Roda Roda: Der amerikanische Literaturmarkt (1923)

Roda Roda: Der amerikanische Literaturmarkt

Immer wieder fordern meine deutschen Freunde, ich sollte ihre Dichtungen hier an den Mann bringen: Den Verleger, Theaterdirektor. Wie aussichtslos solche Versuche sind, ist meinen Freunden schwer begreiflich zu machen. Amerika hat ein großes einheimisches Schrifttum. Der Verleger ist von Talenten belagert. Aus Britannien, Frankreich, Italien, Schweden, Rußland lockt der hohe Dollarstand Angebote herbei; aus Böhmen, Ungarn. Bei den Proben der Vaudevilles, Revuen, Lustspiele sitzen erfindungsreiche junge Leute im Parkett , um dem Theaterleiter auf dem Fleck neue Einlagen aufzuschwatzen – Text und Musik – wenn eine Szene, eine Arie zu mißfallen scheint. Denn nirgend sind Kunst und Kitsch industrialisiert wie hier, nirgend der kommerzielle Betrieb der Bühne so riskant: Ein Erfolg macht zum Millionär; ein Durchfall zum Bettler. Ein virtuoses Stück „läuft“ drei, vier Jahre: in New York und – in zweiter, fünfter, neunzehnter Besetzung – strahlenförmig bis Florida, Oregon und Texas. Bei uns kann ein Schwank, ein Buch von Hamburg, Leipzig, München seinen Weg antreten. Hier startet man immer in New York; Chicago wollte eine Zeitlang eigne Rennen machen und gab das Beginnen nach einigen kostspieligen Versuchen reumütig auf. Der Verleger muß viel Kapital in jedes einzelne Buch stecken. Herstellung, Anzeigen, Kritiken sind teuer. Jawohl auch die Kritiken … Ein Verleger, der nicht Inseratseiten kaufen kann, fängt besser gar nicht erst an zu edieren. Da überlegen denn Direktor und Verleger zweimal, ob sie ein Stück, einen Roman lancieren sollten; und stehen von dem Unternehmen ab, wenn der geringste Zweifel an der Nutzbarkeit ihnen abrät. Ein deutsches Werk? Wird es verstanden werden? Es ist vorweg durch Gedankenballast gehandikapt. Das amerikanische Werk ist sicherer Sieger auf wohlvertrauter Bahn. Denn welche Qualitäten bringt der europäische Wettbewerber mit? In unserer Literatur steht das Sexualproblem an erster Stelle. Nicht so im amerikanischen Leben. Die Beziehung der Geschlechter ist hier einerseits kameradschaftlicher als bei uns – kraft einer durch Schule, Sport und Arbeit ausgebildeten Gemeinsamkeit – andererseits weist die Sitte (vielleicht von der frauenlosen Kolonialzeit her) dem Weib einen Vorrang an, das Gesetz stärkern Schutz. Mir scheint manchmal, als klinge in Amerika noch von fern das europäische Mittelalter nach mit Kirchenstreit und Minnedienst. Man lasse sich durch die New Yorker Halbnackttänze nicht täuschen (die hier, wie man mir sagt, auch erst seit dem Krieg zu sehen sind): Amerika ist prüde; eine ledige Mutter hat nicht auf Teilnahme zu rechnen; ein Don Juan nicht auf jene heimliche Bewunderung, die wir ihm zollen; Ehebruch nicht auf schmunzelnde Vergebung. In diesem Land einer schwächern Erotik und stärksten Hypokrisie fehlt es also der größern Hälfte außer Literatur an den beim Publikum vermuteten Voraussetzungen.

Das häusliche Leben ist von unserm grundverschieden. Es spielt sich in engern Räumen ab und andern Hemmungen, mit andern Bequemlichkeiten. Ebenso fremdartig für europäische Augen sind die Einrichtungen der Öffentlichkeit, des Gemeinwesens, Universität, des Studententums. Es gibt keine historische Stadt in Amerika: das älteste Gebäu kann man im allgemeinen sagen, steht seit dreißig Jahren – die älteste Familie hat noch europäische Großeltern. Ein Dorf, einen Bauernstand kennt Amerika nicht. Fast jeder Wohlhabende ist hier Emporkömmling. Arbeit schändet nicht, Aufstieg durch Arbeit macht nicht lächerlich. Wenn hier ein Sattler Staatspräsident würde, rechnete man ihm die Schwielen seiner Hände wie Orden an. Die paar Patrizierfamilien mögen hoch angesehen sein: im weiten Land zählt ihr Einfluß kaum. Manche unsrer Schriftsteller haben amerikanische Gestalten zu zeichnen versucht. Die Gestalten blieben im Konventionellen stehen, sind völlig verzerrt, mißraten in den Umrissen. Auch die gesellschaftliche Erörterung also in unsrer Literatur stößt hier auf Unverständnis. Nationale Fragen … Dieselben Völker, die sich in Europa schlagen, vertragen sich auf dem Boden der Union – vielleicht mit Ausnahme der Iren, die leidenschaftlich heimischen Chauvinismus mitmachen. Europäische Streitereien sind dem Yankee Hekuba; wie dies Europa im ganzen; es gilt nur – im Sommer – als beliebter, wohlfeiler, nicht uninteressanter Ausflugsort, die Fahrt dahin für eine Sache, aus der man nicht Wesens macht. Etwa wie der Dresdner sagt: „Ich gehe nach Schreiberhau.“ Die kommunalen Angelegenheiten von Schreiberhau lassen ihn dabei völlig kalt. Die Vereinigten Staaten sind ja selbst so groß wie Europa; die Entfernung von San Frisco nach New York genau wie jene von Madrid nach Moskau; die europäischen Fürstentümer und Republikchen sind herzlich lächerlich: es könnte ja Italien Krieg mit Deutschland führen, Polen Krieg mit Ungarn, Rumänien mit der Türkei, indem die beiden Gegner das Land dazwischen, ohne es zu betreten, überschießen… Was aber bleibt unsrer Literatur, wenn man ihr die Liebe abstreicht, die Familie, das Städtchen, das Dorf, den Bauern, Bürger, Adel, das Volk und die Geschichte? Es bleibt ihr: Verstand und Seele; Philosophie, Psychologie, das Wissen um den Menschen und die Welt. Es hört sich groß genug an…

Europäische Literatur – du lieber Gott! Wenn der Zuschauer eines Dramas, der Leser eines Buches vor Langeweile gähnt, doch voller Hochachtung für den tiefschürfenden Dichter: So ist er überzeugt, ein Kunstwerk mitgenossen zu haben. Und hat der Dichter die Ergebnisse exakter Forschung ungenau in Dialog und Reim gebracht, so liegt ein Kunstwerk vor. Der Amerikaner lehnt eins wie das andre ab: Seelenkenntnis und Weltweisheit; ihm fehlt es an Vorbildung und Wissen, sich zu vertiefen; er denkt primitiver, niedriger. Er möchte im Theater, durch Lektüre gespannt sein. Er pfeift auf Strindberg, das Armeleutestück, Wilhelm Raabes durch Tränen lächelnder Humor. Der Amerikaner sucht kaustischen, drastischen Witz in handgreiflichen Verwicklungen. Da habt ihrs. Wünscht auf den Brettern ein Dasein zu sehen, wie er es gern haben möchte: ohne Sorg und Qualen – und am Schluss muß rührende Lösung, Erlösung sein – allenfalls noch eine kindliche Symbolik mit Feen, Sternenbanner und bengalischem Licht. Je schwerer der Alltag den Amerikaner belastet: desto weiter will er im Kunstwerk der Wirklichkeit entrückt sein. Psychische Notwendigkeit, eine Lehre vom Ausgleich, die auf eine Formel erst noch zu bringen ist.

„Schön,“ erwidern meine europäischen Kameraden, „wir beginnen einzusehen, warum neunundneunzig Werke wiederkommen – von hundert, die wir über den Ozean schicken. Wir haben dem Amerikaner wenig zu sagen. Doch dem Deutschen in der neuen Welt? Wie steht es mit dem Deutschtum? Freunde, ich rede ungern davon – und nur, weil ihr mich zwingt: Es gibt kein Deutschtum in Amerika, wie ihr euch es vorstellt: eine organisierte Partei oder Masse. Es gibt da und dort hervorragende, sehr kluge Männer mit deutschen Herzen; gibt sogar vereinzelt deutsche Städtchen. Doch im allgemeinen hat der Krieg das Deutschtum erwürgt – wenn ich noch deutlicher sprechen soll: geköpft. Beinah allenthalben sind grade die kulturell wertvollsten, eingeschüchtert durch ungeheure, heftige Feindespropaganda, aus den deutschen Reihen gewichen. Der Nachwuchs redet meist englisch, selbst die Kinder rein deutscher Eltern. Zuzug aus der Heimat fehlt. Was in den gelichteten Turn-, Schützen-, Gesangvereinen zurückblieb, sind (nach einem Wort Eulenbergs) „Gustav Freytag“-Deutsche. Gute, treue, prächtige Menschen, die unendliche Opfer für das hungernde Vaterland gebracht haben. Ihre Kunst- und Weltanschauung steht oft auf dem Niveau des Einwanderungsjahrs, bis dahin hatte sie Anschluss an die deutsche Bildung. New York, die Stadt mit angeblich 600.000 Deutschen, hat kein deutsches Schauspiel, könnte es auch nicht erhalten. (Die deutsche Oper – mit Leo Blech – hat begeisterte Liebhaber gefunden, ist aber wirtschaftlich verkracht.) Hingegen macht das russische Kabarett „Chauve fouris“, direkter Nachkomme der Wiener „Fledermaus“, Enkelkind also der „Elf Scharfrichter“, seit ungezählten Monaten volle Häuser, trotzdem es die höchsten Eintrittspreise unter sämtlichen Vergnügungsstätten verlangt. – Max Reinhardt wird im November herkommen, aber englisch spielen: (er bringt wahrscheinlich Hugo von Hofmannsthal in Person mit.) – die deutschen Zeitungen Amerikas sind zum Teil eingegangen; die am Leben blieben, haben bejahrte Bezieher, die dem Blatt aus Gewohnheit anhangen.

Noch eins von der Praxis des Literaturbetriebes! Da ist der mangelhafte urheberrechtlich Schutz deutscher Dichtungen in Amerika. Der deutsche Autor ist nicht etwa (wie der Tischler oder Schmied ohneweitres Eigentümer seins Werkes: sein Werk ist vielmehr Gemeingut, wenn er es nicht (unter Beischluß eines Dollars) in Washington zum Copyright anmeldet. Auch dann bleibt die Arbeit sein ein kurzes Jahr; und ist sie nicht innerhalb dieses einen Jahres hier im Land gedruckt worden, erlischt der Schutz.

So kommt das Copyright nur den berühmten Opern- und Operettenkomponisten zugute. Denn kaum ein anderes Produkt ist in Amerika so begehrt, daß es schon innerhalb eines Jahres vervielfältigt würde – oder es lohnte (wie der Aufsatz einer Tageszeitung) das umständliche Nachsuchen des Schutzes nicht.

Daß dieser unmögliche Zustand uns Autoren nicht noch mehr beschäftigt, verdanken wir ganz allein der Interesselosigkeit des amerikanischen Lesers an unsern Büchern. In der Tat nämlich druckt man deutsche Bücher hier nicht nach. Geschah es gelegentlich, so sind die Auflagen so gering geblieben, daß sie für uns nicht in Betracht kamen. Der amerikanische Verlag ist ein großes Ding – Mister Editor ist auf seinen Ruf bedacht und läßt sich unsaubre Machenschaften nicht nachsagen – umso weniger, als ihm deutsche Bücher nichts einbrächten. Skandinavier aber und Russen sind hier um den Ertrag ihrer Federn gebracht worden („Sfanin.“) – Immerhin hat man mir in der „.Kibitzarnia“ (142. Division Street), dem Literatencafé New Yorks, Leute vorgestellt, die „mit ihren Familien seit Jahren von mir leben“, indem sie meine Anekdoten übersetzen und verkaufen. – Man erwägt übrigens im Weißen Haus den Anschluß der Vereinigten Staaten an die Berner Konvention. Und dem Mißbrauch der deutschen Zeitungsbeiträge durch amerikanische Blätter soll einigermaßen ein privates Abkommen steuern, das man mit den Blättern eben vorbereitet. Gesetzlicher Schutz wäre ohnehin illusorisch, weil das kleine Objekt nicht lohnt, im einzelnen Fall den Apparat der Gerichte in Bewegung zu setzen.

– – – Alles in allem bedaure ich, nicht zwanzig Jahre früher hergekommen zu sein, den Planeten Erde nicht schon mit jungen Augen von der andern Seite gesehen zu haben. Und kann nur jedem deutschen Dichter raten, das Experiment so bald wie möglich anzustellen. Hier erst wird er gewahr werden des Sterblichen, Örtlichgebundenen, Engen in seiner und der Zeitgenossen Begriffswelt.

In: Prager Tagblatt, 15.6.1923, S. 2-3.

Anm: in der Transkription wurde die Orthographie (einschließlich ihrer Besonderheiten) beibehalten.