Otto Abeles: Ernst Tollers „Hinkemann“. Sonntagvormittagsaufführung im Raimund-Theater. (1924)

Wie traurig die Verwirrung in den Köpfen, daß dieses Stück bei jungen Menschen wütenden Haß weckt, daß sie diese reive, gütige, in Qual des Mitleidens gezeugte Dichtung ein „Schandstück“ nennen können!

Hinkemann, der deutsche Arbeiter, kam verstümmelt aus dem Kriege. Sein Weib ist jung, gesund. Geschlechtshunger, physischer Ekel vor dem Verstümmelten streiten mit der Liebe zu dem Lebensgefährten, dem Menschen – der nicht mehr Mann ist. Für seinen Jammer hatte niemand Verständnis. Auch die sozialdemokratischen Arbeitsgenossen nicht. Einer von ihnen, der robuste Weibermensch Großhahn, schüttelt sich vor Lachenn, wie er hört, was Hinkemann geschah und hat mit Frau Hinkemann leichtes Spiel. Der traurige Held der Tragödie verdingt sich einem Budenbesitzer. Arbeitslosigkeit und das Bedürfnis, seinem Weibe Geld zu bringen, da er es doch sonst nicht erfreuen kann, veranlassen ihn, in der Bude des Ausrufers sich als Ratten- und Mäusefrssser zu zeigen. (Diese Überspitzung ist allerdings zu gräßlich und übersteigt die Grenze des ästhetisch Zulässigen. Toller mußte Hinkemann nicht just Rattenblut trinken lassen. Seine Erniedrigung hätte anders gezeigt werden können. Aber man begreife: Ein seit Jahr und Tag im Gefängnis Schmachtender hat dieses Drama geschrieben.) Von Grauen geschüttelt, geht Hinkemann in die Schenke, um den Gaumen nach dem Rattenmahl mit Fusel zu waschen. Aussprache mit Genossen. Einer von ihnen ist der typische Versammlungsredner. Der schildert, wie alles aufs beste bestellt sein wird in der neuen Gesellschaftsordnung. Aber Hinkemann, durch sein Leiden erschreckend wissend geworden sagt ihm:

„Da, wo eure Heilmittel aufhören, da fängt unsere Not erst an; da steht der Mensch allein; da tut sich ein Abgrund auf, der heißt: ohne Trost; da wölbt sich ein Himmel, der heißt: ohne Glück; da wächst ein Wald, der heißt: Hohn und Spott; da brandet ein Meer, das heißt: lächerlich: da würgt eine Finsternis, die heißt: ohne Liebe…“

Großhahn, der sich in der Zwischenzeit an Frau Hinkemann gütlich getan hat, nimmt an der Diskussion teil, ist über das Eunuchentum seines Freundes noch immer höchst amüsiert und sagt ihm, so zwischendurch, daß Frau Hinkemann während der Produktion ihres Gatten in der Praterbude herzlich gelacht hat. — Sie hat natürlich nicht gelacht (das Publikum weiß, daß sie sich weigerte, mit Großhahn in die Jahrmarktbude zu gehen), und es ist die dichterisch wertvollste Szene, da das Weib zu ihrem Mann zurückkehrt und alles auf sich nimmt, auch jene Lüge ihres sattgewordenen Beischläfers, um Buße zu tun und dem Märtyrer in demütiger Liebe zu dienen. Wunderbar, wie die Einfache plötzlich miz dem Instinkt des Weibes erkennt, daß es falsch war, die Intrige nicht zu zerreißen, Hinkemanns Antlitz faßt und ihm in die Augen spricht: „Du willst dir ein Leid antun! So höre doch, ich hab‘ gar nicht gelacht! Ich bleib‘ bei dir! Immer!!! — Ein Augenblick der Glückseligkeit für beide. Grete Hinkemann flüstert:

„Sommer wird sein und Stille im Wald…
Sterne und Gehen Hand in Hand…“
Ihr Mann aber entwindet sich ihren Armen und ergänzt:
„Herbst wird sein und Welken im Laub…
Sterne… und Haß! …und Faust gegen Faust!…“

Da schluchzt! das Weib auf, weiß alles und kommt ihm durch einen Sprung aus dem Fenster zuvor. — Für Hinkemann bleibt der Strick.

                                                                       *

„Diese Zeit hat keine Seele; ich hab‘ kein Geschlecht: ist da ein Unterschied?“ hatte Hinkemann resümiert. Die riesigen Manipel der Protestler, welche diese Aufführung stören kamen, waren Sendlinge eines seelenlosen, perversen Geschlechts.

Was rennt das Volk, was wälzt sich dort… Das sind die Herren Studenten. Sie haben sich nach der Samstagkneipe opfervoll schon um die zehnte Morgenstunde aus den Federn

bemüht, um zu verhindern, daß einer die Liebe kündet.

Wundervoll in ihrer wesenhaften Prägnanz die Inszenierung der Tragödie durch Renato Mordo und die Hingabe der mitwirkenden Künstler. Die vorgenommenen Kürzungen sind zu billigen. Nur die Szene mit Hinkemanns Mutter, die uns für die Entwicklung der Handlung unentbehrlich schein, hätte bleiben müssen.

Wilhelm Klitsch hat nach niemals so einfach menschlich, so bezwingend echt gespielt wie diesmal, Trude Wessely erschütternd als Grete Hinkemann (unvergeßlich die Gebärde der Trauer in Not und Lust, in Sehnsucht und Erfüllung), prachtvoll Hugo Werner-Kahle in der Nolle des Dritten und alle anderen voll Verdienst.

            Über die Vorgänge während der Matinee hat unsere gestrige Mittagsausgabe berichtet.

In: Wiener Morgenzeitung, 12.2.1924, S. 3.

Oskar M. Fontana: Der Fall Ferdinand Bruckner (1928)

Gleichgültig, ob die Literatur-Schupo Ferdinand Bruckner bereits gestellt und zur Strecke gebracht hat oder ob er noch einmal flüchten konnte —: der Fall Ferdinand Bruckner ist die größte Blamage des deutschen Kunstlebens. Weil er zeigt, daß die Neugier: „Wer ist Ferdinand Bruckner?“ stärker ist als die Frage nach seinem Werk. Man ist den betriebsamen, allzu sichtbaren Autor schon so gewohnt, daß man einen Dramatiker, der ein Element des Dichterischen: die Anonymität aufsucht, nicht vertragen kann, daß ihn aus seinem Dunkel aufzuscheuchen, alle Kräfte der Kunstreportage aufgeboten werden, daß sich an seine Erscheinung alle Reklamegierigen in Berlin und Wien heften, um nur noch eine Zeile des Druckerschwärze-Ruhms zu profitieren. Ein widerlicher Anblick. Er enthüllt wie nichts die Wichtigkeit des Marktes im heutigen Literaturbetrieb, er enthüllt, daß die Tat ganz nebensächlich ist, daß nur der Lärm entscheidet. Man will sehen und greifen, man will nicht ergriffen werden. Man kann einen Dichter nur noch als einen bürgerlichen Verdiener verstehen.

Nach dem Sinn seiner Sendung, nach der Qual seines Suchens, nach dem Glück seiner Annäherung an erkennende Gestaltung fragt niemand.

Ferdinand Bruckner ist vielleicht kein weltfremder Mensch, er ist — was sehr möglich scheint — einer, der gerade die Auffälligkeit der Unauffälligkeit, der Unsichtbarkeit als Reklamewert einkalkuliert hat. Aber wie hätte er nicht an dem Wert des selbstlosen Werkes irre werden, wie hätte er nicht das Spiel mit der Person als nutzbar lernen sollen! Seine Krankheit der Jugend lag jahrelang in den Theaterkanzleien. Kein, Verlag, der zugrunde ging, weil er jeder Beziehung, jeder Konjunktur gehorchte, vertrieb wohl Bruckner und sein Drama. Aber er druckte es nicht. Denn wer war Ferdinand Bruckner? Keine Clique reklamierte ihn. Dennoch spielten ihn ein paar Theater. Der Erfolg war beträchtlich. Aber weder reagierte darauf Berlin noch die Literatur.

Der Zufall einer Lücke im Repertoire brachte die Krankheit der Jugend endlich zu Hartung ans Renaissancetheater. Aber was als Verlegenheit für ein paar Tage gedacht war, wird ein ungeheurer Erfolg. Und sofort beginnt die Jagd der Verleger, der Theater nach Ferdinand Bruckner. Ihn, den zuvor niemand druckte, niemand in Berlin riskierte, bringt nun der größte deutsche Verlag, führt nun das repräsentativste Theater Deutschlands auf. S. Fischer und Max Reinhardt beginnen, Hand in Hand, zu „fördern“. Und ebenso augenblicklich will alles, muß alles wissen, was das Unwichtigste auf der Weilt ist: „Wer ist Ferdinand Bruckner?“

Es ist ganz in Ordnung, es gehört zu dieser Groteske eines Betriebs, dem das Werk selbst immer Nebensache war und ist, daß das neue vielbegehrte Schauspiel Ferdinand Brückners Die Verbrecher weit schwächer ist als das erste, so lange unbeachtet gebliebene Drama Krankheit der Jugend. Eine große Begabung sucht sich noch. Wer hilft ihr dabei? Das Geschrei geht nur darum: „Wer ist der Kerl, wer ist Ferdinand Bruckner?“ Handgranaten gegen sein Versteck! Er muß sich zeigen!

In: Tage-Buch, Nr. 45/1928, S. 1906.

Gey[er] Siegfried: „Gas“. Ein Schauspiel von Georg Kaiser – Im Volkstheater. (1920)

Die Formelwelt des Milliardärs, vom Genie eines Ingenieurs ausgeheckt, geht eines Tages in Trümmer. Gas explodiert, trotzdem die Mischung stimmte. Die Chemie blamiert sich. Aer Arbeiter-Mensch krepiert an der Wissen­schaft, am Fortschritt, an der Erfindung, wie er früher im Schwungrad zermalt, im Kohlenoxid erstickt wurde. Nun holt ihn der Welt neuester Betriebsstoff, das Gas.

In Georg Kaisers Dramen erhebt sich eine Spracharchitektur wir aus betoniertem Eisen, Zweckschönheit strahlt, Phantastik der Nüchtern­heit bereitet Kälteschauer, in denen das Wort gefriert. Eisblumen sprechen die Menschen, Herzen schalten aus, zwischen den Gehirnen laufen die Kontakte, an denen die Lebensmotore hängen. Menschen von Georg Kaiser atmen, denken, wirken, leben unterm Druck vieler Atmosphären. Von Katastrophen beengt, in Treibhäusern, er­füllt von künstlicher Lust, den Organismus blitz­schnell verbrauchend. Jedwedes Menschen Dasein //in diesem Raum – eine langsame Explosion. Keiner geht ans natürlichem Wege zu Ende, keine Lungenentzündung, kein Typhus, kein Karzinom, nur „Gas“. Am Betriebsstoff stirbt diese ame­rikanisierte, dynamobesessene Menschheit. Deren Weltbild: die Maschine, deren Zweck des Auf-der-Welt-seins: Betrieb, Betrieb.

*

Am Eisplatz der Kaiserschen Gedanken gibt es nur behende, routinierte Läufer. Dialektische Virtuosen. Milliardär und Arbeiter-Geist rotiert gleich schnell; beider Diktion beherrscht die „Ballung“, die Verkürzung, der „Dreh“. Kaisers Gedanken-Extrakt gibt allen Schichten des Publikums eine schmackhafte, intellektuelle Bouillon. Selbst Gemeinplätze haben ihre eigene Prägung und die Banalität geht gescheidheitsgepanzert einher.

Dieser Art Dichtung erzeugt fortwährend Unter- Null-Temperaturen. Dem Zuhörer fröstelt’s, muß er die Lösung der Menschheitsfragen kontinuierlich von Schaltbrett und Sichtglas her gegenwärtigen. Ihm verlangt’s nach dem Herzton, nach der Aussprache zwischen Menschen, die sich Menschliches zu sagen haben. Wo bei Kaiser Leid, Verzweiflung, dumpfer Zorn der Massen anklingt, Schrei der Rache tönt, bestaunt man noch immer die geistige Hal­tung, in der all das gekonnt ist. Der Urlaut des Menschen, in letzter Ekstase hinströmend, erstarrtbei Georg Kaiser zum präzisen Bild, hat Schnittpunkte und Diagonalen, besitzt die nüch­tern praktische Struktur eines geometrischen Exempels.

Georg Kaiser bleibt unbestritten heute des neuen Deutschland größter Dichter-Ingenieur, sehr reizvoll in der spirituellen Energie seiner Begabung, in der motorischen Kraftentfaltung, der Wirklichkeits-Phantastik einer Dichtung, in der sich Ethos und Spekulation die Wage halten.

*

Die Volkstheateraufführung einer der interessantesten Wiener Theaterabende seit langer Zeit. Außerordentlich die Regieleistung Bernaus, die Tempo, Intensität und geistige Cou­leurs des Stückes wiedergab, seine Atemlosigkeit gestaltet, daß es den Zuschaueratem bisweilen verschlug. Die fünf Akte förmlich als einziger gellender Schrei inszeniert, bewußt mit ans Kino streifenden Effekten, greller, kalter Beleuchtung, jagender Bewegung, aus dem Schau­spieler Ungeahntes herausholend.

Resultate: Eine erregend-starke Szene des Herrn Brady, Herrn Klitsch gedämpfte rethorische [!] Bravour, der heilige Ernst, der um jeden Episodisten… Nowotnys Schreiber und der weiße Herr von Goetz, auf mensch­lichen Fundamenten ruhend. Und Märtyrergloriole, seelischen Erlebnisses Widerschein war um Everths modernen Romantiker und Chemiehelden, Schwung auch im Pathos der proletarischen Frauen Danegger und Werner.

In der ganzen Darstellung nichts Stören­des, keine Leistung, die daneben geht. Sogar das Publikum würdig eines ernsten Anlasses.

In: Wiener Allgemeine Zeitung, 29.11.1920, S. 5-6.

Stefan Grossmann: Bertolt Brecht II. (1922)

Nach Arnolt kam Bertolt; Brecht nach Bronnen. Die beiden trafen in schöner Eintracht aus dem Süden ein, Bronnen mit ver­düstertem Knabengesicht, Brecht mit listig-lustigem Altbauernkopf. Bronnen einsilbig, tragisch betont, Brecht gesprächsfreudig, heiter maskiert, undurchsichtiger. Eines Tages wurde Bronnen in Berlin berühmt und rief: „Kennen Sie Bert Brecht?“ Inderen Tags wurde Brecht in München berühmt und rief: „Ich muß nach Berlin, Bron­nens neues Stück zu inszenieren.“ Schöne Eintracht, schon über sechs Monate dauernd, nicht gestört durch Erfolge des anderen, eine Freundschaft nicht für die Galerie, nicht bloß durch die Allite­ration der Namen hervorgerufen, sondern offenbar aus einem Kon­trast verwandter Naturen erwachsen. Talente treten selten isoliert auf, eher in Rudeln. Diese zwei Stärksten der jungen Generation sind schon ein Rudel.

                                                                                   III.

Bronnen und Brecht gemeinsam ist der Kleinbürgerboden, dem beide entsprossen. Der Korbwarenerzeuger Balicke könnte mit dem Amtsschreiber und Gemeinderatskandidaten aus dem „Vatermord“ verschwägert sein. Bronnens Sohn, der zu den Prüfungen geprügelt wird, ist ein Vetter von Brechts Anna, die vom Bräutigam mißbraucht wird. Kleinbürgerluft, durch die ein revolutionärer Luft­strom stößt. Aber Bronnen ist Monologist und tragisch gestimmt, Brecht ist Balladendichter und zum Cynismus entschlossen.

Diese dramatische Ballade heißt Trommeln in der Nacht. Ein schöner lyrischer Titel. Aber wenn die Komödie nicht im Deutschen Theater vor allzu feinen Leuten, sondern im Osten vor dem Volk gespielt würde, dann müßte sie einen herzhafteren und passenderen Titel kriegen: Anna mit den beiden Bräutigams oder Heimkehr aus Afrika oder das letzte Wort des Stücks: Jetzt sind es vier Jahre.

Ein einfach gezimmertes Werk. Erster Akt: Der gefangene Andreas Kragler platzt ins Elternhaus seiner ihm eben weggeschnappten Braut. Bester Volksstückstil. Vielleicht ein bißchen zu viel Hohn gegen die Alten. Im Deutschen Theater wurde diese Verhöhnung der Kleinbürger noch unterstrichen. Ich begreife den Brecht’schen Hohn, mit fünfundzwanzig Jahren ist man gegen die heimatliche Klasse unerbittlich, aber der Regisseur hat doch gegen die Familie Balicke so wenig einzuwenden wie gegen die Familie des Großhändlers Werte? Warum so Th-Th-Heinisch? Hier waren nicht „Szenen aus dem deutschen Familienleben“, sondern ein Volksstück vorzuführen.

Zweiter Akt: Ännchens Verlobung wird in der Piccadillybar ge-// feiert. Das Gespenst, der Kriegsgefangene, der erste Bräutigam taucht wieder auf. Er wird pöbelhaft behandelt. Zu pöbelhaft für mein Gefühl. Warum den Kleinbürger noch verleumden? Legte sich der edel gestimmte Journalist nicht dazwischen, der Wieder­erstandene würde sofort hinausgeschmissen. So steht er stammelnd da — sein Stammeln, seine Unfähigkeit, vier Jahre in Worte zu pressen, ist sprachlich-dichterisch überzeugend — er erfährt, daß seine Braut schwanger ist und läuft in die Novembernacht hinaus. Dort dröhnen Trommeln. Im Zeitungsviertel wird Revolution ge­macht.

Der dritte Akt heißt, literarisch gebildet: Walkürenritt. Eine Nacht lang wird an dem Bestand der Welt gerüttelt. Trommeln, Schüsse, roter Himmel. Die Braut mit Gefolge sucht ihren Andreas. Dramatischer Stillstand. Ein Akt, den man auslassen kann und soll. (Weil man kann.)

Vierter Alt: In der Destille. Revolutionsstimmung. Huren, ano­nyme Menschen, Schnapswirte, alles in Revolte. Andreas erscheint und führt das große Wort. (Sehr schön seine Soldatensprache. Im Kriege waren wir hart daran, uns vom Zeitungsdeutsch zu befreien. Die Schützengrabensprache war saftig, knapp, bildhaft, das Papier war verdrängt. Diese fest geschnitzte Volkssprache ersteht hier wieder.) Andreas, der die Braut verloren, trommelt zur Re­bellion.

Letzter Akt: Auf dem Weg zur Barrikade findet der Soldat seine Braut wieder. Er läßt die Revolution im Stich und zieht seinem frierenden Mädchen die wärmende Jacke an. „Jeder Mann ist der beste Mann in seiner Haut.“ Vergebens alle Zurufe, Vorwürfe, Auf­rufe. Er pfeift auf die Weltgeschichte, ihm winkt ein weites, weißes Brautbett.

III.

Hier steht ein Volksstückdichter vor uns. Einer, der nicht vor das Tiergartenparkett gehört, sondern vor schlichte Leute. Wenn die Volksbühne nicht ganz taub und verbabt, sondern lebendig wäre, dann hätten die Trommeln in der Nacht auf dem Bülowplatz ge­rührt werden müssen. Volkstümlich der schlichte Stoff, volkstüm­lich die feste Sprache (von Rohheiten leicht zu reinigen), volks­tümlich die Neigung zum Bänkel im Drama, volkstümlich die un­heroische Nüchternheit des Schlusses: Das Beste ist bei seinem Mädchen schlafen…. Dies ist das erste Drama, das aus der Zeit ist und doch nicht in Rhetorik fällt. Es hat schon Distanz zur Re­volution. (Um Brecht herum gewinnt vielleicht jedes Thema Distanz, die Probleme kommen ihm nicht zu nahe.) Ein Revolutions­drama? Nein. Ein etwas höhnisches Volksstück über die deutsche Revolutionshysterie.

In: Das Tagebuch, H. 52/1922, S. 1794-1795.

Ludwig Hirschfeld: Die Heimkehr der Soldaten. Wiener Bahnhofsbilder (1918)

Die erste und die letzte Szene der Tragödie spielt sich im selben Rahmen ab. Im Bahnhof hat der Krieg begeistert und hochtrabend begonnen, hier geht er jetzt konfus und armselig zu Ende: Hier ist die Eingangs- und die Ausgangspforte des vierjährigen Inferno. Es waren Bilder, gegen deren täglichen stereotypen Anblick man schließlich stumpf wurde, ein Jammer, eine Trostlosigkeit, an die man sich im Laufe dieser Jahre gewöhnt hatte, die man gedankenlos hinnahm als Selbstverständlichkeit, weil es angeblich so sein mußte. Aber jetzt, wo alles, was vorgestern noch unerbittliche Wirk­lichkeit war, plötzlich gespensterhafte Vergangenheit ge­worden ist, da werden die qualvollen Eindrücke, die bitteren Erinnerungen aufs neue lebendig. Wiener Bahnhöfe… fast für jeden von uns Überlebenden bedeuten sie eine schmerz­liche Stunde. Eine Stunde, in der man einem lieben nahen Menschen das Geleite zum Bahnhof gab, einem Sohn, einem Bruder, einem Freund, der einem, feldgrau verkleidet, eingeschnürt und bepackt, schon irgendwie entrissen war. Man fuhr mit ihm durch die vom patriotischen Straßenlärm er­füllten Gassen, man stand mit ihm im Bahnhofsgewühl der Soldatenkoffer und Rucksäcke, der Landsturmmänner und Offiziere, man trug ihm seinen Mantel, kaufte ihm ein Buch oder erwies ihm sonst irgendeine hilflose Abschiedszärtlichkeit. Man suchte nach guten herzlichen letzten Worten und konnte nur unbeholfen sagen: „Schreib‘ bald.. ., viel Glück.. .“, erwog im letzten Moment noch Möglichkeiten und Aussichten und kam so bis zur Ausgangstür. Weiter durfte damals, in diesen furchtbar geordneten Zeiten, der Angehörige nicht, außer er hatte Protektion, die damals sogar zum Abschied­nehmen nötig war. Dann konnte man noch eine Weile winken und dem Zug nachblicken, und für manchen der Zurückbleibenden ist der winkende Arm, das flatternde Taschentuch die letzte Erinnerung geblieben. Tagtäglich hat sich dies auf der Abfahrtsseite zugetragen: Einrücken, Abschiednehmen, verwundet, geheilt, noch einmal hinaus und noch, einmal und immer wieder… Vier Jahre lang war dies das Selbstverständliche, und heute ist’s einem unfaßbar, daß unschuldige, harmlose Menschen das vier Jahrs lang ertragen haben.

Nun ist die Tragödie bei ihrer letzten, trotz allem ver­söhnlichen Szene angelangt: die Heimkehr der Soldaten. Mancher hat sich diesen historischen Moment etwas anders vorgestellt: Einzug durch Triumphpforten, jubelndes Spalier, Reden, Musik, Hurra. Aber auf diese Lesebuch- und Ansichtskartenherrlichkeit läßt sich, verzichten, und alle Enttäuschung und Resignation vermag das Gefühl dieser Tage nicht zu trüben: es ist zu Ende, es gibt nur mehr eine Ankunftsseite, die Soldaten werden wieder Bürger und kehren heim. Sie fühlen sich jetzt schon als Zivilisten, diese Soldaten, die zum Teil ganz junge Burschen und zum größeren alte oder alt aussehende Landsturmmänner sind, jene braven, durchaus unmartialischen Landsturmmänner, die eigentlich den ganzen // Krieg auf ihrem geduldigen Rücken getragen haben, das Menschenmaterial, mit dem nach strategischen Plänen disponiert, das hin und her geworfen wurde. Wenn man sie jetzt auf den Bahnhöfen sieht, da erscheint einem die Angst des von wilden Gerüchten beunruhigten Hinterlandes vor den zurückflutenden Massen einigermaßen, übertrieben. Die unberechenbare Masse ist vielleicht nie so gefährlich wie der berechnende Einzelne, und auch diese Landsturmmänner haben alle nur denselben friedlichen Wunsch: heraus aus der feldgrauen Verkleidung, nach Hause gehen, zur Familie. Das ist der Grund, warum es jetzt auf den Wiener Bahnhöfen eigentlich erstaunlich ruhig zugeht. Der Rummel, der Andrang und das Durcheinander sind natürlich viel heftiger als in den Wochen der Mobilisierung, aber man spürt den friedlichen Sinn des Ganzen. Und. ebenso selbstverständlich ist es, daß die Zivilisten, überhaupt alle, die vier Jahre lang in unge­störter Sicherheit gesessen sind, jetzt aufs Reisen gänzlich verzichten müssen. Die Bahnhöfe, die Eisenbahnen, der ganze Verkehr gehört jetzt nur den heimkehrenden Soldaten. Der ganze Apparat ist ans diese eine Aufgabe eingestellt: es gibt kein Kartenabzwicken, kein Ausrufen, keine Träger, keine Schnellzüge, keine Hutkoffer und elegante Taschen, bloß schwarze Soldatenkoffer und Rucksäcke und Landsturmmänner, die nach Hause fahren wollen. Ab und zu drücken sich Hamsterer ängstlich durchs Gewühl, denen auch jetzt noch eine Kanne Milch, ein Sack Erdäpfel den Sinn des Lebens bedeuten. Und beim Ausgang steht noch immer der Herr „Finanzer“, der die jetzt immerhin schwierige Ausgabe hat, genau acht zu. geben, daß kein verzehrungssteuerpflichtiger Bissen passiert. Er denkt natürlich nicht daran, Ernst zu machen. Er muß eben da stehen, als harmloser Verzehrungssteuermomo, ein Überbleibsel, ein vergessener Posten des alten Österreich…

Auf allen Wiener Bahnhöfen sieht es jetzt ungefähr so aus, aber am stürmischesten staut sich der Strom, der großen Heimkehr auf den vier Bahnhöfen, die die letzten Ausläufer der Fronten sind: der Ost- und Südbahnhof, der Westbahn­hof und der Nordbahnhof. Dort hat schon die ganze Um­gebung nur die eine Farbe und den einen Sinn: Soldaten, Soldaten, dazwischen Gefangene und wieder Soldaten. Auf dem vom Novembernebel schmutzig feuchten Straßenpflaster liegen überall leere Konservenbüchsen umher, jene ständige Soldatenspur. Auch der Troß der Nachläufer und Gaffer fehlt nicht. Frauen und Kinder, kriegsmäßig verwilderte Straßenjungen und jene Burschen, deren verdächtige Hüte allein schon wie ein Delikt anmuten. Ein sonderbares Jahr­marktstreiben mit gewiß nicht ganz einwandfreien Handels­geschäften hat sich hier entwickelt Der Verkauf von teuren, unheimlich aussehenden Leckerbissen und Zigaretten ist noch das Harmloseste. Minder harmlos sind die Geschäfte, bei denen die Soldaten die Verkäufer sind. Es wird ein schwunghafter Handel mit ärarischen Ausrüstungsgegenständen getrieben. Decken, Brotsäcke, Menageschalen finden einen reißenden Absatz, Lebensmittel werden unter dem Höchstpreis abgegeben, aber auch Bajonette und Gewehre werden an den Mann gebracht und noch häufiger an halbwüchsige Burschen und Buben. Der Chor der Zuschauer, der sich sofort teil­nehmend und sachverständig um jeden solchen Handel an­sammelt, macht dazu seine volkstümlichen Bemerkungen. Während die einen den Rechtsstandpunkt vertreten, daß man dies eigentlich „anzagn“ sollte, meinen die Opportunisten: „Bei die Behmen nehmen s‘ es eahm eh weg.“ Die größte Sensation erregt aber ein verhungert aussehender Soldat, der am Straßenrand eine köstliche Mahlzeit hält: Brot mit Schweineschmalz. Die Frauen aus dem Volke sagen be­wundernd und ganz aufgeregt: „Jeh, dös schene weiße Schmalz… So was hab‘ i ’n ganzen Kriag net g’seh’n.“ Und alsbald ist der Soldat den verlockendsten preistreiberischen Angeboten ausgesetzt, die bei vierzig Kronen beginnen und bis zu siebzig steigen. Aber der arme Bursche denkt gar nicht daran, Geschäfte zu machen, er will nur einmal seinen Hunger stillen und derart seine Heimkehr ins Zivil feiern.

Er ißt also unbekümmert weiter, und ebenso unbekümmert bleiben die Leute stehen und sehen andächtig und bewundernd zu, wie ein Soldat Schmalzbrot ißt…

Vor dem Bahnhofseingang patrouillieren junge Sol­daten mit aufgepflanztem Bajonett und Sturmhaube. Aber diese Kampfmittel, die hoffentlich bald endgültig verschwunden sein werden, dienen nicht dem Kampf und der Vernichtung, sondern der Ordnung und Friedenssicherung. Es geht auch alles ganz geordnet und geregelt zu. Jeder wegfahrende Soldat muß beim Eingang seine Waffen abliefern, und man kann nicht sagen, daß ihnen der Abschied vom Schwert oder Bajonett an ihrer Linken besonders schwer würde. Mit dem heiteren Winken war es ohnehin nicht weit her. Im Vestibüle drängen sich abgenützte schwarze Soldatenkoffer, abgetragene Rucksäcke, die endlich in den dauernden Ruhestand gehen dürfen, stehen Gruppen von Offizieren aller Nationalitäten in alter Verträglichkeit und Freundschaft abschiednehmend beisammen. Italienische Kriegsgefangene gehen munter und gut gelaunt umher, wie Menschen, die von einem Ausflug heimkehren, während die gutmütig blonden Russen auch jetzt in der Freiheit eine unveränderte, geduldig bedächtige, ernste Miene bewahren. Alles gewohnte Bahnhofsleben ist ausgestorben. Die Kassen sind geschlossen, niemand kauft die neuen Romane und die illustrierten Zeitschriften, nicht einmal das frische Bier und die Schnäpse beim Büfett finden Abnehmer. Die Soldaten haben keine Zeit und Lust, sich aufzuhalten. Sie wollen nur in den nächsten Zug einsteigen und wegfahren. Manche scheinen es derart eilig zu haben, daß sie sogar alles Überflüssige zurücklassen. In einem Winkel bei der Gepäckskasse liegen aufgeschichtet allerlei herrenlose Monturstücke: Mäntel, Kappen, Zelt­blätter. Brotsäcke, Wäsche, alles sehr abgetragen und

schmutzig, aber es gibt doch genug Interessenten, die darin wühlen, die suchen und gustieren. Sogar ein komplettes geladenes Maschinengewehr ist hier zurückgelassen worden, wird aber wenig begehrt. Diese weggeworfenen und zurück­gelassenen Überbleibsel machen einen seltsamen Eindruck; ein Restenausverkauf des Krieges um jeden Preis…

Ein Zug nach dem andern fährt, mit Soldaten voll bepackt, aus der Halle. Ohne Hurra und Juhu, ohne pathetische Ansprachen, ohne Hymne und Gesang. Ganz still voll­zieht sich die Heimkehr der Soldaten. Sie finden alle ihren Weg nach Hause, wenn auch niemand da ist, der nach höheren strategischen Absichten und Plänen über das Menschen­material disponiert. Das Menschenmaterial… was für ein häßliches Wort das ist und wieviel Geringschätzung für das Einzelschicksal und das Einzelleben daraus spricht. Hier, auf dem Bahnhof, empfindet man das auf einmal deutscher als je, jetzt, wo die Soldaten heimkehren, wo sich das Menschenmaterial wieder in einzelne Menschen auflöst. Nie wieder dürfen Zeiten wie diese kommen. Nie wieder darf es Menschenmaterial geben. Nur Menschen – das genügt…

In: Neue Freie Presse, 6.11.1918, S. 1-2.

Rudolf Jeremias Kreutz: Aktivistische Bücher. Verlag: „Die Schmiede“, Berlin 1924 (1924)

Den literarischen Aktivismus der Epoche kennzeichnet tiefe Unzufriedenheit mit ihrem Bürger, der sich durchaus nicht be­kehren läßt. Aus diesem Grunde schafft die Mehrzahl der Bücher, die in die Zeit fragen, rufen, auf sie losschreien, wohl Erkenntnisse, aber keine Proselyten, wohl neue Form, aber keine Neuformung. Es wird fleißig gehämmert, doch nichts glüht auf im Hammerschlag. Die Schmiede arbeiten kalt. Schall und Hall ist einziges Ergebnis, das zerhämmerte Objekt schmiegt und schweißt sich nicht. Es verharrt in seiner Urgegebenheit, erhaben gleichmütig, wenn auch mitunter schmerzlich angerührt. In dieser schmerzlichen Anrührung des erprobten Alten, das durch sie manchmal nur noch liebenswerter wird, oft aber auch seinen Staub und Rost offenbart, liegt, der Kampfwert des aktivistischen Buches.

Iwan Goll, mit dem die Reihe der Schmiede eröffnet sei, kommt geradewegs aus der verödenden Werkstätte des Ex­pressionismus. Er haßt den Beistrich, türmt Zyklopenmauern aus farbigen Worten, die ungebunden zu klingendem Schutt zerbröseln. Man kennt die Technik. Sie hat wenig Freunde unter jenen geworben, die erraten sollen, wie aus Klang und Schutt Sinn wird — den etwaigen Lesern. Der Eiffel­turm heißt der abstrus profilierte Bau, darin der Dichter epische und lyrische Talentproben ausstellt. Eruptiv, phantastisch schleudert er Gedankenfetzen von sich, souverän, leicht, un­bekümmert, spielerisch, wie ein begabter Berauschter lallt. Von Bändigung der quellenden Fülle, von jener grausamen Selbstzucht des dionysisch erhöhten Geistes, die bürgerliche Rückständig­keit Kunst nennt, wird bewußt Abstand genommen. „Zeich­nungen“ von Delaunay und Leger schmücken den Band. Sie lösen in ihren kubistischen Orgasmen heitere Bestürzung aus.

Freudig überrascht hingegen Viktor Wittner durch sein Gedichtbuch Sprung auf die Straße. In ihm verrät sich ein ungemein starkes optisches Gesicht für den Zauber des Alltäglichen aus Großstadt und Landschaft und eine malerische Gewalt des Ausdruckes, der blitzhaft das geschaute Bild übergrellt, es in der Seele unverwischbar fixierend. Gedichte, wie „Die Stadt im Schnee“, „Das Gewitter ist da“, „Winde wachen auf“, sind unvergeßlich in der unübertrefflichen Darstellung des Ablaufes eines Naturgeschehens. Viktor Wittner ist es hier gelungen, die Grenzen des sprachlich Künd­baren glücklich zu erweitern. Auch der Rhythmus der Schnelligkeit, wie ihn „Die Fahrt“ aus der Bilderschau eines rollenden Eisenbahnwagens erfaßt, ist originell in der dichterischen Durchdringung der grandiosen technischen Nüchternheiten unsrer Zeit. Auch Wittner ist „neue Stimme“, wie ein Beurteiler preisend hervorhebt, aber eine, auf die zu horchen lohnt.

Anklage gegen das mechanistische Prinzip der aus­gleichenden irdischen Gerechtigkeit, verkörpert im Walten der Behörde, erhebt Josef Roth in seinem Roman Die

Rebellion. Das Werkzeug, dessen er sich bedient, ist der Kriegskrüppel Andreas Pum, ein armer Teufel und muster­hafter Untertan, der alle Störer der gottgewollten Autorität kurzweg „Heiden“ nennt und innig verabscheut. Trotz solcher Wohlanständigkeit gerät er aber doch ganz schuldlos in einen Konflikt mit der Staatsgewalt; die Räder der Maschine erfassen, zermahlen ihn. Was schließlich als Rest des braven Andreas Pum freigelassen wird, rebelliert innerlich und stirbt als überzeugter „Heide“. Knappe, humorige Ironie durchpulst die Erzählung. Ihre Menschen sind scharf Umrissen und lebens­wahr. Man gewinnt sie lieb, obwohl sie allesamt wenig liebens­würdig sind. In seiner Gestaltungskraft als Epiker zeigt Josef Roth bedeutendes Können, sein Stil hat Kultur, Farbe, leuch­tenden Schliff. Bedauerlich nur, daß die tendenziöse Einstellung des Buches seinem künstlerischen Wert insoweit Abbruch tut, als die innerliche Wahrhaftigkeit dann bewußt verleugnet wird,wenn die Behörde als ein Monstrum von Grausamkeit, Dünkel und Dummheit dem Opfer gegenübertritt. Gar so arg ist es im bürgerlichen Staat jenseits der Romanwelt nicht, der Zukunfts­staat auf Probe aber, den das bolschewistische Rußland dermalen zeigt, hat keinesfalls erwiesen, daß dort, wo alle Macht im souveränen Volke ruht, die Obrigkeit den in ihren Netzen zappelnden Unschuldigen etwa feinfühliger behandelt. „Es ist unten so wie oben und oben so wie unten“, hat der „hohe Ein­geweihte“ Hermes schon vor Jahrtausenden in Altägypten gemeint. Sollte dies bei irdischem Machwerk jemals anders sein können?

Bravouröse Gedanklichkeit, in ein Labyrinth umständlich geschachtelter Sätze verkeilt, bietet Karl Sternheim, heute schon Altmeister in der Kunst, gedanklich tief, aber schwer lesbar zu schreiben, mit seiner biographischen Novelle Gauguin und Van Gogh. Sie spielt im letzten Lebensjahr des großen Holländers und behandelt die Zeit, da die leidenschaftliche Feindfreundschaft zu seinem Antipoden, dem Maler Paul Gauguin, ihn künstlerisch aufpeitscht und körperlich vernichtet oder, genauer, letzter Anstoß zu seiner Vernichtung wird. Zur Seelenkunde Vincent van Goghs, des Nurkünstlers, der sich erschießt, als er erfährt, daß die Ruhmreklame für ihn dröhnend einsetzt, hat Sternheim mit dieser kurzen Veröffentlichung Wesentlichstes beigetragen.

Vier aktivistische Köpfe. Man freut sich immerhin, daß sie Profile zeigen. An Profillosigkeiten, die uns anmutig­ verschwommen beplaudern, herrscht im Dichterwalde ohnedies kein sonderlich fühlbarer Mangel.

In: Neues Wiener Tagblatt, 16.6.1924, S. 26.

Leopold Jacobson: Georg Kaisers „Gas“. (1920)

Schauspiel in fünf Aufzügen – Erstaufführung am Deutschen Volkstheater.

Es hat ein künstlerisches Problem Georg Kaiser gegeben, noch ehe ein kriminalistisches auftauchte. Das erste, ebenso seltsam anziehend wie das zweite, wird wahrscheinlich schwerer zu lösen sein. Im Gerichtssaal entscheidet die nüchterne Formel, in der Kunst hat man es mit Imponderabilien zu tun. Das Unwägbare beherscht das ganze Schaffen Georg Kaisers, angefangen vom Schüler Vehgesack bis zum Tanzspiel Europa. In diesem Dutzend, das immer auf sonderbare Art schillert, locken fortwährend Fragen aller Art, literarische, psychologische, theatralische; einmal scheint nur ein reiner, seelischer Intellekt am Werk, das nächste Mal ein spekulatives Wollen: einmal eine ursprüngliche

Geistigkeit, die über Abgründe und Höhen sich hinüberschwingt, das nächste Mal ein kühles Rechentalent, das mit Plus und Minus auf seinen Vorteil bedacht scheint. Die Stücke sind ungleichmäßig, im Stil, im Denken, im Wurf; nur eines ist ihnen fast immer gemeinsam: die gebrochene Linie. Sie verlassen irgendwo den Weg und gehen plötzlich im Zick-Zack. Das mag ebensosehr ein künstlerischer wie psychologischer Defekt sein; ein theatralischer war es von eh und je.

Aber dieses Problem Georg Kaiser hat seine Reize. In diesem Schriftsteller ist trotz Aber, trotz Wenn ein literarischer Ausdruck der Zeit lebendig, ein triebhaftes Künstlertum von neu­artigem konstruktiven Pathos, das aus gedanklicher Ethik und sinnlich-physischen Wallungen entspringt. In seinen letzten Schauspielen tritt der Zusammenhang schärf« und klarer hervor. Sie bilden schon eine Kette. Immer von neuem ergibt sich hier, daß alles ursprüngliche Menschentum und jeder Gefühlswert scheinbar keinen Bestand hat vor der Realität des eingeengten, anerzogenen Denkens, vor der Häßlichkeit der Menschennatur überhaupt, die im höheren Sinne immer amoralisch bleibt.

Das Schauspiel Gas hat bei Georg Kaiser schon Vor­läufer. Der Anknüpfungspunkt könnte beim Schluß der Komödie Von Morgens bis Mitternacht gefunden werden, wo sich der Defraudant zur Heilsarmee flüchtet, aber es erleiden muß, daß sich eine der Heilslehrerinnen seiner versichert, um die Prämie für die Ergreifung des Verbrechers zu verdienen. Näher noch zum Schauspiel Gas aber ist Die Koralle, diese große Anklage gegen den Kapitalismus, die den Milliardär an dem Experiment der Selbstläuterung scheitern läßt. Der eigene Sohn stellt sich gegen den Vater und macht die Sache der Arbeiter zu seiner eigenen. Dieser Sohn ist jetzt der Held des Schauspiels Gas, das nicht mehr und nicht weniger sein will als die Probe auf das Exempel, wie über alle sozialpolitische Praxis die letzte endgültige Idee des freien und befreiten Menschentums, der Christusgedanke überhaupt, nur eine Vision bleiben muß, daß Mensch, Schule, Staat, Technik, Wissenschaft, kurzum der ganze kapitalistische Weltbegriff, eine Verwirrung aller Denk- und Gefühlswerte herbeigeführt hat, die nicht mehr aus Hirn und Herz zu reißen sind. Aber im Symbol und Gleichnis ist auch wie Prolog, Apologie und Epilog des Krieges. Es ist kein realistisches Schauspiel, sondern ein im bedingten Sinne expressionistisches. Er ist die ins Theatralische umgesetzte Dämonie eines Gott- und Menschensuchers.

Der Milliardärssohn hat gemeinsam mit den Arbeitern ein ungeheures Werk aufgerichtet, in dem ein Gas erzeugt wird, das die gesamte Weltwirtschaft in Betrieb setzt. Dieses Werk ist – der Sozialisierungsgedanke erscheint vorweggenommen – Eigentum aller, der Milliardär nur der Erste Arbeiter. Da entsteht eine ungeheure Explosion, die Tod und Verderben herbeiführt. (Der Knall, das Chaos, aus dem eine neue Welt erstehen soll, ist ein mehrfach wiederkehrendes Motiv bei Georg Kaiser.) Die chemische Formel für die Erzeugung des Gases, die zweifellos stimmte und doch wieder nicht stimmte, hat plötzlich versagt und der Milliardär weigert sich nun angesichts des Unglücks, das das Werk aus den Trümmern neu erstehen zu lassen. Lieber will er eine Siedlung gründen und die Arbeiter zur Natur zurückführen, ihnen ein Lebensidyll schaffen. Aber während die Masse eben noch die Entfernung des Ingenieurs gefordert hat, als ob es nicht gleichgültig wäre, ob dieser oder ein anderer nach der gleichen Formel die Erzeugung von Gas bewerkstelligen würde, schlägt plötzlich die Stimmung der Arbeiter um; eben haben sie sich noch von dem Gedanken beherrschen lassen, daß ihre Augen, ihre Hände, ihre Füße, ihr Leib bloß einzelne Maschinenteile im Räderwerk des Kapitalismus sind und daß sie selbst die Waffen gegen sich schmieden, eben noch sind sie für den Gedanken einer individuellen, idyllischen, natürlichen Gemeinwirtschaft im Sinne des Milliardärs ent­brannt, da tritt ihnen jener gehaßte Ingenieur entgegen und zeigt ihnen in flammenden Worten auf, daß sie mit dem Werk, das sie schaffen halfen, tiefer verbunden seien als sie selbst ahnen. Er stellt ihnen die Leidenschaft der Arbeit vor und fragt sie, ob sie, die die Technik und Wissenschaft zur Vollendung führten, Bauern werden wollen. Und die Masse antwortet mit Nein. In ihr lebt unausrottbar der Trieb: schöpferisch zu arbeiten. Arbeiten ist ihr Gefühl, Arbeit ihr Beruf, Arbeit ihre Tragik. Vergebens warnt der Milliardäre. Die Arbeiter erzwingen ihren Willen, und der Milliardär mit der menschenbeglückenden Idee bleibt besiegt zurück. Schön ist dann der Ausblick, daß ihm seine Tochter den neuen Menschen zu gebären hofft, (Dieser neue Mensch, der Sohn, ist der Held des zweiten Teiles von Gas, eines ebenfalls schon erschienenen Schauspiels. Darin wird, um die Menschheit auf einmal zu zerstören, ein Giftgas erzeugt, sozusagen als letzter Ausweg aus der geistigen und seelischen Hölle.)

Das Schauspiel Georg Kaisers, diese weit über alle sozialpraktische und Erkenntnistheorie hinauslangende Vision, schwingt in einem für den Dichter immer charakteristischen Rhythmus hin. Die Menschen sind irreal wie die Idee, ihre Seelen und Leidenschaften vom Individuellen ins Allgemeine, projiziert. Kurz, knapp, scharf fallen die Worte, Unter- und Oberstimmen sind gegeneinander abgestimmt. Aber man wird bei alledem doch nie die Empfindung der dialektischen Überhitztheit, des mir kaltem Wege erzeugten ethischen Pathos los. Irgendwo spürt man eine Unwahrhaftigkeit, eine literarische Spielerei mit den letzten Dingen des Intellekts. Das ist wieder die gebrochene Linie.

Dennoch bleibt Gas das Schauspiel eurer Zeitepoche, senkt es sich tief in die Gedankenwelt ein und ist in der mit der in kinohafter Technik aufgebauten, einprägsamen Bildhaftigkeit von bemerkenswerter theatralischer Wirkung. Sie hervorzurufen fordert einen bis aufs Unwirkliche gerichteten Inszenierungs- und Darstellungsstil. Hier hat die Regie Bernaus die Aufgabe mit Glück dem Ziel genähert. Es breitet sich eine in Untergangsstimmung getauchte Welt aus, in der zwischen Tag und Traum die Ideenträger wandeln. Es sind ihrer viele, dabei jeder mit einem anderen Zug, der ihn als Typus Mensch und Masse erscheinen läßt. Heraus springen zwei: der Milliardär, der Menschensucher, den Herr Klitsch, und dann der Ingenieur, den Herr Everth darstellt. Klitsch gibt dem Fanatismus einem bei aller Herzensbewegtheit sachlichen Ton, eine zwingende Unerbittlichkeit des Gedankens, und steigert dann die Entladung seines gepreßten Gefühls zu starkem geistigen Pathos. Es ist seine bei weitem stärkste schauspielerische Leistung, die er geboten. Everth ist die Gegenmaske; auch er ein Ideenträger, nur viel härter, brutaler, mehr aufs Tatsächliche gerichtet, mit einer kunstvoll verhaltenen Leidenschaftslosigkeit, die wie Leidenschaft aussieht. Aus dem Wechselbild des Spiels heben sich noch einige bizarre und charakteristische Gestalten ab: die Herren Novotny, Zehetny, Goeth, Brausewetter, Fräulein Volkmar. Im stark aufgepeitschen Sturm der Arbeiterversammlung und der Redeschlacht wurde dann der entscheidende Höhepunkt der Aufführung erreicht. Sie hat ihren Sinn nicht verfehlt: den Bankrott einer Weltanschauung aufzuzeigen.

Von dem Problem des Werkes weg flogen aber doch schließlich die Gedanken zu dem Häftling in München, dem Strafgefangenen Georg Kaiser, von dem seine Freunde sagen, daß er seine Literatur ins Leben umsetzte: zu einem neuen Problem. „Mit Ketten geht man lahm“, dichtete Oscar Wilde im Zuchthaus von Reading.

In: Neues Wiener Journal, 28.11.1920, S. 13.

Hanns Margulies: „Auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege“ (1927)

Täglich erscheinen in den Zeitungen Inserate, in denen Menschen einander suchen. Da es die behördliche Sittlichkeit so will, suchen sie alle „ehrbar“, auch wenn ihnen gar nicht danach zumute ist. Aber es läßt sich ja durch dieses „ehrbar“ auch niemand abschrecken, wenn ihm der sonstige Inhalt des Inserats zusagt. Wer aber sind die Mädchen und Frauen, die jungen und älteren Damen, die „auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege“ Bekanntschaften suchen und Beziehungen an­knüpfen? Nach der Fülle der Rufenden zu schließen, muß die Zahl der Antwortenden nicht gering sein.

Ein Wiener Journalist, Dr. Leo Perry, ist nun auf den glänzenden Einfall gekommen, Lockinserate in verschiedenen Wiener Tages­zeitungen erscheinen zu lassen, um so einen Einblick in dieses Gebiet zu gewinnen. Seine Inserate waren geschickt und berechnet abgefaßt, so daß sie das ganz große Gebiet vom noch harmlosen Flirt über die ernsten Heiratsabsichten bis zur perversen Lustbefriedigung einfingen. Auf dreiundzwanzig Inserate liefen rund zweihundert Zu­schriften ein, die er wortgetreu, mit allen orthographischen und grammatikalischen Feh­lern – an denen es auch dann selten man­gelt, wenn der Briefschreiber behauptet, aka­demische Bildung zu besitzen – und nur mit Eliminierung ausgesprochen pornographischer Stellen in einem Buch vereinigt hat, das jetzt im „Verlag für Kulturforschung“ (Wien-Leipzig) erschienen ist.

Ein Jahrmarkt der Eitelkeiten, der Scham­losigkeit und der Berechnung! Auch wenn man auf vieles gefaßt ist, man wird immer noch überrascht von dein, was hier zusammengekommen ist. Wie jeder sich anpreist, sich in den schillerndsten Farben malt, wie jeder ein Ausnahmemensch sein will, sich bemüht, ori­ginell zu wirken! Wie ehrlich jeder zu sein vorgibt! Vorgibt, denn einige von ihnen ant­worten mit fast den gleichen Worten auf verschiedene, ja, sogar gegensätzliche Inserate.

Da ist zum Beispiel ein „Trovatore“:

Herr in den besten Jahren,

in dessen Erziehung manches ver­säumt wurde, sucht Anschluß an Welt­dame von stolzer Erscheinung.

Er bekam von einer Dame, die den Sinn des Inserats richtig begriff, diese Antwort:

„Wenn ich Ihre Annonce richtig aufgefaßt habe, brauchen Sie eine ernste, elegante first Class Dame, die Ihnen die fehlende Kinder­stube nach und nach, selbst durch strenge, radikale Unterweisung und Erziehung bei­bringt …— Ist es nicht so? An mir wer­den Sie, geehrter Herr, die qualificierte ent­sprechende Dame der besten Gesellschaft, sprachenkundig, musikalisch, vielseitig gebildet, imposante, elegante Figur, romanischer Typus, befähigt Ihnen die besten Manieren, feinste Lebensart beizubringen finden. – Ich ersuche Sie höfl. mir Postlagernd zu schreiben, wann und wo wir uns zwischen 5–7 abends treffen könnten, um Näheres zu besprechen und zu sehen, ob wir uns verstehen und konvenieren und ob Sie in der Lage sind, der­artige Stunden entsprechend zu honorieren, dieser Punkt ist sehr wichtig: eine Conditio sine qua non. – – –“

Das ist deutlich, nicht wahr?

Die gleiche, verständnisvolle Dame aber ist auch „Juno“, denn sie antwortet auch auf dieses Inserat:

Ernster Herr,
in den besten Jahren, sehr zurück-
gezogen lebend, finanziell erstklassig,
sucht die ehrbare Bekanntschaft einer
Dame von imposanter Figur. Bubi­kopf
und Modepuppe verbeten.

Ihm schrieb sie:

„Euer Hoch wohlgeboren! Ihre gesch. Annonce, die mir ein Zufall heute in die Hände spielt, erregt meine Auf­merksamkeit, weil wir anscheinend passen. Auch ich bin ernst, lebe sehr zurückgezogen seit langer Zeit, möchte aber jetzt, bevor es zuspät wird, einen passenden Anschluß finden. – Ich bin kath. geschieden, habe eine lebenslängliche Rente, mein Mann zahlt mir Alimente, ich bin vollkommen unabhängig, lebe im Hotel das ganze Jahr; spreche mehrere Sprachen, perfect französisch, spiele sehr gut Klavier, kenne fast ganz Europa, bin sehr belesen. Ich bin groß, ziemlich stark, habe eine regelmäßige, schöne Figur, brünett, schönes glänzendes Haar, romanischer Typus. Mein Mann ist hochgestellter Officier, ich stamme aus einer vornehmen Familie. Si Ie coeur vous en dit, schreiben Sie mir nicht anonym, wie Sie sich diese Bekanntschaft vorstellen und Näheres über Ihre Verhältnisse, vor Indiskretio­nen sind Sie sicher…“

Ehrbar, nicht wahr? Möchte man glauben, daß diese Dame Honorare für sadistische Be­handlung beansprucht?

Temperamentvolle Dame,
sehr elegant, entre deux ages, würde
sich gern an netten, jüngeren Herrn
attachieren. Guter Tänzer bevorzugt.
Gefl. Anträge unter „Rosenkavalier“.

Eine Antwort:

„Meine Hochverehrte Dame! In Ihrem Inserat suchen Sie einen Rosenkavalier als Freund. Ich möchte es gerne sein, ich weiß aber nicht, ob Sie mich dafür gelten lassen. Kavalier bin ich vom Scheitel bis zur Sohle, ein guter Tänzer bin ich auch. Sonst elegan­tes und angenehmes Äußeres. Jung bin ich auch noch, wenn nicht gerade sehr jung, 32 Jahre, sehe aber viel jünger aus. Dafür bin ich erfahren und rasenierter in der Liebe und äußerst temperamentvoll. Wenn ich in angenehmer Gesellschaft bin, kann ich sehr lustig sein. Es kann sein, daß ich noch mehr Vorzüge besitze, diese zu suchen überlasse ich gerne meiner Partnerin. Ich bin Reichs­deutscher, erst kurze Zeit in Wien…“

Aber dieser Reichsdeutsche hat noch eine andere Seite, die er unter dem Stichwort „Gesicherte Existenz“ bekanntgibt, denn er antwortet auch auf dieses Inserat:

Fräulein aus gutem Haus,
mit eigenem gutgehenden Geschäft,
27 Jahre alt, hübsche, sympathische
Erscheinung, mit dreijährigem herzi­gen
Mäderl, wünscht seriösen Herrn
zwecks Ehe kennenzulernen.

Ihr schreibt er:

„Sehr geehrtes gnädiges Fräulein!

Mich interessierte Ihr wertes Inserat, worin Sie einen Herrn zwecks Ehe suchen. Ich glaube, es wird Ihnen schwer fallen, den rich­tigen Herrn, der ja gleichzeitig auch ein richti­ger Vater sein muß, zu finden. Und da Sie ja bereits Enttäuschungen und Schicksalsschläge ertragen mußten, wollen Sie sich für weitere hüten. Auch ich habe ein besonderes Schicksal. Fast heimatlos irre ich nun schon cca. 14 Jahre in der Welt herum und suche irgendwo eine Heimat und konnte sie noch nirgend finden…

Als ich nun heute durch Zufall Ihr Inse­rat entdeckte, da ich sonst nie diesen Teil der Blätter beachte, kam mir gleich der Gedanke, das ist vielleicht etwas für dich. Sie werden darüber natürlichen lachen, aber wissen Sie, ich bin mit Menschen, die auf irgend einer Weise ein Schicksalsschlag erlitten haben, mit meinem Schicksal verbunden. Mein Prinzip ist auch nur, eine solche Frau zu heiraten. Da ich aber sehr kinderlieb bin, ja man sagt mir sogar ich sei ein Kindernarr, würde ich Ihr kleines Mädchen ans Händen tragen. Wie oft habe ich es schon bedauert, wenn Eltern mit ihren Kindern recht glücklich sind, daß ich es nicht sein kann…“

Also nicht nur „raseniert“ in der Liebe, son­dern auch bei dem Versuch, die „gesicherte“ Existenz zu erheiraten.

Sehr interessant ist, daß ein Japaner nur drei Zuschriften erhielt und ein Mulatte, ein Jazzbandspieler, bloß einen einzigen Brief bekam.

Den Rekord konnte aber nachstehendes In­serat erzielen:

Fratz,
aus sehr gutem Haus, der sich
grenzenlos langweilt, sucht anregende
Korrespondenz. Wer Lust hat, schreibt
mir unter „Naschkatzerl“.

Das Naschkatzerl hat es den jungen und alten Männern angetan. Jeder möchte mitnaschen. Von zarter Anzüglichkeit bis zur ein­deutigen Ferkelei ist in den vielen Zuschriften alles vertreten.

Sehr bezeichnend ist auch, daß auf Drei­eckverhältnis zielende Wünsche prompt erfüllt werden und daß sich auch genügend Ehepaare finden, die unter der Chiffre „Vierblättriger Klee“ antworten.

Das Buch von Dr. Leo Perry ist wirklich ein Beitrag zur Sittengeschichte von heute. Es ist amüsant, es ist aufschlußreich und es ist unsäglich traurig. Denn: Das ist der Mitmensch, der Nebenmensch. Unverhüllt, aber verlogen, egoistisch, heuchlerisch. Gerade in dieser Verlogenheit aber enthüllt er sich.

Dem Buch zu wünschen, daß es von vielen gelesen werde, ist überflüssig, denn die Neugierde, dem Nebenmenschen einmal ins unaufgeräumte, ungelüftete Schlafzimmer gucken zu können, ist bei allen groß.

In: Der Tag, 27.5.1927, S. 4.

N.N.: Der Verrat des deutschen Geistes. (1933)

Die Feigheit der deutschen Intellektuellen. – Drei Beispiele: Der Vortrag eines mutigen Revolutionärs, ein Kriegshetzerfilm, ein Haßgesang.

Hoffnungslos ist die Nacht der Barbarei, die über Deutschland liegt. Die blutige Reaktion hat den Geist er­schlagen, und wie einst im Kriege sind die meisten sogenannten Geistigen im bürgerlichen Lager mit wehenden Fahnen über­gegangen, um Sicherheit und Einkommen nicht zu gefährden. Der deutsche Geist ist verraten. Drei Beispiele bringt der Tag — da gab es gestern den mutigen Vortrag eines deutschen Schriftstellers gegen die bürgerlichen Intellektuellen, da gab es gestern die Aufführung eines nationalistischen Kriegshetzerfilmes, da brachte der Zufall ein „Deutsches Gedicht“.

Diese drei Ereignisse, sie zeigen das Deutschland von heute auf, sie zeigen den Geist, der verneint — an diesem neuen deutschen Wesen muß die Welt verwesen!

Leo Lania richtet die deutsche bürgerliche Intelligenz

„Die Verlotterung der Geistigen in Deutschland, die Verlumpung der Begriffe, sie vor allem sind — neben der furchtbaren Not und der Wirtschaftskrise schuld— an dem Ausbruch der Barbarei in Deutschland. So konnte Hitler viel schneller als Mussolini alles Sozialistische in seinem Programm sinken lassen und den brutalsten Terror wal­ten, alles Demokratische und Sozialistische niederknüppeln  lassen. Wie folgerichtig barbarisch und gewalttätig Hakenkreuzlertum in Deutschland vorgeht, gehe daraus hervor,

daß in Deutschland tausende Menschen in den Kerkern
sitzen, daß aber kein Mensch weiß, wo die Verhafteten
sind,
daß es niemand gelingt, zum Beispiel mit Ossietzky sprechen zu können.

Kein Mensch weiß, ob da nicht, wie bei Liebknecht und Rosa Luxemburg, ein Fluchtversuch konstruiert wor­den ist, bei dem das Opfer umgekommen ist.

Die Massen in Deutschland, die seit einem Jahrzehnt in politischer Hochspannung leben, sind politisch geschult. Hitler ist es nicht gelungen, die Proletarier von ihren Parteien abzusplittern. Aber es ist ihm gelungen, die Träger des Geistigen in Deutschland, die Publizisten, die Intellektuellen einzuschüchtern, so daß sich niemand gefunden hat, der auch nur ein Wort des Widerspruches gegen die Behandlung eines Mannes wie Thomas Mann erhoben hätte.

Ich konzendiere den Intellektuellen nicht das Recht auf Feigheit
aus Furcht vor dem Tantiemenentgang!
An den Pranger mit den bürgerlichen intellektuellen Schichten,
die die deutsche Demokratie verraten haben!“

So hat Leo Lania, der Schriftsteller und Publizist, gestern Abrechnung gehalten mit der deutschbürgerlichen Intelligenz. Aber noch strenger war das Gericht, das er über

die österreichische bürgerliche Presse  

abhielt. „Wenn in Deutschland Blätter der bürgerlichen Linken sich dazu hergeben, gegen die ganze Tradition der Intelligenz zu schreiben, wenn das Berliner Tageblatt“, das Kritik bis zum letzten Augenblick geübt hat, nun schweigen muß, so ist die Haltung der bürgerlichen Presse in Österreich das Unerhörteste, das sich denken läßt.

Den Rekord hält in dieser Hinsicht die Neue Freie Presse. Das ist nicht mehr politische Haltung, das ist Ueberläufertum, das ist nicht mehr gesunder Menschenver­stand — in welchem die Times dieser Presse zum Muster dienen kann – das ist der Verrat alles Geistigen. Oder soll man diese Herren als Nationalsozialisten ansprechen? Die Herren werden sich auch irren, wenn sie nicht bloß aus Angst, sondern auch mit der Hoffnung ins nationalsozialistische Lager abschwenken, vor dem Hakenkreuzlertum auf dem Bauch liegen, etwa leckere Geschäfte zu machen. Diese Spekulation wird mißglücken, sie werden kein Leumunds­zeugnis ihrer „Bravheit“ erhalten, sie werden nichtsdesto­weniger vom Nationalsozialismus „gekillt“ werden!

Was jetzt? Was haben die geistigen Menschen zu tun? Die Massen, soweit sie denken — und das sind in Deutschland dreizehn Millionen — sind gegen die hakenkreuzlerische Barbarei. Aber die Maste hat selbst keinen Mut. Sie braucht das beispielgebende Tun der Einzelnen, um mutig zu werden, sie braucht die mutigen geistigen Führer.

Hier erwächst den Intellektuellen ihre Sendung, sie gegen die pseudorevolutionäre und pseudosozialistische reaktionäre Gewalt des Hakenkreuzlertums zu führen, sonst versinkt Deutschland im Mittelalter. Darum: Sozialisten, Bürger, Republikaner! Werdet hart!“

                                                                       I.

Zwei Verhaftungen

Im Zusammenhang mit dem Störungsversuch, den Nationalsozialisten während des gestrigen Vortrages des Berliner Schriftstellers Leo Lania unternahmen, wur­den von der Polizei zwei Stänkerer verhaftet. Die Verhafteten wurden zur Polizei gebracht, wo mit ihnen ein ausführliches Protokoll ausgenommen wurde. Dann wurden sie wieder auf freien Fuß gesetzt.

                                                                       II.

Kriegshetzfilm „Morgenrot“

Diese Geschichte von den Kämpfen eines deutschen U-Bootes hat nichts mit einem Film zu tun, sie ist nationalistische Kriegspropaganda, die sich eben auch des Filmes bedient. Gestern wurde dieses Machwerk der Ufa zum ersten Male, im Beisein von Regierungsvertretern, in Wien aufgeführt. Der ehemalige Unterseebootoffizier von Spiegel fand es notwendig, als Ver­fasser dieser Bildreihe, eine Rede zu halten. Der Mann ist schon einmal in Wien, in der Urania aufgetreten, wo er die Zuhörer mit dem Faschistengruß empfing. Gestern sprach er von deutscher Aufrüstung, Deutschland müsse wieder seinen Platz an der U-Boot-Sonne haben und von ähnlichen Dingen. Dann folgte die Ufa-Wochenschau, die Aufnahmen aus dem verbrannten Reichskanzlerpalais brachte, Titel: „Kommunistische Brandstifter haben…“ Allerdings war dieser Teil der Wochenschau stumm, die Nazibegleitrede in einem Wiener Kino zu bringen, das hat man sich doch nicht getraut.

Und nun zum „Morgenrot“. Man hat schon eine ganze Reihe von Kriegsfilmen gesehen, aber so etwas war noch nicht da! Selbstverständlich ist der Feind ein elender Schuft, und nur die deutschen U-Boot-Helden, die be­kanntlich nie ein Handelsschiff torpediert haben, nur sie sind Kavaliere. In der Heimat aber schreien die — damals noch nicht marxistisch verseuchten — Leute unentwegt „Hurrah!“, Labedamen futtern die Soldaten, die egal singen: „Wir fahren gegen England…“ und überhaupt ist deut­sches Mannessterben im Kriege der schönste Tod. Der U-Boot-Kommandant aber hält ununterbrochen patrio­tische Reden: „Wir Deutschen verstehen zwar nicht zu leben, aber wir verstehen zu sterben…“, „…es tut den Deutschen gut, wenn nach langer Nacht ein scharfer Wind um ihre Ohren bläst…“ und so. Und die deutschen Matrosen, sie hören es gerne und sterben mit Begeisterung, für Vater­land und Kriegsverdiener, für Kaiser und Etappenschweine. Stolz weht die Fahne Schwarzweißrot und das Luther-Lied ertönt.

Den Film „Im Westen nichts Neues“ durfte man in Österreich nicht ausführen, weil die öffentliche Ruhe und Sicherheit, infolge der Nazikrawalle gefährdet war. Ob etwas ähnliches bei diesem Kriegshetzerfilm geschehen wird? Denn es ist sehr zu bezweifeln, daß man diese Provokation so ruhig hinnehmen, daß sich die Wiener Arbeiterschaft diese aus Deutschland ein­geschleppte gefährliche Kinopest widerstandslos gefallen lassen wird.

„Morgenrot“ — ein deutscher Film? Nein, Zelluloiddreck, made in germany.

Haßgesang gegen Polen

Wie einst im Mai des großen Stahlbades: Deutsche Konjunkturdichterlinge stehen auf und machen ihr patrio­tisches Geschäft. — In den oberschlesischen Naziblättern erscheint jetzt ein Gedicht Haßgesang gegen Polen. Die Polen haben dieses Brechmittel in ihren Blättern abgedruckt und selbstverständlich mit entsprechenden Kommentaren ver­sehen. Ein neuer Krieg wird vorbereitet, dank eines deut­schen Geistes, der den Himmel und die Erde und die Mensch­heit verneint, eines deutschen Geistes, der die Welt wieder in den Abgrund des Krieges stürzen will.

„Gott, hilf der deutschen Sache, der gerechten,
Laß deutsche Männer nicht von Polen knechten!
Gib uns die Kraft, der Polen Macht zu brechen,
Mit Blut und Feuer grausig uns zu rächen.
Schick Krankheit. Seuchen, laß ihr Land verpesten,
Laß giftige Früchte wachsen an den Aesten!
Die Teufelsbrut, die schmutzig dreckigen Polen,
Euch soll die Hölle, soll der Teufel holen!
Wird Schlesien polnisch, Gott, dann laß krepieren
Im Mutterleib die Kinder gleich den Tieren!
Dann lahme Gott der Polen Füße, Hände,
Laß sie verkrüppeln, ihre Augen blende!
„Ein deutsches Herz, das läßt sich nicht erweichen,
Nicht Friede: Haß sei zwischen beiden Reichen!
Und wenn ich einst zum Todeskampf mich rüste,
Ruf sterbend ich: Polen, Herr, zur Wüste!“

In: Der Abend, 4.3.1933, S. 3.

N.N.: Die Flucht des geistigen Deutschland nach Wien (1933)

Namen als Anklagen gegen das „Dritte Reich“

2 Uhr früh. In den grellen Lichtschein eines Kaffeehauses nächst dem Stephans­platz, in dem sich um diese Zeit die Nacht­schwärmer zu treffen pflegen, treten zwei Gestalten, zerlumpt, zerschunden, abgehetzt, mit irren, suchenden Augen. Bald erfährt man, wer sie sind: Flücht­linge aus Deutschland, deren Na­men in politisch informierten Kreisen be­kannt sind. Als der braune Terror in Berlin einsetzte, die S. A.-Banden in den Privatwohnungen politischer Gegner einbrachen, ergriffen die beiden im letzten Augenblick die Flucht. Ohne in die Wohnung zurückzu­kehren, förmlich von der Straße weg, setzten sie sich in den Zug und überschritten nach aller­lei Abenteuern die österreichische Grenze. Nun sind sie hier, mittellos, werden von Freunden unterstützt, näch­tigen bald da, bald dort.

„Um Gotteswillen, nur nicht unsere Namen in der Zeitung nennen, nur nicht schreiben, was wir über Berlin erzählt haben“.

Einmal, über kurz oder lang, so hoffen sie, muß sich doch die furchtbare Haßwelle, die augenblicklich über Deutschland geht, legen, über kurz oder lang muß es doch wieder möglich sein, nach Berlin zurückzukehren …

*

Diese Hoffnung haben sie alle, die in den letzten Tagen nach Wien flüchteten. Es sind viele unter ihnen, wie jener junge Journalist etwa, der heute nicht weiß, wo er in der Nacht schlafen, wovon er morgen essen wird, die zur „Konjunkturzeit“ nach Berlin fuhren, von denen es hieß, daß sie draußen Karriere gemacht hätten. Nun sind sie wieder da, in demselben Literatur-Café, von dem sie ge­startet waren, um es mit dem „Romanischen“ zu vertauschen, nun sind sie wieder da, elender denn je.

*

Jeden Tag sieht man neue — be­kannte — Gesichter auftauchen, jeden Tag werden neue Namen von Flüchtigen kolportiert. Viele sind noch da, die kurz nach dem Umsturz der Verhältnisse in Berlin nach Wien gekommen waren und erklärt hatten, sie führen in den nächsten Tagen nach Berlin zurück. Die Greuel­nachrichten, die aus Deutschland kommen, lassen jeden Versuch, dort persönlichen Heldenmut zu beweisen, als Irrsinn, als selbstmörderische Dummheit erscheinen. So trifft man

Anton Kuh

noch immer in irgend einem Schanklokal der Inneren Stadt bei einem Schnitt Pilsner sitzend an, so sieht man Leo Lania noch immer im Kaffeehaus er­scheinen. Auch Rudolf Olden, den langjährigen politischen Leitartikler des Berliner Tageblatt, begegnet man in diesen Tagen.

Theodor Tagger (Ferdinand Bruckner)

, der zur Premiere seiner „Marquise von O“ nach Wien gekommen war, ist gleichfalls noch hier, und

die Wien-Reise Max Reinhardts

sieht bedenklich einer Flucht ähnlich.

Leopold Schwarzschild ist auch schon da“

, wird einem bedeutungsvoll zugerufen, Schwarzschild, der Herausgeber und Chef­redakteur des Tagebuch. Er war von Berlin nach München gefahren, und als sich jetzt auch dort die Verhältnisse geändert haben, verlängerte er seine Reise bis nach Wien.

Und dort in der Kaffeehausloge sieht man schon seit einigen Tagen

Bert Brecht

, während der expressionistisch-nervöse Dich­ter Stefan Ehrenzweig die Nächte durch von Lokal zu Lokal wandert.

„Heute oder morgen soll Alfred Polgar hier eintreffen“, sagt einer.

*

Und in der Tschechoslowakei, so heißt es, soll es noch ganz anders zugehen als in Wien. In Karlsbad und in Marienbad soll man nicht einmal eine Sommerwohnung mehr zu mieten bekom­men. Im Prager Café Passage soll ein „Betrieb“ herrschen, wie man ihn seit Jahren nicht erlebt hat.

Wo sich

Egon Erwin Kisch

augenblicklich aushält, wird geheim ge­halten, aber Fritz Grünbaum, Felix Bressart, Siegfried Arno sind schon eingetroffen. Auch von

Theodor Wolff,

dem Chefredakteur des Berliner Tage­blatt, heißt es, daß er nach Prag ge­fahren sei.

Der Chef des S. Fischer- Ver­lages soll auf der Rückfahrt von seinem Erholungsurlaub in Paris „stecken ge­blieben“ sein, und der Operettenkomponist Paul Abraham dürfte auch bald Berlin verlassen, da man die Verfilmung einer seiner Operetten plötzlich abgebrochen hat.

Die Liste derjenigen, die vor dem Dritten Reich flüchten, ließe sich noch be­trächtlich erweitern. Und es erweitert sie jeder neue Tag — — —

In: Wiener Allgemeine Zeitung, 14.3.1933, S. 2.