Joe Lederer

Von Evelyne Polt-Heinzl

Inhaltsverzeichnis

  1. Über die Wahrnehmung von Schriftstellerinnen
  2. Jugend und Ausbildung
  3. Ein Roman der „Neuen Frau“?
  4. Neusachlich und expressiv
  5. Berlin
  6. 1933 und die Folgen – verwirrte Exilwege
  7. Finanz- und andere Sorgen
  8. Dienstmädchen in Großbritannien
  9. Rückkehr ohne Ankunft
  10. Das tödliche Etikett Frauenliteratur
  11. Leben und Werk – Leben im Werk
  12. Eine leise Chronistin der Zeit

1. Über die Wahrnehmung von Schriftstellerinnen

„Klein, grazil, jung, attraktiv – sie war ein literarisches Wunderkind, bevor Hitler kam; was sie schrieb, war erotisch und aufs erfreulichste lesbar“ (Robert Neumann: Vielleicht das Heitere. Tagebuch aus einem andern Jahr. München, Wien, Basel: Desch 1968, S. 326). So erinnert sich Robert Neumann an Joe Lederer, und der Satz enthält einige Hinweise für ihr Verschwinden aus dem literarhistorischen Gedächtnis. Der wohlwollende Männerblick registriert zunächst mit erschlagender Adjektivhäufung das angenehme physische Erscheinungsbild. Dass ihr mit ihrem ersten Buch knapp 24-jährig ein Bestseller ante litteram gelang, markiert sie als Wunderkind. Wunderkinder sieht man eigentlich nie bei der Arbeit, erst als Erwachsene verlieren sie das Tändelnd-Spielerische und werden zu ernstzunehmenden Künstlern. Dieses Stadium gesteht Neumann Joe Lederer nicht zu, denn dann „kam Hitler“ – eine nach 1945 beliebte Formulierung, die Hitler wie ein Gewitter vorüberziehen lässt – und zwang sie ins Exil. Von dort ist sie rezeptionshistorisch wie so viele vom nationalsozialistischen Regime Vertriebene nie mehr wirklich zurückgekehrt. Der auf ihr Schreiben bezogene Nachsatz, den Neumann nach dem Strichpunkt anfügt, meint mit „erotisch“ wohl, dass alle ihre Romane irgendwie vom Verhältnis der Geschlechter handeln, um mit dem Erstaunen zu schließen, dass sie dennoch „lesbar“ waren, und das sogar „aufs erfreulichste“.

In den wenigen lexikalischen Einträgen wird Joe Lederer mit schöner Regelmäßigkeit als Verfasserin „gehobener Unterhaltungsliteratur“ (Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hg.: Walther Killy. Bd 7. Gütersloh, München: Bertelsmann Lexikon Verlag 1990, S. 186f., Helmut Blazek) bezeichnet. Ihr ambitionierter Umgang mit Sprache jedoch ist ebenso wenig typisch für die Schublade Frauen-Unterhaltungsroman wie die Tatsache, dass das Projekt Liebe hier selten gut ausgeht. Die wenigen Romane mit Happyend wie „Unruhe des Herzens“ (1956) oder „Die törichte Jungfrau“ (1960) gehören eindeutig nicht zu ihren besten.

Abb. 1: Agenturmeldung zum „75.“ Geburtstag

Überraschend wenig sensibel ist oft auch das Urteil von Kritikerinnen. Hilde Spiel, die Lederer noch aus Wien und dann aus der Exilzeit in Großbritannien kannte, erwähnt sie in ihrer 1973 erschienenen Darstellung „Die österreichische Literatur nach 1945“ nur zwei Mal: in einer Aufzählung über das Exil in London und in einem dieser fatalen Frauen-Unterhaltungsliteratur-Zirkelschlüsse. „Brigitte Schwaigers Erstlingsroman ‚Wie kommt das Salz ins Meer’ hat Hoffnungen darauf erweckt, daß der österreichischen Literatur im Lauf der Zeit eine neue Vicky [!] Baum oder Joe Lederer heranwachsen könnte.“ (Hilde Spiel: Die österreichische Literatur nach 1945. Eine Einführung. In: Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart. Autoren. Werke. Themen. Tendenzen seit 1945. Bd 5: Die Zeitgenössische Literatur Österreichs 1. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1980, S. 1–133, S. 126) Die Selbstverständlichkeit, mit der Literatur von Frauen als Bezugsgröße nicht Literatur, sondern nur jene von Frauen zugestanden wird, prägte auch die zeitgenössische Rezeption. Schon bei Erscheinen von Lederers erstem Romans wurde ihr der Titel „deutsche Colette“ (vgl.: Gabriele Heidegger: Joe Lederer. Eine Monographie. Dipl. Univ. Wien 1998, S. 38) verliehen und „Eine deutsche Colette“ (Braunschweiger Zeitung, 11.9.1982) steht noch über einem der wenigen Würdigungsartikel zu ihrem 75. Geburtstag, der allerdings ihr 78. war.

Die Irrtümer über ihr Geburtsjahr hängen mit ihrem Start als Schriftstellerin zusammen, das Girlie-Wunder ist marketingmäßig keine Erfindung der 1990er Jahre. Als Joe Lederers Debütroman „Das Mädchen George“ 1928 im Berliner Universitas Verlag erschien, war die Jugendlichkeit der Autorin zentraler Bestandteil der PR-Kampagne und dafür war die runde Zahl zwanzig einfach besser geeignet. Auch Lederers eigene Angaben sind widersprüchlich. Ein handgeschriebener Lebenslauf vom 2. September 1977 nennt als Geburtsjahr 1907 (WienBibliothek im Rathaus, Nachlass Joe Lederer, ZPH 1009, Box 2, 1.5.1, Bl. 4); möglicherweise ist dieses Curriculum auf Wunsch des Verlags entstanden und wurde zur Basis der „falschen“ Gedenkartikel zum 75. Geburtstag.

2. Jugend und Ausbildung

Tatsächlich wurde Josefine Lederer am 12. September 1904 in Wien geboren. Der Vater war ein unternehmender, leichtlebiger Geist, dessen Projekte immer wieder scheitern. „Sie gab immer nach. Es war eine sehr glückliche Ehe“ (Joe Lederer: Von der Freundlichkeit der Menschen. Ich liebe dich. Frankfurt/M., Berlin: Ullstein 1991, S. 61). So beschriebt Joe Lederer das Verhältnis der Eltern. 1908 bis 1910 war der Vater Direktor einer Fabrik in Steinklamm, Niederösterreich. Die Erinnerung an diese Kindheitsidylle schreibt Joe Lederer 1942 im Exil in der Erzählung „Heimweh nach Steinklamm“ nieder, die 1951 unter dem Titel „Heimweh nach Gestern“ als Buch erscheint. Der frühe Tod des Vaters 1915 wird Joe Lederer ein Leben lang beschäftigen – viele ihrer Romanheldinnen fühlen sich zu älteren Männern hingezogen, werden damit aber nie glücklich. Das Nahverhältnis und die Förderung durch den Vater war wohl auch die Voraussetzung für ihren Frühstart als Autorin, der zugleich die massive Kriegspropaganda in Medien wie Schulen demonstriert, der sich auch ein 11-jähriges Kind nicht entziehen konnte. Am 30. April 1915, kurz vor dem Tod des Vaters, erschien in der „Illustrierten Kronen-Zeitung“ ihr Gedicht „Für Kaiser und Vaterland!“ mit einem gezeichneten Porträt Josefine Lederers als 11-jähriges Mädchen.

1916 bis 1920 besucht Joe Lederer das Gymnasium Eugenie Schwarzwalds bis zur mittleren Reife, muss dann aber aus finanziellen Gründen in die Handelsschule Alina wechseln. Daneben nimmt sie Schauspielunterricht beim Burgschauspieler Carl Forest, eine der väterlichen Männerfiguren ihres Lebens, in die sie sich verliebt haben dürfte. Das Liebesprojekt wie die Schauspielkarriere misslingen, und ab 1922 arbeitet sie im Bankhaus Pollak, das 1924 Bankrott macht.

Drei Briefe, die man täglich von neun bis eins, von zwei bis sechs auf der Schreibmaschine herunterhackt. Drei Walzen im Hirn. Das Gegacker und Geschwätz der Kolleginnen. […] Die Wutausbrüche des Herrn Szaba. Der Direktor, der unsichtbar und gewaltig hinter gepolsterten Türen thront […]. Die Schreibmaschine klappert. […] Das Farbband rollt auf und ab. Wenn die Zeile zu Ende ist, klingelt die Maschine. Auf und ab, auf – ab. “
(Joe Lederer: Das Mädchen George. Berlin: Wegweiser-Verlag 1928 S. 77f.)

So beschreibt sie ihre Bankjahre in ihrem Debütroman und tippen wird Joe Lederer in ihrem Berufsleben auch späterhin noch häufig. Anfang 1925 wird sie Redaktionssekretärin von „Bettauers Wochenschrift. Probleme des Lebens“, herausgegeben von Hugo Bettauer und Rudolf Olden. Gegründet im Februar 1924 mit dem Titel „Er & Sie. Wochenschrift für Lebenskultur und Erotik“, erregte die Zeitschrift mit ihrem sexualaufklärerischen Gestus den aggressive Unmut der konservativen Presse, war aber beim Publikum mit einer Auflage von etwa 60.000 Stück äußerst erfolgreich. Bereits im Frühjahr 1925 kann sie hier ihr erstes Gedicht publizieren (Selbstmörderin. In: Hugo Bettauers Wochenschrift. 1925, Nr. 14, S. 13). Insgesamt erscheinen in der „Wochenschrift“ bis 1928 an die zwanzig lyrische Texte Lederers. Das ändert nichts daran, dass sie das literarische Feld in der Rolle betritt, die sie auch in der Bank inne hatte – und diese Position in dienender Randlage bleibt beinahe durchgängig bestimmend für Ihr AutorInnen-Leben.

Hugo Bettauer war aber auch in anderer Hinsicht für Joe Lederer von Bedeutung. Kaum ein anderer Autor der Zeit analysiert das Geschlechterverhältnis so obsessiv wie Bettauer und hat einen so wachen Blick für die schwierige Position der jungen Frauen. Die Gesellschaft stellt ihnen noch keine adäquaten Handlungsräume zur Verfügung, sie sind auf prekäre, schlecht bezahlte Arbeitsverhältnisse angewiesen und zugleich den materiell nicht mehr rechtfertigbaren patriarchalen Strukturen ausgeliefert. Es sind letztlich dieselben Themen, die Lederer wie Bettauer in ihren Romanen abhandeln, aber sie werden bis heute mit unterschiedlichen Etiketten versehen: Was bei Bettauer als Zeitromanen gilt, wird bei Lederer zum Frauen- und Liebesromanen.

Nach der Ermordung Bettauers am 10. Mai 1925 durch den Nationalsozialisten Otto Rothstock, verlor die Zeitschrift zunehmend an Bedeutung. 1927/28 ist Lederer Privatsekretärin des Autors Balder Olden, dem Bruder von Rudolf Olden. Damit beginnt die unstete Reisetätigkeit, die hinfort ihr Leben prägen wird. Das Gefühl der Unruhe und Heimatlosigkeit beschreibt sie nicht nur in ihren Romanen immer wieder, sondern auch in dem Gedicht „Die Vagabundin“, erschienen im „Simplicissimus“ 1930 (Jg. 35, Nr. 29, S. 343). „Als ich meinen ersten Roman geschrieben und verkauft hatte, war ich in Italien, in Forte dei Marmi, in der Provinz Lucca. Ich war dort nicht zur Erholung, sondern als Stenotypistin. […] Ich war eine schlechtbezahlte Angestellte“ (Von der Freundlichkeit der Menschen, S. 47–50, S. 47 ), schreibt sie im Rückblick über ihre Situation an der Seite Balder Oldens.

3. Ein Roman der „neuen Frau“?

Die Protagonistinnen ihrer Romane sind oft junge, im Berufsleben stehende Frauen, die ihre erotischen Bedürfnisse selbstbestimmt ausleben wollen. Dass sie dabei fast immer an den Konstellationen und äußeren Umständen scheitern, ändert nichts daran, dass ihnen die Autorin das prinzipielle Recht darauf zugesteht. Im äußeren Erscheinungsbild ihrer Frauenfiguren drückt sich der Geschmack der Zeit sehr direkt aus: Es sind oft schlanke, sportliche oder auch ätherische Frauen mit einer Nähe zur zeittypischen Imago der androgynen femme fragile. Es waren wohl auch diese Aspekte, die an ihrem Romanerstling „Das Mädchen George“ begeisterten, der auch ein gutes Stück ihrer eigenen Jugendgeschichte verarbeitet: den Tod des Vaters, Schul- und Berufserlebnisse und die letztlich zurückgewiesene Liebe zum 22 Jahre älteren Balder Olden – im Roman der dandyhafte Übersetzer Gilbert Host.

Wie Joe Lederer selbst muss auch die weibliche Hauptfigur ihres Debütromans Geld verdienen und sie trägt wie ihre Autorin einen Männernamen: George Bruckner wird nach dem Großvater väterlicherseits benannt. Das zeigt die initiale Enttäuschung des Vaters, dass der erwartete Sohn eine Tochter wurde, aber auch die ausgesprochen enge Vaterbeziehung. Dass sie als seine Tochter zu höherem berufen sei, ergibt eine zeituntypische Mädchen-Sozialisation; als Startkapital bringt George ein intaktes Selbstbe­wusst­sein mit, das sich, freilich nicht mit der gesellschaftlichen Realität verrechnen lässt. Der Romantitel ist raffiniert gewählt, denn er stellt die mit „Das Mädchen George“ falsch gelegte Spur einer potentiellen Tarnung der Geschlechtszugehörigkeit in die Auslage: Den männlichen Vornamen George bekommt das Mädchen als Ersatzsohn, der untrennbar beigegebene Zusatz „Das Mädchen“ verweist sie nachhaltig auf die von der Gesellschaft vorgesehene Sozialrolle.

Dass die Imago der „neuen Frau“ nicht mit der Realität kongruent war, thematisiert Lederer bereits in einem ihrer ersten Gedichte, erschienen in „Bettauers Wochenschrift“ 1925 mit dem Titel „Tippmamsell“, im folgenden Jahr nachgedruckt in der Zeitschrift „Uhu“ (Jg 3, Nr. 2, S. 35): „Ich bin das Mädchen, das junge Mädchen deiner Zeit … / aber ich glaube, die Menschen kennen mich eigentlich nicht, / sie verwechseln mich mit der Dame im Abendkleid, / mit der Jazzmusik, der Bar in dämmerndem Licht, / und ich habe doch mein Lächeln und mein Gesicht / hundertmal durch euer Leben getragen … / Ich bin das kleine Mädchen im Straßenbahnwagen, / das früh verschlafen in die Arbeit fährt.“ (Bettauers Wochenschrift, 1925, Nr. 51, S. 2) Auch im historischen Blick auf die Zeit findet sich die Überblendung von medial – in Film, Werbung und Feuilleton – verbreiteten Bildern mit der Lebenssituation der Arbeit suchenden jungen Frauen aus der verarmten Mittelschicht bis heute. In dem Band „City Girls“ (City Girls. Bubiköpfe & Blaustrümpfe in den 1920er Jahren. Hg.: Julia Freytag und Alexandra Tacke. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2011. Literatur – Kultur – Geschlecht. 29) etwa werden die beiden radikal getrennten sozialen Realitäten – die kleinen Angestellten und die medial via Homestories ausgeleuchteten weiblichen Szenefiguren aus Film, Sport und Jetset – verhängnisvoll unter ein Begriffsdach zusammenführt. Doch die Medienbilder sind nur die Zielvorgabe, wer morgens „verschlafen“ zur Arbeit fährt, kann sie nie erreichen. Eine Korrektur des zeittypischen wie historischen Bildes stellen letztlich Romane wie „Das Mädchen George“ auch ganz prinzipiell dar. Denn während sich der Männerblick der neuen thematischen Herausforderung „Tippmamsells“ mit dem Postulat der Vermassung entzieht – etwa Siegfried Kracauer in seiner Feuilletonfolge „Die Angestellten“ –, stellen Autorinnen wie Joe Lederer oder Irmgard Keun ihr Okkular schärfer und machen damit individuelle Schicksale beschreibbar.

Aus: Uhu 3 (1926), H. 2

4. Neusachlich und expressiv

Schon in ihrem ersten Roman benutzt Lederer Techniken der direkten Verschaltung von expressivem Erzählgestus und psychischer Befindlichkeit der Figuren, etwa in der Parallelisierung der flüchtigen Sinneseindrücke einer nächtlichen Bahnfahrt mit der Unruhe der reisenden George:

Manchmal zuckt Licht auf: ein Wärterhaus. Eine Telegraphenstation. Und schon vorbei, vorüber, ins Nichts zurückgefallen. […] Hecken fliegen vorüber. Zwischen Telegraphenstangen schaukelt der Mond. Die Lokomotive heult und spuckt glühenden Regen. Die Achsen dröhnen durch einen Tunnel. Der Nord-Express! Ich bin der Nord-Expreß! Grüne Lichter schnellen vorbei. Licht. Dunkel. Licht. Dunkel.
(Lederer: Das Mädchen George, S. 166) 

Im Stakkato der Sätze vermischt sich die mechanische Bewegung des dahinbrausenden Zuges mit der inneren Gehetztheit und zunehmenden Verzweiflung der Frau, die die Ankunft zugleich ersehnt und fürchtet. Von den Zeitgenossen wurden Lederers Romane durchaus unter dem Blickwinkel Neue Sachlichkeit gelesen, was nichts daran ändert, dass sie besonders hellhörig ist für die kleinen Details des Alltags und deren Veränderungen – auch in Gefühlsdingen.

Auf keinen Brief hat er dann geantwortet. Da habe ich ihn einmal angerufen. Ich weiß noch, ich habe ein rotseidenes Pyjama angehabt. Aber er hat meine Stimme erkannt und den Hörer weggelegt. Im roten Pyjama bin ich dort gestanden, und das Telephon hat knax gemacht […] das werd’ ich noch hören, wenn ich alt und taub bin!
(Lederer: Das Mädchen George, S. 143)

Diese Formulierung hält gleichsam ein neues Geräusch für das Ende einer Beziehung fest, das sich mit dem Ausbreiten der Telefonkultur herausbildet. Die Schlussszene des Romans zeigt George allein, an TBC erkrankt – wie einige Jahre später ihre Autorin – und fast ohne Geld, in einer Hotelbar, dem klassischen Ort der mondänen Gesellschaft der 1920er Jahre mit fließenden Grenzen zur Halbwelt der Schieber und Hochstapler. Unter den Klängen der Jazzband vollzieht sich das permanente gegenseitige Abschätzen und Taxieren – mit erotischen wie ökonomischen Zielen. Gibt es etwas zu holen, bei dem oder der neu Eintretenden? Das Gros der Barbesucher stuft Georges routiniert ein als eine „aus der großen Familie der reisenden Amerikanerinnen. Jedenfalls: das ist nichts Neues, das kennt man. Man ist beruhigt, wendet sich wieder ab.“ (S. 210) Einige aber schauen genauer hin, wie der Eintänzer Marcell. Er sieht, wie es um George steht – und mit ihm gemeinsam wird sie zur letzten Station ihres Lebens aufbrechen, als seine Partnerin.

Die Reaktionen auf „Das Mädchen George“ waren überaus positiv. Der Roman wurde als „Buch der Jugend unserer Zeit“ (Heidegger: Joe Lederer, S. 37) begeistert rezipiert, bis 1933 waren über 80.000 Exemplare (34.000 im Universitas Verlag, 50.000 von der Lizenzausgabe im Wegweiser-Verlag) abgesetzt. Von den zahlreichen privaten Zuschriften konnte Lederer nur wenige ins Exil retten; sie stammen von jungen Frauen, die sich von ihren Romanen unmittelbar angesprochen fühlten. „Ihr Buch ist sehr schön – und es ist eines von denen, die man versteht – deshalb versteht – weil es einem wesensähnlich ist“ (WienBibliothek im Rathaus, Nachlass Joe Lederer, ZPH 1009, Box 2, 2.1.1.58, Bl. 1), schrieb am 14. September 1930 die 21-jährige Hanne Kruse aus Bad Kösen/Saale.

5. Berlin

„Berlin war der Zukunft zugewandt, zog Gleichgesinnte magnetisch an, sie kamen, blieben oft lange. Vielleicht lag wirklich für wenige Jahre die Welthauptstadt des freien Geistes nicht mehr an der Seine, sondern an der Spree?“ (Axel Eggebrecht: Der halbe Weg. Zwischenbilanz einer Epoche. Reinbek: Rowohlt 1975, S. 221) Euphorische Beschreibung wie diese von Axel Eggebrecht, den Joe Lederer in ihrer Berliner Zeit kennen lernte, finden sich aller Orten. „Berlin schmeckte nach Zukunft“ (Carl Zuckmayer: Als wär’s ein Stück von mir. Horen der Freundschaft. Frankfurt/M.: S. Fischer 1966 S. 308), schrieb Carl Zuckmayer, und so erlebte es auch Joe Lederer, als sie 1926 erstmals nach Berlin kam. Die Großstadt und das Klima des Auf- und Umbruchs, das für junge Frauen eine Fülle neuer Möglichkeiten, aber auch den radikalen Verlust von Sicherheiten und Bindungen bedeutete, ist in vielen ihrer Romane zu spüren. Im 1930 erschienenen Roman „Musik der Nacht“ ist das Erlebnis der Großstadtnächte – hier allerdings in Wien – mit Jazzklängen und Abendvergnügungen aller Art die Folie der – unglücklich endenden – Liebesgeschichte:

Die Straße sprang ihnen entgegen, johlend wie eine Herde Rowdies und stark wie ein Wasserfall. Machtvolles Geheul der Kolporteure, Klingeln der Straßenbahnen, blökender Chor der Autohupen. […] Lukas ging neben dem schweigenden Mädchen her, prüfte nachdenklich Auslagen, Lichtreklamen. „Sei schön durch Elida!“ „Dornbach Schuhe sind die besten!“
(Joe Lederer: Musik der Nacht. Berlin: Universitas 1930, S. 2f.)

Mit der expressiven Bildlichkeit und der Einmontierung von Reklamesprüchen, Schlagertexten oder Zeitungsüberschriften ist Lederes literarische Großstadtaneignung auf der Höhe ihrer Zeit. Doch Berlin bedeutete für Lederer nicht nur neue Stoffe und neue Erzähltechniken, sondern auch Kontakte, zum Beispiel zum Film. „Drei Tage Liebe“ (1931) spielt im Berlin der Wirtschaftskrise und entstand nach einem Drehbuch, das sie für den gleichnamigen Film mit Hans Albers geschrieben hatte. Die Handlung hat durchaus kolportagehafte Züge, was sich vom Entstehungskontext Filmtreatment herschreibt: Der Möbelpacker Franz verlässt wegen des Dienstmädchens Lena eine mondänere Liebschaft und hält auch in einer Krisensituation – sie hat ihre Dienstherrin bestohlen – zu ihr; das kann Lena allerdings nicht glauben und läuft in ihrer (unnötigen) Verzweiflung in ein Auto. Das ist eine Variation auf den häufigen Opfertod, den Lederer ihren Frauenfiguren zuordnet und der oft, wie eine ironische Volte, völlig sinnlos bleibt oder eben ins Leere zielt. Sprachlich ist dieser Roman, der Lenas wachsende Panik mit rhythmisierter Atemlosigkeit und dem Einsatz greller und schräger Bilder beschreibt, ein beachtliches Romandokument der Stadtwahrnehmung in der Zwischenkriegszeit.

An den Häuserfassaden flammen die ersten Lichtreklamen auf, glänzen in tiefem Blau und Rot gegen den bleichen Himmel. Autohupen, Zeitungsverkäufer, und auch die kleinen Damen tauchen auf, mit rosenrot geschminkten Wangen. Die Straße summt und atmet, – sie riecht nach Benzin, Parfum und kaltem Herbstregen.
(Joe Lederer: Drei Tage Liebe. Berlin: Universitas 1931, S. 116)

Wie hier addieren sich in der Großstadtliteratur die vielfältigen Sinneseindrücke oft in ausweglosen Situationen der Figuren zu einem bedrohlichen Gesamt. Lena irrt allein durch die Straßen, sie glaubt sich aus allen Kontexten herausgefallen. Doch sie ist von ihrer Geschlechterrolle her auch prinzipiell unzugehörig in den nächtlichen Straßen der Stadt. Zur Überforderung durch die Fülle der sinnlichen Eindrücke kommt die aus der Geschlechtsrolle kommende Unsicherheit über Bewegungsmöglich­keiten und -usancen, etwa die Gefahr, als eine der „kleinen Damen“ mit den „rosenrot geschminkten Wangen“ wahrgenommen zu werden.

Ihr folgender Roman „Bring mich heim“ (1932) verarbeitet nicht nur ihre (unglückliche) Affaire mit Hans Albers, sondern auch einen realen Fall von Kindesmissbrauch, verschoben – wie im Fall von Sigmund Freuds Katharina – auf die Figur des Onkels und abgeschwächt als Verführung einer 15-Jährigen. Die Unstetheit und Verlorenheit der mittlerweile erwachsenen Frau wird eindeutig auf dieses Erlebnis zurückgeführt.

Soll ich mir eine Karte nach Paris nehmen? So gleichgültig, wohin man fährt. Immer unterwegs, nie ein Zuhause. Gott hat mich zu lebenslänglicher Eisenbahn verurteilt. Er hat zu mir gesagt: Du sollst über die Schienenstränge hinziehen, in Hotels leben und heimatlos sein!
(Joe Lederer: Bring mich heim. Roman: Berlin: Universitas 1932, S. 209)

„Wem Gott bestimmt, im Wagon-lit zu leben, der lebt nicht gern“, heißt es schon in Lederers Gedicht „Die Vagabundin“ (Simplicissimus, Jg. 35, 1930, Nr. 29, S. 343). Ein zweites Mal angesprochen wird das Thema Kindesmissbrauch zumindest mittelbar in „Unruhe des Herzens“, wenn für die Schauspielerin Roy am Ende des Roman der alternde Geliebte Conradi und der Vater „in eine einzigen Gestalt“ verschmelzen (Unruhe des Herzens. Roman. Frankfurt/M.: Büchergilde Gutenberg 1960, S. 325). Dass diese Hinweise bisher überlesen wurden, ist wenig verwunderlich, selbst bei Arthur Schnitzlers „Fräulein Else“ hat es bis Ende der 1990er Jahre gedauert, bis feministische Literaturwissenschafterinnen begannen, den im Text manifesten Kindesmissbrauch mitzulesen.

6. 1933 und die Folgen – Verwirrte Exilwege

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten versucht Joe Lederer trotz ihrer jüdischen Herkunft, sich zu arrangieren und ein ökonomisches Überleben zu sichern. Sie wird mit 8. September 1933 Mitglied der Reichsschrifttumskammer und 1934 kann noch ihr kleiner Roman „Unter den Apfelbäumen“ erscheinen. Im selben Jahr emigriert sie nach Shanghai in der für weibliches Exilleben typischen Rolle des Kinder- und Hausmädchens. 1935 kehrt sie tuberkulosekrank nach Wien zurück, lebt abwechselnd hier und in Italien, wo die Lebenshaltungskosten wesentlich geringer sind. Ihre finanzielle Lage ist durch den Verdienstentgang am reichsdeutschen Buchmarkt prekär. 1936 übernimmt der Wiener Zeitbild-Verlag die Rechte an ihren Büchern. Der Zeitbild-Verlag war das Publikumslabel des Verlags Dr. Rolf Passer, spezialisiert auf sogenannte Frauenromane und damit trotz der verengten Absatzmöglichkeiten bis zur Arisierung 1938 durchaus erfolgreich.

In rascher Folge publizierte Joe Lederer hier ihre nächsten Bücher. Der sozialkritische China-Roman „Blatt im Wind“ (1936) schildert das Scheitern der Liebesgeschichte der zierliche Cary, die ihrem Ehemann nach China folgt und dort weder den klimatischen noch den sozialen Verhältnissen gewachsen ist. Vielleicht in Reminiszenz an die antikolonialistischen Schriften des Afrika-Reisenden Balder Olden nimmt Lederer hier ausführlich gegen die Kolonialherren-Allüren der EuropäerInnen Stellung. Zum Unglück Carys trägt aber auch das Heimweh bei, die Unmöglichkeit der Assimilation und Verständigung in der fremden Kultur. „Blatt im Wind“ ist ein atmosphärisch dichter China-Roman, der nach wie vor gut lesbar ist; eine 1993 erschienene Neuauflage bei Ullstein war nach einem Jahr vergriffen.

Ebenfalls 1936 erscheint der Roman „Blumen für Cornelia“, der zum ersten Mal das Problem des großen Altersunterschiedes in umgekehrter Konstellation thematisiert. Waren es bisher vor allem ältere Männer, in die sich sehr junge Frauen unglücklich verliebten, sind die Akteure hier ein junger Komponist und eine Frau Ende 40, die zum Schluss allerdings auf die Verwirklichung ihrer Liebe verzichtet und das Ende so arrangiert, dass der Geliebte nichts von ihrem Opfer ahnt. Subtil gelingt Lederer dabei in der Figur Cornelias das Porträt einer Frau, die mit ihren Altersängsten kämpft, und sinnlich prall sind wiederum die Stadtschilderungen, etwa der Hafenstadt Marseille:

Im Diskant schrillten die Autohupen durcheinander. […] Alle Gesichter, die vorbeizogen, schienen in eine einzige, bewegte und bunte Grimasse zu verschmelzen. […] Am liebsten hätte er die ganze Stadt mit einem erregten Atemzug eingeatmet. So wie sie war, mit ihrem Benzingeruch und dem Gemisch von vielen Parfümdünsten, mit Staub, Straßenbahnen, Matrosen, Autohupen, mit Kindern und Hotels. Manchmal roch es nach Fischen. […] Irgendwo hinter den Häusern war das Meer und drängte sich rastlos an die graue Küste.
(Joe Lederer: Blumen für Cornelia. Roman. Wien, Leipzig: Zeitbild-Verlag 1936, S. 8f.)

Abb. 2: Fafan in China

1937 folgt der sozialkritische Roman „Ein einfaches Herz“; die Geschichte einer missbrauchten Dienstmagd aus einem böhmischen Dorf, die im Wien der Jahrhundertwende um das Überleben für sich und ihr lediges Kind kämpft, zeichnet das Schicksal von Lederers Mutter nach – tatsächlich hatte Joe Lederer eine ältere Stiefschwester. Thematisch versucht dieser Roman wohl auch an die Heimatkunstbewegung des Austrofaschismus anzuschließen. 1938 erscheint mit „Fafan in China“, illustriert von Ingrid Wasa, das einzige publizierte Kinderbuch Joe Lederers, angeregt von ihrem Aufenthalt in Shanghai und 1940 im Amsterdamer Exilverlag Meulenhoff in der Reihe „Meulenhoff’s Sammlung deutscher Schriftsteller“ neu aufgelegt.

7. Finanz- und andere Sorgen

Trotz des fehlenden reichsdeutschen Buchmarktes sind Lederers Bücher in den 1930er Jahren beim Publikum durchaus erfolgreich. Die Verlagsabrechnung für das Jahr 1937 – sie enthält neben den Verkaufserlösen Tantiemen für Übersetzungen von „Blumen für Cornelia“ und „Blatt im Wind“ sowie Zeitungsabdrucke in Prag und Mährisch-Ostrau – ergibt eine Summe von 3.381,28 Schilling, der allerdings Akontozahlungen in Höhe von 5.955,- Schilling entgegenstehen. (Verlagsabrechnung, 1.12.1937. WienBibliothek im Rathaus, Nachlass Joe Lederer, ZPH 1009, Box 2, 2.1.2.54) Selbst im billigen Fischerdorf Positano, wo sich Lederer, wie Elisabeth Castonier, Alice Berend, Armin T. Wegener oder Stefan Andres, seit 1937 überwiegend aufhielt, reichten die Einnahmen zum Überleben kaum aus.

Finanziell belastend waren auch die Kosten der Wohnungsauflösung in Wien. Ihr Briefwechsel mit dem Verlag dokumentiert den zermürbenden Kampf, bei dem es um kleine Summen geht und um komplizierte Vereinbarungen, in welcher Form, Höhe und Reihenfolge diese zur Schuldentilgung an ihre Wiener Gläubiger ausbezahlt werden sollen. Der Ton des Verlegers wird dabei zunehmend unwirsch: „Ich wundere mich, dass Sie jetzt wieder nicht auskommen. […] Unabhängig davon zahlen wir ja auch für Sie die Schuld an Frau Herzel zurück: bisher wurden S 170,- bezahlt […]. Ferner haben wir für Sie an den Schneider Bradler S 72,30 bezahlt. An Frl. Baruch ihre Schuld von 15.-S und S 30.- für Uebersiedlung. Die Angelegenheit mit der Leihbibliothek wurde geregelt und andere kleinere Beträge für Gas, Elektrisches, etc. wurden bezahlt“, schreibt Passer am 3. März 1938 (WienBibliothek im Rathaus, Nachlass Joe Lederer, ZPH 1009, Box 2, 2.2.2.18, Bl. 1).

Nach dem Einmarsch der NS-Truppen in Österreich wollte Passer die Rechte an den Querido Verlag verkaufen, was Joe Lederer ablehnt; sie optiert für den Schweizer Humanitas Verlag, weil das „kein Emigrantenverlag ist […] ich finde es für mich richtiger, weniger zu verdienen aber mich nicht zu exponieren“ (Brief vom 16.9.1938, WienBibliothek im Rathaus, Nachlass Joe Lederer, ZPH 1009, Box 2, 2.2.2.18, Bl. 4). Einen Vermittlungsversuch Annemarie Selinkos bei Walter Landauer vom Allert de Lange Verlag lehnt sie noch 1939 ab. „Frau Selinko schrieb mir, dass Sie sich für meine Bücher interessieren. Ich freue mich sehr darüber, aber ich habe bereits einen Kontakt mit dem Humanitasverlag, Zürich.“ (Brief an Walter Landauer, 4.3.1939, Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis, Archiv Allert de Lange, File 38, Nr. 23)

Die Vorstellung, nicht in Exilverlagen zu publizieren, um sich „nicht zu exponieren“, zeugt von einem großen Maß an politischer Naivität und einer radikalen Fehleinschätzung der Lage, ebenso wie ihr mit Datum vom 16. März 1938 bestätigter Austritt aus der „israelitischen Religionsge­nossenschaft“ (WienBibliothek im Rathaus, Nachlass Joe Lederer, ZPH 1009, Box 3, 3.1.4), den sie von Positano aus wohl mit viel Mühen organisierte.

VIII. Dienstmädchen in Großbritannien

1939 erhält Joe Lederer nach zahlreichen Interventionsversuchen des Exil-PEN ein „domestic permit“, das mit der Verpflichtung, als Hausangestellte zu arbeiten, für mittellose Frauen die einzige Einreisemöglichkeit nach Großbritannien darstellte. Das Geld für die Überfahrt muss sich Lederer von Schweizer Freunden ausborgen. Im Juni 1939 kann sie nach Paris reisen, um am Drehbuch für den Film „Serenade“ für Lilian Harvey (Regie: Jean Bayer) mitzuarbeiten, bleibt in den Credits aber ungenannt. In einem Brief an Rudolf Olden aus Paris vom 17. Juli 1939 schreibt sie: „[…] bis jetzt habe ich wie ein Kuli gearbeitet und dreimal ein Drehbuch umgeschrieben, jetzt ist die Arbeit zu Ende und ich fürchte, ich werde mein Honorar einklagen müssen. Ich will aber versuchen in Paris zu bleiben, denn hier gibt es immer ein paar Möglichkeiten, und es ist hier viel schöner als in England“.

Mit ihren Befürchtungen behielt sie zunächst recht, nicht jedoch mit ihrer Hoffnung. Ihr Visum wurde nicht verlängert und sie musste ins ungeliebte England zurück. In Paris war es auch zu einer Wiederbegegnung und Aussöhnung mit Balder Olden gekommen, wie sie in einem Brief an dessen Bruder Rudolf schreibt (Brief an Rudolf Olden, 7.9.1939. Die Deutsche Bibliothek. Deutsches Exilarchiv 1933–1945. Bestand Exil-Pen).

Balder Olden, der in Paris an der vom Schutzverband Deutscher Schriftsteller organisierten Gedächtnisfeier für Ernst Toller teilnahm, erwähnt in seiner Autobiographie dieses Treffen nicht. Seine ehemalige Privatsekretärin und Geliebte Joe Lederer kommt hier überhaupt nur einmal vor: Ein Zitat aus einem ihrer Briefe, das ihre Situation als Hausmädchen in England beschreibt, steht hier als symptomatisches Zeugnis für das Elend des Exils (Balder Olden: Paradiese des Teufels. Biographisches und Autobiographische. Schriften und Briefe aus dem Exil. Berlin: Rütten & Loening 1977, S. 395).Abbildung: Foto Joe Lederer als Dienstmädchen, um 1939, WienBibliothek im Rathaus, Nachlass Joe Lederer, ZPH 1009, Box 4, 3.4.1

„Ich bin bei englischen Freunden – und weiß nicht recht, was werden wird. Manchmal glaube ich, man wird die refugees zu Hilfsdiensten verwenden, manchmal denke ich, man wird sie alle einsperren – in jedem Fall wär dann für mich die Zukunftsfrage gelöst“ (Brief an Rudolf Olden, 7.9.1939, Die Deutsche Bibliothek. Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Bestand Exil-Pen), schreibt sie am 7. September 1939 aus Woodcote, Reading, an Rudolf Olden. Für Joe Lederer trat der erste Fall ein: Bis 1943 arbeitet sie – wie schon in Shanghai – als Stubenmädchen bei Gordon Turner, einem kulturell interessierten Industriellen. In seinem Haus verkehren SchriftstellerInnen wie Hilde Spiel, Peter de Mendelssohn – ihr ehemaliger Verlagskollege beim Universitas Verlag – und Stéphane Roussel. Trotzdem ist die Arbeit für Joe Lederer anstrengend – ihr gesundheitlicher Zustand verschlechtert sich zunehmend – und wohl auch demütigend. Neben ihrer Tätigkeit als Dienstmädchen ist sie Mitglied des Internationalen PEN und nimmt regelmäßig an dessen Kongressen teil. Von 1944 bis 1952 ist Joe Lederer dann als Sekretärin im Foreign Office in London tätig und erhält 1946 die britische Staatsbürgerschaft.

9. Rückkehr ohne Ankunft

1953, bzw. endgültig 1956, kehrt Joe Lederer in den deutschsprachigen Raum zurück, nach München, nicht nach Wien. 1954 übernahm der Münchner Verlag Kurt Desch ihre Werke, und sie gehört damit 1973 zu den Opfern des Desch-Skandals. Der Verleger hatte Tantiemen in Höhe von mehreren Millionen Mark unterschlagen, auch Joe Lederer hat ihr Geld nie zurückbekommen. Bei Desch erschienen vier weitere Romane und drei Prosa­sammlungen.

„Letzter Frühling“ (1955) thematisiert noch einmal die Liebe einer selbständigen Frau zu einem viel jüngeren, von ihr finanziell abhängigen Mann. Die Lösung des Konflikts ist wiederum der Verzicht der Frau. Handlungsort ist London und die unmittelbare Zeitgeschichte fließt in die Beschreibung der Folgen einer Kindheit im Nationalsozialismus ein. „Unruhe des Herzens“ (1956) und „Die törichte Jungfrau“ (1960) sind die beiden am ehesten dem Etikett „Frauen-Unterhaltungsroman“ entsprechenden Romane. Wesentlich anspruchsvoller ist „Sturz ins Dunkel“ (1957). Die unscheinbare Cora Lambert ist wie „Das Mädchen George“ eine kleine Angestellte, und wie viele ihrer Heldinnen agiert sie, als die Liebe zu einem fremden Mann sie erfasst, zielstrebig und selbstbewusst, was hier besonders fatal endet. Der Mann, in den sie sich verliebt, ist ein Lustmörder – seine krankhafte Veranlagung wird dabei auf seine Kriegserlebnissen zurückgeführt. Zumindest Coras Tod erregt so einiges Aufsehen:

Zu ihren Lebzeiten hatte sich niemand um sie gekümmert. Sie war nur eines der vielen, ein­samen Mädchen gewesen, die es in der Millionenstadt gab, nicht besser und nicht schlechter als die anderen, eine kleine Randfigur. Das Glück, um das sie gekämpft hatte, war ein Nichts gewesen.
(Joe Lederer: Sturz ins Dunkel. Wien, München, Basel: Desch 1957, S. 435)

Das ist als Kommentar zu den Liebesverwicklungen aller Frauenfiguren in Lederers Romanwelten interpretierbar und wohl auch als eine Art persönliche Bilanz, die letztlich dazu geführt hat, dass Lederer nie in einer längeren, festen Beziehung mit einem Partner gelebt hat. 1959 antwortet sie auf eine Umfrage nach unausgeführten Projekten, dass ihr ein „Monumentalwerk“ vorschwebe:

Die Inspiration dazu geht bis auf die Zeit zurück, als ich 18 war. Seit damals habe ich Material gesammelt. Titel: Die Männer – ihre Eigenarten, Gewohnheiten, Schwächen, Verwundbarkeit, Monotonie und Attraktion. Untertitel: Dargestellt anhand eigener Erlebnisse. Mit einem Anhang: Typische Redensarten der Männer.
(In: Die Kultur. Eine unabhängige Zeitung mit internationalen Beiträgen. Jg. 7, 1959, Nr. 128, zit. n.: Heidegger: Joe Lederer, S. 140)

Wie verloren sich Joe Lederer im Deutschland des Wirtschaftswunders gefühlt hat, kann man auch in den beiden autobiographischen Episodensammlungen „Von der Freundlichkeit der Menschen“ (1964) und „Ich liebe dich“ (1979) nachlesen. Da ist der Londoner Handtaschendieb, der ihr zwar nicht Ausweise und Geld, aber doch das Foto ihres Freundes zurückschickt; ein Berliner Taxifahrer, der die nachts in einer verrufenen Gegend Verirrte aufliest und trotzdem nicht vergewaltigt; oder der Liebhaber, der zwar eine andere heiratet, aber zum Geburtstag regelmäßig Mimosen schickt. Die Aufzählung von Höhepunkten mitmenschlicher Zuwendung eröffnet einen wohl ungewollten Einblick in die ganze Dimension ihres Lebensunglücks.

1967 erschien in der von Gerhart Hermann Mostar und Robert A. Stemmle herausgegebenen Reihe „Der neue Pitaval“ der Band „Tatmotiv: Begierde“ mit sechs gründlich recherchierten historischen Kriminalfällen. 1977 folgte eine reißerisch aufgemachte, um eine Fallgeschichte erweiterte Ausgabe bei Herbig unter dem Titel „Tödliche Leidenschaft. Sieben große Mordfälle“. Die Verbrechen ereigneten sich alle zwischen 1881 und 1960 in England und den USA, und Lederer schildert sie mit großer Empathie und unter Einbeziehung der biographischen Vorgeschichten und des jeweiligen sozialen Umfelds. Das populär angelegte Buch war durchaus erfolgreich, 1981 folgte eine Taschenbuchausgabe bei Moewig unter dem Titel „Tatmotiv Liebe. 7 Mordfälle, die Kriminalgeschichte machten“. Trotzdem blieben ihr nach der Rückkehr aus dem Exil auch die finanziellen Probleme treu. Immer in Geldnot arbeitet sie zeitweise als Lektorin und Übersetzerin für den Desch Verlag, schreibt für den Rundfunk, für diverse Magazine und auch einige Drehbücher. Am 30. Jänner 1987 stirbt sie vergessen und vereinsamt in einem Münchner Krankenhaus.Abbildung: Agenturmeldungen zu Joe Lederers Tod, alle mit falscher Altersangabe: OÖ Tagblatt, Südost Tagespost, Kleine Zeitung, 5.2.1987; Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur, Wien, Pressedokumentation

10. Das tödliche Etikett Frauenliteratur

Zwar erfuhren eine Reihe ihrer Werke nach 1945 Neuauflagen und auch die neuen Romane verkauften sich zum Teil nicht schlecht. „Letzter Frühling“ etwa erreichte zwei Auflagen und drei Neuausgaben – 1957 bei der Büchergilde Gutenberg Wien, 1966 bei Heyne, 1973 bei Kaiser in Klagenfurt – und wurde 1973 im Österreichischen Rundfunk als Roman in 40 Fortsetzungen gesendet. Dennoch konnte Lederer an ihre Erfolge in der Zwischenkriegszeit nie wieder anknüpfen.

Dazu trugen wohl auch verlagsstrategische Entscheidungen bei. Statt Lederer als sprachmächtige und sensible Zeichnerin verschiedenster Milieus und Ambientes zu etablieren, wurde die Schiene Frauen-Unterhaltungsroman gewählt. Deshalb wurden gerade jene Bücher am intensivsten gepflegt, die literarisch nicht zu ihren gelungensten zählen, wie zum Beispiel „Unter den Apfelbäumen“ (1934), eine heitere Sommergeschichte über pubertierende Mädchen. Diese Kindheitsromanze ist auch eine Hommage an die Heimat ihrer Mutter: Handlungsort ist das böhmische Dorf Tuschkau, wo Joe Lederer als 13-Jährige einen Sommer verbrachte. Das Buch wird bis heute immer wieder aufgelegt und ist langfristig gesehen wohl ihr verkaufsmäßig erfolgreichstes. Auch gefühlige Romantitel – als „Meine schönsten Romane“ präsentierte 1977 der Herbig Verlag die Neuauflage der beiden Romane „Blumen für Cornelia“ und „Unruhe des Herzens“ – und entsprechende Umschlaggestaltung zielten auf das Segment Frauen-Unterhaltungsromane. Aber gerade hierher gehören Lederers Romane mit ihrer nuancierten, panoramatischen Erzählweise nur sehr bedingt.Abbildung Buchcovers von „Blatt im Wien“, Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur, Wien

Der Schaden dieser Werbelinie ist nachhaltig. Noch das Nachwort zur Neuauflage von „Das Mädchen George“ 2008 wiederholt ungebrochen, dass sich die Autorin „mit einigen Werken ganz bewusst den leichten und populären Erzählstoffen, vornehmlich den ergreifenden Liebesgeschichten zugewandt“ habe (Hartmut Vollmer: Nachwort. In: Joe Lederer: Das Mädchen George. Paderborn: Igel Verlag 2008, S. 171). Natürlich ist es richtig, dass es in allen ihren Büchern um das Verhältnis der Geschlechter geht, doch es sind keine konventionellen Liebesgeschichten; ihre Romane erzählen vom Leben der Menschen in verschiedenen Milieus und Lebenslagen, von ihren Problemen und Verstrickungen. Die Beziehungen, in die ihre Protagonistinnen geraten, sind überwiegend nicht „passend“. Das hat soziale Ursachen, altersmäßige und häufig liegt es einfach an der Zurückweisung durch das gewählte Gegenüber. Mit feiner Klinge analysiert sie, was am ewigen Missverständnis zwischen den Geschlechtern schuld ist: Komplexe, Obsessionen, kindliche Kränkungen, Rollenvorgaben, ungleich verteilte und durchaus auch wechselnde Stärken und Schwächen.

Sie verstand plötzlich, daß sie für ihn das gleiche bedeutete, wie Jack für sie. Daß er jedes ihrer Worte, die gesagten und die ungesagten, jede Geste und jeden Blick, überprüfte und immer wieder durchsiebte wie ein Goldwäscher, der zwischen Sand und Kieseln unermüdlich nach kleinen glitzernden Splittern sucht, nach Hoffnung und Reichtum.
(Lederer: Sturz ins Dunkel, S. 370)

So heißt es in ihrem vorletzten Roman „Sturz ins Dunkel“ über die Fatalität der Ungleichzeitigkeit emotionaler Nähe. Nicht selten scheitern die Figuren – Männer wie Frauen – daran, dass sie sich und ihrem Gegenüber etwas vorspielen, was sie nicht sind. So entstehen ausdifferenzierte psychologische Porträts aller Akteure, selbst nur flüchtig auftretende Figuren erhalten eine Tiefendimension.

11. Leben und Werk – Leben im Werk

Die Konstanz einiger zentraler Motive und Figurenkonstellationen hat dazu verführt, Lederers Bücher autobiographisch zu lesen. Sie habe „ihr ganzes Privatleben in ihre Romane“ hineingeschrieben, meinte Lederers Freundin Hella Krüger in einem Interview (zit. n.: Heidegger: Joe Lederer, S. 8). Natürlich arbeitet Lederer – wie alle AutorInnen – reale Erlebnissen in ihre Romane ein. Das gilt vor allem für die eben deshalb besonders dichten Beschreibungen der wechselnden Handlungsorte, des Hotellebens und der verschiedensten Reisetechniken – alles Elemente, die ihr aus eigenem Erleben vertraut sind. Auch mögen einzelne Figuren realen Vorbildern nachempfunden sein, wie der Schauspieler Matthieu Corodi in „Bring mich heim“ (Hans Albers, dem das Buch auch gewidmet ist), der Burgschauspieler Körber (Carl Forest) oder der Übersetzer Gilbert Host (Balder Olden) in „Das Mädchen George“. Positiv sind die interessanten Herren mit den grauen Schläfen in ihren Romanen allerdings nicht gezeichnet.

In manchen Aspekten scheint Lederer eher Wunschprojektionen in ihre Romanwelten verwoben zu haben. Vieles ist in ihren Büchern zur Stelle, was sie selbst wohl ein Leben lang entbehrte. Dazu könnte der Topos vom liebenden, verständnisvollen Vater genauso gehören wie das oft gewählte Milieu reicher Sorglosigkeit („Blatt im Wind“, „Letzter Frühling“), die Figur des Kümmerers, der in den Romanen allen unglücklich liebenden Frauen treu zur Seite steht, oder auch die innere Autonomie und Selbstbeherrschtheit der Frauenfiguren. Nur wo in den Romanen von Geldnot die Rede ist, darf man das wohl unmittelbar autobiographisch lesen.

12. Eine leise Chronistin der Zeit

Die sprachliche Qualität ihrer Romane zeigt sich vor allem in den expressiven Milieuschilderungen und temporeichen Stadtszenen, sei es in Wien, München, Berlin, Shanghai oder London.

Unablässig trugen die Rolltreppen ihre gähnende, plappernde, abgehetzte, abenteuerlustige, stumpfe Menschenfracht von einer Plattform zu anderen, in den Bauch der Erde hinein oder zur Straße empor. Es gab Kaufläden in der Station, hellerleuchtete Schaufenster, wie Inseln ragten die kleinen, gläsernen Häuschen der Fahrkartenschalter heraus. Über der Station lag Piccadillly-Circus, mit seinen Autobussen, dem grellen Glanz zuckender, blinkender Lichtreklamen, ein runder Platz, in den ein halbes Dutzend Straßen ihren Verkehr hineinpumpten. Alles war in Bewegung, hastend und lärmend.
(Lederer: Sturz ins Dunkel, S. 59)

Und was ihr Blick dabei immer wahrnimmt, sind Informationen über die sozialen Verhältnisse, die sich dem Stadtbild einschreiben:

Es war die Straße der Juweliere, die Eheringe auf Raten verkauften und über ihrem Firmenschild drei große vergoldete Kugeln hatten, als Zeichen, daß sie auch Pfandleiher waren. Es war die Straße der „von Herrschaften abgelegten Kleider“, der auf Teilzahlung erhältlichen Möbelstücke aus minderwertigem Holz, der Vergnügungsarkaden, in denen die Halbwüchsigen herumlungerten und aus komplizierten Glücksmaschinen Manschettenknöpfe, nackte Zelluloidpüppchen oder anderen Kram herauszufischen versuchten.
(Lederer: Sturz ins Dunkel, S. 201)

Was sie darüber hinaus fast in allen Büchern einbringt, ist die konkrete zeithistorische Verankerung, seien es Traumatisierungen durch den Ersten Weltkrieg oder eine Kindheit im Faschismus, seien es die Folgen der Weltwirtschaftskrise für das Leben kleiner Angestellter. Allerdings verwendet Lederer dafür so behutsam leisen Töne, dass es auch dem forschenden Blick oft verborgen bleibt, und ihre (Exil)Romane unter dem Aspekt einer „vollständigen Abwesenheit jeglicher direkter Zeitbezüge“ gelesen werden (Hania Siebenpfeiffer: Liebe in Zeiten des Exils. Joe Lederers Exilromane zwischen Kitsch, Kommerz und Idylle. In: Zwischen den Zeiten. Junge Literatur in Deutschland von 1933 bis 1945. Hg.: Uta Beitküfner, Hania Siebenpfeiffer. Hamburg: Edition Lotos 2000, S. 97–115, S. 103). Die Zeit der Verfolgung und Vertreibung freilich bearbeitete Lederer tatsächlich nur indirekt mit dem Erlebnis der radikalen Entwurzelung in ihrem Roman „Blatt im Wind“.