N.N. [Otto Bauer]: Die Weltrevolution.

4. Die historische Funktion des Bolschewismus.

            Die Kommunisten betrachten die Rätediktatur nicht als eine vorübergehende Phase, sondern als die abschließende, endgültige Form der Weltrevolution. Die Rätediktatur werde die Bourgeoisie „erdrosseln“, alles Privateigentum an Produktionsmitteln aufheben, die Spaltung der Gesellschaft in besitzende und besitzlose Klassen aufheben, die sozialistische Gesellschaftsordnung aufrichten, und sobald dieses Werk getan sei, werde der Staat überhaupt absterben, da es einer öffentlichen Gewalt nicht mehr bedürfe, sobald es keine unterdrückten und keine unterdrückenden Klassen mehr gibt. Die Rätediktatur, in einem Lande aufgerichtet, führt die Rätediktatur in den anderen Ländern durch die Macht ihres Beispiels herbei; nach wenigen Jahren werde der Kapitalismus in aller Welt überwunden sein.

            Daß in allen besiegten Ländern starke Tendenzen zur Diktatur des Proletariats ganz unvermeidlich entstehen, unterliegt keinem Zweifel; ob aber die Diktatur des Proletariats wirklich jene Wirkungen herbeizuführen vermag, die die Kommunisten von ihr erhoffen, ist eine ganz andere Frage. Die Geschichte aller Revolutionen zeigt, daß sehr oft die objektiven historischen Wirkungen der Revolution ganz andere sind als die subjektiven Vorstellungen, Absichten und Hoffnungen ihrer Urheber und Träger.

            Der Versuch des Proletariats, seine Alleinherrschaft aufzurichten und sich alle anderen Klassen zu unterwerfen, führt zunächst den Bürgerkrieg herbei. Selbst in Rußland kann sich die kommunistische Diktatur nur in ständigem blutigen Kriege gegen die konterrevolutionären Klassen erhalten; dieser Krieg gegen die Kornikow und Kaledin, die Denikin und Koltschak dauert nun schon mehr als anderthalb Jahre und sein Ende ist nicht abzusehen. Greift der Bolschewismus auf Mitteleuropa über, so wird er hier einen noch viel gewaltigeren, noch viel blutigeren Bürgerkrieg zu bestehen haben:  denn hier würde ihm eine viel breitere, zahlreichere, widerstandsfähigere Bourgeosie und vor allem eine viel selbstbewußtere, viel besser organisierte und viel konservativere Bauernschaft gegenüberstehen als in Rußland. Der Bürgerkrieg zerstört aber die Produktivkräfte des Landes, er macht den Wiederaufbau der Industrie, die Wiederherstellung der Verkehrsmittel, die Wiederbelebung der Landwirtschaft unmöglich. Er bereitet dem Aufbau der Organisation des Proletarierstaates und der Organisierung der sozialistischen Produktion unüberwindliche Schwierigkeiten. Infolge der Desorganisation, die die Folge des Bürgerkrieges überhaupt und der passiven Resistenz der Bauernschaft im besonderen ist, ist die Rätediktatur nicht imstande, die Großstädte zu ernähren; selbst Moskau, das doch die Hauptstadt des größten und fruchtbarsten Agrargebietes Europas ist, hungert, selbst Budapest, die Hauptstadt der getreide- und viehreichen ungarischen Ebene, ist heute schlechter versorgt als Wien. Und aus denselben Gründen stockt in den Sowjetrepubliken auch die industrielle Produktion; infolge der Unmöglichkeit, die Zufuhr von Roh- und Hilfsstoffen zu organisieren, stehen in Rußland die meisten Fabriken still und die Arbeiter sind teils in die Bauerndörfer zurückgekehrt, teils in die Rote Armee eingetreten.

            Trotzdem kann sich die Rätediktatur behaupten, wo sie aus den Erzeugnissen des eigenen Landes wenigstens notdürftig den dringendsten Bedarf an Lebensmitteln und Rohstoffen zu decken vermag. Ganz andere Schwierigkeiten würden ihr in Ländern erwachsen, die, wie Deutschland und Deutschösterreich, die Zufuhr von Lebensmitteln und Rohstoffen aus überseeischen Ländern nicht entbehren können. Wenn wir unsere Bevölkerung ernähren, unsere Fabriken und Eisenbahnen betreiben wollen, müssen wir Getreide, Fett, Fleisch aus überseeischen Ländern, Kohle aus der Tschecho-Slowakei und aus Polen, Rohstoffe aus aller Welt einführen. Und alle diese Waren können wir nur auf Kredit bekommen; denn da wir vorerst nichts auszuführen vermögen, können wir die einzuführenden Waren nicht bezahlen. Kredit aber können wir nur von den Ländern bekommen, die allein nach Kriege kapitalstark geblieben sind; vor allem also von England und von Amerika. Die englischen und die amerikanischen Kapitalisten werden aber keinem Lande Kredit gewähren, das ihnen nicht die notwendigen Sicherheiten zu bieten vermag. Sie werden nicht einem Lande kreditieren, in dem der Bürgerkrieg wütet. Sie werden nicht einem Land Kredit gewähren, das heute durch dieses, morgen durch jenes Dekret das Privateigentum aufhebt und die privaten Rechtsansprüche für nichtig erklärt. Die Räterepublik, unfähig, den Kredit der weltbeherrschenden kapitalistischen Länder zu erlangen, ist damit auch unfähig, ihre Bevölkerung mit Nahrungsmitteln, ihre Industrie  mit Rohstoffen zu versorgen. Die Folge ist gesteigertes Massenelend, verschärfte Hungersnot, fortschreitende Desorganisation des ganzen Wirtschaftslebens.

            Selbst im besten Falle also, selbst wenn die kapitalistischen Länder nicht zu offener Feindseligkeit gegen die Proletarierdiktatur übergehen, sondern ihr nur den Kredit verweigern, für den sie den Kapitalisten keine hinreichende Sicherheit zu bieten vermag, selbst in diesem Falle muß die Räterepublik in unüberwindliche Schwierigkeiten geraten, die ihr der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung schier unmöglich machen müssen. Aber alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß es dabei nicht sein Bewenden haben wird, daß die kapitalistischen Weltmächte vielmehr gegen jede Räterepublik zum offenen Angriff übergehen werden, ganz so wie sie es gegen Rußland und gegen Ungarn getan haben. Denn die kapitalistischen Mächte fühlen durch die Existenz jeder Räterepublik ihre Interessen bedroht. Die besiegten Länder sind Schuldner der Sieger; ihr Staatsbankerott, ihre Einstellung der Schuldenzahlungen, ihre Expropriation des Privateigentums bedeutet daher den Versuch, den Siegern den geschuldeten Tribut zu verweigern. Die Rätediktatur in den besiegten Ländern bringt durch ihr Beispiel auch die kapitalistische Ordnung in den benachbarten kleineren Ländern in Gefahr, die die Sieger als ihre Vasallenstaaten aufgerichtet, als ihre wirtschaftlichen Interessenssphären und als Stützpunkte ihrer politischen Macht geschaffen haben: in Polen, in der Tschecho-Slowakei, in Jugoslawien und Rumänien. Und die Verbreitung der Proletarierdiktatur vom Osten nach dem Westen über immer weitere Teile Europas erschüttert schließlich auch die kapitalistische Ordnung in Italien, in Frankreich, in Belgien und gefährdet damit jene ungezählten Milliarden, die die angelsächsischen Länder diesen ihren Verbündeten geborgt haben. So widerstreitet die bloße Existenz der Räterepubliken den stärksten Interessen der herrschenden Klassen der weltbeherrschenden Staaten; deshalb suchen sie die Räterepubliken durch Blockaden zu erwürgen, durch materielle Unterstützung der Konterrevolutionäre niederzuwerfen. Der unvermeidliche Zusammenstoß zwischen den kapitalistischen Weltmächten und den proletarischen Räterepubliken treibt allerdings die soziale Entwicklung in den noch kapitalistischen Ländern weiter: denn die englische Arbeiterschaft ist erbittert über den Feldzug der englischen Herrenklassen gegen die Räterepubliken und die englische Bourgeoisie muß sie daher durch Zugeständnisse zu gewinnen, durch Beschleunigung der Demokratisierung und Sozialisierung in England selbst zu beruhigen und zu besänftigen suchen. Aber andererseits wird die Not der Räterepubliken durch den Angriff von außen furchtbar verschärft; und wenn auch große Agrarländer wie Rußland, die vom Ausland relativ unabhängig  und von außen her schwer angreifbar [gesperrt gedr.] sind, sich des Angriffs der kapitalistischen Mächte zu erwehren vermögen, so müßten Industrieländer wie Deutschland und Deutschösterreich, die amerikanischen Lebensmittel und Rohstoffe, amerikanischen und englischen Kredit, amerikanischen und englischen Schiffsraum nicht entbehren können, diesem Angriff bald und unvermeidlich erliegen.

            Die Verwüstung der Volkswirtschaft durch den Bürgerkrieg im Innern, die Verweigerung der Kredit- und Rohstoffhilfe durch das kapitalistische Ausland, schließlich gar der feindliche Angriff kapitalistischer ausländischer Mächte machen es den Räterepubliken unmöglich, die wirtschaftliche Lage der Arbeitermassen zu verbessern. Der Begeisterung der Arbeitermassen für die Diktatur des Proletariats folgt daher sehr bald die bittere Enttäuschung, die sich gegen die Rätediktatur, gegen ihre unvermeidlichen Begleiterscheinungen, wie den Terror, wie die Aufhebung des Streikrechtes, der Preß- und Versammlungsfreiheit, wie der Rekrutierung zur Roten //Armee, kehrt. Die Diktatur des Proletariats führt schließlich zur Auflehnung des Proletariats gegen die Diktatoren. In Rußland stand im Oktober 1917, in Ungarn im März 1919 sicher das ganze Proletariat hinter der Diktatur: heute sind da wie dort unzweifelhaft schon breite proletarische Schichten in Gegensatz gegen die Räterepublik geraten und der Terror der Diktatoren richtet sich nicht nur mehr gegen die Bourgeoisie und Bauernschaft, sondern auch gegen die opponierenden Schichten des Proletariats. Von außen bedrängt, im Innern von der Bourgeoisie und der Bauernschaft leidenschaftlich bekämpft, schließlich auch von immer breiteren Schichten des darbenden, hungernden, kriegsmüden Proletariats verlassen, verwandelt sich die Diktatur des Proletariats in eine reine Militärdiktatur, die sich auf nichts mehr stützt als auf die Bajonette der durch eiserne Disziplin zusammengehaltenen, durch wirtschaftliche Begünstigungen befestigten Roten Armee. Aber die alte Wahrheit, daß man auf Bajonetten nicht sitzen könne, gilt auch für Räterepubliken. Sobald das Proletariat von den Wirkungen der Diktatur enttäuscht ist und sich gegen die verschärfte Hungersnot und den erneuten Krieg auflehnt, ist die Rätediktatur verloren und die Militärdiktatur der Roten Armee wird abgelöst von der Militärdiktatur der Konterrevolution. 

            Auch die Kommunisten wissen sehr wohl, daß die Rätediktatur scheitern muß, wenn sie auf die besiegten Länder beschränkt bleibt. Aber sie glauben, daß die Diktatur in den besiegten Ländern sehr bald die Revolution in den Ländern der Sieger auslösen werde, und darauf stützen sie ihre Hoffnungen. Diese Hoffnung ist trügerisch. Selbst wenn die soziale Revolution wirklich über die besiegten Länder hinaus greifen, selbst wenn sie auch Frankreich und Italien erfassen, auf dem ganzen europäischen Festland triumphieren sollte, selbst dann wäre der Kommunismus nicht gerettet. Denn alle wirtschaftliche Macht ist jetzt in den angelsächsischen Ländern, in England und Amerika, konzentriert; diese Länder allein verfügen über die Rohstoffe, über die Lebensmittel und über den Schiffsraum, die das ganze Festland braucht, und gerade in diesen Ländern fehlen die Voraussetzungen der Revolution. Die soziale Revolution der besiegten, der ohnmächtigen und abhängigen Länder scheitert unvermeidlich an der ungebrochenen Macht des Kapitals in den Ländern, die den Sieg errungen haben und die Welt beherrschen.

            Aber wenn die Diktatur des Proletariats in dem großen Prozeß der Weltrevolution nur eine vorübergehende Phase ist, so ist sie darum doch keine bedeutungslose Phase. Der Krieg hat die Gesellschaft mit ungeheuren Schulden belastet; über den realen Produktivkräften, die den Reichtum der Gesellschaft erzeugen, ist ein ungeheures Gebäude papierener Rechtstitel getürmt. Wo dieser Ueberbau so drückend geworden ist, daß er mit den gesetzlichen Mitteln der Demokratie nicht mehr abgetragen werden kann, dort wird der Bolschewismus unvermeidlich. Er vernichtet alle die papierenen Rechtstitel und zerreißt alle die papierenen Schuldverpflichtungen. Und wenn dann sein Herrschaftssystem wieder zusammenbricht, dann lebt nicht wieder auf, was er zerstört hat. Die Gesellschaft, von der Last jener unerträglichen Schuldverpflichtungen, die der Krieg ihr zurückgelassen hat, befreit, kann nach dem verheerenden und vernichtenden, aber auch reinigenden Sturme darangehen, ihr Wirtschaftsleben von neuem aufzubauen. Der Bolschewismus ist nicht imstande, die sozialistische Gesellschaft aufzubauen; aber wenn einem Lande unerträgliche Last aufgebürdet wird, die dem Wiederaufbau im Wege steht, dann kann er der eiserne Besen sein, der die Last hinwegfegt und dadurch den künftigen Wiederaufbau erst ermöglicht.

            Der Bolschewismus ist ein Nachfahre des Jakobinertums vor 1793. Als die Jakobiner die Macht eroberten, glaubten sie durch den Terror des Pariser arbeitenden Volkes eine ewige Gesellschaft der Freiheit und Gleichheit aufrichten und durch ihr Beispiel alle Länder zur Nachahmung zwingen zu können. Darin haben sie sich getäuscht. Die Jakobiner haben kein tausendjähriges Reich der Freiheit und Gleichheit aufzurichten vermocht, und ihr Beispiel ist von den anderen Ländern nicht nachgeahmt worden. Aber wenn die Jakobiner nicht das erreicht haben, was sie zu erreichen hofften, so hat ihre Herrschaft doch anderes erreicht, wovon nichts ahnten: ihre Schreckensherrschaft hat nach Marxens berühmten Worte mit eisernem Besen alle Ueberbleibsel der feudalen Gesellschaftsordnung hinweggefegt und dadurch die Basis geschaffen, auf der nach ihrem Sturze das neue kapitalistische Frankreich aufgebaut worden ist. So wird auch der Bolschewismus nicht das erreichen, was er zu erreichen wähnt; er wird nicht das tausendjährige Reich einer kommunistischen aufzubauen vermögen. Aber wo unerträgliches Kriegsergebnis und unerträgliche Friedensbedingungen der Gesellschaft ein Erbe hinterlassen, das sie zu erdrücken droht, dort wird seine vorübergehende Herrschaft dieses Erbe hinwegfegen, um den Boden zu reinigen, auf dem erst nach seinem Zusammenbruch in planmäßiger demokratischer Arbeit die neue soziale Ordnung wird aufgebaut werden können.

In: Arbeiter-Zeitung, 28.6.1919, S. 1f.

N.N.: Politischer „Reigen“

Wien, 11. Feber.

            Der Streit um Schnitzlers „Reigen“ hat zu einem ernstlichen Verfassungskonflikt geführt, der heute in einer stürmischen Sitzung des Nationalrates ausbrach. Die Geschichte des Konfliktes ist ganz einfach und durchsichtig. Die kleine Szenenreihe Schnitzlers, die den Liebesakt in seinen verschiedenen sozialen Verbrämungen darstellt, wird von der Dependence-Bühne des Deutschen Volkstheaters, dem Kleinen Kammerspielhaus in der Rothenturmstraße, seit Wochen gegeben, ohne daß irgendjemand daran Anstoß genommen hätte. Wien ist in seiner großen Mehrheit weiß Gott keine prüde Stadt. Denn gerade der Wiener Mensch weiß besser, als jeder andere, Sittlichkeit von Erotik zu scheiden. Der „Reigen“ hätte also ruhig weitergespielt und hundert Aufführungen erleben können, wenn nicht eines Tages die christlichsoziale „Reichspost“ gefunden haben würde, daß Schnitzlers Werk eine Schweinerei und aus Sittlichkeitsgründen zu verbieten sei. Den christlichensozialen Urhebern des Krakehls handelte sich übrigens bei ihrem Vorstoß nicht um die ästhetische oder ethische Seite der Frage; ihnen war es nur um eine Probe der Macht, um einen politischen Rekognoszierungsritt zu tun, und dazu schien Schnitzlers „Reigen“ allerdings das geeignete Objekt. Sie wollten mit dem oft angewendeten Sittlichkeitsrummel ausprobieren, wer der Stärkere in Wien ist, der sozialdemokratische Bürgermeister Reumann, der als Landeshauptmann von Wien den „Reigen“ gestattet hat, oder die christlichsoziale Demagogie, der es wieder danach gelüstet, sich als Herrin Wiens aufzuspielen. Rechtlich ist Reumanns Erlaubnis nicht umzustoßen, da er in seinem Kreise autonom, also auch unabhängig ist von Kabinetsbeschlüssen und Ministermeinungen. Dem Landeshauptmann untersteht auch die Wiener Polizei, die als letztes Organ die Theater zu überwachen hat. Die „Reichspost“ Krakehler haben nun so lange getrommelt, bis die christlichsoziale Regierung sich entschloß, zu der Sache Stellung zu nehmen. Natürlich wenn Herr Dr. Funder will, müssen christlichsoziale Minister parieren. In ihrer Mehrheit scheuten sie jedoch davor zurück, wegen eines Theaterstückes einen Konflikt heraufzubeschwören. Nur Herr Dr. Glanz, der Minister des Innern, ein wenig begabter aber sehr strebsamer Mann, klerikaler Einschlag, sprang für die Forderung der „Reichspost“ ein und versuchte über den Kopf Reumanns ein Verbot der „Reigen“-Aufführung durchzusetzen. Der Bürgermeister tat darauf, was ihm Gesetz und Gesinnung vorschrieb, er warf das Verbot des Ministers in den Papierkorb und ließ den „Reigen“ weiterspielen.

            Die Sozialdemokraten sehen in der ganzen Sache aber einen Vorstoß des monarchistischen Klüngels, dem, mag der Anlaß selbst noch so geringfügig sein, politisch dennoch volle Bedeutung zukommt. Die Christlichsozialen haben nach der heutigen stürmischen Sitzung im Parlamente mit einer Gewaltaktion gegen den „Reigen“ gedroht; darauf erhielten sie die Antwort, daß eine Störung nicht ohne Antwort bleiben würde. In letzter Stunde hat der Troß der „Reichspost“-Leute jedoch den Mut verloren. Der „Reigen“ wurde heute trotz des Verbotes des Dr. Glanz gegeben, und zwar ohne Störung und ohne Demonstration. Der Durchfall der Christlichsozialen wird nicht ohne heilsame Folgen bleiben.

In: Prager Tagblatt, 12.2.1921, S. 1-2.

Theresa Rie-Andro: Zwei Mädchen am Meer

Dies war das schönste: wenn Marghè im Badeanzug leichtfüßig die Treppen der Terrasse herunterstürmte, eine Klippe hinaufturnte und kopfüber ins Wasser sprang. Das schwarze Trikot umschloß sie wie der Panzer einer jungen Kriegerin, der weiße Gummihelm gab ihr etwas von einer Amazone und aus ihren Badeschuhen schienen Flügelchen zu wachsen, die ihr alle Schwere benahmen. Aber auch wenn sie umgekleidet zu Tisch erschien, war Marghè schön: dann lag ihr dunkles Haar auf klassische Art um den schmalen Kopf und ihre weißen Kleider flossen ganz von selbst zu milde bewegten Raffungen und Falten. Marghè, die eigentlich Margherita Bazzini hieß, war die Tochter einer vornehmen Florentinerin, die leidenschaftlich in der Bildhauerei dilettiert hatte, und eines römischen Malers. Ehe und Eintracht der Eltern gehörten der Vergangenheit an, aber in Marghè schien noch etwas von ihren Kunst- und Schönheitsträumen lebendig.

Wir waren ein Dutzend Menschen in diesen blauen Tagen an der Adria, und Marghè kümmerte sich um niemand sonderlich. Sie saß fast immer bei ihrer kränklichen Mutter, die ein feines, wissendes Gesicht hatte, und las ihr aus kunstgeschichtlichen Werken vor. Auch vorher, als hier noch alles von Jugend erfüllt war, sollte Marghè immer kühl und ablehnend gewesen sein. Das ging alles so, bis die Studenten kamen. Dann wurde es in dem kleinen Hotel mit einem Mal anders.

Sie kamen eines Abends, ein Bursch und ein Mädel, beide groß und schlank und so zwanzig Jahre alt – etwas abgekämpft vom Tragen ihrer Handköfferchen und mit sehr bestaubten Schuhen, denn sie hatten den Weg vom Bahnhof zu Fuß zurückgelegt. Herr Meyer, der gerade im Haustor stand, sagte: Nanu! Sie sind wohl auf der Hochzeitsreise?“ Das Mädchen zog den Jungen am Ärmel und flüsterte: „Du! Da bleiben wir nicht!“ Worauf der Bursch sie abschüttelte und brummte: „Sei nicht so albern, ja?“

Sie versuchten keineswegs, von der Wirtin, der sie ja ihre Pässe abliefern mußten, Diskretion zu erzwingen. Nein, sie gaben ganz offen zu, nicht im geringsten verheiratet zu sein. Er hieß Ernest und sie Ilse. Sie studierten an der gleichen Universität und hatten sich zusammengetan, um diese Adriafahrt zu unternehmen. Das erklärte der Junge so aufrichtig, daß selbst Herr Meyer „nichts bei“ finden konnte. Sie zogen ihre Geldbörsen und rechneten und waren selig, daß es auf zwei Mansardenzimmerchen mit voller Pension langte.

Nun hätte man denken sollen, daß es im Hotel endlose Bemerkungen über die unklaren Beziehungen der beiden gab; denn ob sie ein Liebespaar waren, blieb vielen zweifelhaft. Nie sah man sie in zärtlicher Umschlingung, sie schwammen, ruderten, segelten, kletterten miteinander, es war gar nichts „Schwüles“ um sie, wie Frau Meyer bemerkte, aber ihr Gatte sagte: „Das ist eben neue Sachlichkeit. Zwei so junge Menschen, ganz allein in Italien und obendrein unbeaufsichtigt im dritten Stock! Nee, mich macht man nicht dumm!“ Aber Meyers waren die einzigen, die Neugierde zeigten. Bei den anderen Ehepaaren riefen die beiden Sehnsucht, ja Rührung hervor. Da kam eine neue Jugend herauf, die leben durfte, wie sie wollte. Die Frauen seufzten – ihnen war eine solche Reise nicht zuteil geworden. Und auch die Männer, denen solche Liebesfahrten bekannter waren, wurden ein wenig wehmütig, wenn sie die schlanke rotbraune Ilse mit dem Hasengesichtchen ansahen; ihre Partnerinnen waren nicht so nett gewesen.

Alle waren freundlich zu den jungen Leuten, und jeder versuchte, ihnen etwas Nettes zu erweisen. Ilse taute auf dabei, die mehr Hemmungen zu überwinden gehabt hatte als ihr Kamerad. Nur eine wollte von den beiden nichts wissen: Marghè. Trotzdem es natürlich gewesen wäre, wenn ihre Jugend sich einmal zur Jugend der anderen gesellt hätte. Aber sie wandte den Kopf verächtlich weg, wenn sie dem Paar begegnete und vermied nach Kräften ein Zusammentreffen auf den Badeklippen. „Warum bist du so häßlich zu ihnen, Marghè?“ fragte die Mutter, als sie in ihren Liegestühlen auf der Veranda ruhten.

Marghè ließ den Band Burckhard sinken, aus dem sie in ihrem harten, aber klaren Deutsch vorgelesen hatte. „Mammina! Du möchtest, dass ich mit – solchen Gemeinschaft halte …!“

„In anderen Ländern ist es ganz anders als bei uns, Marghè, wo die Mädchen noch völlig in der Familie leben… Man muß sehen und verstehen. Ich wünschte, du wärst mehr wie andere junge Mädchen; du beurteilst alle Dinge des Herzens so hart!“

„Du möchtest vielleicht, daß ich auch so herumzöge?“ fragte Marghè schneidend.

„Da sei Gott vor! Nein, das muß schwer für Mütter sein. Auch für die von Ilse. Aber ich glaube ganz sicher, daß die nichts davon weiß. Denn neulich weinte das Mädchen vor Angst, weil sie eine kleine silberne Nadel verloren hatte, und ich dachte: Wenn diese Mutter schon wegen einer kleinen Silbernadel zankt… Verstehe mich recht, Marghè, du sollst nur nicht verurteilen, was du nicht kennst. Ach, Kind, ich habe soviel gesehen…“

Aber Marghè schien nicht wissen zu wollen, was die Mutter gesehen hatte. Sie nahm das Buch wieder auf und las in ihrem korrekten, etwas harten Deutsch von der Kultur der Renaissance.

Das Seltsame war, daß Ilse und Marghè einander ähnlich sahen. Nicht in der Nähe natürlich und nicht von Angesicht, denn Marghès Züge zeigten reinsten lateinischen Schnitt und hinter Ilses rötlich umbuschtem Hasengesichtlein stand in gottlob noch weiter Ferne die Häßlichkeit. Aber sie waren gleich hochbeinig und schlank, wenn Ilse auch ein wenig knabenhafter und eckiger schien, als die wundervoll fein modellierte Marghè. Sie trugen beiden die Badeuniform des Jahres, Trikot schwarz, Badehelm, Gürtel und Schuhe in Weiß, und sah man eine von ihnen kühn von den Klippen ins Meer sausen, so konnte es sein, daß man später sein Kompliment über diese sportlich prächtige Leistung an die falsche Adresse brachte: was Ilse Verlegenheit schuf, während Marghè verächtlich die Lippen kräuselte.

So ging die Woche herum, die den Studenten gehörte. Eines Abends bezahlten sie ihre Rechnung, denn am frühen Morgen sollten sie heim, und Ilse bekam bei dem Wort Tränen in die Augen, woraus man entnehmen konnte, daß „Heim“ für sie beide nicht das Gleiche war. Ernest ließ eine Flasche Asti Spumante kommen, und sie ratschlagten unter Assistenz der ganzen Terrasse, wie dieser letzte Abend, an dem der Vollmond so herrlich über dem Meere stand, besonders zu feiern sei. „Wir wollen schwimmen!“ entschied Ernest. „Hinaus in den Mondschein – Mond macht warm!“ sagte Ilse träumerisch. „Also hopp, spring hinauf und nimm dein Badezeug wieder aus dem Koffer!“ befahl Ernest. „Ich habe meines unter dem Anzug an. Vertrödle dich nicht, ich gehe jetzt noch ins Boot und hole dich in zehn Minuten an der Klippe ab!“

Das Meer war licht und perlmuttfarben, aber die Klippen lagen im tiefsten Schwarz; dennoch konnte Ernest im Dunkel den weißen Badehelm, die weißen Schuhe schimmern sehen. „Los, ins Wasser! Ich mache nur den Kahn fest und komme dir nach!“

Gehorsam sauste die schmale Gestalt mit prachtvollem Schwung ins Meer und tauchte gleich wieder auf. Ernest sprang ihr nach. Plötzlich hatte er ein sonderbares Gefühl: „Aber das ist doch nicht Ilse!“ „Du!“ rief er leise. Das Mädchen senkte den Kopf aufs Wasser und begann zu kraulen. Ernest war in ein paar Stößen an ihrer Seite. „Marghè!“ flüsterte er. Er hatte kaum je mit ihr gesprochen, nur gehört, daß man sie so rief.

Marghè war ganz nahe bei ihm und doch weltenweit getrennt durch kühles Element. Warum war es Marghè? Wozu setzte sie sich an Ilses Stelle? Sie waren jetzt im hellen Mondschein, alles war wie ein Zauber, fremd und doch bekannt; hatte er das in seiner Seele schon lange geträumt? „Marghè!“ rief er nochmals leise und wollte ihre Hand fassen, aber sie bog ab. Er begriff, daß es nicht größere Nähe gab, als die, in der sie schon waren.

Sie hatten das Tempo verlangsamt, zogen schweigend nebeneinander her, und vor ihnen war blasse, schimmernde Unendlichkeit. Nichts war zu hören als das leise Rauschen, mit dem sie die Wellen teilten. Man verlor das Gefühl für Zeit und Raum. Ernest wusste nicht, war sein Körper eins mit dem Meer geworden. Oder mit Marghè.  

Das Licht war nun bis ans Ufer gedrungen, und auf der Klippe stand Ilse allein. Sie hatte sich, wie immer, ein wenig vertrödelt, und nun glaubte sie zu träumen. War Hexerei in dieser Mondnacht möglich? Stand sie zugleich hier und schwamm weit draußen mit Ernest? Aber gleich erkannte sie die Wahrheit. Marghè, Kühlste aller Kühlen, hatte ihr heimtückisch dieses Erleben des letzten Abends gestohlen!

Sehr einfach, dachte Ilse wütend. Man geht ins Wasser und ihnen nach. Verbieten kann ich Marghè das Meer nicht, aber sie mir auch nicht. Indessen begriff sie sofort das Lächerlichste einer solchen Situation. Überdies sahen von der Hotelterrasse oben sicherlich Leute diesem nächtlichen Mondbad zu. Grotesk, wenn neben einem weißen Helm ein zweiter auftauchte, wenn die Lage offenbar würde!

Nun wandte sich Marghè dem Ufer zu und Ernest mit ihr. Sie schwiegen beide und ihr Schwimmen war lautlos, es war, als ob das wundervolle Wasser sie trüge oder der Mond. Das Meer war seidenglatt, sie zogen Furchen darin, schimmernd wie Platin.

Dann sprang Marghè ans Ufer und sah Ilse stehen. Beide Mädchen hielten sich gerade aufgerichtet und blickten einander an. Sie waren gleich groß, gleich schlank, fast gleich gekleidet, aber dennoch hätte man sie jetzt nicht verwechseln können. Wie Kämpfer hatten sie ihre Helme abgenommen, die sonst nur eben die Nasenspitze freigaben. Aus Marghès Gemmenantlitz und aus Ilses Hasengesichtlein blitzten entschlossene, kampflustige Augen. Zwei Mädchen standen hier, aber auch zwei Charaktere, zwei Nationen, zwei Weltanschauungen – was hatten sie sich zu sagen?

Doch in den großen Augenblicken des Lebens pflegt nicht gesprochen zu werden. Vielleicht bedrängten sie ihre Gedanken zu heftig, als daß sie ihnen Ausdruck verleihen konnten, vielleicht hatte keine von ihnen die Gabe des richtigen Wortes. So standen sie nur eine Weile und sahen sich an. Der schuldig-unschuldige Mann hielt sich hinter ihnen: entschieden verlegen, einen Ausbruch der beiden befürchtend und doch leise hoffend, wie auf ein prächtiges Naturschauspiel.

Endlich blickte Marghè von Ilse fort, die dastand, gehemmt und rechtlos, im Innersten empört und doch die Aussichtslosigkeit ihrer Lage begreifend. „Ich danke vielmals für den Ausflug!“ sagte Marghè in ihrem harten klaren Deutsch. „Ich wollte versuchen. Aber ich weiß jetzt: nicht für mich! Es tut mir leid, wenn ich gestört habe. Ich wünsche eine gute Reise!“ Sie sagte das nicht triumphierend, sondern sehr ernst und nachdenklich, beinahe traurig. Dann schwang sie sich von der Klippe zur Erde nieder, die im Dunkel lag, und verschwand.

Als sie den gleichen Felsen am nächsten Morgen wieder erklomm, um von hier mit einem Kopfsprung ihr tägliches Bad zu beginnen, waren die Studenten schon lange fort. Sie saßen in der Eisenbahn mit bestaubten Schuhen und recht abgemüdet vom Schleppen ihrer Handkoffer, die schwer waren von dem noch nicht recht getrockneten Badeanzug. Ernest war sehr nett zu Ilse, legte ihr seinen Rock auf die Holzbank unter und kaufte ihr grünrosige Fei-* Feigen auf der Station. Alles war wie sonst, und nichts schien geschehen. Aber dennoch wußte Ilse mit dem Hasengesichtlein, daß nicht nur die Reise, sondern auch mancherlei anderes dem Ende zutrieb.

In: Die Bühne, H. 380 (1934), S. 20f und S. 52.

Arthur Rundt (Newyork): „Hitch Hiking“

Hitch hiking ist: reisen in einem fremden Auto, aber mit Wissen seines Eigentümers. Oder genauer gesagt: reisen in vielen fremden Autos mit Wissen aller ihrer Eigentümer.

            Im alten Rom gab es das stumme Zeichen des aufwärts- und des abwärtszeigenden Daumens: „Pollice verso“ oder „Pollice presso“ gaben in der Arena die Zuschauer wortlos ihren Wunsch kund, daß der kämpfende und besiegte Sklave mit dem Leben davonkommen oder getötet werden sollte. In den Vereinigten Staaten stehen jetzt oft am Rande der Landstraße junge Burschen oder Mädels, halten den Daumen nicht nach oben und nicht nach unten, sondern seitlich weisend: nach links oder nach rechts.

            Das ist der Anfang vom Hitch hiking: am Straßenrand stehen und den vorüberfahrenden Autos mit dem Daumen die Richtung anzeigen, nach der man gern mitgenommen werden möchte. Und die Autos halten wirklich. Namentlich wenn das, was zu dem Daumen gehört, halbwegs vertrauenerweckend aussieht, und nehmen die Mädels und Burschen mit, so weit der Weg gemeinsam geht.

            Hitch hiking ist kein gelegentlicher Spaß, der sich etwa hier einer, dort eine macht. Nein: Zehntausende tun es, vielleicht Hunderttausende. Es ist eine bisher und anderwärts unbekannte Form des Reisens, jetzt zwischen dem Atlantischen und Stillen Ozean allgemein verbreitet und praktiziert.

            Sie wird über kurze Strecken geübt, von einer Stadt zur anderen, eine, zwei Stunden lang. Das ist eine Kleinigkeit. Aber sie tun’s auch, etwa als Ferienreise, durch den halben Kontinent, ein paar Wochen lang, immer ein Auto gegen das andere wechselnd, mit einem bestimmten Ziel vor sich. Wenn die Sommerferien beginnen, hört man sehr oft: Unser Junge ist fort, mit zwei Freunden dort und dort hin, hitchhikenderweise.

            Ich habe es anfangs nicht glauben wollen, daß es wirklich allgemeine Uebung ist. Da hat man mir einen Jungen gebracht, der eben das college absolviert hat, also einen Jungen von 22 Jahren. Man brachte gerade ihn, weil er unter den Kameraden Hitch-hiking-Matador ist. Es war in einer kleinen College-Stadt; der Junge hieß – nicht anders! – er hieß Leander.

            Ja, rapportierte er, es sei eine großartige Sache. Vor zwei Jahren sei er einmal vier Wochen weg gewesen, über Buffalo und die Niagarafälle bis nach Newyork. Und voriges Jahr war er im Mittelwesten, in Colorado, bei einem Onkel in Denver.

            Das eine sind zwanzig Expreßzugstunden, das andere mehr als doppelt so viel.

            Seine Mutter sitzt dabei, eine ruhige, stille Dame; der Vater leitet eine Elternberatungsstelle, steht also pädagogischen Dingen nicht sehr fern. Trotzdem finden die Eltern nichts dabei. Hitch hiking ist eine Zeiterscheinung.

            Viele Studenten, erzählt mir die Mutter, hitchhiken am Schluß des Semesters nach Hause und kommen am Ende der Ferien ebenso wieder zurück. Es dauert etwas länger, das ist wahr, aber es sei doch billiger als die Eisenbahn. Und überflüssiges Geld hat keiner von den Jungen.

            Ihr seid, wage ich gegen Leander auszusprechen, eine neue Form des alten Tramps, der doch auch oft die Gewohnheit hatte, sich mitnehmen zu lassen, sich zum Beispiel gern ins Gestänge eines Eisenbahnwagens hängte, wie in vielen Geschichten zu lesen ist.

            „Hitch hiking“, gibt Leander naserümpfend zurück, „is more respectable“. Es sei halt doch eine feinere Sache.

            Seitdem ich Leanders Bericht gehört habe, frage ich alle Jungen, die mir unterkommen, ob sie hitchhiken, und lasse mir ihre Geschichten erzählen. Jetzt weiß ich schon allerlei über den Ausbau der neuen Reiseform.

            Natürlich reisen die Jungen ohne Geld. Kritisch wird also jeden Abend die Frage des Nachtlagers in einer fremden Stadt. Konflikte mit der Polizei sind zwar gefürchtet, aber noch mehr fürchtet die Polizei, einen solchen Jungen fassen zu müssen. Es ist keine rechte Amtshandlung, macht nur Scherereien. Also hat sich der Usus herausgebildet, wenn es dunkel wird, im Gefängnis der Stadt anzuklopfen und um „Unterkunft“ zu bitten. Ohne Formalitäten, die Abreise finde am nächsten Morgen ganz zeitig statt. Und ein solcher Antrag wird selten abgelehnt.

            Auf meine neugierige Frage, wie oft – so ungefähr und durchschnittlich – im Laufe eines Tages das Auto gewechselt werde, habe ich nie befriedigende Auskunft bekommen. Das sei so verschieden. Und hänge natürlich vom Glück ab. Einmal erzählte mir ein Junge, er habe einen Wagen im Stich gelassen, mit dem er noch viele Meilen hätte reisen können. Warum? „Weil der Kerl mir zu langsam gefahren ist!“

            „Hiking“ heißt einen Ausflug machen, und „hitch hiking“ dem Ausflug die Form geben, daß man sich irgendwo anhängt. Also sind Subjekt des Ausflugsmachens und des Anhängens der Junge oder das Mädel am Straßenrand: von ihnen geht normalerweise die Anregung aus.

            Aber es gibt auch eine Abwandlung des Spieles. So nämlich, daß der Mann im Auto den Ausflug macht und den Wunsch hat, daß jemand sich an ihn anhänge. Dann ist das Objekt natürlich immer ein Mädel. Dann braucht es, das Mädel, keinen Daumen auszustrecken, nicht nach rechts und nicht nach links. So, in dieser Abwandlung, wird hitch hiking weniger draußen auf der Landstraße gespielt als in der Stadt und im nächsten Umkreis der Stadt. Und ist – das darf man wohl sagen – an manchen Orten recht beliebt.

            In einem Camp, in dem hundert Mädels, nur Mädels, ihre Ferien verbrachten, las ich eine Ordnungsvorschrift der Leiterin: hitch hiking sei erlabut, aber nur „from two girls up“ – wenn mindestens zwei Mädels zugleich ins fremde Auto steigen. Woraus geschlossen werden mag, das für einzelne junge Mädchen das Spiel – in beiden Formen! – nicht immer ungefährlich ist.

            Es stelle sich einmal in Deutschland ein Junge etwa an den Toren von Leipzig am Chausseerand und versuche, nach dem Beispiel amerikanischer Kameraden, nur nach Berlin zu gelangen. Es wird nicht gehen. Er wird scheitern. Woran? Am Mangel jener allgemeinen amerikanischen Gutartigkeit, die die psychologische Grundlage für die Verbreitung des hitch hiking ist.

In: Neue Freie Presse, 15.9.1928, S. 9.

Emil Reich: Die ungedruckte Zeitung

Die Radiotelephonie als Konkurrentin der Presse

            Vor wenigen Tagen waren es fünfundzwanzig Jahre, daß es zum erstenmal gelang, einen Buchstaben von einer Absendestation nach einer bloß wenige Meilen entfernten Empfangsstation ohne körperliche Verbindung zu übermitteln. Der 14. Mai 1897 war der Geburtstag des Funkspruches. Gerade jetzt leistet Shaw sich im dritten Akt seines neuen Dramas „Back to Methuselah“ eine Radiophantasie. Er läßt die Staatsmänner des britischen Weltreiches mit Hilfe eines Apparats konversieren, den man am besten ein Radio-Kino-Telephon nennen könnte. Der Premierminister Burge-Lubin kann sich sogar einen radioplatonischen Flirt mit einer Negerdame gestatten, die in einer Entfernung von zweihundert Meilen das Amt eines Ministers für Volksgesundheit versieht, und genießt das Vergnügen, durch eine unerwartete radio-kino-telephonische Verbindung die Angebetete in ihrem Schlafzimmer zu überraschen, in dem sie sich noch im tiefsten Negligee aufhält. Shaw glaubte, diese Entwicklung der Radiotelegraphie und Radiotelephonie erst für das Jahr 2170 prophezeien zu dürfen. Wir leben aber erst im Jahre 1922 und schon ist Shaws Phantasterei beinahe zur Wirklichkeit geworden. Ein Theatermann in Chicago hat eine Kombination zwischen dem Film und dem Radiotelephon erdacht. Zu einer bestimmten Stunde wird in mehreren Städten der Vereinigten Staaten in verschiedenen Lichtspieltheatern derselbe Film vorgeführt und in irgendeiner Radioabsendestation sprechen die Schauspieler, die bei der Herstellung des Films mitgewirkt haben, die Worte, die ihre Handlungen und Gesten auf der Leinwand begleiten. In zehn oder zwanzig Städten, in einigen hundert Kinos zugleich sehen und hören die Kinobesucher ihre Filmlieblinge.

            Ein knappes Vierteljahrhundert ist seit dem ersten Funkspruch verstrichen und schon muß von einer wahren Radiomanie in den Vereinigten Staaten von Nordamerika gesprochen werden. Jeder, der es bezahlen kann und von der Elektrizität genug weiß, um sich vor tödlichen Erschütterungen zu bewahren, vermag sich die Erlaubnis zu verschaffen, um eine radiotelephonische Absendestation einzurichten und in den Aether hineinzusprechen. Und jeder, der die Ausgabe von fünfzehn Dollar nicht spart, kann einen Empfangsapparat kaufen und ihn in seinem Schlafzimmer, auf seinem Automobil, in seinem Bureau, ja selbst in seiner Rocktasche montieren und aus der Luft abhören, was ihm zu hören beliebt. Schätzungsweise gibt es derzeit in den Vereinigten Staaten bereits 13.000 private Absendestationen und mindestens 600.000 Leute mit Empfangsapparaten, welche die Luft mit ihren Plaudereien für den Radiotelephondienst „unwegbar“ zu machen drohen. Diese Anarchie zwingt die Regierung zu Maßnahmen, und wenn man dem „Radio Digest“, einem funkelnagelneuen Blatt, das in Chicago erscheint, glauben darf, so wird für einen geordneten Radiotelephondienst in der Weise gesorgt werden, daß die Regierung den Privatverkehr nur bis zu einer bestimmten Wellenlänge zuläßt. Das Blatt „Radio Digest“ ist übrigens nicht das einzige Zeichen der Zeit. Die New-Yorker Abendblätter enthalten seit einiger Zeit eine Radiorubrik, in der technische Winke für Radioanfänger gegeben und den Fünfzehn-Dollar-Zuhörern das tägliche Programm, das der Aether bietet, mitgeteilt wird. Größere Absendestationen, die von Elektrizitätsgesellschaften zu Reklamezwecken betrieben werden, haben nämlich vollständige Programme zusammengestellt, die Orchesteraufführungen, Gesangvorträge, Reden von politischen Rednern und Predigern, Vorlesungen von Schauspielern und selbstverständlich auch Marktberichte und Schiffsnachrichten enthalten. Das Programm der Radiokorperation in New-York sieht zum Beispiel folgendermaßen aus: 11 Uhr vormittags Musik, Wetterbericht; 13 Uhr Musik, Marktbericht; 1 Uhr Musik; 2 Uhr Musik; 2 Uhr 5 Minuten Schiffsnachrichten; 3 Uhr Musik; 4 Uhr Musik; 7 Uhr Andersens Märchen, vorgelesen von Mr. Garton, der um 7 Uhr 25 Minuten einige Minuten zu den Eltern über Jugendbibliotheken und die Auswahl von Kinderbüchern spricht; 7 Uhr 30 Minuten Vorlesung des Kapitäns Frank Winch über indianische Tänze und das Leben in Wildwest; 8 Uhr bis 9 Uhr 30 Minuten Konzert; 9 Uhr 53 Minuten offizielles Zeitsignal und 10 Uhr Wettervoraussage.

            Den Spuren Nordamerikas folgt nun England. Postminister Kellaway hat im Unterhaus mitgeteilt, daß in acht Bezirken des Landes Stationen für drahtlose Telephonie errichtet werden sollen. Godfroy Isaaes, einer der Direktoren der Marconi-Company, erklärte, daß die gewöhnlichen Absendeapparate ungefähr sechs Pfund kosten und eine Tragweite von 25 bis 30 Meilen haben werden. Sie werden verkauft und nicht verpachtet werden. Die Apparate sind sehr einfach konstruiert und können im Eisenbahnzug oder im Automobil mitgenommen werden. Das Interessanteste an der Sache aber ist, daß die Marconi-Gesellschaft ihren Abonennten nicht bloß Darbietungen nach amerikanischem Muster gewähren will, sondern auch politische und lokale Neuigkeiten wie eine Zeitung. Nur Kurse und Marktberichte werden vorerst ausgeschlossen sein, weil nach den Verfügungen der Regierung die Arbeitsstunden des Personals außerhalb der Stunden des Geschäftslebens – von 5 Uhr nachmittags bis 11 Uhr nachts – fallen. Die Radiotelephonie schickt sich also an, den Zeitungen Konkurrenz zu machen. Es ist jedoch kaum anzunehmen, daß dieser Wettbewerb mit dem Sieg des drahtlosen Telephons enden wird. Die meisten Zeitungsleser haben ihr Leibblatt, aber selbst in diesem lesen sie nicht alles, was in ihm gedruckt ist, sondern jeder sucht den seiner Gedanken- und Geschmacksrichtung entsprechenden Inhalt heraus und überschlägt die übrigen Mitteilungen und Nachrichten. Auch sind die Bedürfnisse eines und desselben Lesers nicht an jedem Tage gleich. Heute interessiert ihn eine politische Debatte, weil er dem Gesellschafts- oder Geschäftskreis angehört, den das besprochene Thema betrifft, morgen jedoch hat er für die Politik nichts mehr übrig, aber er will über ein lokales oder Theaterereignis informiert sein, weil es sich um Bekannte oder einen von ihm sehr geschätzten Künstler handelt. Nur selten treten Ereignisse ein, welche die gesamte Bevölkerung ohne Unterschied der Gesellschaftsschichten und des Berufes interessieren. Und schließlich ist es ein besonderes Vergnügen, in einer oder mehreren Zeitugen zu blättern und das Auge über das Gedruckte hingleiten zu lassen.

            Dieser Psychologie des Zeitungslesers wird die Nachrichtenvermittlung durch das drahtlose Telephon nicht gerecht. Wer sich nur durch den Radioapparat über die Vorgänge in der Welt unterrichten lassen will, muß alles anhören, auch das, was ihn nicht interessiert. Er hört aber nicht bloß zu viel, sondern unter Umständen auch zu wenig, weil ja mitunter gerade Mitteilungen über Dinge fehlen, über die etwas zu erfahren er besonders erpicht ist. Er findet diese Neuigkeit vielleicht nicht in dem einen Blatt, sicher aber in einem anderen der vielen Zeitungen einer Großstadt, die er nur durchzublättern braucht. Und wenn er den Apparat zu spät einstellt und den Anfang einer hochinteressanten Nachricht oder den ganzen Bericht über einen wichtigen Vorfall versäumt? Ein Nachschlagen und ein Nachlesen gibt es nicht mehr. In entlegenen Orten, welche die Post nicht jeden Tag erreicht, wird der radiotelephonische Nachrichtendienst, der privaten Abonnenten direkt übermittelt wird, die Zeitung verdrängen können, aber in den Städten dürfte er kaum ein Konkurrent der Presse werden. Dort wird er sich darauf beschränken müssen, musikalische Aufführungen, Vorträge und etwa Wahlreden zu Gehör zu bringen, ohne daß die Zuhörer in den Konzertsaal oder in das Versammlungslokal gebeten werden müssen.

In: Neues Wiener Journal, 29.5.1922, S. 4-5.

Fritz Rosenfeld: Ernst Toller

Das hohe Drama der Gegenwart erhebt wie das jeder Sturmzeit mit vollem Recht Anspruch darauf, mehr zu sein wie Literatur. Georg Kaiser, der bedeutendste Dramatiker unter den Expressionisten, spricht (in seiner Vorrede zu Ywan Golls „Methusalem“) von einer Dramatat und prägt damit den bezeichnenden Ausbruch, der das Wesen unserer heutigen dramatischen Dichtung am schärfsten umreißt. Das moderne Drama will und muß aus innerer Notwendigkeit mehr sein als eine auf Buch oder Bühne eingeengte geistige Kombination. Es kann nicht daran Genüge finden, zu schildern, Probleme zu konstatieren, Themen zur Diskussion zu stellen. Es steht mitten drin im pulsenden Leben, darf daher nicht bei Kritik des Heute haltmachen, es muß Wegweiser in die Zukunft sein. Diese besonders dem Drama der Umsturzjahre, in denen Tollers Werke entstanden, eigene Tendenz erhebt über den ersten Teil aller Fortschrittsarbeit, das Niederreißen des Alten, den bedeutenderen schwereren zweiten, den Aufbau des Neuen. Es versteht sich von selbst, daß ein von derartigen Bestrebungen erfülltes Drama weder am Einzelfall haften bleiben, noch in erster Linie Formkunst sein kann. Die bewegenden Probleme der Zeit springen auf und verlangen gebieterisch noch Entfaltung. Primär ist der Stoff, sekundär die Formung. (Früher, und besonders in ruhigen, beschaulichen, ästhetisch formal gerichteten Epochen, sucht der Dichter den Stoff, um seine Gestaltungskraft zu erproben. Der Moderne hat den Stoff und sucht die Form, in die er ihn gießt, damit er, losgelöst von der eigenen Seele, die ihn aus tausend Erscheinungen der Umwelt sammelte, der Menschheit sichtbar werde.) Das heiße, explosive Erleben, in dem das Problem aufbrennt, heischt eine ebenso eruptive, elementare Form. Der Dichter kombiniert daher nicht mehr so sehr Einzelfälle, die gleichnishaft sein sollen, sondern läßt meist die kämpfenden Gewalten als solche, abstrakt, aufeinanderstoßen. Wo es sich nicht um eine zeit- und raumgebundene Einzelwirklichkeit, sondern um die letzten Fragen der Menschheit handelt, stellt sich die Abstraktion als naturnotwendig ein.

Diese Form der Erschöpfung eines Kunstwerks durch Abstrahierung konkreter Eigenerlebnisse gilt für die ersten Dramen Ernst Tollers. Ihre Entstehung ist eng mit dem Schicksal des Dichters verknüpft und ihr Problem in seiner ganzen Tiefe ohne Kenntnis des Lebensganges des Dichters kaum erfaßbar.

Ernst Toller wurde am 1. Dezember 1893 als Sohn eines Kaufmannes geboren, ging durch den militärischen geisttötenden Drill des preußischen Realgymnasiums und wird dann von Neugier und Unrast in die Welt hinausgetrieben, studiert in Frankreich, bis die Nachricht vom Kriegseinbruch ihn nach Deutschland zurückführt. Er meldet sich als Kriegsfreiwilliger, durchdrungen vom Bewußtsein der Pflicht, sein Leben und seine Kraft in den Dienst des Vaterlandes stellen zu müßen. Das bürgerlich-militärische Vaterlandsideal beherrscht ihn, wenn er auch durchaus in das Haßgeheul der chauvinistischen Tournaille nicht einstimmt. Und im Grauen des Waffenmordens, im Stöhnen der Niedergemetzelten, zwischen den Schreckbildern der Totengrippe an dem Stacheldrahtzäunen, unter den Aufschreien der geschändeten Kreatur, wächst ein neuer Mensch in Toller. Wie Schuppen fällt es von seinen Augen. Als er einen Leichenhaufen erblickt, eine schauerliche Verkrampfung französischer und deutscher Menschenopfer, da will sein Sinn nichts mehr wissen vom Waffen- und Nationalitätsunterschied, der Worten gebietet. Und er ist bis ins tiefste Gewissen erschüttert, er klagt sich in wilder Zerrissenheit als Mörder an, dessen Schuld niemals gesühnt werden kann. Als Kriegsbeschädigter kehrt er nach München zurück, ein anderer, als er zur Front furch: Ein „Rebell im Blut“. Aber die Erkenntnis der namenlosen Verbrechen, die an zahllosen Kriegsschauplätzen täglich und stündlich am Menschen geschehen, konnte sich selbst nicht genügen. Sie drängte nach Abhilfsversuchen. Die Jugend soll aufstehen, die revolutionäre Jugend allein kann dem Menschenschlachten Einhalt gebieten. Eine von utopisch-sozialistischen Ideen getragene Verschwörung wird beraten, von der deutschen revolutionären Jugend soll die Brücke zur revolutionären Jugend der „feindlichen Länder geschlagen werden. Schriften sollen verbreitet, Licht unter die im Dunkel irrende Menschheit gestrahlt werden. Aber die Schergen des deutschen Militarismus wittern die Empörung und sprengen das Häuflein selbstloser Idealisten auseinander. Toller flieht nach Berlin, wo er unter anderem mit Kurt Eisner Verbindungen anknüpft. Hier studiert er emsig, informiert sich über die Kriegsschuldfrage, erkennt das Verbrechen der Herrschenden an ihren betrogenen Untertanen. Hier wird ihm sein Weg klar, der ihn zum Proletariat führt. Anfang 1918 ist er wieder in München, nimmt am Munitionsarbeiterstreit teil und wird wegen „Landesverrats“ verhaftet. Im Militärgefängnis beginnt wieder die Arbeit an sich selbst. Der Revolutionär aus Gefühl wird revolutionärer Sozialist aus Erkenntnis. Und hier, im Kerker, entsteht sein erstes Drama, die „Wandlung“. Der Ausbruch der Revolution öffnet seine Zelle. Die Unabhängige Sozialistische Partei in München wählt ihn im März 1919 zum Vorsitzenden. Obwohl überzeugter Räterepublikaner, will er die Ausrufung der Diktatur des Proletariats verhindern, weil die Zeit dazu noch nicht reif ist. Als die Räteregierung aber eingesetzt ist und es nur mehr gilt, die revolutionären Errungenschaften zu bewahren, tritt er ihr bei. Seine Rolle war eine mäßigende, sein ganzes Streben ging dahin, Gewaltaten* zu verhüten, Todesurteile aufzuheben. Als die Revolution zusammenbrach, wurde er mit anderen vor das Münchner Standesgericht gestellt und Mitte Juli 1919 zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. Er sitzt seither im Kerker der Festung Niederschönfeld, der man nicht mit Unrecht den Namen einer „bayrischen Bastille“ gegeben hat. Die größten Geister Deutschlands haben an die Machthaber der Reaktion appelliert, es war vergebens. Wie sollten auch die Befehlshaber einer Mordbande, die Vertreter eines Systems, dem Handgranaten und Gummiknüttel die einzigen Argumente sind, Verständnis haben für das Martyrium eines Künstlers, den eine unmenschliche Hand fern von der Welt und seinen Brüdern in die trostlose Enge eines dumpfen, lichtarmen Kerkers verbannt. Die Mörder sozialistischer Führer gehen frei herum und werden durch Triumphbogen geehrt. Für den Dichter, dessen einziges „Verbrechen“ es ist, sich zur Sache der Arbeiterschaft bekannt zu haben, gibt es keine Erlösung. Sie wissen, was sie tun, die Hitler und Ludendorff. Der Dichter, Mensch und Künstler schert sie nicht. Den Führer wollen sie der Waffe rauben, den Mann, dessen machtvolles Wort Ansporn und Aufruf ist. Sie lassen ihn nur durch das Buch in seine Mitwelt wirken – und auch das nur unter ihrer Kontrolle, ihrer Zensur. Nicht eine Zeile des gesamten Kunstwerts Ernst Tollers ist außerhalb des Kerkers niedergeschrieben. Das wird, wenn die Schmutzwelle der Reaktion verebbt sein wird, die Kerkermeister Ernst Tollers richten, die idiotischen Krautjunker, denen die berühmtesten Dichter Deutschlands nicht einen Tag abringen konnten, an dem es Toller ermöglicht wäre, einer Aufführung eines seiner Dramen beizuwohnen. Was wissen, was ahnen sie von der Qual eines Künstlers, dessen Nächte von Geschichten erfüllt sind und der die Fleischwerdung seines Traumes nicht erleben darf, weil die Rotte hirn- und herzloser, stumpfsinniger Büttel der Großindustrie seinen Kerker nicht für ein paar Stunden öffnen will. So bleibt ihm nur das Schaffen, der unermüdliche Aufruf seiner Brüder. Rastlos ist er am Werk, sendet Buch um Buch in die Welt, um den Muttergrund aufzuackern, auf den dereinst das Saatkorn der befreienden Tat fallen soll.

Millionen Menschen haben in ihrer Seele den Umschwung vom patriotischen Hochgefühl, von Nationalhaß und Kriegsbegeisterung zur Erkenntnis des Kriegsverbrechens, zur übernationalen Menschenliebe und zum Pazifismus durchgemacht. Ernst Toller, der diese Umkehr der verirrten und verführten Bestie zum Menschen intensiver erlebte als je einer, konnte sie formen, prägnanter und deutlicher als die anderen Dichter. Er mußte, wollte er die „Wandlung“ zeigen, die sich in Millionen Menschenherzen vollzog, nur an Stelle der konkreten Gegenkräfte, mit denen er rang, das letzte nackte Wesen, das Abstrakte, setzen. Wie der Dichter nur einer unter Millionen ist, die überwältigt und durchwühlt ein Gleiches erleben, so ist auch der Held sein einmaliger Mensch, nur Träger Wandlung. Er darf deshalb in Variationen auftreten, wie die Unzähligen verschiedene Gestalt hatten, an denen die gleiche Wandlung geschah. Kein Einzelfall rollt ab, gewaltiges, stürmendes Zeitgeschehen erfüllt das Drama. Daher der hinreißende Pulsschlag, daher die weiten Horizonte. Ein Wortspiel, das in seiner grausigen Genialität einzig dasteht, umreißt die seelische Grundlage, auf der das Problem wächst und zeigt die Gewalten, deren Überwindung Inhalt des Dramas ist. Das Drama selbst ist ein Wechsel von realen und überrealen Szenen, von Szenen, die zwischen dem Helden und anderen Menschen, und traumferne Geschichte, die in der Seele des Helden selbst spielen. Mit kühnem Griff ist das Wesen des Problems zu höchster Deutlichkeit erhoben. Die Wandlung vom verlogenen Ideal der Vaterlandsliebe zu dem reinen der Menschlichkeitsliebe ist ja kein Konflikt zwischen zwei, sondern in einem Menschen. Der Held ist nicht so sehr Kämpfer wie Schauplatz des Kampfes. Die in ihm ringenden Mächte, das absterbende bürgerliche Nationalgefühl und das fliegende proletarisch-revolutionäre internationale Menschheitsgefühl, müssen nach außen projiziert und in Gestalten aus der Umwelt, die nur Verkleidungen des Abstrakten sind, verkörpert werden. So ist das Drama mit seinen Geschehnissen zwischen verschiedenen Personen nur der Spiegel der unerklärt gewaltigen Ereignisse in der Seele eines Menschen, des Menschen schlechthin, der, aus dem Irrsinnstaumel des Weltblutbades mit schaudernden Sinnen erwacht, die Statue des „siegreichen Vaterlandes“, die er schaffen wollte, zertrümmert (wie kristallklar und eindrucksstark ist dieses Symbol) und die Welt nun mit anderen Augen betrachtet. Er hatte sehen müssen, wie wahnsinnig die Lebenskraft der Menschheit im Kampf gegeneinander vergeudet wird, statt daß sie im Kampf für- und miteinander nutzbringend, mühebringend und schmerzlindernd wirkte. Er hatte erkannt, daß über dem Vaterland die Menschheit steht, und er hatte, Ernst Toller, der Dichter, Friedrich, der Held der „Wandlung“, den größten Teil der Menschlichkeit, das Proletariat, von falschen Schlagworten verführt, vom Gift des Militarismus planmäßig durch eine habgierige Bourgeoisie verscheucht, und von eben derselben Bourgeoisie, die die Arbeiterschaft so freigiebig mit „Idealen“ belieferte, wirtschaftlich, geknechtet gefunden. Nationalhaß wird Klassenhaß, Nationalliebe Klassenliebe. Aber der Mensch, der in unsagbarem, inneren Zerrissensein diese Wandlung erfuhr, darf nicht schweigen, nicht die neue Erkenntnis für sich behalten, er muß unter die Brüder hinausgehen und die Botschaft verkünden, die große Botschaft von der Rückkehr zum Menschen. In grandioser Steigerung baut Toller im letzten Bild der „Wandlung“ diese Rede auf, dieses Manifest an die Menschheit, endlich den Schutt von Unlust und Gram, Verbitterung, Elend, Haß und Neid, die den Geist ersticken, wegzuschaufeln, den Geist, den geschändeten unter Kommissstiefeln zertretenen und von Offiziersschranzen verhöhnten Geist zu befreien. In seinem Zeichen soll der Kampf gegen die Unterdrücker beginnen, das Ringen ums Licht, die Abschüttelung des Vampirs Kapital. Romain Rolland hat in seinem „Clerambalt“ dieselbe Wandlung gestaltet, aber mit tragischem Ausgang, weil dem großen französischen Dichter mit seinem schärferen Zukunftsbild die Dinge nicht so zuversichtlich erschienen, wie dem jungen Toller, der in diesem, dem aufwühlendsten Werk der Revolutionszeit nicht nur eine befreiende Beichte ablegte, sondern ekstatisch zukunftssicher ein neues Evangelium der zerrütteten, zermalmten, nach Erlösung lechzenden Menschheit verkündete.

Im Zeichen des Geistes sollte die Erhebung gegen Kapital und seinen Trabanten Militarismus geschehen – die Revolution kam, und ging nicht ohne Blutvergießen, ohne Menschenmord ab. Toller selbst steht in ihrem Zentrum. Wirklichkeit und früheres Phantasiebild wollen nicht übereinstimmen. Bei dem Gegensatz zwischen der Notwendigkeit des Augenblicks, der Blut forderte, und der utopisch-pazifistischen Erneuerungsabsicht von ehedem wächst ein Konflikt, der Tollers Seele tief durchwühlt. Revolution und Evolution stehen gegeneinander. Ohne Gewalt und ohne Wort sollte der Aufstieg des Proletariats erfolgen. Jetzt ballen sich ringsum Gefahren, denen man nur mit der blanken Waffe begegnen kann. Wild, zerstörend mag dieses Ringen im Dichter gewesen sein. Als die Revolution verflammt, der Befreiungsversuch niedergeschlagen und der Dichter eingekerkert war, beherrscht ihn dieses Problem so stark, daß er es zweimal formt, in der „Waffe Mensch“, in den „Maschinenstürmern“. „Waffe Mensch“, dem Stil nach der „Wandlung“ sehr ähnlich, Traumszenen und Realität vermengend, gestaltet die Tragödie des Individuums, des geistigen idealistischen Menschen, der im reinen Streben, der gefesselten Arbeiterschaft zu helfen, einen Streit anzettelt, die Erhebung vorbereitet und schürt, aber in dem Augenblick, da die Empörung Blut fordert, Einhalt gebietet und nun von der vorwärtsstürmenden Waffe als Hindernis empfunden wird. Der Befreiungsversuch des einzelnen, hier eines Intellektuellen, hat die Lawine ins Rollen gebracht, die nun unaufhaltsam niederbricht und die Ursache des Ausbruchs angestauter Kräfte, den einzelnen,  unter sich begräbt, einfach, weil er im Wege steht. Aus dem Streit wird Aufruhr, aus dem gütlichen Begehren nach Wohlfahrt für alle wird Kampf mit blutiger Waffe. Hier muß der Einzelmensch sich der losgeketteten Urmacht entgegenwerfen. Als Anstifterin des Aufstandes verhaftet, könnte die Intellektuelle von der Waffe befreit werden, sie lehnt es aber ab. Denn auch sie hat eine Wandlung durchgemacht. Sie hat erkannt, daß das noch so edle utopische Streben des einzelnen die Waffe nicht zur Befreiung führen kann. Auch die Waffe findet hier ihr Golgatha, erlebt ihre Tragödie; überwältigt vom Erlebnis „Revolution“, fortgerissen und gebannt von den Gewalten, die aus ihr brechen, tötet sie die, die ihr Gutes wollten. Da die Wut, die Brandung der Empörung abgeflaut ist, erkennt die Waffe, im „Namenlosen“ personifiziert, das sittlich-hohe Wollen des Individuums, das sich Blut und Waffen widersetzte, weil das die Machtmittel eben jener Gesellschaftsordnung sind, die überwunden werden soll. In dem Ausspruch des Namenlosen: „Du lebst zu früh“, liegt die Perspektive auf die Lösung des Problems, auf die Zeit, in der der Aufstieg des Proletariats ohne Bajonett und Kanone aus Furcht der Entwicklung sich ereignen wird.

Hier ist die Tragödie der Waffe und die des Individuums im unmittelbaren Eindruck der Revolution als Ringen der Prinzipien, als Aufeinanderrasen der abstrakten Kräfte geformt, wieder in Abwehr vor allem Gebunden und Einmaligen, wieder im Aufstieg ins Zeit- und Raumlose. Der Mikrokosmus des Dramas ist nichts als eine Sichtbarwerdung seelischer Vorgänge, die sich abertausendmal abgespielt haben mögen.

In den „Maschinenstürmern“ ist das Problem Revolution-Evolution im Gewand des Ludditenaufstandes aus dem England des Jahres 1815 nochmals gestaltet. Die Linienführung ist hier die denkbar einfachste, alles Phantastische ausgeschaltet, so daß sich ein Monumentalaufbau ergibt, der von der ersten bis zur letzten Szene das Interesse bei sorgfältiger Verteilung der Spannungselemente in ansteigender Richtung erhält. Ungeheuer deutlich die Explosion, die Sitzung im englischen Oberhaus. Die durch Aufkommen mechanischer Webstühle verschlechterte Lage der Arbeiterschaft ist Gegenstand der Debatte, in der die Weltanschauung der Parteien scharf gekennzeichnet wird. Das heuchlerische, egoistische, „Die Armut ist ein gottgewolltes, ewiges Gesetz“ des Geldsacks und der Ruf des einzigen Arbeiterfreundes, Lord Byrons: „Natur will, daß alle leben“. In knappen Bildern wird die furchtbare Lage der Arbeiterschaft erschütternd geschildert, ein Märchen vom „Immerelend“ und „Sorgenlos“ hält die sozialen Gegensätze mit elementarer Prägnanz fest. Die zwei Prinzipien gewaltsamer Selbsthilfe und langsamen Reifens geraten aneinander, der Apostel, der, weiterbildend als die im Ausbruch der Erbitterung erblindete Waffe, die Erlösung nicht im gewaltsamen Umsturz, sondern im Zusammenschluß der Werktätigen aller Länder sieht, wird überhöht und erschlagen. Die Gewalt triumphiert, aber ihr Erfolg ist Blendwerk, ist Erfüllung für den Augenblick. Denn es ist nur die eine Maschine zerstört, und nicht das System gebrochen. Im Rasen der Empörung den großen Zusammenhang vergessen und in der vorübergehenden Lösung eines örtlichen Konfliktes Genüge finden, das ist die Tragödie der Waffe, die Tragödie der Revolution.

Wie Rolland in der gigantischen Sinfonie seines Werkes ein heiteres Intermezzo einfügt, dein „Meister“, so unterbricht Toller die Reihe der Zeittragödien durch ein galantes Puppenspiel, die „Rache des verhöhnten Liebhabers“, in dem er eine Novelle Bandellos dramatisiert hat, eine derb-fröhliche Geschichte vom geprellten Ehemann, der selbst mitlacht, weil er einen anderen für den Betrogenen hält. Aber des Dichters Sinn will nicht bei Scherz und Liebesgetändel verweilen. Aus dem Venedig des sechzehnten Jahrhunderts eilt er zurück in unsere Schreckenszeit und schafft im „Hinkemann“ die düsterste, verbittertste und erschütterndste Tragödie der letzten Jahre. Es ist die Lebenstragödie des Kriegskrüppels, das Martyrium des Menschen, der für Gott, Kaiser und Vaterland ins Feld gejagt wurde, entmannt zurückkehrt und nun, neben der Qual im Verhältnis zu seinem jungen, lebenslustigen Weib noch den brutalen Sohn einer völlig entmenschten Umwelt erleben muß. Diese Kriegskrüppeltragödie, deren Tragik nicht darin liegt, daß ein Mensch zugrunde geht, sondern wie er zugrunde geht, ist aber nur der Anlaß, das scheußliche Antlitz unserer Zeit zu enthüllen, die Geilheit und Unmenschlichkeit einer Epoche darzustellen, die aus dem Delirium des Weltkrieges nichts gelernt hat, auf dem Blutweg weitereilt und zum Gipfel menschlicher Brutalität gelangt: die „unter Gelächter mordet“. Im höllischen Taumel dieser Dämonen ist der Mensch, der eine Seele sein eigen nennt, zum Leid verdammt; leben kann nur, wer der Vernichtung von Gefühl und Gewissen, die unsere Zeit systematisch vornimmt, seinen Widerstand entgegensetzt. Hinkemann, die „elementarische Seele“, muß in dieser Welt des Schreckens und Gelächters verderben, weil man ihm die Kraft zum Ideal geraubt hat, und „wer keine Kraft zum Traum hat, hat keine Kraft zum Leben“. Hier ist wohl der letzte und stärkste Ausdruck für das Wesen unserer Zeit gefunden. Nicht mehr zwei Willen stoßen aufeinander, sondern zwei Existenzen. Gut und Böse, Ohnmacht und Brutalität, Mensch und Bestie stehen einander gegenüber. Darum leidet der Held nur, darum handelt er nicht. Sein Dasein in dieser Welt bedingt schon seine Tragödie. Jede Auflehnung würde die Katastrophe beschleunigen, statt sie zu verhindern. Dieses Drama ist von so plastischer Deutlichkeit, daß jeder Mensch Sinnbild wird, jeder Satz Allgemeingültigkeit erhält. Es wächst so weit über die Gattung „Drama“, daß es den ganzen grasen Inhalt einer scheußlich grausen Zeit restlos zu fassen vermag. Wenn je Kunst das Gewissen der Menschheit war, so ist es hier.

Tollers Dramen sind ein Abbild der Bewußtseinswandlung seit 1918, der großen seelischen Vorgänge. Im ersten Stück der ekstatische Pazifismus, die schwärmerische Allmenschenliebe und der Hymnus auf die rote Zukunft. In den folgenden beiden der Revolutionsskeptizismus, Ernüchterung, ja Enttäuschung. Im „Hinkemann“ die letzte Vernichtung des Menschentums, das 1919 so herrlich aufflammte. Hier aber werden die Gewalten schon zu Höllenfratzen, hier sind sie Ungetüme, deren Scheußlichkeit nicht mehr von dieser Welt zu sein scheint. „Hinkemann“ hielt dem Deutschland der Nachkriegszeit den Spiegel vor und ist ein Trauerspiel. Die letzte Abrechnung  mit dem geblähten neumilitaristischen, nationalistischen Deutschland, „Der entfesselte Wotan“ ist eine Komödie. Ein Werk, das die Gestalten abzeichnet, die heute auf der politischen Bühne Deutschlands agieren, muß zur Posse werden. Ernst zu nehmen sind ja die völkischen Maulhelden nicht, die Phrasenjongleure, deren Reden von Kriegsbegeisterung überließen und die beim ersten Schuß auf den Bauch fallen und sich angstschlotternd tot stellen. Es ist nötig, den Hausierern mit abgebrauchten Lügenidealen ihre Erbärmlichkeit und Lächerlichkeit zu beweisen. Aber diese Auseinandersetzung kann nicht tragisch enden. Tragisch wurde der Welt eine Gestalt wie Wilhelm der Letzte, dessen Lieblingsgebärde durch dieses Stück geistert; er hatte die Macht, er wußte was er wollte, er war gefährlich. Die Wortführer von heute, die ihn kopieren, sind lächerlich, weil ihre Gewalt ein Phantasiegebilde ist, wie die brasilianische Farm in Tollers Komödie. In einer anspruchslosen, aber geistreichen Handlung wird nun hier das nationalistische Deutschland von heute verspottet. Mit Sternheimscher Schärfe sind die Gestalten gezeichnet, die schnoddrigen, selbstgefälligen, beschränkten, sensationslüsternen, geldgierigen Bierbankspießer, die abgetakelten Generale, die in teutschen Idealen machen, der schwammige Merkantilgeist, das Krämertum, die ach so gefühlstiefen himmelblauen adeligen Fräuleins. Um ein Hirngespinst, ein Gut in Brasilien, dreht sich die Bosse, um ein großzügiges Unternehmen, dessen Anbeginn und Ende die Ausplünderung dummer, den Schlagworten aufsitzender Philister ist. Als alles zusammenkracht und der Schwindler Wotan ins Gefängnis muß, wird ihm versichert, daß ihm nichts geschehen wird. Treuteutsche Richter werden dem [recte: den] treuteutschen Mann nicht unsanft behandeln. Er wird, wie Wilhelm der Wahnsinnige, seine Memoiren schreiben, ein unverstandener Erlöser, er hat noch eine Mission, sein Volk aufzurufen, und dieses Volk hat die Mission, Europa, ja die Welt zu retten, denn es ist der einzige berufene Schützer der Kultur, der Menschlichkeit, der Zivilisation. Es hat sich ja nie, niemals an seinen Dichtern vergangen und nie aus dem Leben reiner, unschuldiger Menschen mit teuflischer Faust fünf Jahre einfach weggestrichen.

Wenn auch Ernst Toller vor allem Dramatiker ist, darf man den Lyriker Toller nicht vergessen. Seine Dramen haben dieselbe Rhythmik und Melodie wie seine Gedichte, die knappe, markige Sprache, die Prägung des Ausdrucks, und die Chorwerke Tollers, der Karl Liebknecht geweihte „Tag des Proletariats“ und das „Requiem den gemordeten Brüdern“, das dem Andenken Gustav Landbauers gewidmet ist, sind ja ein Mittelding zwischen Lyrik und Drama, sie haben den Empfindungsüberschwang des lyrischen Gedichts, in Dialog und Waffengespräch ausgelöst, in Explosionen gegeneinandergestellt. Der Sonettenband „Gedichte der Gefangenen“ zeigt in ergreifender Einfachheit die Stimmung Tollers in der Kerkerzeit, die bohrenden Gefühle der Einsamkeit während draußen ein ungestümes Leben vorwärtseilt, in dem der der* Dichter einen Platz auszufüllen hätte. Es stehen hier ein paar Gedichte, die nicht nur zum Größten zählen, was Toller schuf, sondern zum Reinsten, Tiefsten und Erhabensten der modernen Lyrik überhaupt. Tollers letzte Veröffentlichung ist das „Schwalbenbuch“, eine Reihe von Gedichten, die ihm übersommern einen Schwalbenpaares in seiner Zelle eingab. Wer nur wenig empfänglich ist für die Melodie des Mitleids, muß durch diese volkliedhaft-schlichten Gesänge eines Einsamen und doch unermeßlich Reichen, bis in die tiefste Seele durchwühlt werden.

Was uns den gefangenen Dichter so nahebringt, was uns so eng mit ihm verknüpft, ist, daß seine Probleme Probleme der Waffe, Zeithemen, Gegenwartsfragen sind, daß er die ästhetisierenden Tüfteleien und die komplizierte Psychologie angeblich bedeutender Einzelfälle meidet. Seine Welt ist die proletarische Welt, ist die Welt der Waffe. Darum muß er mit anderen Maßstäben gemessen werden, mit neuen Maßstäben. Die bürgerliche Kritik hat an ihm manches auszusetzen, sie kommt mit formal-ästhetischen Gesichtspunkten und stellt die alten Parallelen auf. Gewiß, so mancher Dichter hat auf Toller starken Einfluß genommen. Vor allem Büchner, dessen „Dantons Tod“ dem Problem der „Waffe Mensch“ nahesteht und dessen „Woyzek“ im “Hinkemann“ starke Spuren hinterlassen hat. Aber was beweist es gegen Toller, daß in den „Maschinenstürmern“ die Betrunkenenszene und das Märchen an „Woyczek“* erinnert? Was ist alle Formkunst gegen den Inhalt, gegen das Leben, das hier pulst, und das unser Leben ist! Sie, die ihn einkerkern, können ihn auch nicht verstehen. Aber weder durch gehässige Kritik noch durch körperliche Fessel können sie ihn töten. Sie könnten ihn uns rauben, konnten ihn fünf Jahre von uns trennen. Die fünf Jahre sind um. Wir grüßen ihn, Ernst Toller, unseren Dichter!

Die Werke Ernst Tollers: „Die Wandlung“, „Waffe Mensch“, „Hinkemann“, „Der entfesselte Wotan“, „Das Schwalbenbuch“ (Verlag Gustav Kiepenheuer, Potsdam), „Die Maschinenstürmer“ (Verlag E. P. Tal, Wien,) „Gedichte der Gefangenen“ (Kurt Wolffs-Verlag, München), „Die Rache des verhöhnten Liebhabers“ (Paul Cassirer-Verlag, Berlin,) „Der Tag des Proletariats“ und „Requiem den gemordeten Brüdern“ (Verlagsgesellschaft „Freiheit“, Berlin).

In: Der Kampf 17 (1924), H. 7, S. 293-297.

Robert Neumann: Zum Problem der Reportage

Jede Zeit krankt an einer besonderen Art von Maßlosigkeit. War es vorgestern noch ein Überschuß an Formdrang, dem nicht genügend neuen Stoffgehaltes sich darbot – unsere heutige, unsere besondere Maßlosigkeit liegt im Stoff, der in seinem Überquellen nicht mehr gefasst und geformt werden kann. Niemals drang eine solch beklemmende Fülle rein stofflichen Geschehens rufend, winkend, // fordernd, gestikulierend, hämmernd mit Hämmern auf den einzelnen ein. Das tragisch groteske Megaphon dieser Stofflichkeit ist die Zeitung. Der sie macht, ist nicht Diener am Wort und nicht Diener am Geist – er ist Diener am Stoff.

Es geht also um das Problem der Stoff-Jagd. Wo das noch mit Telegraph, Telephon geschieht, wo die Nachricht durch Technik entmenschlicht und vervielfältigt wird, wo sie schon nicht mehr blutet, sondern schon Präparat ist, Sache = Sache, die man gewissermaßen in die Hand zu nehmen, zu schneiden, zu appretieren vermag, ist sie vergleichsweise schon gefahrlos geworden. Aber der, der die Zeitung macht, gibt sich mit dem Stoff nicht zufrieden, der auch einem andern Zeitungsmacher in gleicher Form auf den Schreibtisch fliegt. Und der, für den die Zeitung gemacht wird, der Tänzer, für den getanzt wird, der Treibende, für den sie es treiben, er, der den Stoff frisst, bis er von ihm gefressen wird: der Leser also gibt sich nicht zufrieden mit dem leergebluteten Stoff-Präparat. Hört er von einem Bergwerksunglück in Yorkshire – die Ziffer der Erschlagenen genügt ihm nicht mehr. Zucken muß er sie sehen. Und der ausgeschickt wird, diese Zuckungen zu belauschen, ist der Reporter.

Reportage ist also ein Sachbericht, der – umgekehrter Weg wie beim Kunstwerk – im Typischen das Besondere, im Eisenbahnunfall das Besondere d i e s e s Eisenbahnunfalls, das Speziale, das Einmalige sucht und darstellt. (Ihr publizistischer Gegenpol ist die ‚Schmucknotiz’, das Entrefilet, das bemüht ist, den einmaligen Vorgang zu verwischen, zu typisieren, ihn gewissermaßen zu paraphrasieren mit Weltanschauung.)

Nun aber: wenn früher gesagt wurde, die Reportage spüre der Sache nach, so ist das in einer tieferen Schicht nicht mehr richtig. Die Sache darzustellen, ist Sache des Kunstwerks (und war es immer trotz „neuer Sachlichkeit“). Sein Mittel ist das Bildhaft-Bedeutende, das Sinn-Bild, sein Weg ist Eklexis, Auswahl des Wesentlichen. Anders die Reportage. Sie operiert nicht eklektisch, ihr fällt kein Detail unter den Tisch – und so stößt sie zum Sach-Kern zunächst nicht durch. Sie rafft an Stofflichem auf, was am Wege liegt, Materie, Material, Tatsachen mit einem Wort, wie man ja ganz allgemein die Tatsache// als Surrogat der Sache bezeichnen könnte. Dem Reporter wie dem Reportagenleser setzt sich Sachlichkeitsfanatismus alsbald um in Tatsachenhunger. Und so erfährt man schließlich von Napoleon erst in zweiter Linie, daß er die Schlacht bei Waterloo geschlagen hat, und in erster, was er an jenem Tage zum Frühstück zu sich nahm.

Das sei hieher gesetzt, ohne daß damit eine Wertung verbunden wäre. Reportage ist also etwas Wesensanderes als Kunstproduktion – und muß es sein. Was wir vom Tatsachenbericht verlangen, ist nicht Welt, geläutert durch das Filter einer Persönlichkeit, sondern so etwas wie eine geschriebene Menschen-Landkarte. Und eine Landkarte schätzen wir um so höher, je mehr Details in ihr verzeichnet sind. Eine, die, den Grundtypus, die ‚große Linie‘ des Amazonas herauszuarbeiten, seine Nebenflüsse unterschlüge, fände nicht unseren Beifall.

Es geht also um eine Sachlichkeit in sehr oberflächlicher Schicht. Und wie die systematische Logik lehrt, daß der Abstraktionsakt der Begriffsbildung ersetzt werden kann durch eine enumeratio, eine planvolle und vollständige Aufzählung, so nähert sich die Reportage der Sach-Erfassung um so erfolgreicher, je mehr sie uns ‚aufzählt‘. Das wird in dem Maße gelingen, als Impressionismus, Subjektivismus, mit einem Wort: die Person des Berichtenden eliminiert werden kann. Damit umschreibt sich Sinn und Kern der Reportage als: unpersönlicher Tatsachenbericht von einem Sonderfall.

In: Die Literatur. Monatsschrift für Literaturfreunde. Begründet von Dr. Josef Ettinger. Hg. von Dr. Ernst Heilborn. 30. Jg. Okt. 1927-Okt. 1928, Stuttgart-Berlin, DVA, S. 3-6.

Emil Reich : Die Revolutionäre des russischen Theaters

Aus einer Unterredung mit dem Bevollmächtigten der Moskauer Schauspieler Iwan Nikolajewitsch Bersenow.

Der Bolschewismus hat das Aussehen Rußlands vollkommen verändert. Er hat das Unterste zu oberst gelehrt, er hat manche Erscheinungsformen des menschlichen Daseins vernichtet, andere so gewandelt, daß sie nicht wieder zu erkennen sind. Aber eine Säule ragt heute noch ungebrochen und selbst ohne den mindesten Sprung weit über das Trümmerfeld hinaus: die wahre, echte Kunst, zu der Stanislawski und Nemirowitsch-Dantschenko auf dem Boden Moskaus den Grund gelegt und, mit nie ermüdender leidenschaftlicher Hingebung weiterbauend, diese bis zur Höhe einer stolzen Siegessäule emporgehoben haben. Wer hier in Wien die künstlerischen Leistungen der Truppe des Moskauer Künstlertheaters sieht, wer hier mit den Mitgliedern dieser Schar spricht, deren helle Begeisterung für die Sache, der sie ihr Leben geweiht haben, jedem ihrer Worte Schwung verleiht, der muß die Gewißheit mitnehmen, daß diese Kunst auch nicht durch die wildesten politischen Stürme und ebensowenig durch den härtesten wirtschaftlichen Druck zu Fall gebracht werden kann, der weiß, daß das Haus „Tschechows“ den Bolschewismus und andere Formen des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens überdauern wird.

Die Volkskommissäre haben natürlich auch das Moskauer Künstlertheater „sozialisiert“. Aber war es denn nötig, diese Bühne zu sozialisieren? Mit der Sozialisierung wollen die Bolschewiken den größtmöglichen Leistungseffekt und eine gerechte und würdige Beteiligung der diesen Effekt Schaffenden am Erfolg erzielen. Sie haben diese Absicht – wenigstens mit den Methoden, die sie anzuwenden beliebten – nicht zu verwirklichen vermocht und sind von ihren in den heutigen Verhältnissen wertlosen Nationalisierungsprojekten bereits abgekommen. Das, was sie vergeblich anstrebten, haben jedoch die Moskauer Künstler in eigenem Kreise ohne Gewaltmaßnahmen, sondern aus freien Stücken und mit ihrer reinen Kunstbegeisterung von allem Anfang erreicht und – man muß schon sagen – trotz der bolschewistischen Sozialisierung zu bewahren gewußt. Die höchste, vorbildlichste Kunstleistung ist zur Tatsache geworden, die weitesten Volkskreise sind in der Lage, sie zu genießen und die am Werke Tätigen können ihres Lebens auch in irdischer Hinsicht froh werden. Man lasse sich von Iwan Nikolajewitsch Bersenew, dem Bevollmächtigten der Schauspieler, die jetzt in Wien gastieren, die Geschichte des Moskauer Künstlertheaters erzählen und seine innere Struktur schildern, und man wird zugeben müssen, daß nicht nur die schauspielerischen Darbietungen der Moskauer, sondern auch die von Ihnen aufgebaute Organisation mustergültig ist.

In den Neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts faßte ein kleiner Kreis von acht Personen, mit Stanislaswki und Nemirowitsch-Dantschenko, den kühnen Plan, das russische Theater zu modernisieren. Sie gründeten mit Hilfe des Mäcens Morosow, eines der größten Fabrikanten Rußlands, eine dramatische Schule und ein Liebhabertheater. Die Idee fand solchen Anklang und die ersten Erfolge waren so vielversprechend, daß nicht lange hernach der Lieblingsgedanke der Gründer, ein gegen sehr mäßige, man kann sagen volkstümliche Preise zugängliches öffentliches Theater zu errichten, in die Tat umgesetzt werden konnte. Wieder war es Morosow, der die Künstler mit Feuereifer unterstützte, reichliche Geldmittel zur Verfügung stellte – der für das Theater auserwählte, bereits vorhandene Saal mußte unter großen materiellen Opfern umgebaut werden – und mit Rat zur Seite stand, oft ganze Tage mit den Künstlern und beim Bau verbringend. Am 14. November 1898 wurde die neue Bühne mit Alexej Tolstois „Zar Fjodor Ioanitsch“ eröffnet. Es war ein sensationelles Ereignis, ein Riesenerfolg auf dem Gebiete der Darstellung und der Ausstattung sowie in materieller Beziehung. Moskwin, der die Rolle des Zaren gab, wurde über Nacht mit einem Schlage aus einem Schüler der dramatischen Kunst ein großer gefeierter Schauspieler und der Herold einer neuartigen Bühnenkunst, jener großen Kunst, die wir heute an den Moskauer Gästen bewundern. Schon nach zwei Jahren war die Gesellschaft so erstarkt, daß sie sich um ein größeres Haus umschauen mußte. Sie übersiedelte in das Theater in der Straße Komergerski Pereulok, das nach den Plänen der Künstler mit den modernsten technischen Hilfsmitteln, darunter auch mit einer Drehbühne, ausgestattet wurde. Mit der Premiere von Tolstois Zarenstück im alten Hause hatte die Revolutionierung der russischen Theaterwelt begonnen, mit den Aufführungen von Tschechows Werken wurde sie kräftig und erfolgreich fortgesetzt. Die in Petersburg so gar nicht verstandene und in der dortigen Darstellung zum Mißerfolg verurteilte Erstlingsarbeit Tschechows „Die Möwe“ erlangte in Moskau die richtige Würdigung und verhalf den Schülern Stanislawskis zu einem neuen glanzvollen Siege. Zur Erinnerung an dieses denkwürdige Ereignis führt das Moskauer Künstlertheater in seinem Emblem die Möwe und auch auf dem Bühnenvorhang des Moskauer Hauses ist dieser Vogel abgebildet. Die Aufführungen der anderen Dramen Tschechows fanden denselben, wenn nicht noch größeren Beifall der Kritik, des Publikums und der Kollegen der übrigen Bühnen Rußlands und da dieses Dichters Worte nirgends so allgemein verständlich interpretiert, das in seinen Werken sich widerspiegelnde russische Leben so wahrheitsgetreu vorgeführt wurde, hieß das Moskauer Künstlertheater nicht bloß im Volksmund der Kremlstadt, sondern auch im ganzen weiten Zarenreich bald nicht mehr anders als das „Haus Tschechows“.

So war das große Ziel, das Stanislaswki und Nemirowitsch-Dantschenko sich gesteckt hatten, erreicht. Doch es konnte nur erreicht werden, weil die Schauspieler und alle übrigen an diesem Theater künstlerisch beteiligten Personen sich mit ganzem Herzen und bedenkenlos der hohen Aufgabe widmeten. Das war zum großen Teile wieder bloß möglich, weil die Organisation und Einrichtungen dieses kleinen Bühnenstaates die Verantwortung auf die Schultern aller verteilten und jedem einen würdigen Anteil am Ertrag sicherten. Von allem Anfang an gab es keinen Unternehmer und keinen Direktor. Ein selbstgewähltes Kollegium trifft die Auswahl der Stücke, verteilt die Rollen und führt die Regie. Jeder einzelne Kollege weiß, daß von seiner ernsten, hingebungsvollen Mitarbeit der Erfolg abhängt. Jeder hat eine bestimmte Monatsgage, aber am Ende des Jahres wird der Reingewinn auf alle aufgeteilt. Zweieinhalb Monate im Jahre werden Ferien gehalten, während der keiner der Schauspieler etwa wie bei uns Sommergastspielfahrten unternimmt. Diese Zeit ist der Ruhe gegönnt. Es werden nur Ensemblegastspiele veranstaltet; indessen bleibt die Moskauer Bühne geschlossen. Die trostlosen Verhältnisse unter der Bolschewikenherrschaft haben jedoch einen Teil der Angehörigen dieser Republik gezwungen, mit dieser Tradition zu brechen, um ihr Heil außerhalb Moskaus zu suchen, obwohl das „Haus Tschechows“ weiterspielt. Dieses wurde in der letzten Zeit sozialisiert – die Schauspieler wurden vom Staat entlohnt und der Eintritt ins Theater war unentgeltlich -, aber jetzt ist es wieder freigegeben worden und führt den Betrieb wie in den früheren Zeiten fort. Der Zufall wollte es, daß der größere Teil des Ensembles der Moskauer sich zu einem „Erholungsgastspiel“ im Sommer 1919 in Charkow zusammenfand. Vierzehn Tage wurde gespielt, dann zwei Monate auf dem Land der so notwendigen körperlichen Kräftigung gewidmet. An eine Rückkehr nach Moskau, wo die Verhältnisse immer entsetzlicher wurden, war jedoch nicht zu denken. Da überdies die Zustände auch in Südrußland unleidlich wurden, ging die Truppe auf die Wanderschaft ins Ausland.

Auf der Wanderschaft fühlten sich die Moskauer Künstler wie daheim als eine einzige Familie. Es herrscht dieselbe Eintracht und dasselbe Pflichtgefühl, sich den hehren Kunstzwecken unterzuordnen, wie im Hause Tschechows. Ein Komitee, aus zwei Regisseuren und zwei bis drei älteren Schauspielern bestehend, lenkt die Schar in künstlerischen Fragen und der materielle Ertrag wird brüderlich geteilt. Die sogenannten Größen der Truppe – soweit man bei der künstlerischen Reife jedes einzelnen von Größen sprechen kann – bringen hiebei ein nicht gering zu veranschlagendes Opfer, weil sie, wenn sie Einzelgastspiele absolvierten, mehr verdienen würden, als in der Gemeinschaft auf sie kommt. Aber sie legen höheren Wert auf die Einheit der Truppe und das Ansehen des Künstlertheaters als auf reichen materiellen Gewinn. Glücklicherweise erweckt das Auftreten der Moskauer überall so viel Interesse, daß die Solidarität gute Früchte trägt und die Mittel abwirft für gediegene Ausstattungen und ein auskömmliches Leben der Mitglieder der Truppe.

Das Moskauer Künstlertheater hat sich zu einer Stellung in seinem Lande emporgeschwungen, die der des Théâtre Francais in Frankreich entspricht. Wie das Haus Molières die Stürme der großen Revolution glücklich überstanden hat, so rettet auch das Haus Tschechows reinste Bühnenkunst über den bolschewikischen Zusammenbruch hinweg in eine bessere Zukunft.

In: Neues Wiener Journal, 26.10.1921, S. 5.

Friedrich Porges: Das nackte Amerika

Es galt noch etwa vor drei Jahren für glatte Unmöglichkeit, in Amerika einen Film zu placieren, in dem halbnackte Männer oder gar nackte Frauen zu sehen waren. Der amerikanische Filmmanager wies derartige Filme mit Entrüstung zurück, indem er betonte, daß die amerikanischen Kinobesucher, ganz abgesehen von der Zensur, sich niemals ohne Protest derartige unmoralische Filmbilder vorführen lassen würden. Amerika war diesbezüglich fast noch sittenstrenger als das prüde England. Im Verlaufe der jüngsten Zeit scheinen sich nun auch in Amerika Moral und ethische Ansicht gründlich geändert zu haben. Nicht nur die Kostümfilme, die von drüben kommen, zeigen Darsteller, die weniger als nichts anhaben, auch in den Gesellschaftsfilmen sieht man bereits Szenen, die in ihrer ›Hüllenlosigkeit‹ weit von jener Auffassung abweichen, der die moralischen Amerikaner dereinst huldigten. Die neueste Attraktion ist, daß auch die schönen weiblichen Filmstars sich nicht mehr damit begnügen, die Reize ihrer schönen Augen und ihres wohlgeformten Mundes zu offenbaren, sondern sich auch bemühen, die tiefer liegenden Regionen des Körpers vorteilhaft zur Schau zu stellen. Marie Prévost1, die heute zu den anerkanntesten Schauspielerinnen von Hollywood gehört, hat eben ein ganz radikales Vorbild gegeben. In ihrem neuesten Film zeigt sie sich in einer Tanzszenen fast völlig nackt. Ein nicht allzubreites Band aus dünner Seide umschlingt ihren Busen und ein lose gebundenes Tuch, nicht größer als eine knappe Schwimmhose, verhüllt die – übrigen Reize.

In: Die Bühne, H. 14, 12.2.1925, S. 35.


  1. Lebensdaten: 1989-1937; Prévost war Mitte der 1920er eine der zentralen Schauspielerinnen in Ernst Lubitsch-Filmen wie z.B. The Marriage Circle (1924), Three Women (1924) oder Kiss me Again (1925) vgl.: http://www.imdb.com/name/nm0696679/ bzw.: https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Ehe_im_Kreisehttps://de.wikipedia.org/wiki/Drei_Frauen_(1924)

Roda Roda: Der amerikanische Literaturmarkt

Immer wieder fordern meine deutschen Freunde, ich sollte ihre Dichtungen hier an den Mann bringen: Den Verleger, Theaterdirektor. Wie aussichtslos solche Versuche sind, ist meinen Freunden schwer begreiflich zu machen. Amerika hat ein großes einheimisches Schrifttum. Der Verleger ist von Talenten belagert. Aus Britannien, Frankreich, Italien, Schweden, Rußland lockt der hohe Dollarstand Angebote herbei; aus Böhmen, Ungarn. Bei den Proben der Vaudevilles, Revuen, Lustspiele sitzen erfindungsreiche junge Leute im Parkett , um dem Theaterleiter auf dem Fleck neue Einlagen aufzuschwatzen – Text und Musik – wenn eine Szene, eine Arie zu mißfallen scheint. Denn nirgend sind Kunst und Kitsch industrialisiert wie hier, nirgend der kommerzielle Betrieb der Bühne so riskant: Ein Erfolg macht zum Millionär; ein Durchfall zum Bettler. Ein virtuoses Stück „läuft“ drei, vier Jahre: in New York und – in zweiter, fünfter, neunzehnter Besetzung – strahlenförmig bis Florida, Oregon und Texas. Bei uns kann ein Schwank, ein Buch von Hamburg, Leipzig, München seinen Weg antreten. Hier startet man immer in New York; Chicago wollte eine Zeitlang eigne Rennen machen und gab das Beginnen nach einigen kostspieligen Versuchen reumütig auf. Der Verleger muß viel Kapital in jedes einzelne Buch stecken. Herstellung, Anzeigen, Kritiken sind teuer. Jawohl auch die Kritiken … Ein Verleger, der nicht Inseratseiten kaufen kann, fängt besser gar nicht erst an zu edieren. Da überlegen denn Direktor und Verleger zweimal, ob sie ein Stück, einen Roman lancieren sollten; und stehen von dem Unternehmen ab, wenn der geringste Zweifel an der Nutzbarkeit ihnen abrät. Ein deutsches Werk? Wird es verstanden werden? Es ist vorweg durch Gedankenballast gehandikapt. Das amerikanische Werk ist sicherer Sieger auf wohlvertrauter Bahn. Denn welche Qualitäten bringt der europäische Wettbewerber mit? In unserer Literatur steht das Sexualproblem an erster Stelle. Nicht so im amerikanischen Leben. Die Beziehung der Geschlechter ist hier einerseits kameradschaftlicher als bei uns – kraft einer durch Schule, Sport und Arbeit ausgebildeten Gemeinsamkeit – andererseits weist die Sitte (vielleicht von der frauenlosen Kolonialzeit her) dem Weib einen Vorrang an, das Gesetz stärkern Schutz. Mir scheint manchmal, als klinge in Amerika noch von fern das europäische Mittelalter nach mit Kirchenstreit und Minnedienst. Man lasse sich durch die New Yorker Halbnackttänze nicht täuschen (die hier, wie man mir sagt, auch erst seit dem Krieg zu sehen sind): Amerika ist prüde; eine ledige Mutter hat nicht auf Teilnahme zu rechnen; ein Don Juan nicht auf jene heimliche Bewunderung, die wir ihm zollen; Ehebruch nicht auf schmunzelnde Vergebung. In diesem Land einer schwächern Erotik und stärksten Hypokrisie fehlt es also der größern Hälfte außer Literatur an den beim Publikum vermuteten Voraussetzungen.

Das häusliche Leben ist von unserm grundverschieden. Es spielt sich in engern Räumen ab und andern Hemmungen, mit andern Bequemlichkeiten. Ebenso fremdartig für europäische Augen sind die Einrichtungen der Öffentlichkeit, des Gemeinwesens, Universität, des Studententums. Es gibt keine historische Stadt in Amerika: das älteste Gebäu kann man im allgemeinen sagen, steht seit dreißig Jahren – die älteste Familie hat noch europäische Großeltern. Ein Dorf, einen Bauernstand kennt Amerika nicht. Fast jeder Wohlhabende ist hier Emporkömmling. Arbeit schändet nicht, Aufstieg durch Arbeit macht nicht lächerlich. Wenn hier ein Sattler Staatspräsident würde, rechnete man ihm die Schwielen seiner Hände wie Orden an. Die paar Patrizierfamilien mögen hoch angesehen sein: im weiten Land zählt ihr Einfluß kaum. Manche unsrer Schriftsteller haben amerikanische Gestalten zu zeichnen versucht. Die Gestalten blieben im Konventionellen stehen, sind völlig verzerrt, mißraten in den Umrissen. Auch die gesellschaftliche Erörterung also in unsrer Literatur stößt hier auf Unverständnis. Nationale Fragen … Dieselben Völker, die sich in Europa schlagen, vertragen sich auf dem Boden der Union – vielleicht mit Ausnahme der Iren, die leidenschaftlich heimischen Chauvinismus mitmachen. Europäische Streitereien sind dem Yankee Hekuba; wie dies Europa im ganzen; es gilt nur – im Sommer – als beliebter, wohlfeiler, nicht uninteressanter Ausflugsort, die Fahrt dahin für eine Sache, aus der man nicht Wesens macht. Etwa wie der Dresdner sagt: „Ich gehe nach Schreiberhau.“ Die kommunalen Angelegenheiten von Schreiberhau lassen ihn dabei völlig kalt. Die Vereinigten Staaten sind ja selbst so groß wie Europa; die Entfernung von San Frisco nach New York genau wie jene von Madrid nach Moskau; die europäischen Fürstentümer und Republikchen sind herzlich lächerlich: es könnte ja Italien Krieg mit Deutschland führen, Polen Krieg mit Ungarn, Rumänien mit der Türkei, indem die beiden Gegner das Land dazwischen, ohne es zu betreten, überschießen… Was aber bleibt unsrer Literatur, wenn man ihr die Liebe abstreicht, die Familie, das Städtchen, das Dorf, den Bauern, Bürger, Adel, das Volk und die Geschichte? Es bleibt ihr: Verstand und Seele; Philosophie, Psychologie, das Wissen um den Menschen und die Welt. Es hört sich groß genug an…

Europäische Literatur – du lieber Gott! Wenn der Zuschauer eines Dramas, der Leser eines Buches vor Langeweile gähnt, doch voller Hochachtung für den tiefschürfenden Dichter: So ist er überzeugt, ein Kunstwerk mitgenossen zu haben. Und hat der Dichter die Ergebnisse exakter Forschung ungenau in Dialog und Reim gebracht, so liegt ein Kunstwerk vor. Der Amerikaner lehnt eins wie das andre ab: Seelenkenntnis und Weltweisheit; ihm fehlt es an Vorbildung und Wissen, sich zu vertiefen; er denkt primitiver, niedriger. Er möchte im Theater, durch Lektüre gespannt sein. Er pfeift auf Strindberg, das Armeleutestück, Wilhelm Raabes durch Tränen lächelnder Humor. Der Amerikaner sucht kaustischen, drastischen Witz in handgreiflichen Verwicklungen. Da habt ihrs. Wünscht auf den Brettern ein Dasein zu sehen, wie er es gern haben möchte: ohne Sorg und Qualen – und am Schluss muß rührende Lösung, Erlösung sein – allenfalls noch eine kindliche Symbolik mit Feen, Sternenbanner und bengalischem Licht. Je schwerer der Alltag den Amerikaner belastet: desto weiter will er im Kunstwerk der Wirklichkeit entrückt sein. Psychische Notwendigkeit, eine Lehre vom Ausgleich, die auf eine Formel erst noch zu bringen ist.

„Schön,“ erwidern meine europäischen Kameraden, „wir beginnen einzusehen, warum neunundneunzig Werke wiederkommen – von hundert, die wir über den Ozean schicken. Wir haben dem Amerikaner wenig zu sagen. Doch dem Deutschen in der neuen Welt? Wie steht es mit dem Deutschtum? Freunde, ich rede ungern davon – und nur, weil ihr mich zwingt: Es gibt kein Deutschtum in Amerika, wie ihr euch es vorstellt: eine organisierte Partei oder Masse. Es gibt da und dort hervorragende, sehr kluge Männer mit deutschen Herzen; gibt sogar vereinzelt deutsche Städtchen. Doch im allgemeinen hat der Krieg das Deutschtum erwürgt – wenn ich noch deutlicher sprechen soll: geköpft. Beinah allenthalben sind grade die kulturell wertvollsten, eingeschüchtert durch ungeheure, heftige Feindespropaganda, aus den deutschen Reihen gewichen. Der Nachwuchs redet meist englisch, selbst die Kinder rein deutscher Eltern. Zuzug aus der Heimat fehlt. Was in den gelichteten Turn-, Schützen-, Gesangvereinen zurückblieb, sind (nach einem Wort Eulenbergs) „Gustav Freytag“-Deutsche. Gute, treue, prächtige Menschen, die unendliche Opfer für das hungernde Vaterland gebracht haben. Ihre Kunst- und Weltanschauung steht oft auf dem Niveau des Einwanderungsjahrs, bis dahin hatte sie Anschluss an die deutsche Bildung. New York, die Stadt mit angeblich 600.000 Deutschen, hat kein deutsches Schauspiel, könnte es auch nicht erhalten. (Die deutsche Oper – mit Leo Blech – hat begeisterte Liebhaber gefunden, ist aber wirtschaftlich verkracht.) Hingegen macht das russische Kabarett „Chauve fouris“, direkter Nachkomme der Wiener „Fledermaus“, Enkelkind also der „Elf Scharfrichter“, seit ungezählten Monaten volle Häuser, trotzdem es die höchsten Eintrittspreise unter sämtlichen Vergnügungsstätten verlangt. – Max Reinhardt wird im November herkommen, aber englisch spielen: (er bringt wahrscheinlich Hugo von Hofmannsthal in Person mit.) – die deutschen Zeitungen Amerikas sind zum Teil eingegangen; die am Leben blieben, haben bejahrte Bezieher, die dem Blatt aus Gewohnheit anhangen.

Noch eins von der Praxis des Literaturbetriebes! Da ist der mangelhafte urheberrechtlich Schutz deutscher Dichtungen in Amerika. Der deutsche Autor ist nicht etwa (wie der Tischler oder Schmied ohneweitres Eigentümer seins Werkes: sein Werk ist vielmehr Gemeingut, wenn er es nicht (unter Beischluß eines Dollars) in Washington zum Copyright anmeldet. Auch dann bleibt die Arbeit sein ein kurzes Jahr; und ist sie nicht innerhalb dieses einen Jahres hier im Land gedruckt worden, erlischt der Schutz.

So kommt das Copyright nur den berühmten Opern- und Operettenkomponisten zugute. Denn kaum ein anderes Produkt ist in Amerika so begehrt, daß es schon innerhalb eines Jahres vervielfältigt würde – oder es lohnte (wie der Aufsatz einer Tageszeitung) das umständliche Nachsuchen des Schutzes nicht.

Daß dieser unmögliche Zustand uns Autoren nicht noch mehr beschäftigt, verdanken wir ganz allein der Interesselosigkeit des amerikanischen Lesers an unsern Büchern. In der Tat nämlich druckt man deutsche Bücher hier nicht nach. Geschah es gelegentlich, so sind die Auflagen so gering geblieben, daß sie für uns nicht in Betracht kamen. Der amerikanische Verlag ist ein großes Ding – Mister Editor ist auf seinen Ruf bedacht und läßt sich unsaubre Machenschaften nicht nachsagen – umso weniger, als ihm deutsche Bücher nichts einbrächten. Skandinavier aber und Russen sind hier um den Ertrag ihrer Federn gebracht worden („Sfanin.“) – Immerhin hat man mir in der „.Kibitzarnia“ (142. Division Street), dem Literatencafé New Yorks, Leute vorgestellt, die „mit ihren Familien seit Jahren von mir leben“, indem sie meine Anekdoten übersetzen und verkaufen. – Man erwägt übrigens im Weißen Haus den Anschluß der Vereinigten Staaten an die Berner Konvention. Und dem Mißbrauch der deutschen Zeitungsbeiträge durch amerikanische Blätter soll einigermaßen ein privates Abkommen steuern, das man mit den Blättern eben vorbereitet. Gesetzlicher Schutz wäre ohnehin illusorisch, weil das kleine Objekt nicht lohnt, im einzelnen Fall den Apparat der Gerichte in Bewegung zu setzen.

– – – Alles in allem bedaure ich, nicht zwanzig Jahre früher hergekommen zu sein, den Planeten Erde nicht schon mit jungen Augen von der andern Seite gesehen zu haben. Und kann nur jedem deutschen Dichter raten, das Experiment so bald wie möglich anzustellen. Hier erst wird er gewahr werden des Sterblichen, Örtlichgebundenen, Engen in seiner und der Zeitgenossen Begriffswelt.

In: Prager Tagblatt, 15.6.1923, S. 2-3.

Anm: in der Transkription wurde die Orthographie (einschließlich ihrer Besonderheiten) beibehalten.