1927 | Ferdinand Bruckner: Krankheit der Jugend

Nachfolgend finden sich fünf Besprechungen von Ferdinand Bruckners Drama Krankheit der Jugend, das Anfang 1927 in den Wiener Kammerspielen uraufgeführt wurde.

  1. Otto Koenig: Theater, Musik und Bild
  2. Franz Theodor Csokor: Gottlose Jugend. Zu Ferdinand Bruckners „Krankheit der Jugend“
  3. Rudolf Holzer: Theater und Kunst
  4. Leopold Jacobson: Theater und Kunst. „Krankheit der Jugend.“
  5. Emil Kläger: „Krankheit der Jugend“ von Ferdinand Bruckner. Wiener Kammerspiele

Otto Koenig: Theater, Musik und Bild

Kammerspiele. Der mit dem Kleist-Preis ausgezeichnete Dreiakter „Krankheit der Jugend“ des jungen Wiener Medizinstudenten Ferdinand Bruckner ist im Oktober des abgelaufenen Jahres zum erstenmal in Hamburg, dann auch in Berlin und Breslau aufgeführt worden und wird jetzt in den Kammerspielen aufgeführt. Das Werk hat zweifellos auffallende dichterische Qualitäten. Da ist eine für eine Anfängerarbeit verblüffend sichere Szenenführung, ein geschickter Aufbau, knapper, psychologisch gut entwickelter Dialog und wirkliche Menschen von Fleisch und Blut! Denn das Ganze ist ein Hexensabbat der Sexualität, der über lesbische Liebe und Perversität aller Art in den Lustmord taumelt, weit unverhüllter und brutaler als Wedekinds Lulu mit ihrem Aufschlitzer Jak, als „Schloß Wetterstein“ und „Sonnenspektrum“ zusammengenommen; diese Szenen überbieten mit ihrer grauenhaften Sachlichkeit alle ähnlichen Arbeiten unserer Jungen und Jüngsten. Diese Sexualraserei spielt in einem Kreis junger Medizinstudenten und –studentinnen, die, ganz eindeutig von Sexualsucht besessen, unter der verführerischen Führung eines zynischen Sexualhelden sich und einander ruinieren, langsam und schneller hinmorden, selbstmorden, lustmorden. Die dichterische Kraft des Werkes bezeugt das echte, exzessive dichterische Erleben des Verfassers, die schonungslose Aufrichtigkeit und der Titel „Krankheit der Jugend“ deuten die ernste, alles eher als obszöne Absicht des Dichters, nach irgendeiner Heilung der seiner Meinung nach tödlichen sexuellen Qualen der Jugend zu rufen. Gewiß liegen Uebertreibungen vor, gewiß ist dieser so verallgemeinernde Titel an sich eine Uebertreibung und die Gesamtheit der Wiener medizinischen Werkstudenten und –studentinnen wird sich mit Recht und ohne alle Heuchelei dagegen verwahren, daß dieses dichterische Schreckbild selbstmörderischer Sexualgetriebenheit und hemmungsloser Auslebung, die auch die stärkeren und widerstandsfähigeren Naturen wie die von Friedl Haerlin vorzüglich dargestellte eigentliche Heldin Marie erfaßt und verdirbt, etwa als ein Allgemeinzustand, als eine Kulturschilderung der akademischen Jugend Wiens aufgefaßt werde. Aber Uebertreibung und Verallgemeinerung sind schließlich Recht und Aufgabe des Dichters, wofern er sonst einer ist. Und hohe künstlerische Fähigkeiten sind dem Verfasser dieses krassesten und ernstesten aller noch im Banne der letzten Pubertätsnöte stehenden Werke nicht abzusprechen. Eva Fiebig, Eddie und Hans Peppler und Eva Geyer spielten vorzüglich und der Applaus war trotz vereinzelter, vom Stofflichen aus betrachtet wohl begreiflicher Pfuirufe sehr stark und nachhaltig.

In: Arbeiter-Zeitung, 14.1.1927, S. 7.

F. Theodor Csokor: Gottlose Jugend. Zu Ferdinand Bruckners „Krankheit der Jugend“

„Ich glaube, wir werden alle nicht alt“, bekennt eines der Mädchen in Klaus Manns „Anja und Esther“, und ein Knabe dort meint, noch keine Generation hätte gleich tief und inbrünstig an den Tod gedacht. Was dort für Knaben und Mädchen gilt, das ist auch für die jungen Wiener Studenten gesagt, in des Österreichers Ferdinand Bruckner Stück, das seine Heimat nun nach einer ausgezeichneten Breslauer Uraufführung zu sehen bekam.

Es entstammt keinem Schnitzlerischen Anatolien, es ist ein recht verdammtes Geschlecht, das da aus und nach dem Kriege heranwächst. Mit Gott weiß es nichts mehr zu beginnen; das Leben ist ihm einmalig, und jeder versäumte Genuß darin ein Verlust, den man niemals mehr einbringt. Eros, Cocain und Psychoanalyse werden zur satanischen Dreieinigkeit, die es beherrscht. Die Seele des Menschen ist ihm ein Produkt emotioneller Elemente und ihrer willkürlichen oder zwangsläufigen Gruppierung. Man kann diese Organisation fördern, verbessern oder – zerstören. Man kann Konflikte in dem Individuum lösen und beruhigen, man kann sie aber auch schürzen, künstliche Minderheitskomplexe züchten, wie Bakterien auf rohen Kartoffelscheiben. Man kann ungestrafte und unstrafbare Vivisektion treiben im lebenden Fleische des Nächsten.

Es sind Mediziner in einer Pension des Wiener Quartier Latin, reine und unreine Menschen, harte und weiche, blutstrotzende und bleiche, vampyrische, und alle hinaufgepeitscht in die Krisen ihrer Schicksale, und jeder gebrandmarkt mit einem Zuge vom großen Leidensantlitz der Schöpfung. Diese gottlose Jugend hat in sich keinen Halt mehr, sie steht just in jenem labilen Punkt, wo sich in ihr die Möglichkeit zum Bürger oder zum Verbrecher scheidet. Sie haben ihre Zukunft schon hinter sich, die jungen Menschen Bruckners, sie lieben und verderben mit keinem Glauben als dem, eine zufällige Häufung von Zellen zu sein, die sich zur Bewußtwerdung erhitzt hat. Sie gehen an sich zugrunde; die einen aus dem müden Blut einer Generation., die um die ihrige zu alt geworden ist, mögen früher sterben, die andern aus der bäurischen einfältigen Kraft des Landes oder aus dem haßgestrafften, proletarischem Auftrieb unterdrückter Kasten, mögen sich zäher und länger gegen die Vernichtung wehren. Sie alle aber brechen vor der Schanze jenes sicheren Lebens zusammen, das ihnen Fettwerden bedeutet, und warten auf den Tod. Kein Heiland tröstet sie in ihrem Schmerz.

Hinter ihnen ragt allein die große Stadt auf, sausend, blitzend, knatternd, von allen Lastern überrieselt. Und ein schrecklicher Gott nur herrscht über sie, Apollo, der Gott der Jugend, der bei den Alten zugleich mit Wahnsinn schlug. In der weichen Fläche des seelischen Nihilismus, im Reiche Stawrogins spielt dieses Stück, kalt, höhnisch und traumlos. Ein klinischer Befund seiner Zeit.

In: Die Bühne (1927), H. 115, S. 8.

Rudolf Holzer: Theater und Kunst

„Krankheit der Jugend.“ Drei Akte von F. Bruckner, einem angeblich Wiener Dichter. Ferner soll der Herr noch Student der Medizin und demzufolge jung sein. Die Beflissenheit um die medizinische Wissenschaft kann man ihm glauben, denn er spricht darüber scharf, leidenschaftlich, erbittert aus der Schule. Bisher meinte man – wahrscheinlich ein auch überlebtes Vorurteil – daß nur ein von seinem Berufe begeisterter Menschenfreund ein guter Arzt sein könne, von Herrn Bruckner wird man zunächst darüber gründlich anders belehrt. Welche grauenvoll von Leidenschaften, Begierden und Lastern erfüllten Individuen werden nach diesem Stück auf die leidenden Kranken losgelassen? Dieser Gedanke ist schon entsetzlich!

Wahrscheinlich ist Herr Ferdinand Bruckner auch jung – aber von einer ganz besonderen Jugend; er sagt es übrigens selbst: jener, die sich durch und durch krank, gezeichnet, sterbend fühlt. Es kann eine hübsche Weltgeschichte werden, wenn diese Jugend mit derartigen Gefühlskomplexen und Geistesanschauungen einmal zur Herrschaft kommt! Man kann sagen: glücklicherweise dezimiert sie sich, fluchbeladen, selbst! Noch glücklicherweise – besteht sie nur in Einzeltypen und in spekulativen Literatengehirnen, die ihre angelernte Fixigkeit und zweifellos überspitzte Intellektualität zu einem Formen mit Dreck und Eiter mißbrauchen. Möge also in der Nachkriegsjugend „Krankheit“ in derlei Erscheinung geistern, es darf nicht einen Menschen, der Talent hat, darf nicht ein Theater berechtigen, „Krankheit der Jugend“ als eine beliebte, allgemein gefällige Erscheinung zu behandeln. Hier handelt es sich um Kranke und Verbrecher. Bankrotteure auf der ganzen Linie! Diese Studenten und Studentinnen hatten nie eine reine Jugend, weil sie von Kindheit entweder krank oder verdorben waren. Seele, Körper, Geist und Blut verzehrt und verjaucht von greisenhafter Verzweiflung am Leben!

Im besonderen protestieren mag man aber, in diesen jungen Leuten das Wiener Studententum geschildert zu sehen! Wienerisch ist das Triebleben, das hier so ausführlich, liebevoll und schamlos ausgebreitet wird, am allerwenigsten! Wieder ist es nur ein äußerst kleiner, geographisch von ganz wo anders als Passau herstammender Studentenkreis, in dem es nur Lesbierinnen, Sadisten, Dirnen und Zuhälter gibt!

Daß dieses Stück mit einer verblüffenden Technik, ja einer raffinierten Bühnenwirkung hingeschrieben ist, macht es nur noch verächtlicher und ablehnenswerter; ahnungslose Naivität eines Weltfremden oder Abgestumpftheit eines Zynikers kann in diesem frivolen Spiel mit Geist, Kunst oder Kunstbekenntnis sehen; hier handelt es sich nicht um einen Fall „Räuber“, nicht um Sturm und Drang, sondern um den verwerflichsten Mißbrauch von Geschicklichkeit, Nachempfindung (Wedekind – bis zur Karikierung!) und Intelligenz zum Zwecke der Verhöhnung von Moral, Schönheit, Menschheitsglauben.

Die Kammerspiele haben noch keine so gute Vorstellung herausgebracht. Sie ist schlankweg hinreißend. Sämtliche Scheußlichkeiten – bis zum Gurgeldurchbeißen der einen Heldin – werden virtuos vorgeführt. Wedekind war eine Weltanschauung und Kunstform, ihm mußten Schauspieler dienen; Herr Bruckner ist an Welt und Form so leer und bar wie ein geschickter Akrobat, aber die Damen Haerlin, Fiebig, Geyer und Peppler, die Herren Peppler, Verhoeven und Grieg waren so vollendet und selbstverleugnend, als ob –

An der Haltung des Publikums ergibt sich die Notwendigkeit, ihm den Nacken zu steifen, denn wie tief hinab noch??

In: Wiener Zeitung, 16.1.1927, S. 4-5.

Leopold Jacobson: Theater und Kunst. „Krankheit der Jugend.“

War es nicht erst vorgestern, daß man über die Kühnheiten des jungen Hauptmann erschrak, oder gestern, daß man über Wedekind die Hände über dem Kopf zusammenschlug, weil er den Blick in sexuelle Dschungeln eröffnete? Oder hat das Kopfschütteln aufgehört, das die Jungen von heute hervorriefen, weil sie in Vatermord-Illusionen, in Exzessen und seelischen Anarchien ihre erregte Phantasie literarisch spazieren führten?

Es ist immer wieder das gleiche Erschrecken vor dem extremen Fall; die innere Auflehnung vor diesem Schleierlüften; der Widerstand vor dem Aussprechen-was-ist; die Zurückweisung der höhnischen Grimasse und das Befremden vor der Schaustellung tierischer Grundtriebe. Das ist natürlich noch lange nicht eine Probe auf Dichterschaft, aber zuweilen schon ein Ausdruck entfesselter Lebensbetrachtung. Auch von dem jungen Schriftsteller, der Ferdinand Bruckner heißt und dieses Stück „Krankheit der Jugend“ geschrieben hat, bleibt ungewiß, wie weit und ob er überhaupt ein Dichter ist. Vielleicht hat er bloß Witterung. Manchmal macht er auch nur den Eindruck eines Mitläufers. Das ist allerdings unvermeidlich, so lange Wedekind in diesem Falle ein Vorläufer bleibt, der aus dem Sexualismus seinen Positivismus holte. Bruckner ist allerdings nur negativ. Im Titel klingt es wie Bestimmtheit: „Krankheit der Jugend“. Aber es ist nur eine rhetorische Floskel und in Wirklichkeit eine Verallgemeinerung von sinnlicher Materie. Verwirrung der Gefühle in einer Sexualwildnis. Er tut, als wollte er sagen: so und nicht anders ist es; aber man wird, sofern es sich darum handelt, ernsthaft zu diskutieren, nicht über ein: so kann es sein hinausgelangen. Hier liegt sowohl Stärke wie Ohnmacht des Falles, der auf der klinischen Linie verläuft.

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             Blick in eine Pension, wo Medizinstudentinnen wohnen, mit ihnen auch Exstudenten. Das Medizinische ihres Berufes ist wahrscheinlich nicht ohne Absicht als Ableitung für ihren Lebensstandpunkt anzusehen. Sie haben das Wissen um das physische Geheimnis des Menschen, das sie zur Ergründung des Urtriebs drängt. So werden sie philosophisch; so gelangen sie zum Gedankenexperiment. So wird Unerlöstheit des Blutes zur Tragik.

Man bekommt die Studentin vorgesetzt, die sich dem Mann schrankenlos ergibt, sich an der Lust übersättigt, neue physische Sensationen sucht, zur Frauenfreundin wird, ihre Unruhe nicht stillen kann und am liebsten auf die Straße gehen möchte, um die Begierde anzustacheln. Dann ist eine zweite da, hineingezogen in die Exzesse, aber im Grundtrieb nicht zur Hemmungslosigkeit, sondern zum liebevollen Beharren geneigt, vom Mutterinstinkt geleitet, noch im Seelenschmerz empfindend. Eine Dritte: die Kalte; eine Vierte: nur Geschlechtstier, der die Straße ebenso vorbestimmt ist wie der Ersten, die zur Selbstmordkandidatin geboren ist. Als männliche Gegenexemplare sind der verbummelte Student gezeichnet, der Nichts-als-Mann, dem es auf das Experiment ankommt, alle Weiblichkeit aus einem Punkte zu kurieren oder zu erlösen, ein sadistischer Zwillingsbruder des Tschamper aus Schloß Wetterstein. Dann: der Betrachtende, der Allesversteher, der an die Deserteure des Lebens glaubt, und schließlich ein Dichterling, dem das Leben schließlich zur Literatur wird.

Die Sexualraserei unter diesen jungen Menschen, die Gefangene ihres Blutes sind, ergeben das Um und Auf der drei Akte dieses Stückes. Aus Schwüle gelangt man zum Exzeß in seiner letzten Form. Erlösung ist für die eine das Personal, für die andere die gewünschte Selbstvernichtung durch den tierisch entfesselten Mann, der sie in den Hals beißt. Rein stofflich erschiene dies alles viel krasser und widerwärtiger, wenn Bruckner nicht auch gedankliche Hintergründe erfaßt hätte; wenn nicht zwischendurch Seelennot aufschriee; wenn nicht auch Zartes, auch Seelenhaftes aufschimmerte.

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             Den Lesbiskarren lenkt Franz Wenzler als Regisseur mit aller Behutsamkeit über die Klippen und Untiefen. Er trifft die weichen Stimmungen und packt mit gutem Theatergriff die starken Szenen an. Es wird Erleben gespielt.

In diesem Schauspielerensemble, das mit Inbrunst den Rollen hingegeben ist, läßt Friedl Haerlin eine starke Begabung aufleuchten; frauliche Zartheit, schwingendes Leid und Innigkeit, die sich zur leidenschaftlichen Explosion dramatisch steigert. Auch die Gestaltungskraft Eva Fiebigs, die das Perverse in allen Ekstasen durchläuft, sowie die Mustanghaftigkeit Pepplers, der ein Darsteller mit starken Charakterisierungsqualitäten ist, geben den Szenen Vollgewicht. In den kleineren Rollen fallen Eva Geyer, Eddie Peppler, Theodor Grieg und Paul Verhoeven auf, die alle ihren Platz jeweils behaupten.

Dieses Stück, wie geschaffen zum Widerspruch, ist mit Beifall empfangen und mit Ehrungen für die Darstellung beschlossen worden. Vielleicht ist es schon Abgebrühtheit. Vielleicht aber auch ein Gefühl dafür, daß Einer kam, um etwas zu sagen, was auf der Entwicklungslinie liegt.

In: Neues Wiener Journal, 14.1.1927, S. 11.

Emil Kläger: „Krankheit der Jugend“ von Ferdinand Bruckner. Wiener Kammerspiele.

Ein Wiener Junger hat da, schwer von Frank Wedekind träumend, ein sehr heftiges und sehr unmanierliches Stück geschrieben. Watete also mit müdem Blick – das uns bekannte seherische Phlegma der vorletzten Generation fackelt darin – in den beliebten Sumpf, den eine Epigonenliteratur seicht und ausgiebig schlammig um das Kapitel Sexualnot angesammelt hat. „Krankheit der Jugend“: es ist ein Traktattitel, vorsichtig hingeschrieben, um versöhnlich zu wirken. Scheint euch die theatralische Erschließung einer vor seelischem Schmutz starrenden Studentenbude etwa eine Sünde wider jeden künstlerischen Geist? Dann, Achtung, es ist nur Pädagogik. Sollte man sich feige und heuchlerisch vor Tatsachen verstecken? Man erinnere sich: Es gibt nicht nur eine Lungentuberkulose und Elendskrankheiten. Arme Burschen und Mädels verhusten nicht nur über ihren Büchern in schlechten Quartieren ihr Leben. Sie sterben und verrecken auch an einem Gift, das ihnen sittliche Anarchie ins Blut treibt. Mit dem bißchen Universitätslatein in der Tasche glauben sie sich von allen „bürgerlichen“ Hemmungen losgekauft. Zunächst weckt sie gesunde Freiheit, dann ein begehrliches Ueberwindenwollen natürlicher Schranken und immer mehr Begierde, auszukosten, was es an offiziell Verbotenem gibt. Ein wildes Ausleben bis an den Rand und ein Zerbrechen an dem schalen Rest. Seht, hier! So glaubt uns Ferdinand Bruckner mit seinen kraftgenialisch tuenden Enthüllungen zu hintergehen. Es ist eine Beschönigung aus nicht unbegründeten Besorgnissen. Warum aber die Unsicherheit bei einer sonst exhibitionistischen Bekennerverwegenheit und der Neigung, alle Naturalia höchst namentlich in die Bühnendebatte zu ziehen?

Zur Handlung: Irgendein Studentenhaus ist der Schauplatz. Da wohnen Marie, die eben ihren Doktor gemacht hat, Desirée, die noch eingepaukt wird, dann Freder – die Personen haben eigentümlicherweise auf dem Theaterzettel nur Vornamen – ein bemoostes Haus allerhöchsten Semesters, das schon sehr viel ausgefressen hat. Schließlich Luch, das Stubenmädchen, ein halbes Kind. Dieser Freder nun, Säufer, Nichtstuer, Raisonneur, mit Hilfe einer zerlumpten, zerrissenen Philosophie, die aus Wedekind, Nietzsche Stückchen reißt und auch bei den Verführungssophismen Wildes Anleihen macht, sitzt unter den vielen Mädchen, die sich in dem seltsamen Boardinghaus Stelldichein geben, als Hahn im Korb. Ein angestochener, schon leicht ramponierter Kraftkerl. Freder verdächtigt alle Mädchen. Mit der einen hatte er ein Verhältnis, mit der anderen wird er es morgen haben. Er durchschaut den Liebesschwindel, schwört zum Handwerk ordinärster Liebeleien und nimmt sich von Wedekinds Marquis Casti Piani hinsichtlich der Anschauungen in diesem Punkte sein Beispiel. Desirée ist eine Hemmungslose. Sie verbraucht sich in Abenteuern bis zum Ekel, zieht schließlich die brave, von Haus aus tüchtige Marie, die in ihrer Liebe enttäuscht ist, in ihre Netze, während der beschäftigungslose Freder sich dadurch Kurzweil schafft, daß er Luch fast aus Bosheit verführt und für die Straße erzieht. Er erklärt: aus wissenschaftlichem Interesse. Mit naturalistischer Kraßheit wird die Stube dieses Studentenhauses ausgemalt. An den Menschen hier frißt der Unglaube. Dieser Freder und die sentimental-fatalistisch genußsüchtige Desirée vergiften alles um sich her. Arbeit hat keinen Wert. Es ist alles sinnlos und umsonst. Da treibt sich auch noch irgendein deklassierter Arzt herum, der wegen einer Guttat an einer Sterbenden, der er Qualen ersparen wollte und vergiftete, seinen akademischen Grad verlor. (Eine Figur, die sehr absichtsvoll, sehr unwahr, in diese Umgebung gestellt wird. Sehr zugunsten der haltlosen anderen.) Wozu streben, leisten? Es dient zu nichts. Aussaugen das Leben, sich selbst, die anderen! Lust suchen, Raubbau treiben mit der Genußfähigkeit. In den Szenen geht unreife Jugend in Fäulnis über, wird ausgehöhlt und seiner müde, verlischt im Sumpf. Bruckner streut über die beiden letzten Akte Verwesungsstimmung, zerrt Abscheuliches, Widerliches aufs Theater und mißversteht dabei seinen Meister Wedekind gründlich. Der hat seine Qualenbilder doch nur in dichterischen Visionen gesehen und sich nie mit höchst konkretem menschlichen Müll bekleckert. Noch zu sagen, daß Desirée Veronal nimmt und Marie, die sich dem am Schluß gegen sie anstürmenden Freder versagt, die Wut dieses Großsprechers so zu steigern weiß, daß er sie tötet. Nicht nur aus Zornerregung, auch aus Angst vor der mit einemmal unheimlich rasenden, sonst so lyrischen Marie. So wollte sie nämlich sterben. Nicht von eigener Hand. Sie hatte den Geschmack, ermordet zu werden, wie Desirée es sich gewünscht. Sterben durch Lustmord. Ferdinand Bruckner, Junge, Junge!

Also Peinliches, Häßliches, unnötig viel. „Nachtasyl“ von Frank Wedekind. Aber es muß durchaus gesagt werden, daß neben diesem Abschreiben und Vergrößern von möglichen Eigenerlebnissen dem Autor Talent, ungezügelte Gestaltungsgabe zuzusprechen ist, die jetzt Kraft mit Exzeß verwechselt. Der junge Wiener soll dieser im tiefsten Verstande unkünstlerischen Arbeit der Unerfreulichkeit wegen nicht etwa abgetan werden. Er lasse sein müd-phlegmatisches Verzweifeln. Er muß gläubig zu werden versuchen.

Die Hauptdarsteller hielten sich musterhaft. Entzückend diesmal Fräulein Haerlin, sehr nobel Fräulein Fiebig, die das heikle Duett mit so viel anmutiger Delikatesse spielten. Dem Autor treu und doch geschickt mildernd der gaunerartige Humor Hans Peplers. Neu und zu Erwartungen stimmend das Debüt der jungen Eva Geyer. Viel Instinkt und halberblühte Begabung. Das Publikum hatte eine der schwersten Rollen inne. Man baute auf seine Bravheit und Tragfähigkeit. Es trug.

In: Neue Freie Presse, 15.1.1927, S. 9.