Albert Ehrenstein: Vom deutschen Adel jüdischer Nation. (1923)

             Jahrhundertelang hat man es den Juden übel genommen, daß sie sich auf die Abfassung des Alten Testaments beschränkten und, als ein neuer Messias kam, altgläubig genug, ihn nicht erkannten. Neuerdings haben sich die Dinge gewandelt und man wirft ihnen im Semi-Kürschner nichts öfter vor, als daß sie sehr gewandt seien, das Neue zuerst eindringend zu erfassen. Sie begnügten sich nicht mit dem gelben Fleck, waren vordringlich genug, mit einem Platz an der Sonne lieber vorlieb zu nehmen. Seit nun gar Heine und Börne von Verlegern der Klassikerausgaben mit jenem Heiligenschein versehen wurden, der wie Goldschnitt aussieht, hat die Emanzipation der Juden zu Zuständen geführt, die dem Professor Adolf Barteles und seinesgleichen den Vorsatz einflößten, die meisten Insassen der Literaturkataloge unbesehen im Semigotha einzuäschern. Wenn es einem Unbefangenen auch schwer fällt, dieses Gebot der christlichen Nächstenliebe zu befolgen, scheint doch eine kritische Betrachtung der Position, die das Judentum innerhalb der modernen deutschen Literatur einnimmt, längst an der Zeit zu sein.

             Das Ghetto war eine deutsche Vorstadt mehr, in seiner Sprache: dem Jiddischen, sich mehr Reste des Mittelhochdeutschen konserviert, als in irgendeinem anderen deutschen Dialekt. Man muß es Europa hoch anrechnen, daß es endlich auf das Ghetto verzichtete: dort war die Judenschaft der Entgüterung und Pogromen jeder Art am leichtesten erreichbar. Von diesen Schranken befreit, kannte ihre Anpassungsfähigkeit keine Grenzen; da jedes Volk das andere haßt – mit jenen Anstandspausen, die von Augenblicks-Ententen, das heißt: gemeinsamen Geschäften herbeigeführt werden – ließ sich das deutsche Volk von den Assimilanten auf die Dauer nicht täuschen und setzte der nie allzu üppigen Freiheit seiner freigelassenen Knechte jenen nationalistischen Antisemitismus entgegen, der in seiner Gegenwirkung zu einer geistigen Europaflucht und Selbstbehauptung führte; es gibt nämlich auch Juden, die ostentativ zum Judentum übertreten: diese nennt man Zionisten. All dies[e] chauvinistische Erscheinungen, die umso drolliger sind, als es wohl eine deutsche Sprache, aber blutwenig Germanen gibt, und ein gewiegter Anthropologe unter den deutschsprechenden Juden eben so viel Rassen finden könnte, wie unter den deutschen: slawisch-germanisch-keltischen Wirtsvölkern. Der jüdische Habitus entspricht meist dem der mittelländischen Rasse, jener italisch-berberischen Mischrasse, die sich unter dem Vorwand, Römer und Karthager zu sein, bekanntlich so kannibalisch-kannibalisch zerfleischte. Man spricht so häufig von einer Konstanz der jüdischen Rasse, hervorgerufen von Diaspora, Ghetto, Inzucht und der religiösen Ausschließlichkeit des auserwählten Volkes. Mir scheint die somatische Einheitlichkeit weniger evident, wie die der Geistesrichtung. Jahrtausende einförmiger Erziehung, die Räubergeschichten des Alten Testaments spitzfindig beleuchtet vom Talmud, geistige Speisevorschriften, streng wie die Speisekarte des Proletariats im Krieg, schufen die Uniform, die noch nicht ganz gesprengt ist, eine historische Kontinuität, die sich noch mit keiner Erlösung und Ruhe beschwichtigt hat.

             Was vor den europäischen Revolutionen sich im Ghetto als Wunderrabbiner, Talmudjünger und Irrlehrer aneinander aufgerieben hätte, offenbart sich nun seit einem Jahrhundert immer wieder als radikale Kunst. Aber was ist, was bleibt radikale Kunst? In ihrer Art souveräne Geister, wie Börne und Heine, entgingen nicht dem gelben Fleck des Klassikers; die nach 1890 mit Freud hochkamen: Schnitzler, Hofmannsthal, Beer-Hofmann – die jüdische Kritik Wiens und Berlins warf ihnen so lange perverse Erotik vor, bis ihnen der unausbleibliche Schutzkarton der Gesamtausgaben wie eine Mandarinenmütze der allgemeinen Hochachtung aufs kahlere Haupt gestülpt wird. Geister höheren Ranges: Peter Altenberg und Else Lasker-Schüler, noch immer dem Publikum und seiner marktgängigen Roman- und Dramenware siriusfern – auch diese makellosen Kinder des großen Geistes werden anläßlich eines dreißigjährigen Todestages gegen Monatsraten erhältliche Klassiker sein. Das befremdend Neue, das ihr Schicksal war, wird nie veralten – wie immer, wenn der Radikalismus der Form einem Genie des Inhalts, des Herzens dient.

             Man hat viel von einer Verjudung der neuesten deutschen Literatur gesprochen. Es wäre schwer, Namen zu nennen. Die nationalistische Reaktion hat in Deutschland so sehr überhand genommen, daß mich ein Schriftsteller, dem ich öffentlich jüdisches Blut zuerkennen würde, recht wohl verklagen kann: Betriebsstörung, geschäftliche Schädigung usw. Ich kann also nur von mir – victrix causa dis placuit, victa Catoni – direkt behaupten, daß ich durch den nie neukatholisch korrigierten Zufall der Geburt Jude bin. Die Deckfärbung, die manche Exisraeliten in der opportunen Religion der Umwelt suchen, ist an sich weder löblich noch tadelnswert: man müßte die Motive des Übertritts zum herrschenden Islam kennen, ehe man einem Sabbatai Zewi Apostatentum vorwirft – wenn auch gewöhnlich jedes Renegatentum eher von Mode, Streberei, Feigheit diktiert wird als von tiefer Überzeugung. Auch jene Konterimitation, die vielleicht manchem Zionismus zugrunde liegt: der plötzliche Anschluß religiöse indifferenter, bestenfalls patheistisch-eklektischer Literaten an das Judentum, läßt die Frage nach der Ursache laut werden und den Zweifel, ob da nicht am Ende ein Schlaukopf im Gefühl seiner eigenen Schwäche, die an sich zu keiner prominenten Stellung führen könnte, eine ganze Partei in seinen Dienst gestellt hat? Jedenfalls haben meines Erachtens Zionisten unrecht, sich an der „Überfremdung“ der deutschen Literatur zu beteiligen; sie wären konsequenter, wenn sie ihre Schriften jiddisch oder hebräisch abfaßten.

             Der qualitativ und quantitativ hohe Anteil, den das Judentum am deutschen Geistesleben hat, ist leicht erklärt. Ein Volk, dem durch viele Jahrhunderte das Wort, die Schrift heilig war, seit zweitausend Jahren in einer politischen Depression lebend, auf die Bibel und deren mystische und sophistische Kommentare als einzige Geistesquelle zurückgeworfen, vor jedem Studierenden Achtung hegend wie nur noch die Chinesen – ein solches Volk, durch Neigung, Erziehung und Zwang lange abgedrängt von allen militärischen, politischen Berufen und Staatsanstellungen, mußte in der Kunst die fast einzige Möglichkeit erblicken, sich gegen allen Rassenhaß, über Myriaden Hemmnisse und Erschwerungen hinweg, ehrenvoll Geltung zu schaffen. Die kritische Begabung, talmudher vererbt, trieb sie in die Redaktion; es ist kein Zufall, daß beste Kritiker und Essayisten Deutschlands und Österreichs jüdischer Herkunft sind, wenn auch die oft überhebliche Verehrung, die sie hauptsächlich und exklusiv ihren eigenen // Geistesprodukten weihen, dem Nachgeborenen unkritisch scheinen wird.

             Daß jüdischen Rezensenten jüdischen Künstlern in parteiischer Weise weitergeholfen hätten, könnte man nicht behaupten. Die Nörgelsucht des unproduktiven jüdischen Kritikasters, sein gegen Glücklichere oder Fruchtbarere gerichtete Selbstzerfleischungsbetrieb feiert nie sadistischere Orgien, als wenn er auf scheinbar Gleichrassige stößt, die und deren Schwächen er besser zu erkennen und kennen meint. Vpn Cliquewesen kann also in dieser Hinsicht keine Rede sein.

             Unter dem großen Außendruck ward jedenfalls in den deutsch-jüdischen Dichtern des neunzehnten Jahrhunderts ein Absehen von der rauhen Wirklichkeit, eine romantische Weltflucht, eine Verklärung des Irdischen heraufbeschworen, wie sie der Diens am Wort bei Phantasten ohne Weltbesitz zeugen mußte.

             Allerdings könnte man ebenso gut behaupten – von Grimmelshausen, Gotthelf, Keller, Reuter, Raimund und Nestroy abgesehen – habe kein deutscher Klassiker Werke geschaffen, realistisch genug, daß man aus ihnen ihr Milieu, ihre Zeit, ihre Gesellschaft wahrheitsgetreu rekonstruieren könnte. Seit Klopstock krankt die deutsche Dichtung am ästherischen Nebel, den die Grkrönten auf Jambenwolken durchfahren; frei von dieser falschen Idealisierung sind nur die vier Großmeister des realistischen Dialekts und ihre lebenden Enkel.

             Nicht nur im Gedicht, im Drama, in erzählender und kritischer Prosa haben deutsche Juden Unverwelkliches geleistet, auch als Übersetzer und gewaltige Mittler haben sie ihren Mann gestellt, ihre Dankespflicht getan: So nenne ich die Namen Landauer, Werfel, Brod, Buber.

             Viele wähnen, der Zionismus, die politisch-sportliche „Erstarkung“ und Abberration des Judentums würde sich wie die jüdische Dichtung überhaupt im palästinensischen Ghetto mit Wohlleben und Landbesitz verflüchtigen.

             Aber die Welt ist nun nach dem Krieg, der uns in alle Abgründe der Menschheit schauen ließ, so beschaffen, daß ich alle Ruhmesblätter, die arischen oder semitischen Zeitgenossen auf den Kopf fallen, für hinfällig halte gegenüber den schwachen Klängen einer anderen Zukunftsmusik, die ich zu hören glaube. Dieser Erde kann nicht die Dichtung weiterhelfen, nicht das dem großen Volke leider immer noch unverständliche Wort. Roentgen, Ehrlich, Einstein wiegt ein Dutzend Sonettklassiker auf. Wer der Syphillis, der Tuberkulose, dem sozialen Unrecht ein Ende bereiten wird, durch ein Serum, Antitoxine, Maschinen das tausendfach beschnittene Leben gesünder, angenehmer, glücklicher gestaltet, hat mehr Anrecht auf den Dank der Menschheit als ein Schock prämierter Dramenbauer oder Romanbonzen aus Judäa oder Germanistan. Dichtung ist letztlich Krankenkost, ein Opium, ein Haschisch, dessen eine leidende, schmerzbetäubte Bevölkerung bedarf.

             In aller jüdischen Dichtung finde ich ein Plus an Moral und Ethik, oft sorgfältig verborgen hinter einer übertrieben-zynisch witzelnden Maske. Der Stamm der alten Propheten lebt noch. Die Bibel ist nur ein Fragment. Altes und Neues Testament sehnen sich nach einer Ergänzung, nach einem tröstlichen Ende. Ich weiß, daß der große Führer, der kommende Messias nur ein Jude oder Slawe sein kann: Ein Asiate, ein Mensch aus dem ewig Ewiges zeugenden Osten.

In: Der Tag, 20.11.1923, S. 4-5.

[N.N./Anitta Müller]: Die jüdische Frau und die Politik

             Die nächsten Tage sind zukunftsschwer. Sie tragen die Entscheidung in ihrem Schoße über Wert und Stellung der Parteien im neuen Staate. Dem Bilde im kleinen gesellt sich das Bild im großen; auf der Friedenskonferenz wird die Entscheidung fallen über Wert und Stellung der Völker.

             Jüdische Frauen, wenn ihr mit dem bangen und ehrfurchtsvollen Gefühle, wie es uns vor großen, historischen Momenten überkommt, daran denkt, habt ihr bedacht, daß diese Tage und Wochen auch die Entscheidung über Wert und Stellung eures Volkes endlich bringen müssen? – Welches ist die Stellung des jüdischen Volkes im modernen Staatenbilde? Es wird als Volkseinheit geleugnet, wo man dem Volkstume Rechte zubilligen müßte; es wird als gesonderte Volkseinheit ausgerufen, wo immer man es mit Haß und Verfolgung bedroht.

             An dem Wahlfieber dieser Tage nimmt zum ersten Male auch die Frau teil. Die Parteien umwerben sie, Plakate locken sie, Flugzettel schreien ihr Programme entgegen, laden sie zu Versammlungen. Es gilt, Volksvertreter zu wählen, welche über Wohl und Wehe, Leben und Größe, Rechte und Pflichten der Völker entscheiden sollen. Jede Partei zählt auf ihre Frauen. Auch das jüdische Volk zählt auf den Ernst und die bewußte Mithilfe seiner Frauen.

             Die große Masse der Frauen ist politisch unreif. Sie hat sich erst seit viel zu kurzer Zeit mit den Fragen der Politik beschäftigt und steht darum fast ratlos vor einem Chaos, wo sich die Lager spalten, wo gleiche oder ähnliche Programme von mehreren Parteien auf einmal aufgestellt werden. Die jüdische Frau ist ihrer ganzen Wesensart nach zur leidenschaftlichen Teilnahme an der Politik geeignet. Sie hat einen lebhaften, beweglichen Geist, ist fähig, Ideale zu empfinden und sich ihrer Verwirklichung zu widmen. Die jüdischen Frauen wirken in allen Parteien, sie sind begeisterte Sozialdemokratinnen, Kommunistinnen, Demokratinnen. Die große Masse der jüdischen Frauen steht hinter den Führerinnen und ist verwirrt, denn auch sie zeigen keine einheitliche Richtung, keine Hingabe an die eine und einzige Sache. Und doch ist gerade für die jüdische Frau der Weg offen und klar. Die Plakate brauchen sie nicht zu locken, das Studium der verschiedenen Programme braucht ihnen kein Kopfzerbrechen zu verursachen; die jüdische Frau gehört ihrem Volke, sie hat nur für ihr Volk zu arbeiten und zu wählen.

             Auch die jüdischnationale Partei stellt Kandidaten in den Wahlkampf. Für das jüdische Volk bedeutet der Ausfall des Wahlkampfes die Entscheidung über seine Existenz und seine Lebensmöglichkeiten auf viele Jahre hinaus. Jude sein, heißt immer und überall in der Minderheit sein. Bisher haben die Minderheiten von der Gnade der Majoritäten gelebt. Die Friedenskonferenz aber will für das Selbstbestimmungsrecht für volle Freiheit auch der Minderheiten eintreten. Endlich aber muß auch die endlose unerträgliche Unterdrückung des jüdischen Volkes zur Sprache kommen, und zwar in einer würdigen Form, die sicher ist, daß alle Klagen und Beschwerden auch Gehör finden. Blutige Pogrome, Antisemitismus, der Berufe verrammelt, Existenzen untergräbt, das ist Lohn und Dank für ein Volk, dessen Angehörige in treuer Kulturarbeit jedem Lande gedient, das sie aufgenommen. Die Vertreter eines starken seiner selbst bewußten Volkes, werden überall gehört werden müssen. In der ersten Nationalversammlung Deutschösterreichs werden Entscheidungen fallen, die von weittragender Bedeutung für das Leben der Juden in diesem Land sein werden. Von der Anzahl der Stimmen, welche die jüdischnationalen Kandidaten erhalten, wird es abhängen, ob in der Schicksalsstunde des jüdischen Volkes Männer seines Blutes, Männer, die von bewußter Liebe und Hingabe zu ihm erfüllt sind, die Entscheidungen werden mitbestimmen dürfen.

             Jede Stimme kann ausschlaggebend sein. Deshalb muß jeder jüdische Mann, jede jüdische Frau in diesen Tagen sich ihrer nationalen Pflicht voll bewußt sein. Besonders an die Frauen wenden wir uns. Frauen sind die Trägerinnen des Gefühles. Der nationale Gedanke faßt nirgends so fest und tief Wurzel wie im Herzen der Frau. Wenn sich beim Manne im steten Daseinskampfe, in steter Berührung mit volksfremden Elementen das nationale Gefühl mindert oder doch in den Hintergrund gedrängt wird, in der Frau erhält sich, still behütet, das Bewußtsein der Volkszugehörigkeit wie ein Heiligtum. In ihm spricht sich die Liebe zu den Ahnen aus und die Zärtlichkeit für ihre Kinder und Enkel. Wir jüdischen Frauen, die wir mit sittlichem Ernste und gläubigen Herzen jüdisch wirken und jüdisch leben wollen, stehen zu unserem Volke in einer Art Pflichtverhältnis. Das Volk braucht uns heute und wir werden seinen Ruf aus der Not nicht ungehört verhallen lassen. Das kleine Volk, das überall verstreute, das, gedrängt und verfolgt, sich von Tag zu Tag seines Lebens wehrt, muß voll und ganz auf seine Angehörigen, auch auf seine Frauen rechnen können.

             Das jüdische Volk erwartet, daß alle jüdischen Männer und Frauen für die von ihm aufgestellten Kandidaten stimmen werden. Beim heutigen Wahlkampfe dürfen nicht allgemeine Schlagworte gelten, nicht nur Welt- oder Klassenfragen: für den jüdischen Mann, für die jüdische Frau gilt es vor allem das Interesse und der Fortbestand des jüdischen Volkes.

             Jüdische Frauen, die Entscheidungsstunde für das jüdische Volk soll beweisen, daß ihr euch als lebende Glieder eures Volkes, als Trägerinnen des jüdischen Nationalismus fühlt. Er ist kein engherziger Nationalismus, wir er nur zu oft als Deckmantel der Unduldsamkeit dient, er ist ein Nationalismus der Liebe und der Gerechtigkeit, aber auch der Notwehr. Arbeitet für die Ehre und das Ansehen eures Volkes, für das Glück und die Zukunft eurer Kinder:

             Gebet eure Stimmen den Kandidaten der Jüdischnationalen Partei!

In: Wiener Morgenzeitung, 2.2.1919, S. 7.

Else Ehrlich: Brot setzt sich in Bildung um (1926)

Das ist das Tröstliche an der Gründung der Arbeiterhochschule, daß sie, da die sozialdemo­kratische Partei die Hammerbrotwerke nicht mehr halten konnte, die Riesensumme, die ihr der Verkauf brachte, dazu verwendete, jenen, denen sie nun nicht mehr das Brot des Lebens reichen kann, das geistige Brot zu bieten, das so manchem nicht minder nottut, wie jener Bissen, den er sich oft vom Munde abspart, um dieses zu erlangen.

In dieser Gründung ist ein neuer Zug zu bemerken, der sie über den Geist der Parteien hebt, der endlich einmal einigen intelligenten und künstlerisch veranlagten Menschen gestattet hat, ein Werk nach ihren eigenen Ideen, nach ihren eigenen Plänen, ohne Begutachtung durch Kommissionen und Behörden zu entwerfen und zu verwirklichen, ein Werk, das vorläufig nur auf zehn Jahre gedacht — für diese Zeitspanne wurde das Maria Theresien-Schlössel in der Sickenberggasse von der Gemeinde Wien in Miete genommen —, doch Ewigkeitsaspekte zeigt. Das alte Schlössel, dessen großer Festsaal — der Vorlesungssaal —, der mit Fresken von Altamonte geschmückt ist, das infolgedessen unter Denkmalschutz steht und keinen Privaten zur Wohnung überlassen werden kann, ist erst vor einem Jahr in den Be­sitz der Gemeinde Wien übergegangen. Anfang November aber erst begann der Direktor der Arbeiterhochschule, Josef Luitpold Stern, mit dem Umbau nach den Plänen des Architek­ten George Karau. Aus einem wüsten Durcheinander entstand in wenigen Wochen ein schmuckes Heim, dessen Aula drei großzügige Fresken von Rudolf Otto Schatz schmücken, das in seinen, ohne jeden Pomp und doch nicht als Armeleut-Wohnung eingerichte­ten Schlafsälen und dem gediegenen Speise­saal und Studienraum zweiunddreißig Menschen beiderlei Geschlechtes geistige und körper­liche Nahrung und Wohnung zuträgt.

Jeder Lehrgang umfaßt sechs Monate. Zehn der Teilnehmer werden von der Gewerkschaftskommission, zwanzig von der Partei aus­gewählt. Es sind darunter fast durchaus Arbeiter, die direkt aus den Betrieben kommen und nach vollendetem Lehrgang wieder in diese zurückgehen. Unter den zweiunddreißig Hörern sind sechs Mädchen und Frauen; sie allesamt genießen diese Ausbildung auf Kosten des Ver­eines Arbeiterhochschule, und jenen, die ver­heiratet sind, wird von eben dieser Stelle jene Summe zur Verfügung gestellt, deren ihre Familie zum Leben bedarf.

Um halb 7 Uhr morgens geht das Tage­werk an. Von 7 bis 8 Uhr wird in der Aula geturnt, dann kommt das Frühstück. Von ¼ 9 bis 12 Uhr sind, mit einer viertelstündigen Pause für das zweite Frühstück, Vorlesungen, um ½ 1 Uhr ist Mittagszeit. Bis 5 Uhr beschäftigen sich die Hörer mit der Verarbeitung und Wiederholung des Stoffes, wobei ihnen eine reiche Studienbibliothek zur Verfügung steht. Um sich diese Wiederholung und Verdauung zu erleichtern, sind die Hörer in sechs Arbeitsgemeinschaften geteilt, die den Lehr­stoff gemeinsam erarbeiten. Von 5 bis 6 Uhr ist Seminar, um ¾ 7 Uhr Nachtmahl; dann kann jeder tun, wonach sein Sinn steht. Die Gemeinsamkeit hat sich aber so rasch herausgebildet, daß in diesen Tagen schon siebzehn von den zweiunddreißig sich zu gemeinsamem Theaterbesuch einten, während das Gros der anderen sich daheim zu Musikstudium und Lek­türe gesellte. Jeder Hörer bat das Recht von Samstag bis Sonntag auf Urlaub zu gehen.

Der Lehrplan umfaßt Sozialpolitik und Arbeiterrecht, Schutztechnik und Genossenschaftswesen, Gewerberecht und gewerkschaft­liche Wissenschaften, Gesetzeskunde Einfüh­rung in die Hauptabschnitte der Rechtskunde, Familien- und Erbrecht —, kurz gesagt: wir sehen eine staatswissenschaftliche Fakultät ent­stehen. Der nachmittägige Seminarunterricht umfaßt ein volkswirtschaftliches und statistisches, ein journalistisches und rhetorisches Seminar.

Als Lehrer werden vorzugsweise Sozialisten gewählt, gewollt und gesucht, die gleichzeitig Forscher und Praktiker sind, also praktische Ge­lehrte, Männer, die in der Wissenschaft und der Parteibewegung vollkommen verankert sind. So liest Renner Staatslehre, Otto Bauer Nationalökonomie, Max Adler Ge­schichte der Ideen des Sozialismus, Doktor Palla über soziale Politik. Kunfy, Volkssekretär in Ungarn zur Zeit der Kommune, liest europäische Geschichte ab 1789, und Universitätsprofessor Otto Neurath deutsche Wirtschaftsgeschichte bis 1789. Der Präsident des Nationalrates Eldersch macht die Hörer, mit dem Versicherungswesen vertraut, Arnold Eisler liest über Rechtskunde. Die einzige Frau, die sich lehrend an der Arbeiterhoch­schule betätigt, ist Frau Helene Bauer, die Gattin Otto Bauers, die das wirtschaftlich-statistische Seminar leitet.

Neben der Pflege des Verstandes wird aber auch Wert auf Charakterschulung und Gemüts­bildung gelegt. Die erstere zu erreichen, ist die Anstalt in die Hand der Schüler gelegt, selbst verständlich unter Kontrolle des Vereines. Das bedeutet für die Hörer keine Belastung, da ihnen Hilfskräfte zur Verfügung stehen; die Entwicklung der Solidarität läßt sie über die kleinen Mehrarbeiten, die ja dem Arbeiter durchaus vertraut sind, mit Freuden hinweggehen. Die Schulung des Gemütes wird durch Veranstaltung von künstlerischen Abenden, durch den Versuch, Sprech- und Gesangschöre zu schaffen und durch gemeinsamen Besuch von künstlerisch hochwertigen Veranstaltungen ge­fördert.

Der Verein Arbeiterhochschule hat es aber auch verstanden, einen Direktor an die Spitze der Volksuniversität zu setzen, der aus dem Volke hervorgegangen, in dessen Interessen ver­ankert, mit Leib und Seele seit seinem fünf­zehnten Lebensjahre mitten im Parteileben steht, der nicht nur als Staatswissenschaftler Bücher von dauerndem Werte geschaffen, son­dern der auch künstlerisch über das gewöhnliche Maß weit hervorragt. Josef Luitpold Stern, der erst seit Anfang November wieder in Wien weilt, wird in den nächsten Wochen Soziale Balladen, mit Holzschnitten von Rudolf Schatz, erscheinen lasten, die das erste bibliophile Werk sein werden, das zu einem ganz unglaublich billigen Preis, zirka fünf Schilling, erscheinen wird.

Er ist es auch, der den wunderhübschen Gruß erdacht hat, der das Freimaurerzeichen der Zusammengehörigkeit der Hörer dokumen­tiert. „Freundschaft!“ sagt mir mit gewinnendem Lächeln die junge Hörerin, die aus dem Bureau des Stadtschulrates zur Weiterbildung auf der Arbeiterhochschule gewählt wurde, da sie mir die Hand reicht, und „Freundschaft“ sagen im vertrauenden Ton die jungen Arbeiterhörer, die mich zum Ab­schied in die Aula begleiten.

In: Der Tag, 24.1.1926, S. 8.

Otto Abeles: Das Jiddische Theater in Wien. Aufklärendes über die „Freie Jüdische Bühne“ (1924)

             In einem Hinterhaus der dunkelsten Leopoldstadt begann vor vier Jahren die „Freie Jüdische Volksbühne“ ihre Tätigkeit. Baratow entschloß sich dort, vom russischen zum jiddischen Theater überzugehen. Jarno erkannte Eigenart, Kraft und künstlerische Bedeutung dieser Vorstellungen und öffnete dem Ensemble seine Bühnen. Und Liebstoeckl, sehr bewegt nach der ersten Begegnung mit diesem Wiener jiddischen Theater – und sehr erstaunt über die Zrrückhalteung (heraus damit: Verschämtheit) israelitischer Fachkollegen – schrieb in seinem Referat: „Wess Herd dies auch war, hier durft‘ ich rasten“

                                                                                 *

             Ich nehme das schöne Wort auf. Inzwischen hat man ja in Wien auch die Abende der „Wilnaer“ und jüngst erst die des New Yorker jiddischen Künstler-Theaters genossen und es ist angebracht, einiges über das Idiom zu sagen, das an diesem Herde gesprochen wird. Über die Menschen, denen dieser Herd Heimat ist. Über die Wärme, die er spendet. Über die Geistigkeit, die seine Flamme nährt.

                                                                                 *

             Jiddisch ist die Sprache von rund zehn Millionen und sie ist vom Kai-Jargon ungefähr so weit entfernt, wie etwa die grammatikalisch einwandfreie Freitags-Predigt eines preußischen Reformrabbiners vom wesenhaften Deutsch entfernt ist.

             Kai-Jargon: das ist im besten Falle butterweiche, jämmerliche, um Mitleid bettelnde Sentimentalität – wie bezeichnend, daß sich just das Wort „nebbich“ hier erhalten hat – im schlechtesten (häufigsten) Falle aber zynischer Fatalismus, dem Selbstbeschmutzung eine erheiternde Angelegenheit ist.

                                                                                 *

             „Jiddisch“, das ist ungebrochene Kraft der Empfindungen (himmelweit entfernt von degenerierter Sentimentalität), Inbrunst, Leidenschaft, Freude, rasender Schmerz, Humor – hohes Lebensgefühl. Es sind nicht nur Beispiele für die Prägnanz der Sprache, sondern weit mehr für die Wesenheit ostjüdischer Menschen, die ich jetzt anführe. Ausdruck für sehr dunkle verzweifelte Lebenslage ist das Wörtchen: „nischt gitt“, für freudigste Dankesbezeigung das Wörtchen: „a Dank“.

                                                                                 *

             Die Menschen, in deren Bürgerwohnungen, Massenquartieren, Spelunken, Schnapsbuden, Kellerlöchern dieser Herd steht, kommen ausnahmsweise von der Börse und niemals aus Kaffeehäusern, Nachtlokalen, Redaktionsstuben und von Turfplätzen heim. Sie sind Fuhrleute und Fischer, Schnapsbrenner und Kleinkrämer, Landwirte und Schänker, Talmudisten und Spielleute; sie sind Mystiker oder Zuhälter, hungernde Idealisten oder gemästete Plusmacher, Arbeiter oder Ausbeuter, Höhenmenschen von reinster Gesinnung oder gehaute Gauner – kurz, sie sind das Volk. Sie wohnen im „Städt“ beisammen oder in einsamen Gehöften, die sie nicht trennen können. Sie sind einander verbunden in grausamsten Gefahren, bedroht: von Folternot der nächsten Stunde, aber auch in herrlicher höchstlebendiger Heiterkeit. Sie kennen einander bis zurück ins dritte oder vierte Geschlecht beim Vornamen. Ihre Stuben sind von köstlichen Volksliedern und ergreifenden, frommen Weisen durchzogen, von hundert wesenhaften Mythen und Legenden überrankt, vom Glanz der Feiertagskerzen wunderbar erhellt.

             Unter dem schmutzigen Kaftan schlägt ein Herz, unter dem speckigen, niemals gelüfteten Käppchen sinniert ein ewig junger, ein heißer Geist, und wenn sie bei ihrem Herd sitzen, diese Menschen mit dem unfreien Gang und dem runden Rücken oder jene anderen mit dem vierschrötigen muskulösen Körper, der auch bei schwerster Arbeit in Urvätertracht gezwängt bleibt – dann heimliche Schönheit auf.

                                                                                 *

             Höchstes Gut dieser Menschen – auch ihre Sprache zeugt dafür – ist die Lebensbejahung, die naive, trotz aller Bedrängnis ungebrochen fortwirkende, heilige Freude am Dasein. Eine Greisin, die alle ihre Angehörigen als geschlachtete Pogromopfer in der ukrainischen Erde zurückgelassen hatte, sagte mir: „Ich habe so viel mitgemacht, daß ich es verdiente, doppelt so lang zu leben…“

             Wer ostjüdischen Menschentum nahe kommen will, hat sich zunächst den Unterschied zwischen Kultur und Zivilisation klar zu machen. Bekanntlich ist nur für letztere der Seifenverbrauch ein Gradmesser. Dem Judentum fernstehende Menschen, wie Richard Dehmel und Herbert Eulenberg, haben die Wesenheit des Ostjudentums erkannt und es ist Zeit, daß der Westjude die selbstmörderische Unkenntnis des östlichen Judentums abbaut. Der Westjude könnte hier – man verzeihe das pathetische Wort – den Weg zu den Müttern finden.

                                                                                 *

             Spiegel des Ostjudentums, Bild seines bunten, naiven Volkswesens, Zeugnis der überraschenden Lebendigkeit und Lebenskraft seiner Menschen ist das Jiddische Theater. Gemeinschaftsgefühl, blutrote Leidenschaft, Weißglut der Ekstase, Liebseligkeit, naive Gläubigkeit, grübelnder Geist, der mit Gott hadert, vor allem aber die unbedingte Bejahung des Lebens, als der herrlichsten Gabe des Himmels, die zu wahren und zu lieben ist, so lange noch ein Atemzug die Brust hebt – dies alles ist hier sinnfällig im künstlerischen Gleichnis gezeigt.

In: Die Bühne, H. 2 (1924), S. 28.

D[avid] B[ach]: Revolutionskabarett. (1921)

Jedesmal am Wendepunkt der Zeiten bilden sich eigen Ausdrucksformen für das, was dem Masseninstinkt gesagt sein will und seine abgeschlossene, der Aktualität entrückte Kunstform noch nicht gefunden hat, vielleicht auch gar nicht finden kann. Heute nennt man all das, was nirgends sonst untergebracht werden kann, Variété, Kabarett und glaubt was Besonderes zu tun, wenn man das Wort „Künstler voranschickt. Aber das bürgerlich-freiheitliche Studentenlied vor hundert Jahren war auch etwas, was in seine Kunstrubrik passen sollte und doch seine großen Werte besaß, auch künstlerische, sicherlich agitatorische. Wenn das schönste Freiheitslied jener Zeit, das uns heute sehr philisterhaft ledern dünkt verboten wurde, so war’s ein Attentat gegen die Kunst, wenn man will, vor allem jedoch ein Angriff gegen seine unerwünschte agitatorische Kraft. Die moderne Großstadt hat seine Volkslieder mehr, wohl aber Hunderte von Liedern, die das Volk – leider – singt, und einige ganz wenige, die es singen könnte oder die es zumindest anhören müßte, weil sie der unverdorbenen Empfindung des Volkes entsprechen. Solche Lieder gedeihen nicht im Konzertsaal; sie kommen von der Gasse, von der politischen Versammlung und gehören als Kunstprodukt auch in ein Lokal, das dem Zusammenhang mit der Unmittelbarkeit des täglichen Lebens nicht ganz entrückt ist. Solche Lokale sind heute fast nur auf das Bedürfnis des Schieberpublikums zugeschnitten. Doch manchmal passiert etwas Seltsames…

Wirkliche Künstler aus Berlin nämlich bilden jetzt im „Pan“ das Kabarett „Größenwahn“. An sich will dies noch nichts besagen, denn eine berühmte Iphigenie Wiens ist monatelang in einem Nachtcafé aufgetreten, um in einer Nachtcaféausgabe der jetzt ohnehin nicht übermäßig hoch stehenden Operette zum Entzücken aller Schieber das Wort „Rebbich“ auszusprechen. Doch was die Berliner Gäste – sie sind fast alle schon in Wien bekannt, Rosa Valetti (ehemals Volksbühne), Jakob Tiedtke (ehemals Burgtheater), auch Sita Staub – bringen, das macht ihre Besonderheit aus. Da singt die Valetti ein Lied Warum sind wir arm? und die Revolution steigt drohend auf, dann das Rote Lied – und die Revolution marschiert. Der zahlungsfähige Spießer, der sich soeben an einem trotz Tiedtke und den anderen höchst unbedeutenden, vom üblichen Variétéschema kaum abweichenden Einakter höchlichst ergötzt hat, rutscht bei diesen Liedern verlegen hin und her und weiß nicht, wie ihm wird. Denn die Zeiten, da sich eine untergehende Gesellschaft an den Gesängen ihres Unterganges ergötzte, wie die französischen Aristokraten an Beaumarchais, sind noch nicht wieder da; dazu fehlt es den Herrschern von heute denn doch zu sehr an Kultur, und wäre es auch nur die des Absterbens. Besser scheinen sich diese Variétébesucher mit einem zweiten Einakter abzufinden, der Die Ohrfeige heißt. Der ist nun freilich an sich schon höchst lustig und hat für dieses Publikum manche Zugänge, da er anfänglich der „Partie Klabrias“ ein wenig ähnlich schaut. Aber in Wahrheit ist er eine blutige Verhöhnung des feigen Spießer- und Schiebertums und so wird er insbesondere von Tiedtke und Frau Valetti ganz bewunderungswürdig gespielt.

Das ist noch nicht alles. In diesem Kabarett – es heißt übrigens „Größenwahn“ nur deshalb, weil es in Berlin im Café des Westens auftritt, in der Berliner Nachfolge des Wiener Cafés Griensteidl -, hier also werden Lieder gesungen, welche für Deutschland die Entdeckung des Lumpenproletariats bedeuten. Ja, auch hier sind Menschen, und unter aller Verkommenheit zuckt ein menschliches Herz. Die Franzosen kannten solche Lieder längst, Aristide Bruant, die Yvett Guilbert haben sie gesungen, jener auch gedichtet. In deutscher Sprache gab es dergleichen nicht; ein großer Ahnherr dieser neuen Reihe ist übrigens Wedekind, dessen Lieder die Wiener Polizei natürlich verboten hat, wahrscheinlich, um ihn vor dem Schieberpublikum zu retten. In Wien gibt’s dergleichen Lieder gar nicht, wie wir ja auch keinen Zeichner wie Zille haben, der als Maler den Rand der Großstadt entdeckt hat. Wir sind zu prüde, zu zimperlich; war doch mancher Arbeiter schon erstaunt, als Arbeitervorstellung eine Dichtung Liliom zu sehen, deren Held ein dem äußeren Anschein nach nicht gerade übermäßig edler Lumpenproletarier ist. Die Berliner greifen ganz unsentimental zu. Das „Dornröschen vom Wedding“ ist wahrhaftig sein „süßes Mädel“, aber ein Menschenkind, gruselig erheiternd in ihrer nach ein bißchen Glück schmachtenden Verkommenheit. Eva Brock singt diese und ähnliche Lieder ganz prachtvoll. Daneben wirken die Lieder, die Käthe Kühl sehr nett vorträgt, weit schwächer, sie schmecken doch zu sehr nach dem Lumpenproletariat im Literaturcafé.

Aber als Ganzes müßte dieses Kabarett, das als solches ebenfalls ein Ausdruck der Revolution ist, in der wir leben, vor allem Widerhall bei den Arbeitern finden. Es muß möglich sein, den Künstlern hierzu die Gelegenheit zu schaffen.

In: Arbeiter-Zeitung, 15.5.1921, S. 4-5.

Fred Heller: Jazz-Dämmerung. (1921)

Was „Jazz“ und was Shimmy ist, braucht man keinen Tänzer mehr zu sagen. Und Nichttänzer sind, seit der Foxtrott mit zu einem Souper gehört, keine voll zu nehmenden Menschen. Wie können sie sich beispielsweise jetzt in einem Kurort, draußen in der Sommerfrische erholen, wenn sie nicht allabendlich oder doch ein-, zweimal in der Woche ein bißchen trotten und stepen! Die Beherrschung der modernen amerikanischen Tänze ist längst ein Teil der allgemeinen Bildung. Ein allgemein gebildeter Mensch hat sich also natürlich auch bereits den „Jazz“ und den „Shimmy“ zu eigen gemacht, diese beiden letzten Importe aus Amerika, oder er ist zumindest fest entschlossen, spätestens im Herbst seine bislang noch theoretischen Kenntnisse, sein Wissen um die Geheimnisse menschlicher Gelenke, in praktisches Können umzusetzen. Aber ob es dann nicht schon zu spät sein wird? Zuverlässige amerikanische Berichterstatter malen einen Tanzteufel an die Wand, der nicht mehr nach vorgeschriebenen Rhythmen die Schultern verstauchen, den Leib verkrümmen und die Gliedmaßen aus ihren Scharnieren heben will. In Amerika bereitet sich nichts geringeres als eine Reaktion vor! Eine Reaktion im amerikanischen Tanz ist aber eine europäische Angelegenheit. Deshalb kann nichts früh genug die Aufmerksamkeit der Alten Welt auf die drohenden Anzeichen jenseits des großen Teiches hingelenkt werden.

Miß Albertina Rasch, eine junge Wienerin, die sich als erste Tänzerin drüben am Century Opera House, der Jahrhundertoper in New-York, ihren Namen gemacht hat, ist kürzlich in Wien zum Besuch ihrer Angehörigen eingetroffen und hat ganz besorgniserregende Nachrichten mitgebracht. Worüber spräche man denn auch in Wien zuerst mit einer amerikanischen Tanzkünstlerin? Vielleicht erfährt man gar als erster von einem ganz neuen Tanz und hat dann das Glück, ihn sich gleich zeigen lassen zu können.

„Ich komme über Paris, ich weiß alles“, lächelt Miß Rasch. „Europa, du hast es nicht besser! mußte ich denken, als ich den begeisterten Tanzkult sah, und wie ich höre, steht Wien durchaus nicht zurück. Nein, es gibt keine neueren Tänze als den Jazz und den Shimmy. Kann es denn überhaupt in dieser Beziehung noch „Moderneres“ geben? Man hat sich drüben den ersten Niggertanz, den Cake Walk, von idyllischen Festlichkeiten der Neger in die Ballsäle geholt. Das war noch ein wirklicher Tanz, ganz neuartig für unsere Begriffe und trotz oder wegen seiner exotischen Reize auch nach ästhetischen Begriffen eine Bereicherung der Gesellschaftstänze. Aber dann hat man angefangen, die Niggertänze aus den Nachtlokalen von San Francisco und New-Orleans zu beziehen, südamerikanischer Einfluß machte sich bemerkbar, und so ist der Nachfolger des argentinisches Tango und der brasilianischen Matchiche der Foxtrott geworden, eine Kreuzung etwa von One Step und Matchiche. Der Foxtrott kam dem amerikanischen Tänzer sehr entgegen, der ein ungemein ausgeprägtes rhythmisches Gefühl, aber gar kein melodisches Empfinden hat, daher auch eine Art Walzer mit synkopischer Taktform statt des echten Walzers tanzt. Es gibt kaum einen Amerikaner, der nicht Foxtrott tanzt und man tanzt ihn von früh bis nachts, in den Vergnügungslokalen genau so wie mittags in den Restaurants. Und es wird heute noch genau so gern Foxtrott getanzt wie vor einem Jahr, obwohl inzwischen der Jazz und der Shimmy modern geworden sind. Mit dem Jazz, der aus New-Orleans und Chicago eingeschleppt wurde, mit diesen, schon durch die dazugehörige Musik der Jazz-Banden unerträglichen gymnastischen Uebungen zum Lärm und Geräusch der unglaublichsten Instrumente ist man bereits von dem, was man noch Tanz nennen kann, abgekommen; der Gipfel der Geschmacksverrohung war dann gleich die nächste Novität, der Shimmy, ein Tanz, der nur aus der allgemeinen Verrohung durch den Krieg zu erklären ist. Wie hätten auch Kulturmenschen sonst an etwas Gefallen finden können, das die Roheit des rohesten Afrika ausdrückt. Und auch dieser Tanz ist von Europa übernommen worden!“

„Es ist unser letzter Schrei!“ bemerkte ich.

„Daß das sogar in Wien möglich ist!“ staunte die Amerikanerin aus Wien. „Die überschlanke Amerikanerin darf sich vielleicht noch solche Körperbewegungen erlauben. Aber schon die Pariserin fand ich im Jazz unmöglich. Doch selbst in Amerika beginnt man bereits von den allerneuesten Tanzschöpfungen abzuschwenken, man tanzt Shimmy und Jazz immer seltener, der Geschmack fängt sich an, umzubilden. Das Naserümpfen und die abfälligen Bemerkungen werden drüben in letzter Zeit häufiger. Die Verrohung, die auch drüben der Krieg mit sich gebracht hat, geht sichtlich auch im allgemeinen zurück, und so wird man auch von den wilden modernen Tänzen allmählich wieder zu sanfteren, legereren Linien zurückkehren!“

„Und der uns allen heilige Foxtrott?“

„Keine Sorge, der wird sicherlich noch lange herrschen, wenn er nicht überhaupt schon zum sogenannten „ewigen“ Bestand der Tanzkarte zu zählen ist, wie der Two Step und die nur augenblicklich in Vergessenheit geratene „Washington Post“. Es existiert ja in Amerika eine veritable Foxtrottindustrie. Fast täglich kommt ein neuer Foxtrott heraus. Eigene Musikverleger befassen sich mit dem Vertrieb, die Noten werden weithin gratis verteilt und in zwei Wochen kann das ganze Land jeden neuen Foxtrott. Die erfolgreichsten Komponisten sind dabei fast durchweg russische Juden, so zum Beispiel der populärste, der sich Irving Berlin nennt. Edison und ihn kennt jeder Mensch.

In allem Unglück also doch ein Trost: wir haben den Foxtrott zumindest nicht umsonst gelernt, wenn wir im heurigen Winter vielleicht schon den Jazz und den Shimmy wieder vergessen müssen. Daß es um diese beiden Negerstämmlinge besonders schade sein würde, wird wohl am wenigsten in Wien behauptet werden, wo wir als „Ersatz“ immerhin und schlimmstenfalls noch den Walzer haben.“

In: Neues Wiener Journal, 22.7.1921, S. 5.

Leo Lania: Das junge Amerika (1923)

Was an literarischen Werken in den letzten Jahrzehnten aus Amerika den Weg nach Europa gefunden hat, konnte gewiß nicht die Behauptung rechtfertigen, es gäbe so etwas wie eine nationale amerikanische Literatur. Andererseits ist es jedoch ganz klar: dieser einzigartige Assimilationsprozeß, der aus jedem in die glühende Effe des amerikanischen Lebens geratenen Engländer, Deutsche, Tschechen in wenigen Jahren den Amerikaner schweißte und hämmerte, mußte auch in der Literatur sein Abbild finden. Und so bezeichnet auch der allen modernen amerikanischen Schriftstellern eigene Wesenszug – ihre innige Verwachsenheit mit der journalistischen Reportage – mehr als etwas formales, äußerliches; er drückt sich in der Technik dieser Literatur ebenso aus wie in ihrem Stil und – nicht zuletzt – in der Problemstellung und den künstlerischen Absichten der Autoren.

Mit dieser Feststellung soll gewiß kein Werturteil abgegeben werden. Für den deutschen Bürger, der von jeher aus der Not seiner politischen Unreife eine künstlerische Tugend gemacht hat, muß das ausdrücklich betont werden. In anderen Landen aber, wo die breiten Schichten des Volksganzen die künstlerischen Leistungen weniger genau zu registrieren und katalogisieren verstehen, sie dafür aber um so intensiver, zumindest unmittelbarer und innerlich freier empfinden, weist man den schaffenden Künstler keineswegs aus dem Kampfgetümmel der Parteien und sieht durchaus nicht seine Aufgabe darin, den Sorgen und Nöten seines Volkes entrückt, auf einem erhabenen Piedestal zu stehen, allwo er als Zierde der Nation dekorativ zu wirken berufen ist.

So ist denn auch – nicht trotz seiner starken, einseitigen Tendenz, sondern über sie hinaus – der und Europäern bisher noch nicht bekanntgewordene Amerikaner John dos Passos ein Dichter. Sicher, daß die Bedeutung seines vor kurzem in deutscher Übersetzung erschienenen Romans („Die drei Soldaten“, Malik-Verlag, Berlin-Halensee) nicht in der politisch-erzieherischen Tendenz des Buches allein liegt. Gerade in seiner Unausgeglichenheit, dadurch, daß es technisch nicht jene vollendete Geschlossenheit der Sinclairschen Romane aufweist, vermittelt dies Werk sehr interessante Einblicke in die geistigen Strömungen der modernen amerikanischen Literatur und die Psyche des amerikanischen Menschen.

„Die drei Soldaten“ ist ein Kriegsbuch. Unwillkürlich denkt man an Barbusses „Feuer“, mit dem es in der Gesinnung und in Aufbau sehr vieles gemeinsam hat. Aber der Vergleich zeigt auch ganz scharf die Grenze, die diese beiden Kriegsbücher scheidet und die in Wahrheit die Trennungslinie zwischen dem Empfinden, der Sinnesart des alten Europäers und des jungen Amerikaners ist. Sonderbar: der Krieg erscheint in diesem amerikanischen Kriegsbuch nicht als das Wesentliche. Nicht der Schützengraben, nicht die Schlacht, nicht das Töten und Getötetwerden gibt dos Passos den Vorwurf zu seinen unerhört plastischen Bildern und aufwühlenden Schilderungen – der Kasernendrill, der militärische Zwang, die Unterjochung der Persönlichkeit durch Leutnantsregiment und Kadavergehorsam, das erscheint dem Amerikaner als das wahre Problem. Oder wie es Passos einen jungen Soldaten ausdrücken läßt: „Der Krieg wäre vielleicht gar nicht so schlimm, wenn es nicht wegen des Militärs wäre!“ In der ganzen Primitivität dieses Ausrufes spiegelt sich der Geist und das Empfinden einer jungen unverbrauchten Rasse, die nicht die sein verästelten seelischen Hemmungen des Europäers kennt, deren Persönlichkeitsgefühl aber ebensowenig durch Generationen unterdrückt, verkümmert wurde. Und offenbar wird – für viele gewiß nicht überraschend –, daß auch dies eines jener aus dem Dünkel des Europäers abgeleiteten Märchen ist: je älter die Rasse, desto stärker und seiner ihre Sensibilität. Zumindest fehlt der Zusatz: desto stärker auch die Widerstandsfähigkeit, der seelische Panzer.

Die Fabel des Buches: mager und eigentlich auch nebensächlich. Ausbildungslager in Amerika – Einschiffung – Truppentransport nach Frankreich – Etappendienst hinter der Front. – Auf dem Vormarsch zur Stellung wird der eine der drei Soldaten, ein junger Musiker, verwundet, leicht verwundet, er kommt ins Spital – sein Anteil am Kriege ist eigentlich erschöpft, er wird nach Paris auf Studienurlaub entlassen – da ist auch schon der Waffenstillstand unterzeichnet. Nun wahrlich, glimpflicher hätte nicht bald einer davonkommen können, denkt man unwillkürlich. Aber auch die anderen Helden des Buches haben ein glückliches Los gezogen – stets reichliche Verpflegung, immer in der Etappe, immer unter Dach und Fach… aber just da setzt für Passos den Amerikaner das tragische Motiv ein: der Zwang. Gibt es, kann es etwas Unmenschlichere, Widernatürlicheres, Furchtbares geben als diesen? Daß der junge Musiker verhaftet wird, weil er von einer Patrouille ohne Paß betroffen wird, daß man ihn ohne Verhör strafweise in eine Arbeitskompagnie einreiht – daß so etwas möglich ist, erschein Passos als Höhepunkt der Tragik. Der Musiker desertiert – er könne um Entlassung einreichen, würde sie ohneweiters nach kurzer Zeit erhalten – er tut das nicht. Wieder eine Uniform anziehen? Wieder stramm stehen vor jedem Vorgesetzten? Wieder Soldat, Automat werden? Nein, nicht einmal für Stunden. So geht er zugrunde.

Wir Europäer, Deutsche, Franzosen, Italiener, Russen, wir haben in den letzten Jahren so unerhört vieles, so schreckliches – nein, nicht erlebt – über uns hinwegbrausen lassen, daß es wahrlich kein Wunder ist, wenn wir heute einfach nicht fähig sind, das zu empfinden, was Maeterlinck einst „ die Tragik des Alltags“ genannt hat. Hätten wir es im Kriege gekonnt, das Erleben hätte uns das Leben gekostet. Das Buch von dos Passos zeigt und Europäern, wie viel wir auszuhalten vermochten und – vermögen. 

Der deutsche Militarismus ist auf den weiten blutgedünkten Schlachtfeldern Frankreichs zusammengebrochen – sein Geist aber hat in einem nie geahnten Triumphzug Frankreich und die Tschechoslovakei, zwei Drittel von Europa und den wahren Sieger im Völkergemetzel, Amerika, erobert. Daß dieser junger amerikanische Militarismus nicht nur in seinem inneren Wesen, sondern in allen seinen Formen und Äußerlichkeiten nur ein Abklatsch des kontinentalen Leutnantsregiments mit allen seinen Brutalitäten, Scheußlichkeiten, Borniertheiten ist, das hat uns und vor allem den Amerikanern zuerst Sinclair gezeigt. Dos Passos ist – ich möchte beinahe sagen – nicht so jung, so unbekümmert, so absolut wie Sinclair – das macht, daß wir uns ihm verwandter fühlen als jenem. Und um so stärker beim Lesen dieses Buches von dem Entsetzen gepackt werden: „Tua res agitur“ (Es geht um dich!).  Auch wir sind dieser Hölle noch nicht entronnen.

In: Arbeiter-Zeitung, 30.8.1923, S. 5,

Hans Tietze: Sozialismus und moderne Kunst (1926)

Schon in der Fürsorge, die eine Zeit forschend und konservierend, erwerbend und erläuternd den Werken der alten Kunst widmet, ist sehr deutlich ein Stück ihres eigenen Kunstgefühls lebendig. In noch höherem Maße muß ein Stück ihrer ganzen Kulturgesinnung und Weltanschauung an ihrem Verhältnis zu der künstlerischen Produktion der Gegenwart zur Geltung kommen, denn wer mit dem Ganzen seiner geistigen Persönlichkeit modern eingestellt ist, wird es auch in seinem Verhältnis zur Kunst sein. Und von diesem Standpunkt der geistigen Einheit gewinnt die Frage nach dem Zusammenhang politischen und kulturellen Bekenntnisses, die in der Regel von zwei Seiten her negativ zu werden pflegt, erneutes Interesse […]. Gibt es eine sozialistische Kunst? Ist ein Bildwerk, weil es einen sozialistischen Führer, einen Proletarier, einen Hungeraufstand, die Opfer eines kapitalistischen Übergriffs zeigt, deshalb sozialistisch? Oder gibt es gewisse Stilrichtungen – die expressionistische, die konstruktivistische oder die neue Sachlichkeit – die in höherem Grade als andere sozialistischem Denken entsprechen? 

Vom Standpunkt, von dem wir diese Frage zu behandeln versuchen, scheint sie einer doppelten Erwägung zu bedürfen: einerseits, wie sich politische und soziale Umwälzungen überhaupt auf künstlerischem Gebiete auswirken, und andererseits, wie speziell die künstlerischen Probleme unserer Zeit sich zum Sozialismus verhalten. 

Jeder gesellschaftlichen Struktur entspricht wie eine wissenschaftliche auch eine künstlerische Auffassung; eine die Herrschaft gewinnende neue Schicht setzt notwendig ihr eigene an Stelle der entthronten alten Auffassung. Aber diese // vollzieht sich nicht mit einem Schlage; die Kunst hat – unabhängig von den Bedingungen, denen ihre letzte Stilstufe entsprang – der uns seit Kant zum Axiom gewordenen Autonomie des Ästhetischen entsprechend, ihr eigenes, gleichsam objektives Dasein; ihre ursprünglich in einer früheren sozialen Stufe wurzelnden Formen leben weiter, um so mehr, als die neu zur Herrschaft gelangte Gruppe zunächst mit ihrer politischen und sozialen Einrichtung vollauf beschäftigt ist und erst später zur kulturellen Ausgestaltung ihres Daseins gelangen wird […]. Aber es liegt im Wesen der Kunst wie in dem aller anderen ideellen Errungenschaften, daß zunächst einzelne vorwegnehmen, was in der breiten Masse gelegen, ihr aber noch nicht zu Bewußtsein gekommen ist. Erst allmählich wird die neue maßgebend gewordene Schicht ihrer eigenen kulturellen Kraft inne und ihres neuen Ausdrucks fähig. 

In dieser Weise hat etwa das Bürgertum, der dritte Stand der Französischen Revolution, an der Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert  die kulturelle Führung an sich genommen; dabei hat es sich zunächst mit einem schwächlichen Absud der Kirchen- und Adelskunst begnügt und erst allmählich daraus seine eigene Kunstform gebildet, deren charakteristische Erscheinung, der Impressionismus, den Zusammenhang mit dem Liberalismus in politischer, mit dem Individualismus in sozialer, mit dem Kapitalismus in wirtschaftlicher, mit dem Materialismus in philosophischer Beziehung deutlich genug erkennen läßt.

Heute, hundert Jahre später, sind wir abermals überzeugt, an einer Wende zu stehen; der vierte Stand übernimmt in dieser oder jener Form die Herrschaft und mit der Herrschaft die kultureller Verantwortung vom dritten. Ganz wie dieser damals findet auch das Proletariat vorläufig mit den übernommenen Kulturformen sein Auslangen; noch glaubt radikale politische Gesinnung mit Geschmack an richtiger Bourgeoiskunst – und zumeist mit deren schwächlichsten Ablegern – vereinbar zu sein. Die Revolutionäre des Lebens empfangen ihre Kunst soweit sie sich überhaupt für sie interessieren, aus den Händen der Reaktionäre; fast möchte man sagen, daß sie sich glücklicherweise meist wenig dafür interessieren, denn in diesem Nichtinteresse liegt doch irgendwie die Erkenntnis, daß diese abgetakelte Kunst von gestern und vorgestern sinnlos geworden ist, daß all diese schalen Kulturhansel, die den durstigen Lippen des Volkes kredenzt werden, ihm weder Nahrung noch Genuß bieten können. 

Dieser Zustand ist für einen Übergang charakteristisch, der sich hier nicht anders vollzieht wie auf anderen Gebieten; nicht von heute auf morgen wird eine neue Kunst da sein, sondern allmählich wird die neue Kulturschicht so weit erstarken, daß sie eine ihrem innersten Bedürfnis angemessene Kunst hervorbringen wird. Sind Keime und Ansätze zu dieser neuen Kunst bereits heute vorhanden? 

In negativer Hinsicht werden wir des Zusammenhangs zwischen künstlerischem und politischem Leben deutlich gewahr; es ist kein Zufall, daß zur gleichen Zeit, in der die Kaiser und Könige gestürzt werden und die Wirtschaft in Umwälzung begriffen ist, auch die Kunst in Revolution steht, jahrhundertelang Anerkanntes umgestoßen wird, überall an Stelle des Alten Neues, Gewagtes, Unerhörtes sich durchsetzen möchte. Da und dort Ausfluß der gleichen revolutionären Gesinnung, die nicht mehr an die Heiligkeit der morschen staubigen Theatermöbel glaubt, die so lange zu imponieren vermochten, die, wie in das soziale und wirtschaftliche Leben, auch ins geistige und künstlerische frische Luftströme einführen will. Revolution – ob auf diesem oder jenem Gebiet – ist Ausdruck der gleichen Überzeugung, daß der Augenblick gekommen ist, den veränderten Kräften das Übergewicht über die beharrenden zu schaffen. Immer sind die Umstürzler in der Kunst Arm in Arm mit den politischen Revolutionären gegangen; die jungen Künstler haben auf dem „Berg“ des französischen Nationalkonvents am radikalsten gewettert und der Todfeind der akademischen Zöpfe in der Kunst, Gustave Courbet, hat in der Pariser Commune von 1871 eine große Rolle gespielt. Die Sowjetrepubliken Rußlands haben den künstlerischen Radikalismus offiziell gemacht, die // sozialistischen Stadtverwaltungen Deutschlands fördern systematisch moderne Kunst und selbst im sanften märzlichen Wien von 1848 hat es im Rahmen der allgemeinen eine künstlerische Revolution gegeben, der die Stadt das damals bahnbrechende Monumentalwerk der Altlerchfelderkirche verdankt. 

Dieses Zusammenspiel der radikalen Kunst mit der radikalen Politik rührt nicht nur davon her, daß die Künstler, mehr von Empfindungen als von Erwägungen geleitet, sich leicht und widerstandslos jedem Enthusiasmus in die Arme werfen; es kommt in tieferem Sinne auch daher, daß diese Art von Künstlern – die jeweiligen Modernen ihrer Zeit – auf ihrem Gebiet ebenso am Weg zur Zukunft bauen wie die politischen Neugestalter auf dem ihren. Aus diesem Gefühl der Verwandtschaft heraus haben die genialen politischen Begabungen häufig den Instinkt für die Kunst besessen, begriffen, daß es wichtig ist, diesen Gärstoff so gut wie jeden anderen den eigenen Zwecken dienstbar zu machen. Die Solidarität der Zukunftsgestalter führt politischen und künstlerischen Radikalismus zusammen.

Aber wieder muß ich fragen: Welche unter den zahlreichen Richtungen unserer Zeit ist es, die diesen Keim der Zukunft in sich trägt, was ist im Chaos unserer Kunst Verwesung des Gestrigen, was ist Gewähr des Morgigen? Nach dem allgemeinen geistigen Entwicklungsgang möchte man dieses in die Zukunft Deutende dort suchen, wo der Anschluß  an kollektives Denken und Fühlen gesucht wird, wo die Kunst den auf die Spitze getriebenen Individualismus des neunzehnten Jahrhunderts preisgibt, um sich großen Gemeinschaften einzuordnen. In den Programmen vieler der neuesten Richtungen spielen seit Beginn des Jahrhunderts, also schon vor dem politischen Umsturz, Erwägungen dieser Art eine große, die größte Rolle; aller Konstruktivismus ist darauf aufgebaut, daß er die Willkür des Individuellen durch allgemeingültige Gesetzlichkeiten ersetzen will. Aber der Konstruktivismus läßt wie die anderen, sich überstürzenden und einander bekämpfenden Richtungen offensichtlich die breiten Massen ziemlich kalt; müßte nicht jener geniale Wurf, der den künstlerischen Messias verriete, blitzartig jeden Beschauer treffen; müßte nicht eine Richtung, die eine kollektivistische sein will, im Fühlen der Allgemeinheit unmittelbaren Widerhall finden? In einer Zeit des Übergangs und der Widersprüche, wie die unsere es ist, läßt sich auch in der Kunst eine solche Liebe auf den ersten Blick nicht erwarten; noch haben sich die jungen Künstler vom Gestern erst so weit gelöst, daß sie es verabscheuen und verleugnen, aber noch nicht, daß sie ihm Neues und Bleibendes entgegensetzen könnten. Gewiß empfinden die meisten und besten von ihnen tiefe Sehnsucht nach diesem Neuen; sie wollen heraus aus dem Individualismus, an dem sie leiden, aber er hängt unverlierbar an ihnen. Ja diese Gruppen und Grüppchen, in die sich die Kunst zerfasert, diese Schulen, die um einen einzigen Kaffeehaustisch gruppiert sind, diese „ismen“ für Genießer, Adepten und Eingeweihte, sind Blüten eines aufs äußerste gesteigerten Individualismus, sind letzte Raffinements einer absterbenden Schicht, Kunst für Modesalons und Snobisten. Aber jener Umwandlungsprozeß, von dem ich früher sprach, hat sich immer in dieser Weise vollzogen, daß die Dekadenten von gestern der Jugend von morgen den Weg bahnten! Voltaires und Rousseaus erstes Publikum waren Snobs, die in dieser ätzenden Zerstörung der eigenen Kulturessenz nur das witzige Raffinement wahrnahmen, aber nicht die positiven Zukunftswerte: Beaumarchais‘ Ausfälle gegen den Adel hat ein Parterre von Aristokraten bejubelt, und Goya ist als Hofmaler zum Revolutionär der europäischen Malerei des neunzehnten Jahrhunderts herangewachsen. Was Marx den Funktionswechsel nennt – daß der gleiche Prozeß, aus verschiedenem Gesichtswinkel gesehen, entgegengesetzte Bedeutung gewinnt – gilt auch hier: Verwesung ist Blüte, Tod ist Leben. Die modernen Richtungen zersetzen den Besitzstand der alten Kunst und bereiten die neue; vielleicht sind sie auch schon die neue, erst von dem Ziel aus, zu dem diese Entwicklung führen wird, können Wert und Bedeutung der ersten tastenden Schritte, einstmals beurteilt werden. Stehen wir an der Schwelle einer neuen Zeit, das heißt werden die Bewegungen, die heute in ihren Anfängen stecken, zum Siege führen, so werden auch die Revolutionäre in der Kunst dereinst zu jenen zählen, die zu der neuen Freiheit mitgewirkt haben, und die Enkel werden über unsere Blindheit staunen, die uns ihre Bedeutung verkennen und bezweifeln ließ. 

Die Frage der Qualität und des absoluten künstlerischen Wertes ist bei neuen Richtungen eine Sache der Zukunft; eine Sache der Gegenwart aber ist die all//gemeine Lebendigkeit, die revolutionäre Gesinnung. Sie zu fördern, sie als zu sich gehörig zu fühlen ist eine Pflicht eines Sozialismus, der mehr ist als eine parteipolitische Angelegenheit, der sich darüber hinaus immer wieder besinnt, daß er auch eine Weltanschauung ist. Dieser Weltanschauung ist Kunst eine Privatsache; gewiß – so gut wie die Religion. Aber so wie es trotzdem unvereinbar dünkt, daß einer, der ein überzeugter Sozialist ist, am Kirchenglauben festhielte, so unmöglich scheint es auch, daß ein echter Sozialist, sofern er überhaupt Sinn und Interesse für die Kunst hat, in seinem Verhältnis zu ihr konservativ wäre. Er kann nicht anders, als auch in der Kunst wie auf allen Gebieten den radikalsten Versuchen sympathisch gegenüberstehen.   

In: Der Kampf, H. 12/Dezember 1926, S. 545-548 (Auszüge).

Käthe Leichter: Die beste Abwehr (1933)

„Diese deutsche Erfahrung hat vor allem gezeigt, daß die furchtbarsten und schwersten Opfer, die eine Arbeiterklasse im Kampf gegen den Faschismus bringen muß, immer noch leichter sind als die Opfer, die ein widerstandsloses Niedergeworfenwerden der Arbeiterklasse auferlegt.“

Otto Bauer auf der Internationalen Sozialistischen Konferenz.

Die deutsche Katastrophe hat der Arbeiterklasse der ganzen Welt die Verpflichtung auferlegt, ihre Taktik zu überprüfen. Dabei kann es sich nicht nur darum handeln, festzustellen, ob dieser oder jener Zeitpunkt versäumt, diese oder jene Situation richtig genutzt, diese oder jene Entscheidung falsch war, ob hier die Führer und dort die Massen es an Initiative oder Tatkraft haben fehlen lassen. Diese jetzt so häufige Methode der kritischen

Auseinandersetzung sieht die Erscheinungsformen, aber nicht die tieferen Ursachen für die Überrumpelung der Arbeiterbewegung durch den Faschismus. Nur wenn wir gewissenhaft prüfen, ob die Gründe manchen Versagens nicht tiefer zurückliegen, ob die Perspektive, die die Arbeiterbewegung innerhalb der bürgerlichen Demokratie der Nachkriegsjahre geleitet hat, auch die sein konnte, die uns zum Kampfe gegen den Faschismus befähigt, nur wenn wir

daraus die nötigen Konsequenzen ziehen, wird uns jene innere Umstellung gelingen, die der Augenblick erfordert. Denn dadurch, daß die Konterrevolution nicht überall gleichzeitig, nicht überall mit einem Schlag als hundertprozentiger Faschismus auftritt, ist der Arbeiterbewegung, die in anderen Ländern vom Faschismus bedroht ist, eine Frist gegeben, von deren richtiger Nutzung es abhängen wird, ob der entscheidende Gegenangriff erfolgreich abgewehrt werden kann. Selbstkritik also, nicht um in nachträglicher Selbstzerfaserung nicht wieder Gutzumachendes festzustellen, sondern um jene gefährliche Lähmung zu vermeiden, von der wir heute wissen, daß sie auch das Schicksal einer großen,

mächtigen Arbeiterklasse sein kann, und um jene Aktionsfähigkeit zu gewinnen, die allein den Faschismus erfolgreich abwehren kann.

Dazu scheint es aber vor allem notwendig, der sozialistischen Bewegung den Glauben an die Automatik, an die Unabwendbarkeit wirtschaftlichen und geschichtlichen Geschehens zu nehmen, der sie in diesen letzten Jahrzehnten nur allzusehr beherrschte. […] //

Der Überschätzung der Automatik des wirtschaftlichen Lebens in einer Zeit, in der die Automatik der kapitalistischen Wirtschaft zerstört ist, entspricht der Glaube an den demokratischen Automatismus in einer Zeit, in // der die Demokratie vom Klassengegner gesprengt ist. Man kann der österreichischen Sozialdemokratie gewiß nicht den Vorwurf machen, daß sie diese Situation nicht vorausgesehen habe. Kein anderes sozialistisches Programm hat die Sprengung der Demokratie mit solcher Klarheit vorausgesehen wie das Linzer Programm der österreichischen Sozialdemokratie, in dem nicht etwa als Möglichkeit, sondern als sicher festgestellt wurde: „Die Bourgeoisie wird nicht freiwillig ihre Machtstellung räumen.“ Und doch wissen wir heute, daß in seiner Konzeption der Machteroberung eine Lücke klafft. Daß die Staatsmacht mit Gewalt zu erobern sei[n] wird nur defensiv, nur für den Fall zugegeben, daß alle Anstrengungen, in die Wehrmacht des Staates einzudringen, mit demokratischen Mitteln die Staatsmacht zu erobern, gescheitert sein sollten. Aber wissen wir nicht aus der Erfahrung dieser letzten Jahre, daß nicht nur wir unsere Strategie der Revolution, daß auch die Bourgeoisie ihre wohlfundierte Strategie der Gegenrevolution hat? Nur in Zeiten, in denen die Arbeiterklasse geschwächt ist, geschwächt durch politische Selbstzerfleischung wie in Italien, geschwächt vor allem durch die Krise, durch die verminderte Möglichkeit der Anwendung gewerkschaftlicher Kampfmittel, geschwächt durch politisch ungünstige internationale Konstellationen, wird die Bourgeoisie die Demokratie sprengen. Der Gegner weiß sehr gut, wann die politische Konjunktur für ihn günstig ist —, und nur dann wird er, durch keinerlei ideologische Bindungen gehemmt, an die Aufrichtung der bürgerlichen Diktatur gehen. Ja, er wird es sogar mit Sicherheit nur dann tun, wenn er nicht nur über illegale Kampftruppen, sondern auch über Teile des Staatsapparats verfügt, kurz, wenn ihm die Chance des Sieges winkt. Indem wir so unseren Entscheidungskampf auf den Zeitpunkt verlegen, in dem der Gegner die Demokratie sprengt, verlegen wir ihn von selbst auf einen Augenblick, in dem wir ökonomisch, international und innerpolitisch die Schwächeren sind, die Gefahr, den Kürzeren zu ziehen, also sehr groß ist. 

Kein Zweifel, daß heute, da sie in großen Teilen Mitteleuropas zerstört ist, die Demokratie erst vielen erstrebenswert erscheint. Und doch, wenn uns heute so oft die Wiedereroberung dieser Demokratie als Hauptaufgabe gestellt wird – das, so fühlen viele in der Partei, war nicht der Sinn des Linzer Programms, daß wir, wenn der Gegner den Boden der Demokratie gesprengt hat, ob der entschwundenen Demokratie klagen, statt ihm auf den Boden zu folgen, den er uns durch die Sprengung der Demokratie aufzwingt. Freilich haben wir dabei an eine andere ökonomische und internationale Situation gedacht, aber das war ja eben die Illusion. Solange wir unsere Taktik als Defensivtaktik auf den Angriff des Gegners aufbauen, werden wir notwendig in einen Zirkel geraten, der uns einmal nicht kämpfen läßt, weil der Gegner uns nicht genügend provoziert, das andere Mal, weil er uns zu erfolgreich angreift. […]//

Sehr treffend hat der Belgier Spaak auf der Internationalen Konferenz gesagt: „Es ist ein Irrtum, zu glauben, daß eine Partei, die jahrelang festgelegt ist auf die Regeln und Methoden des rein demokratischen Kampfes, mit einem Schlage, wenn der Faschismus kommt, sich umstellen kann auf gewaltsame Abwehr im illegalen Kampf.“ Die Schwierigkeiten dieses Umstellungsprozesses haben wir in den letzten Monaten erfahren.

So entsteht ein optimistischer Fatalismus, der ebenso gefährlich sein kann wie der pessimistische. Der da fatalistisch glaubt, der Faschismus sei unabwendbar, wird gewiß nicht die Kraft aufbringen, ihm entgegenzutreten. Aber auch der da meint, Faschismus, das sei nur eine Form der Reaktion wie vieles andere, das alles habe es schon gegeben und sei doch nicht so schlimm, man müsse nur abwarten, bis wieder „unsere Zeit“ kommt, wer also auf die Selbstzersetzung und Selbstauflösung des Faschismus hofft, ohne daß die Arbeiterklasse in Aktion zu treten brauche, oder gegen andere Formen der Konterrevolution abgestumpft wird, weil sie doch keinen hundertprozentigen Faschismus darstelle, begeht mit seinem fatalistischen Optimismus, der alles von den Ereignissen und nichts von der Kraft der Arbeiterklasse erhofft, diese Arbeiterklasse aber dadurch als handelnden Faktor gewissermaßen aus dem Gang der Entwicklung ausschaltet, einen ebenso schweren Fehler wie der, der den Faschismus für unabwendbar hält. Der ökonomische Determinismus, der nur fragt, was diese Krise bedeutet, und nicht, wie man sie auswerten kann, findet hier seinen ideologischen Überbau in einem politischen Fatalismus, der fasziniert auf das Kommen wie auf das Verschwinden des Faschismus wartet, ohne die Frage so zu stellen: Was tut die Arbeiterklasse, um den Faschismus gar nicht erst groß werden zu lassen oder ihn, „wenn er dennoch ausbrechen sollte“, zu stürzen)?

Ist es Geringschätzung der Demokratie, wenn ihre bloße Zurückeroberung mit ihren Freiheitsrechten, ihrem Parlamentarismus wenig Leidenschaften auslöst? Gewiß lernen Tausende erst heute den Wert der Demokratie schätzen. Als Zustand wäre sie freilich hundertmal erwünschter als die faschistische Diktatur. Was aber enttäuscht hat, ist die Dynamik der demokratischen Entwicklung. Daß auch die bürgerliche Demokratie für uns arbeitet, schien uns nach unserer marxistischen Überzeugung sicher: infolge des Zunehmens der Lohnarbeiterschaft, der Proletarisierung immer größerer Schichten, die auf dem freien Boden der Demokratie nun auch zu uns stoßen mußten. Aber auch hier ist die Entwicklung nicht so automatisch, nicht so mechanisch verlaufen. Die Proletarisierung ist in ungeheurem Ausmaß eingetreten, aber nicht in der Form der Zunahme der Lohnarbeiterschaft, sondern im Gegenteil: durch Hinausschleudern immer größerer Massen aus dem Produktionsprozeß, durch Deklassierung von Mittelschichten, aber nicht zu Lohnarbeitern, sondern zu Paupers. Nicht die Vereinheitlichung, sondern die Ökonomische Zerklüftung des Proletariats war die Folge von Nachkriegszeit, Rationalisierung und Weltwirtschaftskrise. Hier sind Schichtungen entstanden, die durchaus nicht automatisch die Scharen unserer Bewegung vergrößert, sondern im Gegenteil dem Faschismus die Möglichkeit geboten haben, mit pseudosozialistischer Phraseologie in die Arbeiterklasse, in ihre Randschichten nach oben wie nach unten, einzudringen. Gewiß wäre auch das nicht ohne Versäumnisse von unserer Seite so leicht gewesen. Wir haben in einem Zeitpunkt, in dem die Krise schon weit fortgeschritten war, noch immer im wesentlichen die Politik der beschäftigten Arbeiter gemacht, um deren Löhne, um deren Rechte im Betrieb, um deren Sozialpolitik vor allem gerungen wurde. Freilich kann man auch gerade da der österreichischen Bewegung nicht den Vorwurf machen, daß sie das Problem nicht gesehen hat. Der Gewinnung der Mittelschichten, dem Kampf um die Arbeitslosenversicherung hat ein Großteil unserer Energie in den letzten Jahren// gegolten. Aber wir haben dabei beide psychologisch nicht richtig eingeschätzt. Wir waren überzeugt, daß die Mittelschichten so eng mit der kapitalistischen Ordnung verknüpft sind, daß wir zu ihnen im wesentlichen mit Forderungen kamen, die ihnen den Bestand der kapitalistischen Wirtschaft zusicherten —, und haben dabei ihren bei Deklassierten besonders affekthaften Antikapitalismus übersehen. Wir haben die Arbeitslosen von vornherein für so revolutionär gehalten, daß wir geradezu fürchteten, ihre revolutionären Leidenschaften loszulösen und uns darauf verließen, daß unser parlamentarischer Kampf um ihre Unterstützung sie ohnehin an uns fesseln würde – aber dieser parlamentarische Kampf wurde immer unfruchtbarer, mußte Verschlechterungen in Kauf nehmen, für die wir verantwortlich gemacht wurden. Langandauernde Arbeitslosigkeit aber – das wissen wir heute – revolutioniert nicht immer, sie schafft nur allzu leicht Resignation.

Auch hier waren sozialistische Leidenschaften zu wecken. Wo wir es versäumten, trat Indifferenz ein, der beste Boden für den Faschismus. So kann die Demokratie, wenn nicht richtig ausgenützt, sehr wohl auch mit zunehmender Proletarisierung nicht eine automatische Vergrößerung der sozialistischen Reihen, sondern im Gegenteil den „Feind von innen“, den „Faschismus“, der sich auf die Randschichten der Arbeiterbewegung stützt, erzeugen. Nicht die Demokratie, aber die in den meisten Ländern miterlebte Dynamik der bürgerlichen Demokratie, in der die Kapitalisten bemüht sind, so bald wir stärker werden, ihre Geldmittel zum Aufzüchten einer faschistischen Massenbewegung, die den Marxismus niederkämpfen soll, zu verwenden, in der sich also letzten Endes die Demokratie gegen uns auswirkt, ist in schlechtem Ansehen bei der Arbeiterschaft. Und sie ist es um so mehr in der heutigen Zeit, in der es so klar ersichtlich ist, daß der Gegner weit größere Machtmittel und viel geringere Hemmungen zur Verfälschung der Demokratie in seinem Sinne hat. Ist es denkbar, ihm diese einmal angewendeten und bis zum Faschismus gesteigerten Machtmittel ohne stärksten Gegendruck zu entwinden, ist es überhaupt denkbar, daß, wenn sich die Arbeiterschaft aus der furchtbaren Umklammerung der faschistischen Gefahr befreit haben wird, sie nach den bisherigen Erfahrungen ihren Unterdrückern Freiheit und Muße geben wird, sich wieder zu sammeln und das Spiel von vorne anzufangen?

So entsteht in der Arbeiterklasse der leidenschaftliche Wunsch, als Endziel unseres Kampfes mit dem Faschismus, nicht wieder die bürgerliche Demokratie, sondern die sozialistische Machteroberung zu sehen. So entsteht aber auch der starke Drang, diese Macht nicht nur zu erobern, sondern auch durch eine „Erziehungsdiktatur“ (Aufhäuser) als Weg zur sozialistischen Demokratie gesichert zu wissen. Es ist ein Schritt vorwärts, wenn Bauer im Kampf und auf der internationalen Konferenz die Ansicht vertreten hat, daß die Demokratie, um die gekämpft werden soll, eine sozialistische, eine ökonomisch fundierte Demokratie sein muß. Aber das allein genügt nicht. Es gilt, die geänderte ökonomische Grundlage, es gilt die neue Staatsform gegen die unvermeidbaren Gegenaktionen der Bourgeoisie zu sichern, die Macht mit diktatorischen Mitteln zu behaupten, um vor Rückschlägen gesichert zu sein und zu verhindern, daß die Machtergreifung durch das Proletariat eine bloße Fortsetzung der „Schaukelpolitik“ in der bürgerlichen Demokratie scheint, in der auch eine sozialistische Regierung unfehlbar wieder von einer bürgerlichen abgelöst wird, weil der Gegenagitation gegen die sozialistische Regierung freier Spielraum gelassen und erst spät die Frage aufgeworfen wird, warum die Arbeiterschaft so „großherzig und gnädig. in der Stunde ihres Sieges mit demselben Gegner umgegangen ist“. (Bauer auf der Internationalen Konferenz.)

In der Augustnummer des Kampf wendet Bauer gegen dieses Bekenntnis zur Diktatur im wesentlichen ein, daß es uns bei der Erfassung der Mittelschichten hinderlich sein könnte. Aber eindrucksvoll weist einige Seiten weiter Dan nach), daß wir diese Schichten psychologisch falsch// beurteilt haben, daß sie weit eher mit offener sozialistischer Agitation zu gewinnen waren, als mit vorsichtigen Parolen. Und hat uns nicht Hitlers Aufstieg gelehrt, daß gerade der rücksichtslose Machtwillen die ungeschminkte Betonung der Diktatur bei diesen herumgeworfenen Anlehnung an eine starke Macht suchenden Schichten, vielleicht am stärksten wirkt? Wenn wir vor uns selbst entschlossen sind, diese Diktatur nur soweit sie unbedingt notwendig ist und nur als Überleitung zur sozialistischen Demokratie zu gebrauchen, innerhalb der Arbeiterbewegung auch in der Diktatur die Selbstbestimmung zu wahren, wenn wir vor allem nicht selber die Diktatur mit einem Schreckensregime identifizieren und etwa wie Karl Kautsky”) zu einer Gegenüberstellung von Humanität und Bestialität kommen, so können wir getrost diesen Weg als den unseren verkünden. In den heute von Zweifeln erschütterten Massen unserer Mitglieder und unserer Anhänger wird es unzweifelhaft das Gefühl stärken, daß nicht so leicht wieder „eine Revolution zugrunde gehen kann“ und daß ein neuer Umsturz in Mitteleuropa kein neues 1918 bedeutet.

Und wähnen wir doch selber nicht, daß uns der Gegner wegen unseres Wortradikalismus haßt! „Austrobolschewiken“ sind wir in den Augen des Österreichischen Bürgertums nicht wegen des Linzer Programms und etwaiger kräftiger Worte in Reden und Leitartikeln, sondern wegen des Mieterschutzes, der Breitner-Steuern, der Betriebsräte und der sozialen Lasten. Unsere revolutionären Worte hätten sie wenig gestört, unsere Reformen, die den Profit und den Machtbereich des Unternehmers im Betrieb eingeschränkt haben, haben ihre Nervosität geweckt. Auch die vorsichtigste Programmformulierung und Schreibweise hat die deutsche Sozialdemokratie nicht vor dem Haß der Gegner schützen können, den gerade ihre reformistische Tagespolitik in der Schaffung eines neuen Arbeitsrechtes und in der Verwaltung Preußens geweckt hat. Wollten wir auf die Gegenagitation Rücksicht nehmen, so müßten wir nicht auf unsere sozialistische Zielsetzung, sondern in Wirklichkeit auf unsere Tagespolitik verzichten. Und tatsächlich sehen wir ja auch, daß der erste Angriff des Faschismus überall vor allem diese sozialen Errungenschaften beseitigt. So ist heute der Reformismus in eine Sackgasse geraten. Rät er uns, was in allen Ländern der Fall ist, um der sozialen Institutionen, um der tatsächlichen Werte, um all dessen willen, was die Arbeiterschaft bei der Auseinandersetzung mit dem Gegner zu verlieren hätte, still zu halten und den großen Einsatz nicht zu wagen, so ist das nach den nbisherigen Erfahrungen gerade der sicherste Weg, diese Errungenschaften aufzuopfern. Denn schrittweise, aber zielbewußt, baut heute die Gegenrevolution Sozialpolitik und Sozialversicherung, Selbstbestimmungsrecht im Betrieb und Mitbestimmungsrecht der Gewerkschaften, Gemeindeautonomie und soziale Wohnungspolitik ab. Die Einrichtungen und Werte, die heute vielfach die Arbeiterschaft in ihren Kampfmöglichkeiten hemmen, weil ihr Verlust gefürchtet wird, gehen, so bald der Gegner unseren Gegenangriff nicht mehr fürchtet, am sichersten verloren. „Die Zwecke der Defensivaktion selber können nur noch durch eine Offensivaktion erreicht werden“, sagt de Mahn, „Das Prinzip der Demokratie verbietet es, ein absoluter Demokrat zu bleiben“, Irlen. Ebensogut könnte man sagen, daß die Reformen nur mehr mit revolutionären Mitteln behauptet werden können und daß gerade ihre Erhaltung verbieten müßte, Reformist zu sein. Nicht wenn wir auf die loyale Zusammenarbeit mit dem Gegner bauen, sondern nur wenn er uns fürchtet, wird sein Angriff auf unsere sozialen Positionen ausbleiben.

Wenn man dem Feind unmittelbar gegenübersteht, ist es notwendig, rücksich[t]slos zu fragen, wo Lücken in den eigenen Reihen sind. Für den Sozialismus bedeute das heute manche innere Umstellung, schmerzhaft für die, die von der geruhsamen Entwicklung der ersten Nachkriegsjahre schwer wegfinden, hoffnungsvoll für die, die in sozialistischer Selbstzufriedenheit und Erstarrung immer die größte Gefahr, in dem ständigen Ringen um den rechten Weg die //sicherste Gewähr für den Sozialismus gesehen haben. In Deutschland muß sich heute diese Regeneration des Sozialismus unter der furchtbaren Niederdrückung durch den Faschismus vollziehen. Sorgen wir dafür, daß sie uns nicht erst vom Faschismus aufgezwungen werde, sondern uns im Gegenteil befähigt, ihn abzuwehren.

In: Der Kampf, H. 11 (November) 1933, S. 446-452 (Auszüge)

O.M. Fontana: Werden der Dichtung. Versuch einer Selbstanalyse (1929)

Die neuere, wieder aus Spezialfertigkeiten und Einzelwissen zu einer geistigen Zusammenfassung strebende Medizin hat für das rätselhaft Bestimmende und Beharrende im Menschen den Ausdruck: Tiefenperson gefunden. Was macht nun den Dichter? Daß diese Tiefenperson, die im sogenannt normalen Menschen taubstumm bleibt, im Dichter zu hören und zu reden vermag. Wie diese Tiefenperson wird und ist, ergibt sich aus der Konstitution des Individuums und ist aus ihr wissenschaftlich eindeutig abzuleiten. Aber unableitbar, ein Geheimnis – warum die Tiefenperson in jenem taubstumm bleibt, in diesem hört und spricht. Auch so: ich (oder mir lieber: ein anderer) vermag zu sagen, aus welchen Lebensvorgängen heraus, kurz: wie ich dichte und in welcher Weise dieses Gedichtete dem

Ganzen meiner Person entspricht. Aber warum ich dichte, gerade ich in der Reihe meiner Ahnen – wer kann das sagen, besonders im Westen der Kultur, wo jeder glaubt, glauben muß, mit ihm beginne das Leben neu.

Soviel über die Gründe des Dichtens, über sein Geheimnis. Seinen Erscheinungen läßt sich mehr und auch mehr an der Oberfläche Liegen­des abgewinnen. Etwa die Frage: was ist zuerst beim Dichten da – das Gesicht eines Menschen oder seine Seele? Ich kann darauf nur ant­worten: je nachdem, einmal ist es dieses, das andere Mal jenes. Ein Gesicht, dem ich begegne, vermag mich zu verstören und tagelang zu be­schäftigen. Es geht in mir unter, um in neuer Form, mir unbewußt, wieder zu erstehen. So entstand mein Roman Erweckung. Begegnung eines Verlorenen war seine erste Keimzelle. Einen seelischen, einen geistigen Inhalt bis an sein Ende durchzugehen – ich weiß weniges, was für mich verlockender ist. So wurde der Roman, an dem ich jetzt arbeite und der Weiter leben heißt. Er wurde aus der Erkenntnis und dem Durchdenken jener Situation und jenes Lebens­inhalts, die mich und meine Gefährten des Schick­sals bestimmten und bestimmen: unsere Jugend und unser Mannestum.

Wie aber Darstellung immer Gestalt werden muß – das ist der Kampf des Dichters. Ein langer zäher Krieg, in dem große Siege oder Durchbrüche sehr selten sind, in dem es um ein kleines Grabenstück Welt oder Mensch geht. Ich möchte sagen: an seinen inneren Niederlagen wächst der Dichter. Er wird von ihnen nicht er­drückt, er muß sie überwinden. Das gibt ihm Kraft der Erneuerung, das ist seine Wintererde. Dichter ohne diese Inneren Niederlagen gehören jenem Jungentypus an, in dem der Frühlingssaft dichtet und der mit 35 Jahren vertrocknet, erledigt ist.

Wie einer Gestalt, einer Vision, einer Er­kenntnis Welt zuwächst, wie sich dieses Absolute der Tiefenperson mit der Vielfalt der Er­scheinungen mengt, die wir beglückt Leben nennen – das ist das Erlebnis des Dichters. Und auch: wie das von ihm Gedichtete Eigenleben gewinnt, wie sein fiktiver Mensch irgendwohin zu gehen beginnt, wo ihn der Dichter überrascht wiederfindet, und wie eine Idee sich zu ihrer letzten Konsequenz durchringt und den Dichter mit sich reißt. Das sind Dinge, die der Dichter mit sich selbst auszutragen hat, die den Betrachter nicht küm­mern, die aber über Glück oder Unglück, über Gelingen oder Mißlingen eines Werkes ent­scheiden.

Der Kampf des Dichters geht nach zwei Fronten, nach einer geistig inhaltlichen und nach einer formalen. Das Gehörte und Geschaute muß nicht nur Leben bekommen, es muß auch die Grenzen des Lebens erhalten, in denen es jenseits des Chaos, der Anarchie sich erfüllen kann. Ich glaube nicht, was sehr viele und sehr anerkannte Dichter glauben, es gebe feste Formen, in die alles gegossen werden könne. Es genüge zum Bei­spiel in der Epik bei A zu beginnen, um in der Reihe des Alphabets notwendig Z zu erreichen. Ich glaube, daß jedes Leben anders ist und daß darum jeder Roman, jede Geschichte anders sein muß. Ein Baumblatt ist ein Baumblatt, aber jedes ist anders gewachsen. Von innen her. Auch die Form einer Dichtung kann nur vom Inhalt her bestimmt sein. Ich habe darum in meiner

Erweckung dem Aufbrechen verhärteten Menschenseins die knappe große Sinnbildlichkeit

zu geben versucht, die jener ewige innere Vorgang beansprucht. Ich habe in dem Roman von der Insel Elephantine (Katastrophe am Nil) eine Gesellschaft innerhalb ihres Zusammenbruchs an­schauen wollen und sie darum in eine flackernde, nervöse Bilderfolge gestellt. Ich habe in dem Roman Gefangene der Erde den Weg eines Menschen, der den der Menschheit wiederholt, den Weg von der Schönheit des Barbarentums über den Zwiespalt der Zivilisation bis zur Schönheit seelischer Menschhaftigkeit durchschreiten wollen. Wie konnte ich den anders erzählen, als indem ich di« Stationen dieses Wegs, die Unbefriedigung, das Sucherische bis zur letzten Mündung immer wieder und in vielen Spielarten sichtbar machte!

Wann ist eine Dichtung fertig? Ich glaube: nie. Wie die Erde, die Welt, der Mensch ja auch nie fertig ist. Nur die schlechte Dichtung ist fertig. Der Schöpfung fehlt immer der i-Punkt. (Der Wahn, ihn setzen zu können, macht alles Menschenwerk so glückhaft und tragisch zugleich.) Die Schöpfung ist niemals und nirgendwo Kalli­graphie. Die Dichtung sollte es auch nie sein wollen. Wenigstens ich hüte mich davor. Ich glaube: die Dichtung, die wirklich Dichtung ist, bleibt immer im feurig flüssigen Zustand. Nur das erhält sie am Leben, nur das läßt die späte­ren Zeiten zu ihr wiederkehren und, sich in ihr spiegelnd, sich selber wiederfinden. Darum ist nicht der Staub der Bibliotheken, nicht die Literaturkritik oder Professorengeschichte, nicht die Klassikerausgabe jüngstes Gericht des Dichters und der Dichtung, sondern nur das Leben selber, das der Dichter, so er einer ist, immer will und

bis an seinen Grund erlebt. Nichts scheint mir lächerlicher als der Versuch, für „gesammelte

Werke“ zu schreiben.

Ich liebe die Zeit, weil ich in ihr schwebe wie eine winzige Mücke im Licht. Ich liebe die ewigen Dinge, weil sie allein dem Menschen die Kraft zum Höchsten geben: zu lieben. Im Ersten und im Letzten glaube ich, nicht das Individuelle macht den Dichter groß und gültig, sondern das Anonyme.

In: Wiener Allgemeine Zeitung, 16.4.1929, S. 5.