Broch, Hermann

geb. am 1.11.1886 in Wien – gest. am 30.5.1951 in New Haven CT, USA; Schriftsteller, Kritiker, Industrieller, Exilant

Der erstgeborene Sohn (Bruder: Friedrich) des aus Prossnitz (Mähren) aus einer armen jüdischen Familie stammenden Vaters Josef, der es im Wien der Gründerzeit zum Wollhändler und 1906 zum Fabriksbesitzer brachte und Johanna Schnabel, verh. Broch, Tochter eines Wiener Leder-Großhändlers, wuchs in Wien auf und erhielt zunächst Privatunterricht durch David J. Bach. 1897 wechselte B. in das k.k. Staatsrealgymnasium, weil ihn sein Vater für das Textilgeschäft auserkoren hatte. Nach der 1904 abgelegten Reifeprüfung besuchte er bis 1906 die Höhere Lehr- und Versuchsanstalt für Textilindustrie in Wien, parallel dazu aber auch Vorlesungen aus Philosophie und Mathematik, u.a. bei Ludwig Boltzmann. Nach einem weiteren Jahr an der Spinn- und Webschule zu Mühlhausen, wo er ein Ingenieurdiplom erwarb und eine Maschine zur Mischung verschiedener Textilien erfand, die 1908 auch patentiert wurde, trat er in die väterliche Spinnfabrik in Teesdorf ein. 1907 besuchte er u.a. auch die USA, verliebte sich in die katholische Franziska von Rothermann und begann die Vorlesungen von Karl Kraus zu besuchen. 1909 wurde B. zum Militär eingezogen, aber bereits nach fünf Monaten wegen eines Herzleidens entlassen. Inzwischen war B. aus der Israelit. Kultusgemeinde ausgetreten, um im Dez. 1909 Franziska zu ehelichen. Die Familie zog nach Teesdorf, hatte aber auch eine Stadtwohnung in Wien, 1910 wurde der einzige Sohn Hermann Friedrich, genannt Armand, geboren. Die Ehe geriet rasch wegen unterschiedlicher Interessenslagen und Lebensstile der Partner in Krise, wurde aber erst 1923 geschieden. Seit 1908-9 schrieb B. erste kulturkritische Reflexionen nieder, fing an, sich intensiv mit Weininger, Nietzsche und Schopenhauer zu befassen und nahm 1913 Kontakt mit Ludwig von Ficker und dessen Zs. Der Brenner auf, wo er 1913 eine Analyse von Thomas Manns Der Tod in Venedig veröffentlichte. Während des Ersten Weltkriegs, von dem er dispensiert war, aber auf dem Fabriksgelände ein Lazarett für das Rote Kreuz einrichtete, schloß er sich in Wien im Café Herrenhof dem Kreis um Gina Kaus und Otto Kaus, Franz Blei, Ea von Allesch und Alfred Polgar an, zu dem auch Robert Musil, Paul Schrecker, Willy Haas u.a. dazugehörten. In der von Blei redigierten Zs. Summa veröffentlichte er 1918 Eine methodologische Novelle, in der Zs. Der Friede Konstitutionelle Diktatur als demokratisches Rätesystem, das mit den Vorstellungen der austromarx. Theorie und Praxis sympathisierte. Mit Ea von Allesch verband ihn seit 1917 eine Liebesbeziehung, weitere ging er mit der ungarischen Lyrikerin Edit Rényi, die seit 1919 in Wien lebte und ihn in Kontakt mit Georg Lukács, Béla Bálazs, Karl Mannheim u.a. Exilanten brachte, sowie mit Sybilla Blei ein. Ea v. Allesch, Redakteurin der Zeitschrift Moderne Welt, vermittelte ihm dort Besprechungen zeitgenössischer Autoren (A. Polgar, Paul Leppin, Leo Perutz, Ernst Weiß u.a.). 1920 stellte er die Novelle Ophelia fertig, die gleichermaßen modernistische wie autobiogr. chiffrierte Züge trägt. In den nachfolgenden Jahren wandte sich B. wieder stärker der Mathematik zu, zuerst in Form von Privatunterricht bei Ludwig W. Hofmann, ab 1925 wieder systematisch durch Neuaufnahme des Studiums an der Univ. Wien. B.s. Lehrer waren im Fach der Philosophie Moritz Schlick und Rudolf Carnap, im Fach Mathematik Hans Hahn, Karl Menger und Wilhelm Wirtinger. Daneben besuchte er auch Vorlesungen aus Kunstgeschichte, Physik und Vergleichende Musikwissenschaft.

B.s Interesse für Fragen der Ethik brachten ihn in stärkerem Kontrast zu den neopositivist. Lehrern und führten neuerlich zur Aufgabe des Studiums, an dessen Stelle zunehmend die Literatur Ende der 1920er Jahre trat. 1927 verkaufte er seine Anteile an der Spinnfabrik, trennte sich von Ea v. Allesch und ging mit Anja Herzog, Tochter einer jüd. Kaufmannsfamilie, eine Beziehung ein. Sie wird die Manuskripte zum entstehenden Schlafwandler-Roman ins Reine tippen, der nach Zuspruch durch seine literar. Berater Frank Thiess und Ernst Polak ab 1930 erschien und trotz schwachen Verkaufs den Ruhm Brochs, unterstützt durch Stimmen wie Alfred Döblin, Ernst Fischer, Hermann Hesse, Thomas Mann, Robert Neumann, Berthold Viertel u.a. begründete. Mit der englischen Übersetzung 1932 setzte auch seine Bekanntschaft in den USA, wo ihn Thornton Wilder überaus schätzte, ein. Öffentlich präsentiert wurde die Trilogie v.a. in den Volkshochschulen Ottakring und Leopoldstadt ab Februar 1931; die Besprechungen waren wohlwollend, aber eher knapp, wenn auch z.T. euphorisch gehalten. So hielt das Prager Tagblatt z.B. in einer Notiz am 12.5.1932 fest: „Die Trilogie stellt einen neuen stil-revolutionären Romantypus dar“, und David Bach stellte sie zugleich mit Hemingways In einem fremden Land und einem Kurzverweis auf Musils Mann ohne Eigenschaften in der AZ am 19.4.1932 vor. In der VHS Ottakring trug B. im Februar 1932 anlässlich des 50. Geburtstages von J. Joyce über ihn vor und baute diesen Vortrag später zum Essay James Joyce und die Gegenwart (1936) aus. Im Rahmen der sozialdemokrat. Kunststelle präsentierte B. im Volkshaus Neubau am 16.2. 1933 außerdem erstmals seinen programmat. Essay Das Weltbild des Romans u. stellte dort den jungen Elias Canetti vor. Im August 1933 erschien sein Essay zum Kitsch Das Böse im Wertsystem der Kunst in dem bereits gleichgeschalteten, von E. Fischer scharf kritisierten Heft der Zs. Die neue Rundschau. 1934 folgten einige weitere Lesungen, u.a. aus dem Roman Die unbekannte Größe, der 1933 zuerst im Vorabdruck in der Vossischen Zeitung erschienen war, und dem Drama Die Entsühnten, das im März 1934 am Zürcher Schauspielhaus eine gelungene neusachliche Inszenierung u. künstler. Erfolg hatte. Seine letzten Publikationen in Wien blieben ein Beitrag zur Festschrift für Arnold Schönberg sowie Gedichte in der von Ernst Schönwiese hg. Zs. Patmos. In der Bücherstunde von Radio Wien vom 6.10.1935 wurde dann noch Die unbekannte Größe (unmittelbar vor der Übertr. der 2. Hälfte des Fußball-Länderspieles Österreich gegen Ungarn) kurz vorgestellt, 1937 auch noch ein Kap. aus dem schon in Arb. befindl. Tod des Vergil. 1935 arbeitete B. an seinem kulturkrit. u. antifaschist. Bergroman Die Verzauberung, nachdem er 1934 die Hochstaplerkomödie Aus der Luft gegriffen oder Die Geschäfte des Baron Laborde fertig gestellt hatte. Im Jänner 1937 lernt er über Paul Zsolnay die verwitwete Grafikerin u. Malerin Annemarie Meier-Graefe kennen, die bereits seit 1935 vorwiegend im französ. Exil lebt und Verbindungen zu dt. Exilkreisen für B. herstellt. Im selben Jahr arbeitete B. bereits an der dritten Fassung des Vergil-Romans, die durch den Anschluss Österreichs an NS-Deutschland und seiner Verhaftung am 13. März 1938 unterbrochen wurde.

Nach seiner Freilassung traf bald das Visum für England ein, wo er am 24. Juli 1938 eintraf. In London halfen ihn Anna Mahler, Robert Neumann und Stefan Zweig über die ersten Wochen; im August verbrachte er einige Zeit beim Übersetzerpaar Edwin und Willa Muir, ehe er sich am 1. Oktober Richtung USA in Begleitung von Jadwiga Judd einschiffte und nach acht Tagen in New York eintraf. Bereits am 10.10.1938 wurde er von der American Guild for German Cultural Freedom empfangen, hatte er ein Treffen mit Richard A. Bermann und Erich v. Kahler, zu dem sich bald eine Freundschaft entwickelte, ferner mit dem Verleger Benno W. Huebsch von der Viking Press, der ihm das Affidavit gegeben hatte. Ebenso traf er Albert Einstein in Princeton, der seinen Visum-Antrag begutachtet hatte. In den Folgejahren widmete sich B. einerseits der Fertigstellung des Vergil-Romans, auch dessen engl. Übersetzung, intensivierte andererseits den Kontakt zu Th. Mann u. widmete sich verstärkt demokratiepolit. u. massenpsycholog. Fragestellungen. 1942 übersiedelte B. von New York nach Princeton; im selben Jahr wurde seine Mutter, die sich nicht zur Emigration durchringen konnte, nach Theresienstadt deportiert u. verstarb dort 1943. B. begab sich in Psychoanalyse bei Paul Federn u. bearb. seine Probleme in der Psychische[n] Selbstbiographie (1942/1999). 1945 erschien sein Vergil-Roman gleichztg. auf Deutsch und Englisch, erzielte jedoch nicht die Resonanz, die sich B. erhofft hatte. 1946 lernte er Hannah Arendt kennen; 1948 zog er sich einen Schenkelhalsbruch zu und schrieb während des Krankenhausaufenthalts die Studie Hofmannsthal und seine Zeit nieder. Ab 1949 bekleidete er die Stelle eines Fellows und dann Lecturers an der Yale-University, ohne dafür ein Einkommen zu erhalten, weshalb seine Lebensumstände entspr. verschlechterten. Der Österr. P.E.N.-Club schlug B. 1950 u. 1951 vergebl. für den Nobelpreis vor; auch der österr. Staatspreis blieb ihm verwehrt. Seit 1949 arb. B. an Die Schuldlosen u. der Neufassung von Der Verzauberung, als er mitten im 5. Kap. am 30.5.1951 an einem Herzschlag verstarb.


Weitere Werke

siehe H. Broch: Kommentierte Werkausgabe. Hg. von P.M. Lützeler Bd. 1-12 sowie Bd. 13: Briefe (1975-80)

Quellen und Dokumente

D. Bach: Die Dichter und die Zeit. In: Arbeiter-Zeitung, 10.8.1931, S. 13.

Franz Horch: H. Broch (Porträt zur Eigenlesung H.B. in Radio Wien). In: Radio Wien, 2.6.1933, S. 10, Arthur Zanker: Neue Bücher (Rez. zu Patmos). In: Wiener Magazin, 12/1935, S. 92f.

Literatur

Paul M. Lützeler: H. B. Eine Biographie (2011), Michael Kessler, P.M. Lützeler (Hgg.): H. B. Handbuch (2016, mit Forschungsbibliographie 1985-2014, 549-626)

Carsten Clook: Die Wirklichkeit ist eine Traumlandschaft. H. B. als Hörspiel. In: Die Zeit, 1.3.2010, Monika M. Klinger: Zuviel für ein Leben. H. B. – ein biographischer Versuch. In: Die Zeit, 7.11.1986.

H. B. Die Wiener Bibliothek. Ausstellung an der UB Klagenfurt. Homepage des Internationaler Arbeitskreises Hermann Broch.

(PHK)