Lili Körber

Die österreichische Schriftstellerin und Journalistin Lili Körber gehört zu jener Generation deutschsprachiger Autorinnen, die um 1900 geboren wurden und in den zwanziger Jahren debütierten – wie Veza Canetti, Mela Hartwig, Gina Kaus, Irmgard Keun, Ruth Landshoff-Yorck, Erika Mann oder Anna Seghers. Ihre literarischen Karrieren wurden durch die politischen Zäsuren von 1933 bzw. 1938, die viele von ihnen ins Exil trieb, in der Regel abrupt unterbrochen, nicht alle konnten unter den neuen Arbeitsbedingungen reüssieren. So gelang es Lili Körber im US-amerikanischen Exil nicht, an ihre vorigen literarischen Erfolge anzuknüpfen. Erst im Kontext der Exilforschung wurde sie in den 1980er Jahren wiederentdeckt.

Von Walter Fähnders | Dezember 2016

Inhaltsverzeichnis

  1. Literarische und politische Anfänge
  2. Das Debüt – Eine Frau erlebt den roten Alltag
  3. Zeitromane der dreißiger Jahre
  4. Exil in Frankreich und den USA

1. Literarische und politische Anfänge

Lili Körber wurde am 25. Februar 1897 in Moskau als Tochter des österreichischen Seidenkaufmanns Ignaz Körber (Wien 1865 / Frankreich 1944) und seiner aus Warschau stammenden Frau Jeannette (Warschau 1874 / Liège, Belgien 1946) geboren. Jüdischer Herkunft (dazu Lemke: Lili Körber, S. 181f.), wuchs sie dreisprachig auf, neben russisch und deutsch lernte sie durch ihre Erzieherinnen auch die französische Sprache. Durch eine liberale Erziehung u.a. in einer Privatschule wurde sie offenbar frühzeitig mit der sozialen Frage im zaristischen Russland konfrontiert. Seit Beginn des Ersten Weltkriegs sah sich die Familie ausländerfeindlichen Angriffen ausgesetzt, die Tochter musste die Schule verlassen, der Vater wurde zeitweilig inhaftiert. Nach seiner Freilassung 1915 floh die Familie nach Berlin und siedelte von dort nach Wien über. Lili Körber ging in die Schweiz und hielt sich studienbedingt an verschiedenen Orten auf: Im Wintersemester 1917/18 begann sie ihr Philologie-Studium (Germanistik, Romanistik) an der Universität Bern, legte freilich erst 1918, und zwar in Basel, die Matura ab. Nach weiteren Studiensemestern an den Universitäten Lausanne, Genf und Jena promovierte sie schließlich 1925 an der Universität Frankfurt am Main mit einer germanistischen Arbeit über die Lyrik des expressionistischen Dichters Franz Werfel (Rigorosum am 2.2.1925). Nach dem Studium ging sie nach Wien zurück, wo sie sich bis zur Emigration überwiegend aufhielt.

Nach eigenem Bekunden schrieb Lili Körber seit ihrem achten Lebensjahr. Ihre erste nachweisbare Publikation datiert aus dem Jahr 1927 und erfolgte in der Wiener Arbeiter-Zeitung, in der sie bis 1932 (mit einer Unterbrechung für die Jahre 1930/31) mehr als 40 Beiträge, darunter auch Übersetzungen aus dem Russischen, veröffentlicht. Seither schrieb sie in zahlreichen linken Zeitungen und Zeitschriften, 1929/30 auch in der Wiener Roten Fahne sowie in weiteren Wiener Periodika, bald auch in Berliner Zeitschriften, die der KPD nahestanden, wie Magazin für Alle, Das neue Rußland, Arbeiter-Illustrierte-Zeitung (AIZ), Der Weg der Frau.

Abb. 1: Lili Körber in den dreißiger Jahren

Lili Körbers Einstieg in die politisch-literarische Szene Wiens ist nicht genau zu rekonstruieren – offenbar pflegte sie in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre Kontakt zu der ehemaligen Lenin-Mitarbeiterin Angelica Balabanoff sowie sporadisch womöglich auch zu Ernst Fischer. 1927 besucht Trude Richter, wenig später Sekretärin des deutschen „Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller“ (BPRS), ihre ehemalige Kommilitonin Körber in Wien. Später wird sie sie politisch als eine mit der kommunistischen Bewegung „Sympathisierende“ einschätzen (Trude Richter: Die Plakette. Halle 1972, S. 66).

Ob Lili Körber in der österreichischen Sozialdemokratie als Mitglied organisiert war, womöglich auch nur vorübergehend, ist nicht endgültig geklärt. Offenbar orientierte sie sich um 1930 zeitweilig an der KPÖ, wie auch ihr Gedicht Aufruf der SPOe. an die Wiener Arbeiterschaft (in: Die Rote Fahne (Wien) vom 17.11.1929, S. 2, wieder in: Die Rote Fahne (Berlin) vom 23.11.1929, Beilage) ausweist, in dem sie sich von der Sozialdemokratie angrenzt. Allerdings schreibt sie seit 1932 auch wieder für die Arbeiter-Zeitung.

Gesichert ist, dass Lili Körber zu den Gründungsmitgliedern des um den Wiener Schriftsteller und Journalisten Ernst Fabri) 1930 gegründeten  „Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Österreichs“ (BPRSÖ gehörte, als dessen „1. Schriftführerin“ wurde sie am 9.2.1930 in den Wiener Bundesvorstand gewählt. Wohl in ihrer Funktion als Schriftführerin (und Russischkennerin) des BPRSÖ nahm sie im November 1930 zusammen mit Fabri, Franz Janiczek und Hans Maier an der Zweiten Internationalen Konferenz proletarischer und revolutionärer Schriftsteller in Charkow teil, ohne dass sie freilich in der Teilnehmerliste auftauchte. Bereits 1928 und 1929 hatte sie kürzere Rußlandreisen unternommen (vgl. Lili Körber: „Ich bringe euch Grüße von den Russen“. In: Die Rote Fahne vom 1.12.1929, S. 5). Offenbar ist sie später aus nicht bekannten Gründen wieder ausgetreten (nach einer Notiz in: Die Linkskurve 2, 1930, H. 4, S. 32). Später nahm sie an der konstituierenden Hauptversammlung der Wiener „Vereinigung sozialistischer Schriftsteller“ vom 22.1.1933 teil, in deren Vorstand sie am 4.2.1934 gewählt wurde. Die „Vereinigung“ wurde bereits am 2.3.1934, der BPRSÖ am 7.3.1934 durch die Dollfuß-Regierung verboten.

Lili Körbers Verankerung im linken Milieu erfolgte also nicht zuletzt über Russland, das auch eine zentrale Rolle bei ihrem Debüt als Schriftstellerin spielte. Die dortige politische und kulturelle Entwicklung fand seit den zwanziger Jahren das rege Interesse nicht nur linker Kreise und manifestierte sich bekanntermaßen in einer Fülle von Reportagen und Reiseberichten. Bei Lili Körber kam hinzu, dass sie sich ihrem Herkunftsland weiterhin verbunden fühlte, in diesen Jahren auch politisch-ideologisch, und sie es demgemäß zu einem ganz zentralen Thema ihrer frühen publizistischen Arbeiten machte. Als eine der wenigen unter den linken Journalisten, die des Russischen mächtig war, fiel ihr zudem eine exponierte Rolle zu – nicht zuletzt als Übersetzerin und später vor Ort gelegentlich auch als Dolmetscherin. Ihre genauere politische Position zeigt sich einmal in der regen Arbeit für die sozialistische Arbeiter-Zeitung, ihr Debüt in der kommunistischen Wiener Roten Fahne am1. Mai 1928 (mit der Dorfgeschichte Liebesstreik um Mitjka, die bereits am 12.2.1928 in der Arbeiter-Zeitung erschienen war und die leicht gekürzt unter dem Titel Der Ehestreik. Eine Bauerngeschichte erneut in der Roten Fahne vom 12.1.1930 publiziert wurde.) Ihre Rußlandtexte bieten genremäßig häufig ein Mixtum aus fiktionalen und faktualen Elementen. Sie behandeln nicht die große Politik, sondern sind in der Regel Momentaufnahmen der sowjetischen Gegenwart, bieten Vergleiche zwischen dem zaristischen und dem sozialistischen Russland, gestatten Einblicke in kulturelle Praxen des Landes, beispielsweise in der Reportage Das Theater für Kinder in Moskau (in: Arbeiter-Zeitung vom 14.10.1928). Häufig wird die Rolle der Frau im neuen Russland thematisiert, gelegentlich berühren bzw. überschneiden sich ihre Berichte mit ihrem ersten Buch, Eine Frau erlebt den roten Alltag. So in der Skizze Das Gericht über Vera, die im November 1932 erschien in der von Willi Münzenberg herausgegebenen Zeitschrift Der Weg der Frau erschienen ist.

Abb. 2: Aus: Der Weg der Frau (1932), Nr. 11, S. 11-12
2. Das Debüt – Eine Frau erlebt den roten Alltag
Abb. 3: Erschienen 1932 in Berlin (Umschlaggestaltung von John Heartfield)

Ihre Russlandreise von 1930 wusste Lili Körber auch privat für sich zu nutzen. Sie blieb fast ein Jahr im Land und arbeitete u.a. einige Wochen in den Putilow-Werken in Leningrad, einer der renommiertesten und traditionsreichsten Metallbetriebe Russlands. 1931 kehrte sie nach Wien zurück und schrieb ihr Buch Eine Frau erlebt den roten Alltag. Ein Tagebuch-Roman aus den Putilowwerken. Am 29.2.1932 erschien bereits ein Vorabdruck in Arbeiter-Zeitung („Begegnung mit Wera Figner“), das Buch selbst kam Mitte 1932 bei Rowohlt in Berlin heraus und erfuhr bis 1933 zahlreiche überwiegend positive Besprechungen. Damit machte sich die junge Autorin schlagartig einen Namen.

In einer Selbstanzeige hat sie 1932 ihr Buch charakterisiert:

„Trotz der Ich-Form ist dieses Buch keine persönliche Angelegenheit. Meine Absicht war, die Sowjetwirklichkeit selbst sprechen zu lassen und alles, was ich als Arbeiterin, als Schriftstellerin und als Frau erlebt habe, möglichst getreu wiederzugeben. Im Mittelpunkt steht der Riesenbetrieb, die Putilow-Werke, in denen ich einige Monate als Bohrerin an der Maschine gestanden habe. Der Puls des Fünfjahrsplanes schlägt hier in tausend Kleinigkeiten, in Dingen und Menschen. Aber nicht leicht fällt der Westlerin, der Individualistin, sich in den neuen Rhythmus des Kollektivs einzufügen. Trotz Ehrlichkeit, trotz gutem Willen und Bewunderung für die so selbstlosen Arbeiterkollegen will ihr das manchmal gar nicht gelingen. Dieser Kampf bildet den eigentlichen Roman, der Weg der Ich-Heldin geht symbolisch von einem unbekümmerten amerikanischen Ingenieur zu einem russischen Kommunisten. (In: Wiener Literarische Signale. Hg. Buchhandlung Moritz Perles. Winter-Nr. Wien 1932; zitiert nach Lemke: Lili Körber, S. 102f.

Innerhalb der florierenden Russlandliteratur um 1930 bietet Lili Körbers Buch durchaus ein Novum, wie der Klappentext des Verlages rhetorisch recht geschickt ausweist. Er lautet:

„Dieser Tagebuchroman einer Wienerin, die auf ein Jahr in den ‚roten Betrieb’ der Putilow-Traktorenwerke als Arbeiterin eingetreten ist, enthält mehr als persönliche Erlebnisse und Bekenntnisse und ist reicher als es eine objektive Darstellung des heutigen Leningrad sein könnte. Hier spricht nicht ein kritisch beobachtender Fremder, hier schlägt ein lebendiges Menschenherz. In Werkstatt und Krankenhaus, im möblierten Zimmer und auf der Straße kämpft sie Tag für Tag mit Qual und Lust den schweren Liebesstreit des Einzelwesens mit dem Kollektiv. Immer wieder findet ein Ausgleich statt und immer wieder bricht der Kampf von neuem los. Wir bekommen eine Vorstellung von der unendlichen Kleinarbeit, deren es bedarf, um die Menschen für neue Ideen reif zu machen. Wir erleben mit einer Liebenden und Begeisterten das Dilemma: Fünfjahresplan und Menschenherz.“

Von der literarischen Machart her wird hier das Fiktionale mit den Faktualen synthetisiert, indem die besonderen Möglichkeiten des einen mit denen des anderen verbunden werden: Es geht nicht nur, aber auch, um „persönliche Erlebnisse und Bekenntnisse“ und nicht nur, aber auch um eine „objektive Darstellung“. Damit soll in den zeitgenössischen Authentizitäts-Diskurs, der um die Frage von Objektivität bzw. Parteilichkeit gerade der Reportage kreiste, eine neue Pointe gegeben werden. Dass als Berichterstatterin zudem eine Frau, eine Wienerin, im Mittelpunkt stand, bedeutete in der männlich dominierten Russlandliteratur ebenfalls einen zusätzlichen Leseanreiz.

In diesem „Tagebuch-Roman“ geht es also um die bekannten Leningrader Putilow-Werke, in denen die Protagonistin, eine bürgerliche Intellektuelle aus dem kapitalistischen Westen, über zwei Monate arbeitet. Diese Zeitspanne bildet die Berichtszeit der fast täglichen, knapp 60 Tagebucheinträge, die das Buch ausmachen, versehen mit zwei Faksimiledrucken der Lohnzettel, ausgestellt auf den Namen von Lili Körber. Unzweifelbar Authentisches und ganz Subjektives werden zusammenmontiert – so bietet sich den Rezipienten eine vielseitiges Panorama von Informationen, Meinungen, Erlebnissen, Rückblenden und Reflexionen, deren Anordnung in Topographie und Chronologie der gattungseigenen, ‚offenen’ Form eines Tagebuchs folgt. Die Aufzeichnungen vermitteln ein vielfältiges Bild des sozialistischen Alltags im Betrieb, aber auch in der Freizeit. Eine Art roten Faden bildet eine Liebesgeschichte, bei der die Autorin nicht in die Falle eines Happy-End tappt (Trennung vom amerikanischen Freund bei unerfüllter Liebe zu einem russischen Kader) – es geht vielmehr um Lern- und Wandlungsprozesse der Protagonistin. Am Schluss steht der Abschied von ihren Arbeitsgefährtinnen und die Rückreise. Es ist ein einhellig positives und dabei facettenreiches Russlandbild, das dem Lesepublikum der frühen dreißiger Jahre geboten wird.

So lautet auch der Tenor vieler Besprechungen. In seiner umfangreichen Würdigung des Buches betont Siegfried Kracauer

„die Darstellung des Fabrikmilieus aus der Perspektive der Arbeiterin. Man erhält hier wirklich einen inhaltlich erfüllten Begriff von den Veränderungen, die seit Beginn des sozialistischen Aufbaus mit dem Alltag des russischen Proletariats vor sich gegangen sind. Wie sich ein Dasein ohne materielle Existenzangst ausnimmt; wie die Freizeit genutzt wird; wie Schichten, denen der Weg nach oben früher versperrt war, jetzt durch die Ergreifung der staatlichen Macht in Bewegung kommen und ein gewaltiges Streben entwickeln – das alles tritt uns aus der Reportage sinnfällig entgegen.“ (S[iegfried] Kracauer: Aus dem roten Alltag. In: Frankfurter Zeitung Nr. 548 v. 24.7.1932, 2. Morgenblatt (=Literaturblatt Jg. 65, Nr. 30, S. 5)).

Auch die Wiener Rote Fahne würdigte das Buch (Bertha Braunthal: Eine Frau erlebt den roten Alltag. In: Die Rote Fahne vom 21.8.1932, S. 8). Selbst das Literaturblatt der Neuen Freien Presse konzediert in einer ansonst eher ironische gehaltenen Kritik der Autorin „subjektiv gute Absicht und echten Begeisterungsglauben“ (Emil Kläger: Erlebte Bücher von Frauen. In: Neue Freie Presse Nr. 24383 vom 31.7.1932, S. 8). Lili Körbers Stellung im literarischen Leben vor 1933 wurde durch dieses Buch und seine Rezeption durchaus gestärkt.

3. Zeitromane der dreißiger Jahre

Ihre weiteren Buchpublikationen orientierte Lili Körber in Titelgebung und Machart z.T. am erfolgreichen Erstling: Auf Eine Frau erlebt den roten Alltag folgte 1934 in Wien Eine Jüdin erlebt das neue Deutschland (Neuausgaben 1984 und 1988 u.d.T. Die Ehe der Ruth Gompertz) und 1938, nun schon im Zürcher Exil, Eine Österreicherin erlebt den Anschluß. Dazwischen liegen der Reisebericht Begegnungen im Fernen Osten und eine NS-Parodie, der „satirische Zeitroman“ Sato-San, ein japanischer Held, beide 1936 in Budapest bzw. Wien erschienen.

Den dokumentarischen Anspruch von Eine Jüdin erlebt das neue Deutschland formuliert die Autorin in einer Vorbemerkung: „Das in diesem Buch enthaltene zeitgeschichtliche Tatsachen-Material ist durchaus authentisch und quellenmäßig belegbar. Um den Ablauf der historischen Geschehnisse mit der Entwicklung der geschilderten Einzelschicksale in Einklang zu bringen, wurde die chronologische Aufeinanderfolge der Fakten nicht in allen Fällen eingehalten.“ (Körber: Eine Jüdin erlebt das neue Deutschland / Neuausgabe 1984, S. 18). In der Tat bietet der Roman ein genaues zeitgeschichtliches Panorama der deutschen Entwicklung zwischen Sommer 1932 und April 1933 (Anfang 1933 hielt sich Lili Körber zeitweilig in Berlin auf). Im Mittelpunkt stehen die assimilierte jüdische Schauspielerin Ruth Gompertz und ihr nicht-jüdischer Mann, der Ingenieur Arnold Borchardt. Umgeben sind sie von einer Vielzahl von Nebenfiguren, die ein zeittypisches Ensemble von individuellen und zugleich exemplarischen Lebensläufen in Berlin und anderswo präsentieren. Es sind Umstände, die auch zur Entfremdung von dem zunehmend nationalsozialistisch sich orientierenden Ehemann führen. Der Aspekt widerständigen Verhaltens klingt an, so bei Ruth Gompertz‘ linker Schauspielerkollegin Irma Fink, die nach dem Reichstagsbrand in die Niederlande flieht und somit die Option des Exils verkörpert. Diese Option mag die Protagonistin für sich nicht wählen – zu sehr scheint sie der Heimat, ihrer Ehe und ihrem Beruf trotz aller Widrigkeiten verbunden. Der Roman endet mit dem Selbstmord der Protagonistin, die keinen anderen Ausweg mehr aus der Repression gegen die Juden und gegen sich selbst sieht.

„Ne vous découragez pas“, schrieb Romain Rolland nach Erhalt des Buches im Juni 1933 an Lili Körber (zitiert nach Hertling: Quer durch, S. 113). Der Roman erfuhr bei einem Erscheinen in Wien und wenig später nach einem Verlagswechsel in Zürich 1934 nur geringe Resonanz und wurde 1935 wegen angeblicher Gotteslästerung auf Antrag der Wiener Staatsanwaltschaft verboten. Wirklich bekannt wurde er erst nach seiner Neuausgabe 1984, wobei er wiederum als eine Art antifaschistischer Kampfschrift missverstanden wurde (vgl. Lemke: Lili Körber, S. 118f.). Das ist er sicher nicht, wohl aber bietet er als kaleidoskopisch angelegter Zeitroman hautnah Einblicke in das frühe nationalsozialistische Deutschland und seine rassistische Politik. Unter dem Aspekt des Zeitromans ist das Buch gelegentlich nicht zu Unrecht mit Lion Feuchtwangers Geschwister Oppenheim verglichen worden. Im Neuen Vorwärts bemerkt ein Rezensent: „Wie Feuchtwanger in seinen ‚Geschwister Oppenheim‘, so gibt auch Lili Körber eine knappe, eindringliche Darstellung Hitlerdeutschlands. Nicht etwa eine sentimentale Leidensgeschichte des Judentums, sondern eher eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Typen ihres Stammes.“ (Zitiert nach Lemke: Lili Körber, S. 116). Der Rezensent der Arbeiter-Zeitung dagegen betont den authentischen Erzählansatz:

„Die Autorin hat zweifellos das Verdienst, diese Ereignisse mit großer Genauigkeit wiedergegeben und die Erzählung erschütternder Verfolgungen durch reichliches dokumentarisches Material gestützt zu haben, aus dem die unglaubliche Brutalität, die heuchlerische oder höhnische Verlogenheit der herrschenden Politik, ihrer Praxis und ihrer Theorie überzeugend hervorgebracht.“ (Zitiert nach Lemke: Lili Körber, S. 116).

Die politischen Wirren in Österreich 1934, die u.a. das Verbot der SDAP und ihrer Presse zur Folge hatten, dürften nicht nur der Verbreitung des Buches hinderlich gewesen sein, sondern veränderten auch grundlegend die politische Landschaft Österreichs. Lili Körber brach im April 1934 zu einer Reise in den Fernen Osten auf, nach Japan und China, deren Verlauf und Hintergründe kaum mehr zu rekonstruieren sind; allerdings war 1934 ihr Russland-Buch ins Japanische übersetzt worden (vgl. Lemke: Lili Körber, S. 125f.). Literarische Frucht dieser Reise waren zwei Bücher, die beide 1936 erschienen sind. In ihnen erprobte sie neue Ausdrucks- und Erzählformen.

Die 1935 abgeschlossenen und 1936 in Budapest erschienenen Begegnungen im Fernen Osten, von denen Auszüge bereits 1934 in der Neuen Weltbühne, dem Prager Tagblatt und im Wiener Tag erschienen waren, sind eine journalistisch geprägte Arbeit, die das Narrative reduziert und keinen definierten Plot aufweist. Auf diesem Zusammenhang geht das Pariser Tageblatt in einer der wenigen Besprechungen des Buches ein:

„Wenn Lili Körber ein neues Buch herausgibt, horcht man auf und sobald man es in Händen hat, geht man neugierig und interessiert (was keinesfalls identisch ist) an die Lektüre. Dieses Doppelgefühl entspricht dem Wesen ihrer Begabung. Sie ist Schriftstellerin und Journalistin zugleich, und zwar nicht wie so viele, je nach Bedarf auf beiden Gebieten schaffend: nein, in allen ihren Werken ist neben dem breiten, gemessenen Gang der epischen Gestaltung der leichte, beschwingte Schritt  des wahren Journalismus zu spüren. Diese glückliche Synthese erweckt in uns die Neugier auf das Aktuelle und Gegenständliche des Themas und das subtilere Interesse für die Art der Darstellung, für die Fähigkeit der Verfasserin – vielleicht eine echt weibliche Fähigkeit – die objektive Betrachtungsweise und die sehr persönliche Einstellung zu den Dingen miteinander zu verbinden, wobei es ihr gelingt, deren Schilderung unter diesem doppelten Aspekt zu einem überaus lebendigen Zeitdokument zu gestalten. Sie ist der Typ des Schriftstellers, den unsere Zeit braucht, den diese Zeit selbst hervorgebracht hat. Das ist das Geheimnis ihres Erfolges, ihrer Beliebtheit, ihrer literarischen Bedeutung.“ (Gill [?]: Lili Koerber: „Begegnungen im Fernen Osten“. In: Pariser Tageblatt vom 22.03.1936, Nr. 831, S. 3).

Abb. 4: Erschienen 1936 in Budapest

Es wird entlang der Reisechronologie Bericht erstattet, Ausgangspunkt ist Moskau, von wo aus die Reisenden auf dem Landweg in Richtung Ferner Osten startet. Immer wieder wird die dem europäischen Besucher fremd anmutende japanische Kultur vorgeführt, von der Architektur bis zur Wohn- und Esskultur, dabei gestattet die Begleitung ihres japanischen Übersetzers Einblicke auch in Verborgenes, und sei es ein Bordell. Bemerkenswert ist das Schlusskapitel, überschrieben „Unter jüdischen Robinsonen“ – Lili Körber berichtet hierin von ihrem Besuch in Birobidschan, der Hauptstadt des 1931 unter Stalin gegründeten Jüdischen Autonomen Gebietes in Sibirien. Die Erzählerin stellt die Frage: „In zehn Jahren ist Birobidschan eine Stadt mit Parkanlagen, hohen Häusern und einem richtigen Strassenverkehr. Und in fünfzig Jahren?“ Der Blick geht zurück von der Zukunft („wie wird Birobidschan, wie wird die Welt in fünfzig Jahren aussehen?“) in die unmittelbare Gegenwart:„Es ist kalt geworden, vermutlich die Westwinde aus Sibirien. Morgen steige ich in den Express Wladiwostok–Moskau. In neun Tagen bin ich in Moskau, wenn es keine Verspätung gibt. In elf Tagen zu Hause, in der ‚Bequemlichkeit‘, wo es nichts mehr zu schaffen gibt.“ (Körber: Begegnungen im Fernen Osten, S. 381). Damit endet der Bericht.

Ihr zweites Japan-Buch, Sato-San, ein japanischer Held. Satyrischer Zeitroman, hat ein anderes Profil. In einer Selbstanzeige schreibt die Verfasserin:

„Wir haben so viele Bücher, die unsere heutigen Probleme ernst und mit all ihren tragischen Auswirkungen behandeln. Ich hatte das Bedürfnis, es einmal von der humorvollen Seite zu tun, ohne diese Probleme zu verflachen. Allerdings auch auf ernste Weise: neben den Abenteuern des ‚Helden‘ Sato-San und seiner Spießgesellen wird die Geschichte des stillen Malers Ikawa erzählt, der,, wie die jungen Intellektuellen Japans, sich um die Synthese zwischen Osten und Westen bemüht und aus dieser Sehnsucht heraus sich in das helle blonde amerikanische Mädchen verliebt. Diese Doppelhandlung ist in eine Reportage über Japan eingebettet – denn das Romanhafte genügt uns nicht, wenn wir ein Buch über den fernen Osten in Händen halten, wir wollen auch etwas über Land und Leute erfahren.“ (Zitiert nach Lemke: Lili Körber, S. 137f.)

Durch den versuchten Militärputsch in Japan Anfang 1936 und das deutsch-japanische Bündnis-Abkommen Ende des Jahres (und dem Krieg mit China 1937) stand Japan durchaus im Fokus des öffentlichen Interesses, was zur Verbreitung des Buches beigetragen haben mag. Für seine rundum positive Aufnahme in der Kritik mag folgende Kurzrezension stehen:

„Die Geschichte dieses ‚Helden‘, satirisch und doch ernsthaft erzählt, gibt einen im guten Sinne populären Einblick in Leben und Treiben jenes immer mehr in den Blickkreis der Europäer rückenden Inselvolkes.
Eindringlich zeigt uns die Verfasserin, die schon häufig in ihren Reportagen aus dem Fernen Osten bewiesen hat, dass sie neben der Beobachtungsgabe auch ein tiefes Verständnis für diesen Kulturkreis aufbringt, die grossen Wesensunterschiede zwischen West und Ost. Trotz dieser unleugbar vorhandenen Unterschiede aber leuchtet auch aus dieser lebenswahren und –warmen Schilderung das allgemein menschliche hervor, das uns an den schliesslichen Sieg der Vernünftigkeit einer Gesellschaftsordnung über die ganze Erde hinweg glauben lässt. Es ist sicher kein Zufall, dass das Buch mit dem Bekenntnis eines durch nationalistische Exzesse zeitweilig Irregeleiteten schliesst: ‚dass die Gemeinschaft des Geistes höher steht als die Gemeinschaft des Blutes‘. Freilich: Auch ihren Demagogen haben die Japaner in der Darstellung Lili Körber; ihren hochtrabenden Schwafler und seinen Propaganda-Chef. Ganz wie bei uns in Europa!

Ein guter und lehrreicher, anregend geschriebener Roman, den jeder gern lesen wird und sollte.“ (Ernst Friesius [d.i. Willi Eichler]: Lili Koerber: „Sato-San. Ein japanischer Held.“. In: Sozialistische Warte 12, 1937, Nr. 3 vom 1.2.1937, S. 61.)

In der Tat erfährt man nicht nur Vieles über Japan, sondern per Anspielung oder gebrochen in der japanischen Verfremdung auch ein wenig über die aktuellen deutschen Verhältnisse, so wenn das Programm der japanischen Nationalisten präsentiert wird, das dem der Nationalsozialisten ähnelt. Als dezidierte Hitler-Satire wird der Roman in der zeitgenössischen Kritik aber nicht wahrgenommen (vgl. Lemke: Lili Körber, S. 143 u. S. 148f.).

Wohl im September 1934 aus Japan nach Wien zurückgekehrt, lebte Lili Körber bis 1938 in Wien. Dort konnte sie auch weiterhin publizieren, trotz des Prozesses gegen Eine Jüdin erlebt das neue Deutschland. Dagegen standen ihre Bücher in Deutschland bereits seit 1934 auf schwarzen Listen, ihre „Sämtlichen Schriften“ wurden auf der Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums von 1938 aufgeführt. Publikationsmöglichkeiten in Deutschland bestanden also nicht mehr. Stattdessen hat sie an der deutschen Exilpresse mitgewirkt, so am Pariser Tageblatt bzw. der Pariser Tageszeitung. Dies tat sie noch von Wien aus, wo sie zu dieser Zeit noch in österreichischen Zeitschriften publizierte – bis sie nach dem sog. ‚Anschluss‘ 1938 emigrierte.

4. Exil in Frankreich und den USA
Abb. 5: Lili Körber

Lili Körber floh wenige Tage nach dem ‚Anschluss‘ Österreichs im März 1938 in die Schweiz und dann, von Zürich aus, kurze Zeit später nach Paris, wo sie eine Carte d‘Identité erhielt. Wohl bis zum Herbst 1938 lebte sie zusammen mit ihrem ebenfalls emigrierten Lebensgefährten Erich Grave, den sie 1940 heiratete und der später in den USA als Soziologe an der Columbia University arbeitete, in Paris und danach in Lyon. Mit Unterstützung des Emergency Rescue Committees konnten beide über Marseille, Madrid und Lissabon schließlich in die USA gelangen. Seit ihrer Ankunft am 23.6.1941 lebte Lili Körber in New York, wo sie am 11. Oktober 1982 starb.

Offenbar verabredete Lili Körber noch während ihrer Zwischenstation in Zürich 1938 mit der dortigen sozialdemokratischen Tageszeitung Das Volksrecht, die bereits 1933 ihr Russland-Buch in Fortsetzungen nachgedruckt hatte, die Publikation eines Romans zur aktuellen Entwicklung in Österreich. Bereits wenige Wochen später, ab dem 23. April 1938, erschien der Fortsetzungsroman Eine Österreicherin erlebt den Anschluß unter dem Pseudonym Agnes Muth, das von den Zeitgenossen wohl kaum entschlüsselt worden ist. Die Publikation wurde am 17. September 1938 mit der 21. Folge abgeschlossen, ein Buchausgabe erschien erst postum 1988.

Mit dem Titel Eine Österreicherin erlebt den Anschluß knüpfte Lili Körber programmatisch an ihre frühen Erzählmodelle an – es geht um authentische, faktuale und chronikhafte Episoden aus der Gegenwart, dargeboten als fiktives Tagebuch aus dem Jahr 1938. Die Einträge beginnen mit „Wien, 12. Februar, Abend“, der letzte Eintrag ist datiert „19. März“. Die eher linke Tagebuchschreiberin Agnes Muth, die Angestellte in einem Verlag ist und einen sozialistischen Bruder und einen jüdischen Freund hat, protokolliert und bilanziert die letzten Tage des selbständigen Österreich. Es geht um die Machinationen Hitlers und der Nationalsozialisten in Österreich und blendet entsprechende Sachinformationen und Tatsachenmaterialien ein, z.B. Rundfunkreden, zur Beglaubigung ein. Mit dem tagesaktuellen Faktenreichtum korrespondiert die Vielzahl individueller Porträts unterschiedlichster Charaktere, von linken Oppositionellen bis zu Sympathisanten. Der Ich-Erzählerin bleibt angesichts der aktuellen Bedrohungssituation schließlich nur mehr die Flucht in die Schweiz, die in ebenso beklemmender wie eindrucksvoller Weise protokolliert wird: „Ich schreibe diese Zeilen im Zug“ (Eintrag „18. März“) und, als die Schweizer Grenze erreicht ist: „Ich kann es noch immer nicht glauben … Weit und breit keine Nazifahnen.“ (letzter Eintrag vom „19. März“).

Im französischen Exil schrieb sie weiterhin Feuilletons, so für Das Volksrecht und die Pariser Tageszeitung, in den USA publizierte sie in der deutschen Emigrantenpresse. Zu einer Buchpublikation ist es aber, nach den beiden fernöstlichen Reisebüchern 1936, nicht mehr gekommen.

In den USA pflegte Lili Körber offenbar Kontakte zum dortigen Exil – als sie 1941 im New Yorker Hafen ankam, wurde sie „durch Vertreter amerikanischer Hilfskomitees sowie sozialdemokratischer Genossen“ begrüßt (Hertling: Abschied von Europa, S. 122). Engerer Kontakt dürfte zur Neuen Volks-Zeitung bestanden haben, die von 1932 bis 1949 als Nachfolgeorgan der traditionsreichen New Yorker Volks-Zeitung erschien und die seit 1936 von dem ehemaligen SPD-Reichstagsabgeordneten Gerhart Seger geleitet wurde. Sie vertrat einen strikt antikommunistischen Kurs, auch gegenüber den kommunistischen Exilanten und dies auch noch nach Kriegseintritt der USA 1941. Dadurch unterschied sich dadurch vom konkurrierenden, ebenfalls in New York ansässigen Aufbau.

In den USA bildete sie sich als Krankenschwester aus, um den Lebensunterhalt finanzieren zu können, sie war aber auch weiterhin schriftstellerisch tätig. Allerdings fand sie kaum mehr Resonanz – Grund waren nicht nur der Verlust des deutschsprachigen Publikums, sondern vor allem die nach ihren Worten nicht gelungene sprachliche Umstellung auf das Amerikanische. Diese gelang bekanntermaßen nur sehr wenigen deutschsprachigen Exil-Autorinnen wie beispielweise Erika Mann oder Ruth Landshoff-Yorck. Pointiert gesprochen: das US-amerikanische Exil bedeutete mehr oder weniger das Ende von Lili Körbers literarischer Karriere. So konnte sie neben wenigen Zeitungsartikeln zwar 1942/43 noch den Fortsetzungsroman Ein Amerikaner in Russland publizieren. Diese Veröffentlichung in der erwähnten New Yorker Neuen Volks-Zeitung blieb aber letzte größere literarische Wortmeldung, die der Autorin vergönnt war: „Nach 1943 wird es still um Körber“, bilanziert ihre Biographin Viktoria Hertling (Hertling: Abschied von Europa, S. 123). Weitere Arbeiten blieben unveröffentlicht.

In Ein Amerikaner in Russland manifestiert sich eine gegenüber dem stalinistischen Sowjetrussland außerordentlich kritische bzw. ablehnende Position, die sich bei Lili Körber in den späteren dreißiger Jahren herausgebildet hatte. Die wenigen bekannten diesbezüglichen Zeugnisse verweisen nicht nur auf ein gegenüber der Zeit um 1930 merklich geringeres Interesse am Russland-Sujet bei ihren Publikationen, sondern auch auf eine zumindest privat geäußerte, heftige Kritik. 1934 heißt es in der Einleitung zu Eine Jüdin erlebt das neue Deutschland: „Es gehörte heute nicht mehr zum guten Ton, auf die Härten der Sowjetdiktatur hinzuweisen“ (Körber: Die Ehe der Ruth Gompertz, Ausgabe 1984, S. 20). 1937 schreibt sie noch aus Wien in einem unveröffentlicht gebliebenen Brief an die Pariser Tageszeitung: „Ich kann gar nicht verstehen, daß ein Mann wie Georg Bernhard kein Wort gegen Stalins Politik und die täglichen Ermordungen alter Revolutionäre findet.“ (Zitiert nach Lemke: Lili Körber, S. 103). Im selben Jahr bemerkt sie gegenüber einer Bekannten in der Schweiz nach ihrer Lektüre von André Gides russlandkritischem Reisebuch Retour de l’U.R.S.S. (1936): „Wissen Sie, es ist alles wahr, jedes Wort, ich kann es bezeugen. Wie oft wollte ich davon sprechen und schreiben, aber ich konnte es nicht richtig formulieren. Ich glaube, daß die Bolschewiken heute eigentlich auch Faschisten sind, glauben Sie nicht auch?“ (Unveröff. Brief vom 14.3.1937; zitiert nach Lemke, Lili Körber, S. 103).

Ein Amerikaner in Russland erschien vom 5.12.1942 bis 9.10.1943 in 35 Fortsetzungen. Ein Nachdruck erfolgte 1949 in der Wiener „Arbeiter-Zeitung“, wurde aber nach der 17. Fortsetzung von der sowjetischen Besatzungsbehörde gestoppt – und zwar wegen der Bezeichnung Stalins als „Sadist“, die die Redaktion im Gegensatz zu einer anderen vergleichbaren Stelle (Stalin als „Schurke“) nicht gestrichen hatte.

Lili Körber hat (vermutlich für die Redaktion der Neuen Volks-Zeitung)eine „Synopsis des Romans“ formuliert, die einen ausgezeichneten Überblick über Intention und Handlung vermittelt und hier deshalb abgedruckt sei:

„Mascha, die Dolmetscherin, gibt eine Gesellschaft für Frank Morris, den amerikanischen Ingenieur, der vor kurzem nach Moskau gekommen ist. Ihr Freund, der bulgarische Kommunist Michael Miranow, ist auch dabei. Am nächsten Tag besucht Mascha Miranow in seinem Büro und erfährt von seiner Sekretärin, einer älteren Dame, dass Michael ‚linker Abweichungen’ verdächtigt ist und gemieden wird. Mascha begleitet Michael in sein Hotel und versucht ihn zu überreden, die Sowjetunion zu verlassen, was für ihn als Ausländer möglich ist. Das lehnt Michael ab. Voller Sorge um ihn sucht Mascha Frank auf: ob er nicht einen Brief an Michails Mutter in Bulgarien schmuggeln könnte: die Mutter soll ihm schreiben, dass sie sehr krank sei und ihn noch einmal sehen will. Frank ist dazu bereit. Bei der Gelegenheit erfährt Mascha, dass Frank seit einem halben Jahr geschieden ist. Er behauptet, dass er es überwunden habe.

Amerikanische ‚Spezialisten’, wie sie genannt werden, treffen sich im Lebensmittelgeschäft für Ausländer und gehen dann miteinander ins Hotel. Evelyn, eine Freundin von Lilian, Franks geschiedener Frau, will mit ihm über sie sprechen, aber Frank weicht aus.

Am 1. Mai fahren die Amerikaner gemeinsam in den Vergnügungspark. Frank nimmt Mascha mit. Dort trifft sie unerwarteterweise ihren Vetter Nikolai, der ihr erzählt, dass man ihm Michails Arbeitsplatz zugewiesen habe. Michail kommt nicht mehr ins Büro. Mascha hat ihren Freund seit einiger Zeit nicht mehr gesehen. So oft sie ihn anrief sagte er ihr, er sei zu beschäftigt. Jetzt beschliesst sie, ihn sofort aufzusuchen, trotz der späten Stunde und der Gefahr, der sie sich aussetzt. Das Gespräch der beiden und die nachfolgende Verhaftung Michaels wird im Kapitel ‚Danton’ wiedergegeben. Mascha irrt die ganze Nacht verzweifelt in den Strassen umher. Am nächsten Morgen, in der Fabrik, bricht sie zusammen.

Michail wird zum Tode verurteilt und hingerichtet. Mascha macht eine lange Krankheit durch. Frank besucht sie oft und hilft so gut er kann. Er schlägt vor, dass sie zusammen auf Urlaub in ein Erholungsheim im Kaukasus fahren. Mascha ist einverstanden. Einen Monat später reisen sie ab. Bei ihrer Ankunft stellt sich heraus, dass man ihnen nur ein Zimmer reserviert hat. ‚That’s all right’, ruft Frank. Allein im Zimmer gesteht er Mascha seine Liebe und nimmt sie in seine Arme.

Das nächste Kapitel spielt in Paris. Lilian, Franks gewesene Gattin, ist dort mit ihrem Freund, einem italienischen Professor. Sie ist egozentrisch und verwöhnt, sie streiten ununterbrochen. Schliesslich läuft sie davon, ins amerikanische Konsulat. Der junge Vizekonsul, der nichts von ihrer Scheidung weiss, verspricht ihr, sich dafür einzusetzen, dass sie bald ein Visum in die Sowjetunion erhält.

Frank ist liebevoll zu Mascha und sie erholt sich, aber die Differenzen zwischen ihnen sind unüberbrückbar. Sie sind mit anderen Ideen und Prinzipien aufgewachsen. Plötzlich erscheint Lilian unter Intouristreisenden. Als er zu ihr spricht, fühlt Frank, dass sie ihm näher steht als je bevor [sic], doch beteuert er, dass er das russische Mädchen nicht verlassen könne. Sie verabschieden sich. Da kommt Mascha und sagt ihm, sie hätte mit seiner Frau gesprochen und er gehöre doch zu ihr nach Amerika. Er würde sich in der Sowjetunion niemals zu Hause fühlen. Frank fährt mit der Intouristgruppe fort. Mascha entschließt sich, in die Kollektivfarm zu gehen, wo Nikolai seine Ferien verbringt, um dort bei der Ernte zu helfen.“ (Zitiert nach der Erstpublikation bei Fähnders: „Roter Alltag“ – Lili Körbers Blicke auf Sowjetrußland 1932 und 1942, S. 457).

Im Gegensatz zum „Tagebuch-Roman“ Eine Frau erlebt den roten Alltag gibt sich Ein Amerikaner in Russland im Untertitel ausdrücklich als fiktional angelegter, auf Gattungsexperimente verzichtender „Roman“zu erkennen und verzichtet auf jene Authentifizierungs-Strategien, die das Buch von 1932 auszeichnete. Auf dieses verweisen aber Figurenkonstellation und intertextuelle Bezüge, sodass der Roman auch als Auseinandersetzung mit Lili Körbers literarischen und politischen Positionen ihres Romanerstlings gelesen werden kann (vgl. Fähnders: „Roter Alltag“ – Lili Körbers Blicke auf Sowjetrußland 1932 und 1942, S. 456-460). Die darin nur angedeutete Dreiecksgeschichte wird nun forciert, die seinerzeit differenziert dargebotene sowjetische Lebens- und Arbeitserfahrung entfällt, allenfalls der des Trotzkismus bezichtigte und als überzeugter Kommunist durchaus positiv gezeichnete Michail zieht, da unschuldiges Stalin-Opfer, noch Sympathie auf sich. Stalinismuskritik und Amerikanismus bzw. american way of life lassen sich als Zentren dieses Romans erkennen.

So ist dieser letzte Roman, den Lili Körber noch veröffentlichen konnte, Abgesang auch auf ihre vormalige politischen Hoffnungen, die sie um 1930 mit Sowjetrussland verband, wie nicht zuletzt die angedeuteten internen Verweise auf Eine Frau erlebt den roten Alltag verdeutlichen, von dem sie sich seither ausdrücklich distanziert. Über ihre Lage in den USA hat sie ein Gedicht verfasst, das den Zwiespalt zwischen der „alten“ und der „neuen Welt“ zum Thema macht:

Amerika, Amerika
Ich sitze zwischen zwei Stühlen,
Der alten und neuen Welt,
Dort bin ich mit meinen Gefühlen,
Doch hier verdien ich mein Geld.
Dort schrieb ich glühende Verse
Und sang „Zur Freiheit, zum Licht!“
Hier spiel‘ ich auf der Börse
Und höre den Baseballbericht.
Oh neue Welt, die mir mein Ich zerriß,
Mein Selbstbewußtsein und mein Selbstvertrauen,
Du bist wie ein nicht passendes Gebiß,
Doch ohne Dich könnte ich nicht kauen.

(Zitiert nach Sigrid Schmid: Lili Körber (exilarchiv.de)

Abb. 6: Cover der Neuausgabe von Eine Jüdin erlebt das neue Deutschland (Mannheim: persona, 1984)

Weitere Werke aus der Zeit des US-amerikanischen Exils und den Nachkriegsjahren blieben ungedruckt, einige wenige Publikationen erschienen in den fünfziger Jahren in der Arbeiter-Zeitung. Lili Körbers Nachlass befindet im Deutschen Exilarchiv 1933-1945 der Deutschen Nationalbibliothek (Frankfurt am Main), darunter der Roman Farewell To Yesterday sowie die wohl als Kinder- und Jugendbuch konzipierten Memoiren einer Schreibmaschine.

In ihren letzten Lebensjahren erlebte Lili Körber noch die beginnende Wiederentdeckung und Erforschung ihres Oeuvres, das einen gewichtigen Beitrag zur deutschsprachigen Rußland- und Reiseliteraturliteratur wie zum antifaschistischen Zeitroman und der Exilliteratur darstellt.


Bibliographie Lili Körber

Pseudonyme: Agnes Muth; Silvia Broeck; A.M.

Selbständige Schriften und Werke in Fortsetzungsdrucken
  • Die Lyrik Franz Werfels. Phil. Diss. Universität Frankfurt am Main, 1925 [Masch.].
  • Eine Frau erlebt den roten Alltag. Ein Tagebuch-Roman aus den Putilowwerken. Berlin: Rowohlt, 1932. In Fortsetzungen auch in: Volksrecht (Zürich) 2.1.1933 bis 25.2.1933; englische Übersetzung u.d.T.: Life in a Soviet Factory. Novel. Übers. Claud W. Sykes, London 1933; japanische Übersetzung u.d.T.: Riri keruba: sove-tojokounonikki [„Tagebuch einer sowjetischen Arbeiterin“]. Übers. Tetsuo Teramoto/Haruto Inada. Osaka 1934; bulgarische Übersetzung u.d.T.: Chorata v segašna Rusija. Dnevnik-roman. [„Menschen im heutigen Rußland. Tagebuch-Roman“]. Sofia 1934.
  • Eine Jüdin erlebt das neue Deutschland. Roman. Wien: Richard Lanyi, 1934; nach Verlagswechsel: Zürich: Genossenschaftsbuchhandlung, 1934. Ungarische Übersetzung von Janka Gergely, Kosmos-Verlag 1934; polnische Übersetzung von G. Nadlerowa, 1935. Neuausgabe unter dem Titel: Die Ehe der Ruth Gompertz. Roman. Mannheim: persona 1984, 2. Aufl. 1897, wieder 2013; Neuauflage Leipzig: Kiepenheuer 1988.
  • [Zwischen Mann und Kind. Diese gelegentlich zitierte Angabe bei Hertling (Hertling: Lili Körber. Bibliographie (1994), S. 957), dieser im Nachlass erhaltener Roman sei 1935 im „Prager Tagblatt“ in 52 Fortsetzungen erschienen, ist nach den Forschungen von Lemke (Lili Körber, S. 159 u. S. 248) offenbar irrig.]
  • Begegnungen im Fernen Osten. Budapest: Biblos, 1936; englische Übersetzung von K.S. Shelvankar: Adventures in the East. Novel. London: Lane the Bodley Head, 1937.
  • Sato-San, ein japanischer Held. Satyrischer Zeitroman. Wien, Leipzig: Nath, 1936.
  • Eine Österreicherin erlebt den Anschluß. 1938, erschienen in 21 Fortsetzungen im Zürcher „Volksrecht“ (23.4. bis 17.9.1938) u.d. Pseud. Agnes Muth. Neuauflage Wien: Brandstätter, 1988. Englische Übersetzung: Night over Vienna. Novel. Übersetzung von Viktoria Hertling, Kay Stone. Riverside: Ariadne, 1990.
  • Ein Amerikaner in Russland. Roman. In: Neue Volks-Zeitung (New York) 11 (1942), Nr. 49 (5.12.) bis 12 (1943), Nr. 41 (9.10.); als Fortsetzungsroman wieder in: Arbeiter-Zeitung (Wien) 9. bis 30.11.1949 (danach Abdruck abgebrochen auf Druck der sowjetischen Kommandantur). – Das Kapitel „Danton“ wurde nachgedruckt in: Reisegepäck Sprache. Deutschschreibende Schriftstellerinnen in den USA 1938-1978. Hg. Lisa Kahn. München 1979, S. 67-74.
  • …nicht Blut, so doch Tinte vergossen. Gedichte und Prosa. Hg. Viktoria Hertling. Worms, London: The World of Books, 1992.
Nichtselbständige Schriften

Auf Einzelnachweise ihrer vielen Dutzend Zeitschriften- und vor allem Zeitungsbeiträge in Deutschland, Österreich und im Exil wird hier verzichtet, es kann hier auf die vorliegenden Bibliographien verwiesen werden: So auf die Nachweise bei Ute Lemke (Ute Lemke: Lili Körber, S. 257-267; grundlegend). Zu ergänzen sind diese Angaben u.a. durch die bei Herta Wolf nachgewiesenen Artikel aus der New Yorker „Neuen Volks-Zeitung“ (Herta Wolf: Glauben machen, S. 363-364); Lemkes Bibliographie ist zu vergleichen und ergänzen mit derjenigen von Viktoria Hertling von 1994, die freilich des Öfteren ungenau ist (Viktoria Hertling: Lili Körber, S. 956-964). Zahlreiche frühe Texte aus der österreichischen Presse sind per ANNO zugänglich, Texte aus der Exilpresse von Lili Körber (und z.T. über sie) per OPAC der Deutschen Nationalbibliothek.

Forschungsliteratur (Auswahl, ohne Lexikon-Einträge)
  • Fähnders, Walter: „Roter Alltag“ – Lili Körbers Blicke auf Sowjetrußland 1932 und 1942. In: Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit 18 (2008), S. 423-460.
  • Fähnders, Walter: Eine Frau erlebt den roten Alltag. Lili Körbers „Tagebuch-Roman“ über die Putilow-Werke. In: Zur Relevanz und Rezeption der russischen Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918-38. Hg. Primus-Heinz Kucher, Rebecca Unterberger. Frankfurt a.M. 2018 (= Wechselwirkungen. Österreichische Literatur im Internationalen Kontext) [im Ersch.].
  • Hertling, Viktoria: Lili Körber. In: Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933. Bd. 2: New York. Hg. John M. Spalek [u.a.]. Teil 1. Bern 1989, S. 447-460.
  • Hertling, Viktoria: Quer durch: Von Dwinger bis Kisch. Berichte und Reportagen über die Sowjetunion aus der Epoche der Weimarer Republik. Königstein/Ts. 1982, S. 87-113.
  • Hertling, Viktoria: Abschied von Europa. Zu Lili Körbers Exil in Paris, Lyon und New York. In: The Germanic Review 62 (1987), H. 3, S. 118-129.
  • Hertling, Viktoria: Farewell To Yesterday. Lili Körbers Exil in New York zwischen Fiktion und Wirklichkeit. In: Dachauer Hefte 8 (1992), S. 202-212.
  • Hertling, Viktoria: Lili Körber. In: Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933. Bd. 4: Bibliographien. Schriftsteller, Publizisten und Literaturwissenschaftler in den USA. Hrsg. John M. Spalek [u.a.]. Teil 2. Bern/München 1994, S. 956-964.
  • Krauze, Justyna Magdalena: Lili Körbers „Begegnungen im Fernen Osten“. Ein literarisch-journalistischer Reisebericht aus Japan. In: Dies.: Frauen auf Reisen: kulturgeschichtliche Beiträge zu ausgewählten Reiseberichten von Frauen aus der Zeit 1842-1940. Hamburg 2006, S. 131-151.
  • Lemke, Ute: Lili Körber. Von Moskau nach Wien. Eine österreichische Autorin in den Wirren der Zeit (1915-1938). Siegen 1999. [Grundlegend für jede Beschäftigung mit Lili Körber.]
  • Mikota, Jana: „Von der Schriftstellerin zur Krankenschwester“. Lili Körbers literarische und journalistische Arbeiten im Exil. In: Frauen schreiben gegen Hindernisse. Zu den Wechselwirkungen von Biografie und Schreiben im weiblichen Lebenszusammenhang. Hg. Susanne Blumesberger. Bd. 2. Wien 2010, S. 61-84.
  • Wenger, Karin: Orte des Weiblichen in den Romanen österreichischer Exilautorinnen. Anna Gmeyner: Manja. Ein Roman um fünf Kinder; Lili Körber: Die Ehe der Ruth Gompertz. Salzburg, Univ., Dipl.-Arb., 1989.
  • Weymann, Ulrike: Weibliche Sachlichkeit. Realistische Schreibweisen in Deutschlandromanen von Anna Gmeyner, Irmgard Keun, Lili Körber und Hermynia Zur Mühlen. In: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik 13/14 (2009/2010), S. 151-177.
  • Wolf, Herta: Glauben machen. Über deutschsprachige Reiseberichte aus der Sowjetunion. Wien 1992 [über Lili Körber: S. 157-192].
Abbildungsverzeichnis
  • Abb. 1: Lili Körber in den dreißiger Jahren. © Nachlass Lili Körber (Deutsches Exilarchiv 1933-1945 der Deutschen Nationalbibliothek, Frankfurt am Main
  • Abb. 2: Aus: Der Weg der Frau (1932), Nr. 11, S. 11-12
  • Abb. 3: Erschienen 1932 in Berlin (Umschlaggestaltung von John Heartfield)
  • Abb. 4: Erschienen 1936 in Budapest
  • Abb. 5: Lili Körber © Nachlass Lili Körber (Deutsches Exilarchiv 1933-1945 der Deutschen Nationalbibliothek, Frankfurt am Main.
  • Abb. 6: Cover der Neuausgabe von Eine Jüdin erlebt das neue Deutschland (Mannheim: persona, 1984)