von unserm grundverschieden. Es spielt sich in engern Räumen ab und andern Hemmungen, mit andern Bequemlichkeiten. Ebenso fremdartig für europäische Augen sind die Einrichtungen der Öffentlichkeit, des Gemeinwesens, Universität, des Studententums. Es gibt keine historische Stadt in Amerika: das älteste Gebäu kann man im allgemeinen sagen, steht seit dreißig Jahren – die älteste Familie hat noch europäische Großeltern. Ein Dorf, einen Bauernstand kennt Amerika nicht. Fast jeder Wohlhabende ist hier Emporkömmling. Arbeit schändet nicht, Aufstieg durch Arbeit macht nicht lächerlich. Wenn hier ein Sattler Staatspräsident würde, rechnete man ihm die Schwielen seiner Hände wie Orden an. Die paar Patrizierfamilien mögen hoch angesehen sein: im weiten Land zählt ihr Einfluß kaum. Manche unsrer Schriftsteller haben amerikanische Gestalten zu zeichnen versucht. Die Gestalten blieben im Konventionellen stehen, sind völlig verzerrt, mißraten in den Umrissen. Auch die gesellschaftliche Erörterung also in unsrer Literatur stößt hier auf Unverständnis. Nationale Fragen … Dieselben Völker, die sich in Europa schlagen, vertragen sich auf dem Boden der Union – vielleicht mit Ausnahme der Iren, die leidenschaftlich heimischen Chauvinismus mitmachen. Europäische Streitereien sind dem Yankee Hekuba; wie dies Europa im ganzen; es gilt nur – im Sommer – als beliebter, wohlfeiler, nicht uninteressanter Ausflugsort, die Fahrt dahin für eine Sache, aus der man nicht Wesens macht. Etwa wie der Dresdner sagt: „Ich gehe nach Schreiberhau.“ Die kommunalen Angelegenheiten von Schreiberhau lassen ihn dabei völlig kalt. Die Vereinigten Staaten sind ja selbst so groß wie Europa; die Entfernung von San Frisco nach New York genau wie jene von Madrid nach Moskau; die europäischen Fürstentümer und Republikchen sind herzlich lächerlich: es könnte ja Italien Krieg mit Deutschland führen, Polen Krieg mit Ungarn, Rumänien mit der Türkei, indem die beiden Gegner das Land dazwischen, ohne es zu betreten, überschießen… Was aber bleibt unsrer Literatur, wenn man ihr die Liebe abstreicht, die Familie, das Städtchen, das Dorf, den Bauern, Bürger, Adel, das Volk und die Geschichte? Es bleibt ihr: Verstand und Seele; Philosophie, Psychologie, das Wissen um den Menschen und die Welt. Es hört sich groß genug an…

Europäische Literatur – du lieber Gott! Wenn der Zuschauer eines Dramas, der Leser eines Buches vor Langeweile gähnt, doch voller Hochachtung für den tiefschürfenden Dichter: So ist er überzeugt, ein Kunstwerk mitgenossen zu haben. Und hat der Dichter die Ergebnisse exakter Forschung ungenau in Dialog und Reim gebracht, so liegt ein Kunstwerk vor. Der Amerikaner lehnt eins wie das andre ab: Seelenkenntnis und Weltweisheit; ihm fehlt es an Vorbildung und Wissen, sich zu vertiefen; er denkt primitiver, niedriger. Er möchte im Theater, durch Lektüre gespannt sein. Er pfeift auf Strindberg, das Armeleutestück, Wilhelm Raabes durch Tränen lächelnder Humor. Der Amerikaner sucht kaustischen, drastischen Witz in handgreiflichen Verwicklungen. Da habt ihrs. Wünscht auf den Brettern ein Dasein zu sehen, wie er es gern haben möchte: ohne Sorg und Qualen – und am Schluss muß rührende Lösung, Erlösung sein – allenfalls noch eine kindliche Symbolik mit Feen, Sternenbanner und bengalischem Licht. Je schwerer der Alltag den Amerikaner belastet: desto weiter will er im Kunstwerk der Wirklichkeit entrückt sein. Psychische Notwendigkeit, eine Lehre vom Ausgleich, die auf eine Formel erst noch zu bringen ist.

„Schön,“ erwidern meine europäischen Kameraden, „wir beginnen einzusehen, warum neunundneunzig Werke wiederkommen – von hundert, die wir über den Ozean schicken. Wir haben dem Amerikaner wenig zu sagen. Doch dem Deutschen in der neuen Welt? Wie steht es mit dem Deutschtum? Freunde, ich rede ungern davon – und nur, weil ihr mich zwingt: Es gibt kein Deutschtum in Amerika, wie ihr euch es vorstellt: eine organisierte Partei oder Masse. Es gibt da und dort hervorragende, sehr kluge Männer mit deutschen Herzen; gibt sogar vereinzelt deutsche Städtchen. Doch im allgemeinen hat der Krieg das Deutschtum erwürgt – wenn ich noch deutlicher sprechen soll: geköpft. Beinah allenthalben sind grade die kulturell wertvollsten, eingeschüchtert durch ungeheure, heftige Feindespropaganda, aus den deutschen Reihen gewichen. Der Nachwuchs redet meist englisch, selbst die Kinder rein deutscher Eltern. Zuzug aus der Heimat fehlt. Was in den gelichteten Turn-, Schützen-, Gesangvereinen zurückblieb, sind (nach einem Wort Eulenbergs) „Gustav Freytag“-Deutsche. Gute, treue, prächtige Menschen, die unendliche Opfer für das hungernde Vaterland gebracht haben. Ihre Kunst- und Weltanschauung steht oft auf dem Niveau des Einwanderungsjahrs, bis dahin hatte sie Anschluss an die deutsche Bildung. New York, die Stadt mit angeblich 600.000 Deutschen, hat kein deutsches Schauspiel, könnte es auch nicht erhalten. (Die deutsche Oper – mit Leo Blech – hat begeisterte Liebhaber gefunden, ist aber wirtschaftlich verkracht.) Hingegen macht das russische Kabarett „Chauve fouris“, direkter Nachkomme der Wiener „Fledermaus“, Enkelkind also der „Elf Scharfrichter“, seit ungezählten Monaten volle Häuser, trotzdem es die höchsten Eintrittspreise unter sämtlichen Vergnügungsstätten verlangt. – Max Reinhardt wird im November herkommen, aber englisch spielen: (er bringt wahrscheinlich Hugo von Hofmannsthal in Person mit.) – die deutschen Zeitungen Amerikas sind zum Teil eingegangen; die am Leben blieben, haben bejahrte Bezieher, die dem Blatt aus Gewohnheit anhangen.

Noch eins von der Praxis des Literaturbetriebes! Da ist der mangelhafte urheberrechtlich Schutz deutscher Dichtungen in Amerika. Der deutsche Autor ist nicht etwa (wie der Tischler oder Schmied ohneweitres Eigentümer seins Werkes: sein Werk ist vielmehr Gemeingut, wenn er es nicht (unter Beischluß eines Dollars) in Washington zum Copyright anmeldet. Auch dann bleibt die Arbeit sein ein kurzes Jahr; und ist sie nicht innerhalb dieses einen Jahres hier im Land gedruckt worden, erlischt der Schutz.

So kommt das Copyright nur den berühmten Opern- und Operettenkomponisten zugute. Denn kaum ein anderes Produkt ist in Amerika so begehrt, daß es schon innerhalb eines Jahres vervielfältigt würde – oder es lohnte (wie der Aufsatz einer Tageszeitung) das umständliche Nachsuchen des Schutzes nicht.

Daß dieser unmögliche Zustand uns Autoren nicht noch mehr beschäftigt, verdanken wir ganz allein der Interesselosigkeit des amerikanischen Lesers an unsern Büchern. In der Tat nämlich druckt man deutsche Bücher hier nicht nach. Geschah es gelegentlich, so sind die Auflagen so gering geblieben, daß sie für uns nicht in Betracht kamen. Der amerikanische Verlag ist ein großes Ding – Mister Editor ist auf seinen Ruf bedacht und läßt sich unsaubre Machenschaften nicht nachsagen – umso weniger, als ihm deutsche Bücher nichts einbrächten. Skandinavier aber und Russen sind hier um den Ertrag ihrer Federn gebracht worden („Sfanin.“) – Immerhin hat man mir in der „.Kibitzarnia“ (142. Division Street), dem Literatencafé New Yorks, Leute vorgestellt, die „mit ihren Familien seit Jahren von mir leben“, indem sie meine Anekdoten übersetzen und verkaufen. – Man erwägt übrigens im Weißen Haus den Anschluß der Vereinigten Staaten an die Berner Konvention. Und dem Mißbrauch der deutschen Zeitungsbeiträge durch amerikanische Blätter soll einigermaßen ein privates Abkommen steuern, das man mit den Blättern eben vorbereitet. Gesetzlicher Schutz wäre ohnehin illusorisch, weil das kleine Objekt nicht lohnt, im einzelnen Fall den Apparat der Gerichte in Bewegung zu setzen.

– – – Alles in allem bedaure ich, nicht zwanzig Jahre früher hergekommen zu sein, den Planeten Erde nicht schon mit jungen Augen von der andern Seite gesehen zu haben. Und kann nur jedem deutschen Dichter raten, das Experiment so bald wie möglich anzustellen. Hier erst wird er gewahr werden des Sterblichen, Örtlichgebundenen, Engen in seiner und der Zeitgenossen Begriffswelt.

In: Prager Tagblatt, 15.6.1923, S. 2-3.

Anm: in der Transkription wurde die Orthographie (einschließlich ihrer Besonderheiten) beibehalten.

Richard v. Schaukal: Die Idee Österreichs

V o r b e m e r k u n g   d e r   S c h r i f t l e i t u n g: Die Zollunion Deutschland-Österreich ist verboten worden. Sie wäre auch in der Form der ersten Pläne kaum durchzuführen gewesen, denn zu verschieden sind die Verhältnisse und Lebensbedingungen der österreichischen Volkswirtschaft von der reichsdeutschen. Aber auch sonst wäre eine bloß auf das Nationale gestellte Union, selbst wenn sie eine politische würde, keine Lösung. Die Endlösung des deutschen bzw. österreichischen Problems ist nicht ein Nationalstaat mit unmöglicher Grenzgestaltung, die Endlösung heißt: das föderierte Mitteleuropa. Und je mehr heute von der Weltpolitik Gräben aufgerissen werden zwischen Deutschland und Österreich, um so mehr mag letzteres Vorarbeit für das künftige Mitteleuropa leisten durch Ausbau von Beziehungen vor allem mit seinen bisherigen engeren Weggenossen im Rahmen der altösterreichischen Monarchie. Das ist wohl der tiefere Sinn des folgenden Bekenntnisses eines hervorragenden Dichters und Denkers von Österreich.


    Der Österreicher, der als österreichischer Mensch seiner Herkunft und Natur gemäß fühlt und denkt, muß vor allem einen „Anschluß“ wünschen: den an seine Vergangenheit, die Österreich heißt, also an das Landgebiet, das ihn in Wechselwirkung seit Jahrhunderten bestimmt hat. Österreich, das von den schlecht beratenen Siegern in den Friedensverträgen auf das grausamste verstümmelt worden ist, aber in seiner Hilflosigkeit die zähe Lebenskraft seines Selbstvertrauens bewahrt hat, muß wieder zu sich selbst auferstehen als das vielfarbige, vielstimmige Reich der Mitte, zu dem es sein Schicksal ausersehen hat. Seine Entwicklung, die seine Geschichte ausmacht, war nichts weniger als Willkür, sondern gesetzmäßiges Wachstum aus den eigenen weitverzweigten Wurzeln. Diese Entwicklung ist gewaltsam unterbrochen worden, aber ihren Sinn kann Willkür nicht Lügen strafen. Daß sich die in der Monarchie vereinigten Völker, die kurzsichtige Regierungs- und Verwaltungsanschauung nach dem zerstörerischen Freiheitstaumel des Jahres 1848 durch ungeschickte Versuche gegeneinander getrieben statt wieder zusammengebracht hatte, auf den Trümmern des Reiches selbständig gemacht haben, ist mitnichten ein dauerndes Hindernis wohlbedachten, weil dem auseinandergerissenen Ganzen zuträglichen Zusammenschlusses. Die äußere Form ist fast gleichgültig: es kommt auf die innere Gestalt an, die sich in der Vereinigung ausdrückt. Um die Donau und ihre Nebenflüsse hat sich ein Gefüge zu erneuern, das in seiner Vielfalt eine Einheit bildet. Künstliche Schranken zwischen den zusammenstrebenden Teilen sind widersinnig. Die Alpen und ihre südlichen Ausläufer sind ein Ganzes, ebenso wie das von Randgebirgen abgegrenzte böhmisch-mährische Becken zum österreichischen Strom als ein Ganzes herniedergeht, wie die ungarische Tiefebene von diesem Strom aus bis an ihre Berge als ein Ganzes verbreitet. Und die Völker, die in diesem Mittelraum – man mag ihn bis an die „Vorlande“, die schwäbische Alp, den Bodensee erstrecken – seit mehr als einem Jahrtausend sich zusammenfanden, haben, ebenso wie der Boden, den sie besiedelten, seinen natürlichen Verlauf zeigt, sich von einander nicht gesondert, sind in einander über-, in einander aufgegangen. Es ist ein österreichisches Volk entstanden, in das der Österreicher, unbefangen sich selbst darangebend, wohl auch den Ungarn aufnimmt, der sich dagegen sträubt. Die Ostmark ist aus dem Herzogtum Bayern als Siedlung hervorgegangen. Als Rudolf von Habsburg, schwäbischer Herkunft, den Przemysliden Ottokar besiegt und sein gewaltiges Reich zur Grundlage der österreichischen Hausmacht bestellt hatte, ist das Österreich entstanden, von dem es am Ausgang des Mittelalters hieß, es werde zuletzt in der Welt sein. Viele Kronen hat sein Herrscher in seinem „großen Titel“ vereinigt. Der Weltkrieg hat sie zerschlagen. Aber was sie versinnlichten in ihrem stolzen Gefüge, die Zusammengehörigkeit des Zusammenhangenden [sic], in einander Verwachsenen und Verschlungenen, das hat er im Gedächtnis der Überlebenden nicht zu tilgen vermocht. In der Vergangenheit besitzt der Österreicher sein Vater- und Mutterland: daß er wieder erwerbe, was sein bleibt, hofft er von der Zukunft. Denn die Wandlungen der Geschichte können, was als Idee wirklich ist, verwischen und verdunkeln, nicht auslöschen.

In: Schönere Zukunft. Nr. 2, 11.10.1931, S. 30-31.

Fritz Rosenfeld: In den Tiefen der Erde V.

  • Franz Jung: „Die Eroberung der Maschinen.“ Malik-Verlag, Berlin.
  • Hermynia Zur Mühlen: „Licht.“ See-Verlag, Konstanz.
  • Concha Espina: „Das Metall der Tote.“ Verlag W. B. Mörlin, Berlin.
  • Hans Kaltneker: „Das Bergwerk.“ Donau-Verlag, Leipzig und Wien.

Franz Jungs unter Bergarbeitern spielender Romans „Die Eroberung der Maschinen“ ist in Stil und Inhalt gleich eigenartig. In kurzen, abgehackten Sätzen wird eine recht unklare Geschichte erzählt, die keine handelnden Einzelpersonen hat. Die Masse ist Trägerin des Geschehens. Eine derartige Gestaltung ließe sich wohl durchführen, wenn die Willensäußerung der agierenden Menge in Bildern gezeigt würde. Durch die ganz unbildhaften trockenen Berichte von Vorgängen wird der Roman aber farblos und eindrucksarm, entfernt sich vom Kunstwerk zur theoretischen Abhandlung. Will ein Dichter seine Gedanken in einem Roman vorbringen, so kann er nicht darüber hinweg, sie in Handlung umzusetzen. Er muß Vorgänge erfinden, die die Einbildungskraft des Lesers anregen, die dieser sich „vor“zustellen vermag. Abstrahiert der Autor aber von jedem vorstellbaren Geschehnis, bringt er nur den sachlichen Extrakt des Ereignisses in der Art einer Zeitungsnotiz: Das und das ist da und dort geschehen, so ergibt sich ein auf gemeinverständliche Basis gestellter theoretisches Buch, das an sich ganz interessant sein mag, aber ein Unding wird, wenn es den Titel „Roman“ beansprucht. Die wenigen Vorgänge, die das innere Geschehen des Romans verdeutlichen sollen, sind aneinandergereihte Belanglosigkeiten, nüchterne Tatsachenfeststellungen. Dichtung ist ganz etwas anders. Auch der Stil des Buches ist, wie der aller Werke Jungs, ungenießbar. Explosive, geballte Sätze, sind als Ausdruck der Hast unseres Erlebens in der Literatur unserer Tage längst heimisch geworden. Aber keine Sprachballung entschuldigt es, daß ein Arbeiter (nicht in Dialektnachahmung, sondern in der Erzählung des Autors), „auf Arbeit“ geht. Neben falschen Telegrammsätzen stehen dann wieder lange, schlecht gebaute, unverständliche Perioden, die das Lesen des Buches zur Qual machen.

            Ohne jedes Sprach- oder Gestaltungsexperiment hat die treffliche Sinclair-Übersetzerin Hermynia Zur Mühlen einen Bergarbeiterroman „Licht“ geschrieben., der (wohl vom Standpunkt des Kommunismus) das Problem der Bewußtseinserweckung des Proletariers behandelt. Mit erstaunlicher dichterischer Kraft führt Hermynia Zur Mühlen ihr Thema durch, belebt sie den Gang der Handlung durch viele Episoden, die oft tiefmenschlich gefühlte, an sich runde Einzelbilder von Proletarierschicksalen bieten. Der Einfluß des großen amerikanischen Schriftstellers, den sie verdeutscht, erweist sich vor allem in dem stark positiven Zug ihres Werkes. Sinclair war ja einer der ersten, die mit dem sozialen Roman älteren Schlages, bei dem der Aufruhr stets mit der blanken Waffe niedergeworfen wird, aufräumten und in der richtigen Erkenntnis, daß es zweideutig ist, die Sieghaftigkeit der Die durch physische Gewalt scheinbar abzuschwächen, den zuversichtlichen Ausgang an Stelle der Niederlage zu setzen. Die Dichterin bringt wohl (das bedingt die Wahl des Themas) inhaltlich nichts Neues, aber sie formt den bekannten Stoff in schlichter, markiger Sprache.

            In eine uns neue, mit Naturwundern gesegnete, aber von der Profitgier der besitzenden Klasse zur Hölle gewandelte Welt führt uns die spanische Dichterin Concha Espina in ihrem Roman „Das Metall der Toten“. Die Handlung des Werkes verbindet erfundene Liebesverwicklungen und Eifersuchtstragödien mit historischen Geschehnissen. Diese sind: Ursachen, Entstehung und Verlauf einer Erhebung gegen die Ausbeutergesellschaft. Der groß angelegte Streik führt zwar nicht zum Sieg, endet aber mit der Auswanderung der Bergsklaven, die es vorziehen, in der Fremde ihr Bort zu verdienen, als in der Heimat für fremde Herren (die Kupferminen von Riotinto in Südspanien, die der Schauplatz des Romans sind, gehören englischen und deutschen Gesellschaften) zu roboten. Die gewaltige Summe aus erdichteten und tatsächlichen Begebenheiten ist aber letzten Endes nur der Anlaß zur Entfaltung eines Stils, der durch die gewiß nicht unbedeutenden Hemmungen der Übersetzung hindurch seine Eigenart und seinen Reiz bewahrt. Als Ganzes genommen trägt das Werk wohl alles an sich, was Dichtung geben kann: Beschreibung, Handlung, Menschenzeichnung, Problemgestaltung. Die knappen, gehaltreichen Schilderungen des Landes erinnern zuweilen an Martin Andersen Nexös „Sonnentage“, haben aber vor der Reisebeschreibung des dänischen Arbeiterdichters von Vorzug voraus, daß eine Einheimische hier spricht, die nicht nur das äußere Bild, sondern vor allem die Seele des Landes sieht. Und diese Milieuzeichnung ist für uns von größter Wichtigkeit, weil wir nur von ihr aus so manchen Charakterzug der Personen, so manches Geschehnis verstehen können. Der Stolz, eine Eigenschaft, die für das spanische Volk längst sprichwörtlich geworden, ist eine günstige Grundlage für die Ausbreitung der revolutionären Befreiungsideen, das südländische Temperament aber treibt gleichzeitig zum Extrem, zum unbedachten Drauflosschlagen, zur Gewalt, führt den spanischen Proletarier leicht ins kommunistische Lager. Von der radikalen Seite sind die Vorgänge gesehen und geschildert. Seitenhiebe auf die Sozialisten finden hier ihre Begründung. Neben dieser Neigung zum brutalen Radikalismus läuft eine religiöse Inbrunst und Hingabe, ein uns ganz fremder Fanatismus, der seine Ursachen in der jahrhundertelangen Pfaffenherrschaft hat, der aber den Arbeiter nicht im mindesten von seiner revolutionär-klassenbewußten Gesinnung abhält. Kommunistische Überzeugung und religiöser Fanatismus gehen hier Hand in Hand. Die Schilderung dieser durchaus wahren, wirklichkeitsgetreu gesehenen Verhältnisse erfordert eingehende, aufmerksame Lektüre. Zu diesen interessanten Charakterzügen, die das ganze Volk betreffen, kommt die Lebendigkeit der vorgeführten Einzelmenschen, deren Gestaltung durch und durch auf das Seelische eingestellt ist. Leidenschaften flammen auf, Versuchungen werden überwunden, die Eifersucht reißt zu Verbrechen hin, Menschenherzen verbluten. Hunger und Liebe, die beiden Urkräfte allen menschlichen Handelns, bestimmen Gefühl und Tat dieser unverbrauchten, unvergifteten Elementarmenschen, die mir ihrem fieberhaften Wechsel von Glücksekstase und Verzweiflung, Liebe und Haß, Begeisterung und Ernüchterung, zähe Vorkämpfer im Ringen um ihr Menschenrecht werden, wenn das Saatkorn der Aufklärung in ihre Seele gelangt ist. Als Hintergrund der Vorgänge entrollen sich Bilder von schauriger Farbenpracht, wird eine Landschaft gezeigt, die in ihrem romantischen Zauber, ihrer unirdischen Schönheit dem Wesen der Menschen, die sie bewohnen, entspricht.

            Ein Drama „Das Bergwerk“ des jüngst verstorbenen Wieners Hans Kaltneker, das anläßlich der tausendsten Wiener Arbeitervorstellung aufgeführt wurde, läßt sich in seinen Motiven auf mannigfache Vorbilder zurückverfolgen. Es ist nicht anzunehmen, daß der Dichter die lange Reihe von Bergarbeiterromanen, die wir hier durchbesprochen haben, kannte. Die frapante Ähnlichkeit mit Jansons „Im Dunkel“, Sinclairs „König Kohle“ und della Grazies „Schlagende Wetter“ erklärt sich aus der geringen Zahl von Möglichkeiten, die der Bergarbeiterberuf dem gestaltenden Künstler bietet. Wenn es sich um ein Drama handelt, engt sich der Kreis der Situationen von selbst auf die wenigen dramatisch brauchbaren ein: die Frauen harren beim Schachteingang verzweifelt der verschütteten Männer und fordern Öffnung der Grube. Oder: die eingeschlossenen Arbeiter werden vor Hunger zum Tier, schänden im Ansturm des Selbsterhaltungstriebes ihr Menschentum. Der Grundgedanke dieses Dramas klingt an Tollers „Masse Mensch“ an. Das Individuum entfesselt den Aufruhr und schreckt dann vor der Tat zurück, wird als Hindernis empfunden und deshalb beseitigt. Der heiße Atem tiefer Menschlichkeit, der uns aus dem Werk entgegenschlägt, verscheucht jedoch die Erinnerungen an formale und inhaltliche Vorbilder. Ein Dichter, den der Tod nur allzufrüh dahinraffte, hat eine Dichtung geschaffen, die als Drama viele technische Fehler aufweist, aber des ehrlichen und kraftvoll begeisterten Willens halber, der in ihr ist, nicht vergessen werden darf.

In: Bildungsarbeit, Nr. 7/8, 1922, S. 66-67.

Edwin Rollett: Artur Schnitzler

            Es ist nicht die Zugehörigkeit zu einer literarischen Partei oder Schule, die dazu veranlaßt, heute an Artur Schnitzlers 60. Geburtstag mit jener Achtung zu erinnern, die ein arbeits- und erfolgreiches Menschenleben beanspruchen darf. Er gehört in keine Gruppe, ist Individuum, Einzelerscheinung, Spezialität und war auch nie etwas anders. Trotz seines Ranges in der zeitgenössischen Literatur war er nie einer der Bannerträger, die ihren eigenen Ruhm laut in die Welt posaunen und, um ihm größeren Nachdruck zu verleihen, eine Schar von Nachahmern an sich anschließen. Selbst als Junge, Aufstrebender zählte er keiner Schule zu.

            Von den Naturalisten, seinen Altersgenossen, hat der junge Schnitzler wohl einiges angenommen. Manche ihrer Programmpunkte mußten ihm als naturwissenschaftlich gebildetem Arzt und Arztessohn entweder im Blute sitzen oder, wenn sie von außen kamen, besonders nahegehen. Aber er blieb doch dieser Richtung gegenüber immer in Reserve. Eine Landschaft in einer Schnitzlerschen Dichtung gehört zu den Seltenheiten, und spielt sie einmal hinein wie im „Weiten Land“, so ist sie durch das Auge des Hochtouristen gesehen, dem der Nervenkitzel des Kletterwegs mehr zählt als die Fernsicht vom Gipfel. Auch Gestalten aus dem Volke, wie der blinde Geronimo und sein Bruder, sind wohl größtenteils vom Standpunkte dessen betrachtet, der im Wagen an ihnen vorüberfährt. Ebenso kann Schnitzler den Schattenseiten des Lebens nichts abgewinnen. Die Dämmerung lockt ihn mehr. Für Häßlichkeit vollends empfindet er nicht die geringste Vorliebe – gerade das Gegenteil. Grazie, Schönheit, Gleichgewicht sind ihm auch für die Formung des kranken Zustandes unerläßliche Erfordernisse. Es gibt sozusagen salonfähige oder poetische Krankheiten und nur für solche scheinen Schnitzlers Gestalten empfänglich zu sein. Dabei taucht auch immer wieder ein merkwürdiges Verständnis auf, etwa für das Mädchen, das angesichts des kranken Geliebten Abscheu, für die Tochter, die vor der Pflege der todkranken Mutter Ekel empfindet. Und tritt der Tod – in den melancholischen Dichtungen Schnitzlers ein sehr häufiger Gast – in seiner ganzen Unerbittlichkeit in den anmutigen Reigen seiner Gestalten, so weiß auch er sich stets wohlgesittet zu benehmen. Ein Dolchstoß, ein Giftbecher, ein Schlaganfall, ein Sturz vom Pferde oder ein Pistolenschuß ritterlicher Ehrenrettung.

            Auch den sozialen Problemen ist Schnitzler meistens aus dem Wege gegangen. An manchen Stellen in „Freiwild“, in der „Hirtenflöte“, in der „Liebelei“ klingen wohl verwandte Töne mit, verstummen aber sehr rasch wieder. Selbst in „Professor Bernhardi“, der am stärksten auf diese Seite zuneigt, ist das soziale Element nicht Thema. Und Schnitzlers personenreichstes und vielleicht persönlichstes Werk, der Roman „Der Weg ins Freie“, bringt die politischen Anklänge, wie Fremdkörper in eine psychologische Novelle eingefaßt, nur nebenbei. So kann es denn begegnen, daß Dichtungen, die scheinbar eine Tendenz beinhalten, wie „Märchen“, „Freiwild“ oder „Das Vermächtnis“, eigentlich deren zwei in sich bergen. Nur im „Leutnant Gustl“ ist die einzige angeschlagene Linie nicht verlassen. Fraglich bleibt es bei diesem vielumstrittenen Werke allerdings, ob der Autor auf die darin liegende Tendenz besonders Gewicht gelegt, ob ihn nicht ausschließlich die interessante Situation dazu getrieben, „zu fassen, zu formen, zu bewahren“. Der Wert dieser außergewöhnlichen Seelenstudie liegt natürlich in keinem versteckten Hintergedanken, sondern ausschließlich in ihrer Psychologie und ihrer Form.

            Das gilt nicht nur für sie allein. Das ganze Schaffen Schnitzlers kann aus diesen zwei Perspektiven am deutlichsten und richtigsten betrachtet werden. Ein Psychologe ersten Ranges mit ungewöhnlich feinem Organ für die subtilen Vorgänge des Seelenlebens spricht aus allen seinen Werken. Ein Forscher, den die unscheinbaren und bedeutungslosen Vorgänge ebenso, ja mehr reizen als die augenfälligen. Psychologische Kleinkunst sind die sieben Erlebnisse des „Anatol-Zyklus“; Fein beobachtete und exakt analysierte Symptome eines Falles, manchmal bis zur Alltäglichkeit unbedeutend. Und doch präpariert die sorgsame Dichterhand trefflich das Edelmetall des psychologischen Gehaltes heraus. Lieber noch sind ihm freilich die Aparten, ungewöhnlichen, überraschenden Verknotungen des inneren Erlebnisses. Das blinde Mädchen, das eine Erinnerung an entschwundenes Glück in den Tod jagt, die Virtuosin der Verstellungskunst, die gerade durch das Schwinden jeder Gefahr zum Geständnis getrieben wird, das sind typische Beispiele von Schnitzlers Lieblingsstoffen. Daneben zieht ihn das Gebiet der unklaren Seelenzustände mit großer Macht an. Ja selbst der hypnotische Schlafzustand ist mit in das Gesichtsfeld einbezogen, und einmal gelangt der Dichter sogar bis in die Gefilde der Magie und schwarzen Kunst.

            Mit der Vorliebe Schnitzlers für solche Dämmerzustände und seiner alles umfassenden Zweifelsucht, die den Tod als einzige und letzte Wahrheit bestehen läßt, hängt es wohl zusammen, daß viele seiner psychologischen Knoten nicht zur Gänze gelöst oder mit einem kühnen Schwerthieb zerhauen werden, sondern daß er lieber, wo das Gewirre nicht mit zarten Händen zu lösen geht, melancholisch lächelnd einen ungelösten Rest zurückläßt. Besonders in seinem Roman findet doch eigentlich keine der suchenden Gestalten den „Weg ins Freie“ wirklich. Und das „Zwischenspiel“, dieses Scherzo mit melancholischen Unterstimmen, bringt seine Personen auch in der letzten Szene nicht aus dem Dilemma heraus, das die erste einleitete. Wohl ist aus den merkwürdigen Verschlingungen manche nachdenkliche Perspektive eröffnet; eine Lösung aber, die ihm selbst zweifelhaft und nebensächlich erscheinen würde, verschmäht der Dichter. „Denn das ist das Charakteristische aller Übergangsepochen, daß Verwicklungen, die für die nächste Generation vielleicht gar nicht mehr existieren werden, tragisch enden müssen, wenn ein leidlich anständiger Mensch hineingerät.“

            Die Erkenntnis der Kompliziertheit aller Lebensvorgänge hat Schnitzler zu sehr durchdrungen, als daß er seinen Dichterberuf als Priesteramt auffassen könnte. Viel eher denkt er sich seine Sendung so wie die des Wundermannes Paracelsus, der eine Welt des Wahns ebenbürtig neben die der Wirklichkeit stellt und die dazwischenliegenden Grenzen schwinden macht. „Ich lasse den Vorhang aufgehen, wenn es anfängt, amüsant zu werden, und lasse ihn fallen in dem Augenblick, wo ich recht habe.“ Ein Puppenspiel ist es in dem die Personen der Bühne und die des Publikums in gleicher Weise an den unsichtbaren Drähten hängen, der Dichter selbst mit ihnen.

            Die Vereinigung solcher geistiger Elemente zu einem abgerundeten Werk hat Schnitzler in einer ihm nach Herkunft und Heimat geläufigen Form vollzogen. Aus der Keimzelle des Wiener Feuilletons sind ihm die stärksten formalen Impulse zugekommen, in der Kulturatmosphäre großstädtischen Gesellschafts- und Salonlebens sind sie gediehen. Der unübertroffene Plauderton seiner Novelletten, deren lyrisch-musikalische Unterstimme wohl auch ein wenig vom allgemeinen, zum Erstarken der Lyrik drängenden Zug zeitgenössischer Literatur beinflußt ist, die genaue abwägende Berechnung der Sprachelemente, die dann doch in ihrer Gesamtheit den Eindruck des Ungezwungenen, Improvisierten macht, das sind die Elemente der vornehmen, durch französische Schule gegangenen Wiener Feuilletonistik. Naturgemäß mußten der dramatischen Wirksamkeit dieser Dichtungsweise gewisse Hemmungen entgegenstehen. Die breite Geste des Theaters verträgt sich schlecht mit solch feinen Formelementen. Das Ringen um die dramatische Gestalt ist denn auch in der Frühzeit Schnitzlers deutlich zu erkennen. Dem „Märchen“ haften unstreitig gewisse papierene Qualitäten an, die „Liebelei“ versuchte in einem ersten Entwurf, sich den Gesetzen des Volksstückes anzupassen, und erst eine ganz besondere Ausgestaltung aller im Rahmen seiner Technik gelegenen Möglichkeiten brachte den vollständigen Sieg über die Bühne. Unterstützt war die Eroberung des Theaters zum voraus durch das ausgesprochene Talent Schnitzlers, Interessantes zu finden, und durch seine glückliche Hand, die alles interessant zu machen verstand. Die geistreich-prickelnde Konversation der höchsten Gesellschaftsklassen, in der aus graziös unbedeutendem Getändel mit einem Male durch eine Zuspitzung eine blitzartig erhellende Perspektive auf Bedeutendes fällt, das Ineinanderschlingen schlagfertiger Aperçus die wechselvolle Beleuchtung eines Gegenstandes, der, fingerfertig hin- und hergewendet, den Nervenkitzel gedanklichen Flackerfeuers erzeugt, die Freude am geistreichen Paradoxon, der Hang zum leicht Exotischen, alle diese Elemente der Saloncauserie hat Schnitzler der Bühne dienstbar zu machen verstanden.

            Das große Geschehen spiegelt sich wider, aber vollzieht sich selten wirklich, so wenig wie Napoleon im „Jungen Medardus“ die Bühne betritt. Der Reiz des intimen Seelenvorganges steht überall im Vordertreffen und verschleiert auch in den dramatischen Historien den Schritt der Geschichte. Moderne Inhalte hüllen sich in das Kostüm vergangener Zeiten, und so erwächst auch die bestrickende und verwirrende Farbensinfonie des merkwürdigsten Werkes in Schnitzlers reichem Schaffen, die romantische Umdichtung der todgeweihten Stadt Bologna, in deren Mitte das Rätsel Beatrice wandelt. Geheimnisvoll, abgründig, ungewußt, ein Symbol für Schnitzlers ganze Dichtung, geht sie ihren Weg in unbegreiflichen Verschlingungen, doch dem Innersten ihrer Seele gehorchend, vor der alle großen Ereignisse gleich gelten gegenüber dem Diktat ihrer Weiblichkeit. Solcherart bietet sie vielleicht den letzten Schlüssel zu Schnitzlers Absicht, die er am deutlichsten ein andermal, im „Weiten Land“, bekannt hat: „Wenn man Zeit hat und in der Laune ist, baut man Fabriken, erobert Länder, schreibt Sinfonien, wird Millionär, aber glaubt mir, das ist doch nur Nebensache, die Hauptsache seid Ihr! – Ihr! – Ihr!“ Ein aufhellenderes Zitat findet sich bei ihm kaum wieder.

            Als Dichter des Weibes von Paracelsus‘ Zeiten über Casanova in die Salons der modernen Großstadt, als Gestalter der ganzen Stufenskala von Liebesmöglichkeiten und Liebeszweifeln, als Rätselkünder mehr denn als Rätsellöser darf Schnitzler gelten. Als einer, der die Kunde vom weiten Land der Seele vermehrt und bereichert hat, schürft und baut der Sechzigjährige weiter, graziös, apart, kultiviert, wie er es stets getan.

In: Wiener Zeitung, 13.5.1922, S. 2-3.

Richard von Kralik: Kulturpolitische Exkurse

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Kultur und Barbarei.

Kultur ist Tradition. Aufgeben der Tradition ist Barbarei. Die „Wilden“ haben keine oder wenig Tradition. Die große einheitliche Kultur beruht auf der zusammenhängenden Tradition von Homer an durch das ganze Griechentum und Römertum bis ins Christentum hinein. Gefährliche Auswüchse der Tradition wurden immer durch „Wiedergeburten“ oder Regenerationen, Restaurationen, Restitutionen, „Reformationen“ im richtigen Sinne auf die richtige Bahn der Tradition zurückgelenkt. Ich meine etwa die Reform von Cluny usw., nicht die des Luther-Jahrhunderts. Selbst das Wort und der Begriff „Revolution“ bedeutet, richtig gefaßt, die Umwälzung zum Ausgangspunkt zurück. Kultur ist Konservatismus in diesem Sinn. Fortschrittlichkeit ist Entfernung von der Kultur. Darum hat der Syllabus von 1864 schon im Sinne der Kultur sehr recht, wenn er den prinzipiellen Fortschritt, den „Progressus“ als Irrtum verdammt. Fortschrittlicher Katholizismus z. B. wäre das Fortschreiten, das Hinwegschreiten aus dem tatsächlichen Katholizismus zu einer neuen Sektierung. Luther war in dieser Bedeutung ein fortschrittlicher Katholik, denn er bildete sich ein, reiner katholisch werden zu müssen, „integraler“ als der Papst. Wir kirchlichen Katholiken sind zufrieden, genau so katholisch sein zu können wie der Papst. Seinerzeit wollte das „Junge Deutschland“ über Goethe und Schiller hinausgehen; unser Grillparzer hat mit Recht gesagt, es wäre schon viel, schon genug geleistet, dort stehen bleiben zu können, wo Schiller und Goethe stand. Impressionisten, Expressionisten dachten neue Standpunkte in der Kunst einnehmen zu können; Nazarener, Präraffaeliten verstanden es besser, wenn sie versuchten, zum Heil der gefährdeten Kultur an die wunderbare Kunst der Vorzeit anzuknüpfen. Grillparzers Prinzip hat sich bewährt. Es ist das Prinzip der immerfort neu und doch gleich Entzückendes schaffenden, und darum unerschöpflichen Natur.

Großstadt und Kultur.

Ich schätze sehr die Heimatkunst, die Heimatkultur, die Dialektdichtung, die so mannigfaltig, köstliche Provinzkultur. Ich bin selbst auf dem Land, im Urwald geboren, dann in der Landstadt Linz aufgewachsen. Mein Herz hat sich immer erweitert, wenn ich durch die Gassen Innsbrucks, über die Grazer Plätze, durch Klagenfurt und Villach schreiten konnte, aber je älter ich wurde, um so deutlicher mußte ich einsehen, daß ein Schaffen in größerem Stil, eine nationale Kunst, eine freierer Wissenschaft nur in der Großstadt möglich ist. Schon die Athener haben erkannt und es ausgesprochen, daß ein Themistokles, Aristides nicht in einem ländlichen Dorf zur vollen Entfaltung gekommen wären. Das ist ja für den Politiker, den großen Staatsmann selbstverständlich, aber auch der Mann stiller geistiger Arbeit findet nur in der Großstadt heutzutage den Nährboden seiner Ideen. Vor mehr als 100 Jahren konnte eine „Allgemeine Zeitung“ in Augsburg, der alten Reichsstadt, erscheinen; bald ward ihr aber selbst die Übersiedlung in die bayrische Hauptstadt zu einem nur unzulänglichen Vorteil. Augsburg, München, und andere Mittelstädte haben für die Kultur ihre unleugbare, unersetzliche Bedeutung; aber eine Weltanschauung im Sinne der großen Weltgeschichte können sie nicht so leicht schaffen, wie Großstädte mit ihrem weiteren traditionsreichen Gesichtskreis, ihren wissenschaftlichen und staatlichen Instituten. Kant, der wohl eine Weltansicht erarbeitet hatte, rühmt dafür sein Königsberg, das vielleicht zu seiner Zeit im geistigen Sinn mehr Weltstadt war als Berlin. Auf die Einwohnerzahl kommt es ja gewiß nicht an: New York ist doch nur eine große Handelsbude. Ohne andern bedeutenden Städten zu nahe zu treten, möchte ich doch meine Überzeugung nicht verhehlen, daß man z. B. von Wien aus größere Kulturpolitik treiben kann als etwa von Tripstrill.

Poesie und Politik.

Die nahe Verwandtschaft von Poesie und Politik kann nicht stark und oft genug betont werden. Die altgriechische Staatskunst beruhte zumeist auf Poesie. Homer wurde sowohl von Lykurg wie von Solon als festeste Stütze der hellenischen Staatswesen anerkannt. Die Vorlesung oder Rezitation der Homerischen Gedichte von Staatswegen zu festen Zeiten galt wohl in Sparta wie in Athen als ein Fundament des den Staat tragenden Nationalgefühls. In gleicher tiefer Erkenntnis ließ Augustus durch Vergil das römische Staatsepos, die Aeneis, verfassen, durch Ovid den staatlichen Festkalender (die Fasten) dichterisch besingen, durch Horaz seine Taten und die Feste des Staates in Oden verherrlichen. Karl der Große zeigte dieselbe politische Einsicht durch seinen Auftrag, die deutschen Heldensagen zu sammeln und zu erhalten. Im gleichen Sinne habe ich vor 20 Jahren mein „Deutsches Götter- und Heldenbuch“ abgeschlossen und herausgegeben, und noch vorherein Prinz Eugen-Epos, nicht bloß als Spielerei zum Zeitvertreib, sondern auch als eigensten Ausdruck gesamtnationalen Geistes und Zusammenfassung einer nationalen Arbeit von 14 Jahrhunderten (seit Theoderich dem Großen). Ich bin der Überzeugung, daß die Freiheitskriege von 1813 bis 1815 nicht so glänzend ausgegangen wären, wenn sie nicht die Poesie der Zeit als sieghaften Genius hinter sich und vor sich gehabt hätten – der Freiherr von Stein hat das selber als führender Politiker der Zeit zugestanden. Andrerseits scheint mir der Mißerfolg des Weltkrieges bereits durch das skandalöse, rein negativ gehaltene Festspiel G. Hauptmanns von 1913 sozusagen mitbedingt. Schlechte oder gute Poesie, echte oder Antipoesie wirkt sich in aller Politik aus. Was ist denn der Kommunismus seit St. Simon und Fourier, seit Marx und Lassalle anderes als eine Abirrung der allen Seelen notwendigen Poesie auf eine falsche Bahn? So muß und kann uns nur echte Poesie auf rechten Wegen auch der Politik einer schöneren Zukunft zuführen.

[…]

In: Schönere Zukunft I, 1925, S. 3-5.

Richard Wagner: Theaterkritik und Bildungsarbeit

Wenn man die Theaterkritiken unserer Arbeiterblätter liest, könnte man mitunter leicht in Zweifel geraten, ob man eine proletarische oder eine bürgerliche Zeitung in der Hand hat. So völlig gleichartig sind oft Inhalt und Ton der Besprechung. Erst ein Blick in die Aufsätze „über dem Strich“ bringt wieder Klärung. Ist hier nicht ein innerer Bruch in der Geistigkeit der Arbeiterpresse? „Über dem Strich“ klar betonter geistiger Klassenkampf – „unter dem Strich“ im Feuilleton, in den Kunst- und Wissenschaftsrubriken „neutrale“, klassenentrückte Abhandlungen? Gibt es nur in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft den unentwegten Klassenkampf, nicht aber in Kunst, Wissenschaft und all dem sonstigen „Kulturellen“? Ist nicht alles in dieser kapitalistischen Welt klassenhaft und daher zum Kampf herausfordernd? Man könnte zunächst die allgemein formale Frage aufwerfen, welche innere Berechtigung für das Proletariat die bürgerlich-journalistische Einteilung der Welt in eine Über dem Strich und eine unter dem Strich habe. Ob sich darin nicht nur die bourgeoise Vorstellung von der Zweiteiligkeit der Welt, von der profitjagenden Hetze des Alltags und der schlemmerhaften Behaglichkeit des abendlichen Genusses spiegle? Unter dem Strich des Tages zieht man den Geschäftsrock aus und kleidet sich in den schöngeistigen Smoking des Feuilletons.

Und man könnte weiter fragen, warum den die bourgeoise Übung, gerade das Theater als den unentbehrlichsten Gegenstand der kulturellen Besprechungen zu betrachten, auch für Arbeiterblät[t]er maßgebend sein müsse, ob hier auch jedes Theaterstück mit allen seinen Schauspielern, Regisseuren, Theatermalern usw. gut oder schlecht, auf jeden Fall aber besprochen werden müsse, gleichgültig, ob es an sich bedeutend oder töricht und im besonderen für die Arbeiterschaft wichtig oder belanglos ist; und weiter, ob nicht die regelmäßige, eingehende Berichterstattung über Arbeitervorträge und neue sozialistische Schriften von weit größer Wichtigkeit wäre; und schließlich, ob das Theater – sehen wir die Gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Tatsachen des Tages wie sie sind – eine größere Rolle im Leben der Massen, also des Proletariats, spielt als das Kino, und ob daher die sehr eingehende, regelmäßige Besprechung der Kinostücke, natürlich vom Standpunkt proletarischer Erziehungsarbeit aus, nicht ebenso wichtig wäre, damit den Massen die Augen nicht nur für den einmal wöchentlichen oder monatlichen Theaterbesuch, sondern auch für die Gefahr der tagtäglichen geistigen und materiellen Kinoverelendung geöffnet werden.

Aber selbst angenommen – obwohl das Gegenteil zweifellos ist – daß die Theaterbesprechungen den Raum in den Arbeiterblättern einnehmen müssen, den sie heute haben, und zugegeben, daß die Besprechungen bestimmter, vornehmer, bürgerlicher Theater, wie etwa des Wiener Bürgtheaters, unbedingt den Umfang eines ganzen, ausgewachsenen Feuilletons haben müssen, sei das neue Stück für die Arbeiter noch so gleichgültig – die Theaterkritik ist Bildungsarbeit und darum muß die Frage einmal zur Diskussion gestellt werden, ob die Theaterbesprechungen in den Arbeiterblättern die selbe Aufgabe haben wie in den bürgerlichen Zeitungen, ob sie daher gleichartig oder nur ähnlich oder nicht etwas ganz anders sein müssen.

Heute ist die Theaterkritik der Arbeiterblätter vielfach „neutrale“ Einführung der Arbeiter in das bürgerliche Theater. Aber erfühlt sie damit ihre Aufgabe? Oder trägt sie damit – trotz bester Absichten und sicher ungewollt – nicht noch zur Verbürgerlichung des Proletariats bei? Die proletarische Zeitung ist eines der wichtigsten und wirksamsten Kampf – und zugleich Bildungsmittel der Arbeiterschaft. Ihre Aufgabe ist geistiger Klassenkampf nach außen und sozialistisch-proletarische Bildungsarbeit nach innen, ist ringen gegen die Kräfteeinwirkung der feindlichen Klassen und ringen um die Kräfteentfaltung der Klassenangehörigen. Da die gesamte bürgerlich-

kapitalistische Kultur in all ihren Teilen und Ausstrahlungen Klassenkultur ist, muß die proletarische Presse in all ihren Rubriken ständig in oppositioneller Kampfstellung gegen sie stehen – dort, wo die bürgerliche Kultur Werte schafft, diese unter Anerkennung der Leistung auf ihren Klassencharakter untersuchen und ihn hinter allen Verhüllungen durch Kunst und Wissenschaft und Unterhaltung aufzeigen. Die proletarische Theaterkritik darf nicht nur ästhetische Untersuchung, sie muß zugleich soziologische Studie sein und dies in ganz gründlicher Weise, weil der ästhetische Gehalt jedes Kunstwerkes in den Gesellschaftsverhältnissen unlösbar verwurzelt ist, die zumindest zum großen Teil die Geistigkeit eines Künstlers, eines Kunstwerkes und der Kunstempfangenden bestimmen.

Daß besonders die leichtere Theaterware des kapitalistischen Kunstmarktes, die nur auf greifbaren Profit ausgeht und diesen daher mit allen Mitteln bedenkenlos sucht, oft auch versteckt oder ziemlich offen konterrevolutionäre und proletarierfeindliche Absichten verfolgt, weiß jeder von uns. Hier müßte die proletarische Kritik, die kapitalistische Kunst- und Unterhaltungsindustrie in jedem einzelnen Fall in ihrer wahren Bedeutung vollkommen beleuchten als geistige Schädigung des kämpfenden Proletariats, das dafür noch Millionen seiner sauer erworbenen Lohnkronen jährlich bezahlen muß. Es dürften der landläufige, blödsinnige Schwank und die mit gelungener Absicht völlig entgeisterte Operette nicht nur von oben her ästhetisch abgetan, sondern sie müßten in ihren soziologischen Wurzeln und Auswirkungen immer und immer wieder bloßgelegt werden. Und es dürften alle die kleinbürgerlichen, großbürgerlichen, ja vielfach noch mittelalterlich-feudalen Ideologismen nicht ästhetisch verklärt, sondern durch allen ästhetischen Schein hindurch als geist-und blutsaugende Gespenster entlarvt werden.

Dann, meine ich, wird die proletarische Theaterkritik erst ihre Aufgabe als proletarisches Bildungsmittel ganz erfüllen, die Kluft zwischen der Welt über und unter dem Strich wird verschüttet und – es wird noch Raum werden, dem Arbeiter außerdem Weg zum bürgerlichen Theater noch den Weg zum sozialistischen Buch und den selbstmörderischen Abweg zum Ausbeutungskino mit Erfolg zu zeugen.

Proletarische Theaterkritik muß sozialistische Bildungsarbeit sein. Sozialistische Bildungsarbeit aber ist immer auch Klassenkampf.

In: Bildungsarbeit, Nr. 7-8, 1923, S. 62.